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Der Weg nach Aragast
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eBook741 Seiten10 Stunden

Der Weg nach Aragast

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Über dieses E-Book

Was würdest du tun, wenn dein Leben plötzlich vollkommen auf den Kopf gestellt würde? Und was würde dann mit dir passieren, wenn du auch noch in eine völlig andere Welt katapultiert werden würdest?
Genau das passiert einem jungen Mädchen, das völlig unverhofft in eine neue Welt gerät und dort einen schicksalhaften Weg antritt, der sie am Ende nach Aragast führen wird. Sei dabei, wenn es auf die Reise quer durch eine andere Welt mit verschiedensten Gruppierungen geht. Geh mit auf den Marktplatz vom Taurin, um fremde Nahrung zu kosten und kämpfe mit gegen das Böse, das sich näher befindet als du gedacht hast. Lerne neue Freunde kennen und lass dich verführen von der Magie der Natur!
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum14. Juli 2015
ISBN9783739273778
Der Weg nach Aragast
Autor

Sonja Drieling

Sonja Drieling ist studierte Theologin und Master der Klassischen Philologie. Ihre Spezialisierung ist die Erforschung religiöser Themengebiete sowie deren Erschließung und Translation aus den originalen Quellen. "Wissen ist dazu da, um es mit anderen auf verständliche, nutzbringende Weise zu teilen."

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    Buchvorschau

    Der Weg nach Aragast - Sonja Drieling

    Epilog

    Einleitung

    Es war dunkel, als sie endlich wieder aufwachte. Um sie herum herrschte Stille. Nur ein weit entferntes Rauschen und die harte Kälte, die sie umgab, sickerten langsam in ihr Bewusstsein. Was war passiert? Wo war sie? Ihre Beine waren klamm, fast taub, als sie stöhnend eine erste Bewegung versuchte. Direkt vor ihr war ein etwas hellerer Streifen. Sie hob die Hand, um ihn zu berühren und fasste in einen Spalt, der sich sogleich bei ihrer zaghaften Berührung weiter öffnete. Da registrierte sie, dass sie in einem Schrank saß. Es blieb keine Zeit für Verwunderung, wie sie dort hineingelangt war, denn plötzlich bohrte sich ein stechender Schmerz durch ihre Stirn, der ihr fast den Atem nahm. Für einen kurzen Moment glaubte sie, ohnmächtig zu werden, doch nach einigen Augenblicken war er wieder so schnell fort wie er gekommen war.

    Fröstelnd kletterte sie wie in Zeitlupe – ihr kam es jedenfalls so vor – aus dem Schrank und fand sich in einem Raum wieder, der in Halbdunkel getaucht war. Sie erkannte die schemenhaften Umrisse eines riesigen Bettes. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine Frisierkommode oder so etwas Ähnliches. Irgendwie war ihr alles so vertraut. Und doch konnte sie sich nicht erinnern, woher sie all dies kannte. Wenigstens konnte sie sich noch an sich selbst erinnern. Das Rauschen, das sie in der Ferne bereits ausgemacht hatte, war nun wesentlich lauter. Die Tür des vermeintlichen Schlafzimmers, in dem sie sich befand, stand offen. Dahinter erstreckte sich ein düsterer Flur. Schleichend setzten die Kopfschmerzen wieder ein.

    War das Blut auf ihrer Stirn? Darum konnte sie sich jetzt nicht kümmern. Viel zu sehr beschäftigte sie die Frage, was hier los war. Das monotone Rauschen aus der Ferne hatte sie so sehr in ihren Bann gezogen, dass sie kurzerhand beschloss, der Quelle auf den Grund zu gehen. Für einen jungen Menschen war sie schon jetzt sehr geradlinig, wie ihre Eltern immer sagten. Und in der Schule war sie oft der allgemeinen Häme zum Opfer gefallen, wenn sie mal wieder allzu übertrieben ernsthaft war. Hätte sie jetzt lieber wie ein kleines Kind in ihrem Versteck bleiben sollen? Hätte sie warten sollen bis endlich jemand kam, der ihr die erlösende Wahrheit brachte, was überhaupt geschehen war? Nein. Das kam für sie nicht infrage. Es hieß der Sache selbst nachzugehen.

    Der Flur lag verlassen da. Auf dem Boden verstreut lagen in wilder Unordnung diverse Schuhe. Mäntel waren von der Garderobe gerissen und hingen wie tote Blätter über dem Chaos verstreut. Die Wohnungstür stand offen. Ein kalter Windhauch strich ihr vom Treppenhaus her über die nackten Beine. Sie trug nur ein Nachthemd. Zitternd bahnte sie sich einen Weg voran durch die umherliegenden Sachen. Auf der linken Seite befand sich eine Tür. Sie war halb angelehnt. Das Rauschen schien aus dem Raum dahinter zu stammen. Das war also das Ziel. Alles schien so unwirklich. Fast wie in einem der Träume, die sie manchmal hatte. Vielleicht war es ja einer und bald würde sie aufwachen und dann wären die Schmerzen und die Unwissenheit vorbei. Durch den Türspalt hörte sie es nun ganz deutlich. Begleitet wurde das Geräusch von einem wirren Flackern, das ihr in den Augen wehtat.

    Wie von einer bösen Vorahnung heimgesucht, überlegte sie noch, ob sie die Tür wirklich öffnen sollte, entschied sich aber dafür. Eine Woge von Erinnerung an Panik und Schmerz überrollte sie, als sie in das verwüstete Wohnzimmer sah. Das einzige Licht in diesem Zimmer spendete ihr der Fernseher, dessen Bildschirm eingeschlagen worden war und der das Flackern verursachte. Die herausgerissene Antenne war der Grund für das Rauschen. Blumentöpfe und Sofagarnitur waren heruntergerissen und lagen beinahe wie zu einem Muster geformt auf dem Boden. An der Wand rechts von ihr hing ein Bild, das sie von ihrer Position aus nicht genau erkennen konnte. Sie registrierte nur, dass darauf drei Menschen abgebildet waren, die alle in die Kamera strahlten. Am meisten jedoch wurde sie von einem weiteren Anblick in den Bann gezogen, der sich ihr bei näherem Betrachten inmitten des heillosen Durcheinanders bot. Auf dem Boden lagen direkt nebeneinander zwei Gestalten. Eine von ihnen zeigte noch mit der Hand zur Tür, so, als wolle sie jeden Ankömmling davor warnen, einzutreten. Sie war sehr zierlich und hatte langes Haar, das wie ein Kranz um ihren Kopf gefallen war. Das weiße Kleid, das sie trug, schimmerte ihr entgegen. Plötzlich musste sie an ihre Mutter denken, die auch so ein schönes Kleid besaß und das sie immer gerne getragen hatte. Wenn sie sich doch nur an ihr Gesicht erinnern könnte! Doch da war nur Kopfschmerz und Leere.

    Behutsam beugte sie sich etwas vor, um das Gesicht der Gestalt erkennen zu können. Es war das schmale und bleiche Gesicht einer Frau. Ihre Haut wirkte fast gläsern – so als würde sie zerspringen, berührte man sie. Tote starre Augen blickten zu ihr hinauf. Die andere Gestalt lag zusammengekrümmt mit dem Rücken zu ihr, sodass sie sie nicht richtig erkennen konnte. Ihr Blick fiel auf ein Medaillon in Sternenform, das die zierliche Gestalt um den Hals trug. Komisch - das war ihr gerade noch nicht aufgefallen. Auch hier war eine Erinnerung, die ihr unterbewusst im Gedächtnis aufschrie, die sie jedoch nicht ganz greifen konnte. Flink ließ sie ihre Finger hervor huschen und nahm der Gestalt die Kette vom Hals. Das kühle, glatte Metall lag ihr beruhigend in den Händen und so drückte sie es fest an sich.

    Und im nächsten Moment wusste sie, was sie zu tun hatte. Fast lautlos wie eine Katze stürmte sie aus dem Wohnzimmer zurück in den Flur. Das Festnetztelefon auf der Fluranrichte lag nicht auf der Gabel. Sie könnte jemanden anrufen, wusste aber nicht, wen. Ihr gegenüber ging noch eine weitere Tür ab. Sie war geschlossen. Selbstbewusst drückte sie die Klinke der Tür hinab und öffnete sie. Dahinter bot sich ihr der weitaus bekannteste Anblick. Sie erkannte den Raum als ihr eigenes Zimmer. Zielgerichtet steuerte sie auf ihren Schreibtisch zu und fischte darunter ihren roten Lieblingsrucksack mit der Maus darauf hervor, den ihr ihre Eltern zum ersten Schultag geschenkt hatten. Die Kette ließ sie als erstes dort hinein gleiten. Darauf folgten ziellos zusammen gesammelte Klamotten und ein kleines abschließbares Tagebuch, das ihr gehörte und ihr wertvollster Besitz war. Wo waren bloß ihre Eltern? Sie fürchtete sich so sehr alleine an diesem Ort mit den zwei Toten im Wohnzimmer. Sie wollte nicht hier warten, sondern einfach nur raus. Ihre Eltern wüssten jetzt sicher, was zu tun sei. Aber wo waren sie nur?

    Fast panisch streifte sie sich eine Jeans und einen Pulli über und polterte wieder hinaus auf den Flur. Etwas grünlich Metallenes schimmerte ihr vom Boden her entgegen. Fast unbemerkt geblieben zog es nun halb aus einer Jackentasche gerutscht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Mit verkrampften Gliedern bückte sie sich danach und schnell war der winzige Gegenstand in ihrer Hand verschwunden, um für die nächste Zeit das Innere ihres Rucksacks nicht mehr zu verlassen.

    An der Wand nahe der Wohnungstür hing ein Foto.

    Dieser Kopfschmerz.

    Auf dem Bild sah sie ihre Eltern.

    Wann hört das bloß auf?

    Beide waren in inniger Umarmung. Die Erinnerung pochte in ihrer Schläfe so, als wolle sie sich einen Weg in ihr Oberbewusstsein schlagen. Nur mühevoll konnte sie sie hinunterschlucken.

    Raus hier! Bloß raus!

    Ihre Mutter trug ihr weißes Kleid und dazu eine sternenförmige Kette, doch das fiel ihr schon gar nicht mehr richtig auf.

    Da stürmte das achtjährige Mädchen auch schon aus der Wohnung und durch das Treppenhaus davon. Sie hörte nicht mehr, wie die Tür der Nachbarwohnung geöffnet wurde und ihr Nachbar Herr Füller heraustrat, um zur Arbeit zu gehen. Sie sah sein überraschtes Erschrecken nicht, als er die offene Tür zu ihrer Wohnung und das heillose Chaos dahinter erkannte und wie er nach seinem Handy griff, um die Polizei zu alarmieren.

    1

    Draußen war es kühl und angenehm. Es roch nach frisch gemähtem Gras vom Vortag. Der Morgen war noch nicht hereingebrochen und nur langsam zeichneten sich am Horizont die zarten Rosétöne der Sonne am Himmel ab. Die Straße in der Wohnsiedlung, in der sie mit ihren Eltern wohnte, war menschenleer. Nur eine herumstreunende Katze schlich auf der gegenüberliegenden Seite an einem Zaun entlang. Ihre gelben Augen funkelten ihr misstrauisch entgegen bevor sie sich in ein Gebüsch verzog. Alles war so friedlich und dennoch fühlte sie sich aufgebracht. Von vielen Augen verfolgt. So, als griffen die Schatten nach ihr.

    Zielstrebig wandte sie sich nach links und eilte den Bürgersteig entlang. Sie konnte nur noch an ihre Eltern denken. Wo waren sie nur? Warum waren sie nicht bei ihr? Erinnerungsfetzen von früheren Spaziergängen oder Spielplatzbesuchen schossen ihr durch den Sinn. Die bunten, kleinen Fahrgeschäfte im Einkaufszentrum von Bernau erschienen vor ihren Augen. Immer wenn sie mit ihren Eltern dort gewesen war, hatte sie darauf fahren dürfen. Doch jetzt war sie schon zu alt dafür und überhaupt war die Passage noch ganz schön weit weg von ihrem jetzigen Standort aus.

    Wenn sie die nächste Straße gleich rechts hineingehen würde, käme da der Spielplatz, auf dem sie immer gespielt hatte – ob alleine oder mit Freunden. Dort gab es eine riesige Schaukel und ein Klettergerüst, in dessen Holzhaus sie sich manchmal vor ihrer Mutter versteckt hatte, wenn die mit ihr hatte nach Hause gehen wollen. Es waren schöne Momente gewesen.

    Doch dahin wollte sie jetzt nicht gehen. Sie überquerte geradeaus die Heideallee und hielt auf den Wald zu, der gleich hinter der nächsten Biegung kommen sollte. Die Zeit schien fast still zu stehen. Die Stille zerriss sie innerlich. So blieb genug Raum, um die vielen Stimmen zu hören, die in ihrem Kopf herumtobten. Stimmen ihrer Eltern, ihre eigene Stimme und Stimmen, die sie nicht mehr erkannte. Mal flüsternd, mal hämmernd versuchten sie sich gegenseitig den Platz in ihren Gedanken zu erkämpfen.

    „Reiß dich jetzt zusammen!", ermahnte sie sich selbst, weil sie fürchtete ihre Contenance zu verlieren.

    Da war der Wald. Düster und bedrohlich tauchte er vor ihr auf. Mit jedem Schritt, den sie tat, wuchs er immer weiter in die Höhe. Noch vor einem Jahr hatte sie sich in ihm verlaufen. War ihrer Mutter jauchzend und brüllend davongerannt, um sich dort zu verstecken. Als ihre Mutter sie endlich gefunden hatte, hatte es bereits geregnet, sodass sie beide bis auf die Knochen durchnässt gewesen waren. Ihre Mutter war sehr wütend gewesen und hatte sie an der Hand mit sich aus dem Wald herausgezerrt. Danach waren sie bei Kurths Eiscafé eine heiße Schokolade trinken gegangen, als sie angefangen hatte zu weinen und ihre Mutter auch – erleichtert, dass ihr nichts Schlimmes passiert war. Heute begann es auch zu regnen. Leiser Nieselregen tauchte die Umgebung in einen zarten Schleier, als sie in den Wald trat.

    Sie musste schon eine Weile gelaufen sein, denn als sie sich umdrehte, konnte sie den hohen Turm von der Kirche, die in der Nähe ihrer elterlichen Wohnung gelegen war und die die roten Häuserdächer ihres Viertels überragte, nicht mehr erkennen. Zu dem Regen, der inzwischen heftiger geworden war, gesellte sich ein beißender Wind, der sie in ihren durchnässten Sachen frösteln ließ. Die Bäume standen wie um sie zu bedrohen mit ihren hohen Wipfeln dicht gedrängt um sie herum und ließen mit ihren breiten Kronen nur wenig Licht herein. Auf einer Anhöhe entdeckte sie plötzlich eine kleine Holzhütte. Das winzige, halb verwilderte Haus wirkte unbewohnt. Eingebettet in ein Bett aus Moos und allerlei Farn wirkte es fast so als würde es die wohlige Dunkelheit des Wäldchens nutzen, um zu schlafen.

    Vielleicht kann ich mich in der Hütte wärmen, dachte das Mädchen erleichtert und stapfte auf die Eingangstür zu.

    Die Tür des Häuschens war verwittert und für sie ein Leichtes sie aufzustemmen. Sofort schlug ihr im Inneren ein feuchter Geruch nach altem Holz entgegen. Irgendwo in der Dunkelheit hörte sie das leise Zwitschern von Vögeln, die sich wohl auch eine Bleibe gesucht hatten. Im Dämmerlicht entdeckte das Mädchen schemenhaft inmitten des Raumes, in dem sie nun stand, einen einfachen Holztisch und zwei Stühle darum. Einer der Stühle hatte eine herausgebrochene Sitzlehne.

    Durch eine andere Tür gegenüber der Ihren konnte sie einen weiteren Raum ausmachen. An anderen Tagen hätte sie sich wahrscheinlich gegruselt und hätte auf dem Absatz kehrt gemacht. Aber heute nicht. Heute war alles anders. Sie fühlte, dass ihr Leben eine Änderung durchgemacht hatte. Unaufhaltsam musste sie sich dem Gefühl hingeben, allein zu sein.

    Der Boden fühlte sich schlammig an, als sie in das andere Zimmer trat. Hier stand noch ein alter Schrank, der wohl mal ein prächtiger Kleiderschrank aus Kiefernholz gewesen sein musste. Nun prangte in seinen Türen ein Loch, durch das kleine Insektenscharen ein- und ausspazierten. In einer Ecke lagen zusammengetürmt alte Laken und Kleidungsstücke. Es sah fast so aus, als hätte schon einmal jemand anderes hier einen Schlafplatz gesucht und sich dann gebaut. Eigentlich war sie pingelig – hatte ihre Mutter ihr doch immer eingebläut, sich stets die Hände zu waschen und das Kinderzimmer sauber zu halten. Achselzuckend ließ sich das Mädchen auf dem Lager nieder und wickelte sich in den dichten Leinenstoff ein. Ihr Kopf schmerzte noch mehr, als sie zum Liegen kam. Aber andererseits war es auch zu schön, sich einfach mal auszustrecken und nichts zu tun. Sie beobachtete noch, wie ein Käfer vor ihr einen kleinen Krümel Erde weg zu kullern versuchte und fiel dann in einen traumlosen Schlaf.

    Es war der lange, hohe Schrei einer Frau, der sie aus ihrer Dämmerung riss. Schweißgebadet sah sich das Mädchen um. Es dauerte eine Weile, bis sie die Hütte und ihr Lager wiedererkannte. Ächzend stand sie auf und sah sich ein zweites Mal in dem morschen Überbleibsel aus längst vergangener Zeit um. Es war niemand zu entdecken. Inzwischen war sie sich noch nicht mal sicher, ob sie die Stimme nur geträumt oder tatsächlich gehört hatte. Tatsache war: Sie wollte hier nicht länger bleiben. Sie wusste nicht einmal, wie lange sie hier überhaupt gedöst hatte.

    In der Hütte gab es nichts, was sie weiter gebrauchen oder mitnehmen konnte. Also nahm sie ihren Rucksack und stieß die Tür zur Hütte auf. Der Nieselregen hatte sich noch nicht verzogen und die Sonne war hinter dicken, grauen Regenwolken versteckt. Wenigstens hatte sich der Wind gelegt. Was nun? Was sollte sie nun tun? Sollte sie zurückgehen zu der Wohnung ihrer Eltern? Vielleicht waren sie schon wieder zurück von wo auch immer? Dann fielen ihr wieder die beiden Leichen ein, die sie gesehen hatte. Nein. Dahin konnte sie nicht zurück. Nie wieder.

    „Wenn sie wiederkommen und mich nicht finden, werden sie mich suchen kommen. So lange warte ich halt hier", redete sie sich selbst zu. Es erschien ihr im Moment der vernünftigste Plan zu sein.

    Fröstelnd ging sie weiter in den Wald hinein. Nach einer Weile fand sie einen kleinen Bach, der sich langsam und gemütlich durch den Wald schlängelte. Sie folgte ihm. Nach einer Weile erhob sich weiter, immer weiter, ein großer, schwarzer Felsen vor ihr. Er sah ungewöhnlich aus. Er hatte beinahe die Form eine Vogels.

    „Das ist ja toll!"

    In einem plötzlichen Schwall von Glücksgefühlen, die sie überkamen, ging das Mädchen in einen leichten Laufschritt über. Sie liebte Vögel und so etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Jetzt bereute sie es doch beinahe, dass sie vor ein paar Monaten die Idee ihrer Eltern, mal ins Grüne zu fahren und zu wandern, abgelehnt hatte, weil sie mit ihrer besten Freundin Debbie lieber hatte einen Filmnachmittag machen wollen. Für einen kurzen Moment kamen ihr Bilder von den dunkelbraunen Augen, den vielen Sommersprossen und dem verschmitzt lächelnden Mund ihrer Freundin Debbie in den Sinn. Sie kannten sich schon seit dem Kindergarten und aus einer anfänglichen Feindschaft –beide hatten sich die ersten Tage nur in der Wolle gehabt- war eine tiefe Freundschaft erwachsen. Sie waren immer unzertrennlich gewesen und Debbie war so oft zu Besuch gewesen, dass ihr Vater sie schon immer spaßig seine „zweite Tochter genannt hatte. Bei dem Gedanken musste das Mädchen schmunzeln. „Ach Debbie, wenn du das hier nur sehen könntest.

    Der Vogelfelsen stellte sich als riesig heraus. Er bestand aus einem glatten, schwarzen Gestein, das durch den Regen einen matten Glanz trug. Die vermeintlichen Flügel sahen so aus, als würde der Vogel –sie fand er sah aus wie ein Adler – sich jeden Moment von seinem Platz aufschwingen und davonfliegen. Den Kopf im Nacken umrundete das Mädchen das Gebilde. Bisher hatte sie den Vogel nur von der Seite aus gesehen. Wie er wohl von vorne aussah? Der Weg wurde immer unwegsamer je weiter sie vorwärts ging. Baumwurzeln, die kreuz und quer aus der Erde standen, versuchten ihr ein Bein zu stellen. Sie kam nur langsam voran, doch dann hatte sie endlich ihr Ziel erreicht. An seiner Vorderseite hatte der Vogelfelsen noch zwei Ausläufer, die ein Rondell zu seinen Füßen bildeten. Sie fühlte sich so, als hätte sie ein Versteck entdeckt. Als wäre sie von steinernen Mauern einer Burg umgeben, die sie schützen würden. Verwundert stellte sie fest, dass dem Vogel auf der anderen Seite ein großes Stück seines Flügels fehlte. Erschöpft setzte sie sich auf den Boden, der innerhalb des Rondells überhaupt nicht mehr unwegsam zu sein schien. Stattdessen wurde er von Gras und Klee überzogen. Dieser Platz gefiel ihr immer mehr. Es fühlte sich so weich an und auch gar nicht so nass trotz des Regens. Vielleicht hatte sie sich auch schon an die Nässe gewöhnt. Es war ihr egal. In diesem Moment fühlte sie sich einfach geborgen und selig. Lächelnd ließ sie sich aus dem Schneidersitz heraus auf den Rücken plumpsen. Nanu?! Ihr Kopf tat ja gar nicht mehr weh! Der süße Geruch des feuchten Klees stieg ihr in die Nase. Ihr Rucksack, den sie noch immer auf dem Rücken trug, stach ihr zwar in den Rücken, tat aber kaum weh. Taumelnd vor Glück blickte sie über sich hinweg und sah…

    …etwas in den Wänden des Rondells glitzern und funkeln. Schnell brachte sie sich auf alle Viere und krabbelte darauf zu. In den Fels eingelassen, in einer Spalte, war eine Perle. Es war keine gewöhnliche Perle, so, wie sie sie von dem Schmuck ihrer Mutter oder aus den Schaufenstern von Juwelieren kannte. Diese Perle schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Sie war wunderschön und schien aus ihrem Innersten eine wohlige Wärme auszustrahlen. Das Mädchen war den Tränen nahe. Sie wusste nicht, warum. Sie wusste nur, dass sie die Perle unbedingt berühren wollte.

    „Wow!", krächzte sie mit trockener Kehle hervor.

    Mit bebenden Fingern griff sie vorsichtig in die Felsspalte und berührte die seltsame Perle. Ein heißer Schmerz durchzog sofort und unerwartet ihren Arm und wurde dann von einer Woge aus eisiger Kälte abgelöst. Das Mädchen wollte ihren Arm fortziehen, doch die Perle schien sie an sich zu ziehen und festzuhalten. Alles, die gesamte Umgebung, schien zu beben und sich dann langsam in einem ungenauen Dunst zu verlieren. Ein Dröhnen zog durch ihre Ohren und dann wurde alles dunkel…

    Es war warm und als sie vorsichtig ein Auge öffnete, blendete sie die grelle Sonne. Schnell schloss sie es wieder. Erst nach und nach schaffte sie es, etwas zu blinzeln und ihre Umgebung wahrzunehmen. Der Wald und das Rondell waren verschwunden. Stattdessen lag sie auf einem Acker, auf dem sich leicht säuselnd gelbstrahlende Sonnenblumen wiegten. Ihre dicken Köpfe wirkten so, als würden sie sich vor dem Neuankömmling verbeugen wollen, um ihn dann zum Tanz im Wind zu geleiten. Wie war sie hierher gekommen? Sie hatte doch nur die Perle berührt. Die Perle! Siedend heiß fiel ihr die schmerzhafte Begegnung wieder ein. An ihrer Handinnenfläche sah sie eine winzige Brandblase. Leuchtend rot und prall gefüllt sah sie sehr schlimm aus. Vorsichtig tastete das Mädchen nach ihr.

    „Autsch!"

    Sie ärgerte sich sofort über sich selber, weil sie die Stelle angefasst hatte.

    Der Inhalt ihres Rucksacks lag verstreut in einiger Entfernung auf dem Acker. Schnell stopfte sie wieder alles hinein und sah sich dabei verstohlen um. Das Sonnenblumenfeld war bei genauer Betrachtung doch nicht so groß, wie sie es zu Anfang geglaubt hatte. Saftige grüne Wiesen grenzten daran an. Zur einen Seite hin bauten sie sich zu einer hohen Hügellandschaft auf. In der Gegenrichtung entdeckte sie ein riesiges Meer aus Bäumen. „Ein Wald!" Aber nicht ihr Wald. Die Umgebung kam ihr so anders vor. Das konnte nicht Bernau sein. Ihre Heimatstadt war zwar keine Großstadt, aber dennoch von der beachtlichen Größe eines Kleinstädtchens. Aus Richtung der Hügel war plötzlich ein Läuten zu hören wie von einer Glocke. Es erinnerte sie fast an das Geräusch der Kuhglocke aus der Milchwerbung, die erst seit kurzer Zeit im Fernsehen zu sehen war. Debbie und sie hatten die Kuh so schön gefunden, dass sie sich bestimmt eine Stunde lang ausgemalt hatten, wie es wohl wäre, wenn sie Bäuerinnen wären und kleine Kälbchen aufziehen würden. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, kam ihr das schon fast albern vor.

    Da war das Läuten schon wieder! Interessiert stapfte das Mädchen los. Der Sandboden war so weich, dass sie ihre Beine ganz hoch anheben musste, um vorankommen zu können. Als sie versuchte stattdessen zwischen den Sonnenblumen durchzuschlüpfen, musste sie schmerzhaft mit den harten, unnachgiebigen Stielen der Pflanzen Bekanntschaft schließen. Also wählte sie den weniger anstrengenden Weg durch die Furchen, die den Acker säumten und durchschnitten.

    Das Geräusch der vermeintlichen Glocke wurde immer lauter. Sie war sich fast sicher, dass sie die Quelle gleich hinter der ersten Hügelkuppe finden würde. Leicht außer Atem kam sie oben an. Vor sich sah sie eine kleine, dicke Ziege, die sich an dem süßen Klee, der dort wuchs, gütlich tat. Als die Ziege das Mädchen bemerkte, hob die ihren Kopf wie zur Begrüßung und sah sie aus frechen Augen heraus an. Dabei ließ sie ihr kleines Bärtchen ordentlich beim Kauen wackeln und die kleine goldene Glocke an ihrem Hals hell ertönen.

    „Na, wer bist du denn?", lachte das Mädchen und ging zu der Ziege, um sie zu streicheln.

    Die Ziege schien die Berührungen sehr zu genießen. Sie schloss ihre Augen und legte den Kopf in den Nacken, damit das Mädchen ihre Schnauze besser erreichen konnte.

    „Du bist ja niedlich!"

    Wie, um zuzustimmen schlug das Tier plötzlich mit dem Kopf wild auf und ab. Dann hatte sie wohl den bunten Rucksack des Mädchens entdeckt und schnappte gleich danach. Damit hatte das Mädchen nicht gerechnet und schon hatte die Ziege eine der Schnallen gepackt.

    „Hey! Lass los!" schimpfte das Mädchen etwas belustigt, wovon sich die Ziege jedoch erst recht nicht beirren ließ. Stattdessen begann sie plötzlich an der Tasche zu zerren.

    Es wirkte fast so, als würde sie wollen, dass das Mädchen mitkäme. Und das tat dieses auch. Was sollte sie sonst tun? Sie wusste ja eh nicht mehr, wo sie überhaupt war. Zielstrebig ließ sie sich also von der Ziege, die besonders dickköpfig zu sein schien, weiter über die Hügel führen. Es verging nicht allzu viel Zeit, als das Mädchen plötzlich über einem besonders hohen Hügel Rauch aufsteigen sah. Da musste ein Haus, ein Dorf oder eine Stadt zu finden sein. Jedenfalls stellte sie sich das so vor. Die letzten Schritte bis zur Hügelkuppe waren sehr anstrengend. Prustend und schwitzend erreichte sie –oder eher die Ziege mit ihr im Schlepptau- die Stelle. Der Kopfschmerz setzte wieder ein und rief schlechte Gefühle in ihr hoch. Doch sie schluckte sie wieder herunter. Denn der Anblick, der sich ihr nun bot, ließ sie alles andere vergessen:

    Vor ihr im Tal erhob sich ein Haus. Es war nicht besonders groß. Die braune Fassade schien aus Lehm zu bestehen, das Dach aus Stroh. Die Fensterläden leuchteten rot in der Sonne. Sie standen offen. Auf dem Rand jeder Lade saßen Schwärme von Vögeln in den verschiedensten Farben. Und sie sangen und zwitscherten um die Wette. Doch ihr Gesang hörte sich nicht so an wie das, was das Mädchen bisher von Vögeln draußen gehört hatte. Es war melodisch und im Einklang. Fast so wie die Schallplatten mit klassischer Musik, die ihr Vater jeden Sonntag zu seiner Sonntagszeitung auflegte. Er hatte eine große Sammlung alter Klassiker aus seiner Jugendzeit, die er wie einen Augapfel hütete. Sein Plattenspieler war sein zweites Heiligtum. Er mochte den alten Klang dieses Gerätes und auch sie liebte das knackende und knisternde Geräusch, wenn er vorsichtig die Nadel auf der Platte ansetzte. Nur mit der klassischen Musik an sich hatte sie bisher nie so recht Freundschaft schließen können, jedoch in diesem Moment konnte sie nur wie gebannt auf die neuartigen Töne lauschen. Sie konnte es nicht genau beschwören, aber sie meinte, dass der gewaltige Baum, der am Haus stand und es in Halbschatten tauchte, sich zu der Melodie kaum merklich bewegte.

    Aus dem Schornstein des Hauses drangen gleichförmige Rauchringe, die in der Sonne fast silbern und fast rötlich schimmerten. Vor der Tür des Hauses hing an einem goldenen, verschnörkelten Haken ein großer Glasbehälter, der aber leer war. Ungewöhnlich.

    Einige Meter vom Haus entfernt stand ein alter, hölzerner Schuppen, aus dem sich mehrere Köpfe neugierig nach dem Neuankömmling ausstreckten. Es waren drei Kühe und ein Esel. Die Kühe waren so weiß wie der Schnee, sodass der kleine graue Esel dagegen recht alt wirkte. Es war niemand zu sehen. Die Ziege hatte sie inzwischen losgelassen. Offensichtlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Ein bisschen mulmig war dem Mädchen schon, einfach ein fremdes Grundstück zu betreten. Doch die weißen Kühe faszinierten sie. Langsam näherte sie sich den Tieren. Huch! So etwas hatte sie noch nie gesehen. Alle Kühe hatten leuchtend blaue Augen. Rosafarbene Zungen leckten ihr freundlich die Hände. Der Esel schabte seine Flanke an der Pforte des Stalls entlang.

    Von dieser Position aus konnte das Mädchen hinter dem Haupthaus einen kleinen, eingezäunten Garten entdecken. Dort schienen Salatköpfe und Kräuter zu wachsen. Ein weißes Leinentuch hing aufgespannt über den Pflanzen, um sie vor der sengenden Sonne zu schützen. Es schien Mittag zu sein, denn die Sonne stand in der Mitte des wolkenfreien Himmels. Als das Mädchen sich den Garten hinter der Lehmhütte gerade ansehen wollte, wurde eines der Fenster des Hauses, welches nach vorne heraus blickte, aufgerissen. Heraus streckte eine ältere Frau ihren Kopf und rief:

    „Leni, du alter Sturkopf! Da bist du ja wieder. Ich habe dich überall gesucht!"

    Lange, glatte Haare umspielten ihr Gesicht, das in freundlichen Falten lag. Bis auf eine grüne Strähne waren die Haare allerdings schneeweiß. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als die Alte ihre Ziege beobachtete, wie die desinteressiert an einem Grasbüschel zog.

    „Wo hast du dich herumgetrieben? Ich…"

    Die Frau stockte, als sie das Mädchen entdeckte. In dreckigen, abgewetzten Klamotten stand die Kleine verlegen da und starrte erschrocken zu ihr herüber. Sie mochte vielleicht acht oder neun Jahre alt sein. Ihr Gesicht wirkte ungewöhnlich verschlossen und ernst. Es passte irgendwie nicht zu dem eines Kindes.

    „Silas zum Gruße, ich bin die alte Lea. Und wer bist du?", versuchte sie möglichst freundlich zu klingen

    „I… I… Ich heiße Cassandra", antwortete das Mädchen verdattert, die noch nicht ahnte, dass sie gerade einen Wendepunkt in ihrem Leben erreicht hatte.

    2

    Leas Kleid war knielang und in einem leuchtenden grün. Darunter lugten rote, löchrige Strümpfe in Holzpantoffeln hervor. Um den Bauch trug die Alte eine weiße Schürze, aus deren fleckiger Tasche eine kleine Maus ihre lange Schnauze streckte, als Lea der jungen Cassandra einladend die Tür zu ihrem Haus öffnete.

    Cassandra presste sich ganz fest ihren Rucksack vor die Brust, als sie hineinging. Was ihr das Grundstück Leas von draußen schon an Wunderlichkeiten geboten hatte, wurde vom Hausinnern noch weit übertroffen. Der Boden des Hauses bestand nicht, wie erwartet, aus einem Lehmboden so wie die Wände. Der Hausbauer –vielleicht Lea selbst- hatte einfach keinen Boden in das Haus eingebracht. Stattdessen trat Cassandra auf grünes Gras. In der Mitte des Raumes stand ein hölzerner Tisch, welchem zwei Baumstümpfe als Stühle dienten. Unter dem Tisch entdeckte das Mädchen einen großen, aufgetürmten Sandhügel.

    „Ein Maulwurfshügel!", entfuhr es ihr erstaunt.

    Belustigt gluckste Lea hinter ihr und schloss die Tür. Statt weiter darauf einzugehen, ging sie in eine winzige Kochnische und blickte Cassandra fragend an: „Möchtest du einen Wurzeltee trinken, mein Kind?"

    Wurzeltee?, dachte Cassandra.

    Ihr wurde es immer unheimlicher. Da sie sich aber nicht traute der Alten gegenüber unhöflich zu sein –außerdem schien diese trotz ihres sonderbaren Verhaltens sehr nett zu sein- nickte sie nur stumm. Lea wandte sich von ihr ab und goss aus einem Holzeimer, der auf dem Boden stand und den sie ächzend hoch hieven musste, Wasser in einen Kupferkessel, der auf einem Ofen stand.

    Cassandra nutzte den unbeobachteten Moment, um sich weiter in Leas Behausung umzusehen. Viele kleine und klapprig wirkende Regale säumten die Wände des Hauses. Darin standen Bücher sowie viele verschieden große und zumeist durchscheinende, farbige Töpfe und Phiolen, die mit Kräutern oder Flüssigkeiten gefüllt waren. Direkt gegenüber von der Eingangstür, an der Cassandra immer noch wie festgewachsen verharrte, hing ein gewaltiger Spiegel. Cassandra glaubte sich selbst darin erkennen zu können, aber irgendwie kam ihr das dreckige, kleine Mädchen, das ihr da hager und verängstigt aus weißen Augen entgegenstarrte, so fremd vor. Nur ihre vermeintliche Kopfwunde schien wie von Zauberhand verschwunden zu sein. Schnell wandte sie den Blick vom Spiegel. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Lea klapperte inzwischen mit dem Kupferkessel, in dem das Wasser anscheinend schon ordentlich kochte und blubberte. Sie griff in eines der Regale an der Wand und öffnete einen kleinen, braunen Topf. Aus diesem holte sie grüne Stängel mit blauen Blüten daran hervor. Genüsslich brach sie einen der Stiele durch und roch daran. Dann ließ sie alles ins kochende Wasser fallen und schaute zufrieden dabei zu, wie sich das Wasser in blauen Farben brach. Dicke, wohlriechende Rauchschwaden, die genauso blau waren wie das Wasser, stiegen zur Decke hoch. Cassandra folgte ihnen und entdeckte eine Öffnung im Dach, die durch einen langen, steinernen Schornstein nach draußen führte.

    Dabei fielen Cassandra die kreuz und quer verlaufenden Dachbalken aus in das Lehm eingesetztem Holz auf, die mal mehr und mal weniger morsch ganze Kolonien von Mäusen beherbergten. In eifrigem Wirrwarr flitzten die kleinen Tiere von einem Balken zum anderen. Hie und da waren aus Stroh kugelförmige Behausungen für die Mäuse an den Seiten der Balken angebracht, aus denen heraus viele Augenpaare auf Cassandra sahen. Außerdem hingen zahlreiche Bündel getrockneter Kräuter kopfüber an den Balken herab.

    „Setz dich doch, mein Kind. Ich bin fertig!" Leas Stimme war warm und wohlklingend.

    Außerdem schien ihr die ungewohnte Situation überhaupt nicht komisch zu sein. Ganz im Gegensatz zu Cassandra, die sich eine kräftige Portion Argwohn nicht verkneifen konnte. Vorsichtig näherte sie sich dem Tisch und ließ sich auf einen der Baumstümpfe gleiten. Sie musste aufpassen, dass ihre Füße nicht mitten in den Maulwurfshügel traten. Lea hatte den Wurzeltee bereits in zwei Becher gefüllt und stellte einen vor Cassandra hin, während sie sich gegenüber von ihrem Besucher hinsetzte und sofort an ihrem Becher zu nippen begann. Aus aufmerksamen, aber nicht unfreundlichen, Augen beobachtete sie das Mädchen. Die kleine Maus war inzwischen aus ihrer Schürze geklettert und lief schnuppernd nach etwas Essbarem über den Holztisch. Um die peinliche Stille zu überbrücken, griff Cassandra nach dem dampfenden Behälter und setzte ihn an die Lippen. Was der wunderbare Geruch an Verheißungen gegeben hatte, konnte der Geschmack dieses Gebräus nicht im Ansatz einhalten. Ein bitterer Geschmack legte sich wie ein Mantel über ihre Zunge und rann ihr die Speiseröhre hinab. Und doch meinte sie, dass augenblicklich eine Wärme in ihr einsetzte, die ihr die Brust und alle Innereien erwärmte. Das Gefühl war so schön, dass der Ekel mit jedem weiteren Schluck in den Hintergrund geriet.

    Zufrieden lächelte Lea sie an und begann zu sprechen: „Cassandra heißt du also. Und was führt so ein junges Mädchen raus zu mir ins Grüntal?"

    „Ich, ähm…", stotterte Cassandra.

    „Seit vielen Jahren ziehen die Leute hier fort. Nur Wenige wissen die Ruhe der Natur noch mehr zu schätzen als die Dörfer, unterbrach Lea sie mir ihrem Monolog, „Mein Mann ist auch seit fast drei Jahren fort. Ist mit den Schafen eines morgens losgezogen, um etwas auf dem Markt von Aragast zu verkaufen. Kam nie mehr wieder.

    Lea stockte und ihr Gesicht zeigte die tiefe Trauer, die sie ob des Verschwindens ihres Mannes empfinden musste.

    „Das tut mir leid", flüsterte Cassandra. Sie konnte gut nachfühlen, was Lea empfand, schließlich hatte sie sich ohne Vater und Mutter hierher verirrt. Und anscheinend wusste Lea genauso wenig über seinen Verbleib wie sie über den ihrer Eltern.

    Lea musste offensichtlich um Fassung ringen ehe sie weitersprach: „Die Jüngste war ich da natürlich auch nicht mehr. Trotzdem hab ich mich auf die Suche gemacht nach ihm. Bin mit einem Heuwagen mitgefahren, der nach Aragast wollte. Bei Silas! Aber niemand hatte ihn dort jemals gesehen. Und die Schafe standen nach einer Woche wieder draußen vor dem Haus. Aber mein Hilfried kam nie wieder."

    Lea machte den Eindruck, als wäre sie schon eine ganze Weile –vielleicht schon seit dem Verlust ihres Mannes- alleine und hatte die Geschichte endlich mal jemandem erzählen wollen. In einer Mischung aus Trauer und Erleichterung griff sie nach ihrer Tasse und trank einen kräftigen Schluck des Wurzeltees. Cassandra empfand plötzlich sehr viel Mitleid für die arme alte Frau. Und da diese keine Anstalten mehr machte, etwas Weiteres zu erzählen, fühlte sie, dass sie nun an der Reihe war, ihre Geschichte zu erzählen. Aber was war ihre Geschichte? Es musste das sein, an das sie sich noch erinnern konnte.

    Sie nahm sich einen Moment Bedenkzeit, um die rechten Worte zu finden. Womit sollte sie nur anfangen?

    „Ich bin Cassandra und ich bin acht Jahre alt. Meine Eltern und ich wohnen in Bernau bei Berlin in einer großen Wohnung. Ich bin von Zuhause weggelaufen. Gestern war das, glaub‘ ich, zögerte sie ehe sie fortfuhr. „Das war, weil ich etwas ganz Schlimmes in unserer Wohnung gesehen habe, mittlerweile wusste sie wieder, dass es ihre eigene Wohnung gewesen war, „ich bin im Schrank aufgewacht und habe im Wohnzimmer zwei Menschen gefunden, die sich nicht mehr bewegt haben. Ich glaube, die waren tot. Ein Mann und eine Frau. Meine Mama hat mir mal erzählt, dass man, wenn man tot ist, in den Himmel kommt. Der Mann und die Frau waren da bestimmt schon, als ich sie gefunden habe. Ich hatte ganz große Angst und ich wusste nicht mehr, wo meine Eltern sind. Also habe ich meinen Rucksack gepackt und bin in den Wald gelaufen…."

    Sie sprach ganz nach Manier eines jungen Kindes. Cassandra fiel beim Reden gar nicht auf, dass ihr mehr und mehr Tränen die Wangen herunterkullerten. Lea starrte sie an. Was sie dachte, verriet ihr Gesicht nicht. Cassandra war es im Moment auch egal. Sie wollte, dass die Alte ihr zuhörte und ihr vielleicht sagen konnte, was da passiert war.

    „Im Wald habe ich einen großen Vogelfelsen gefunden und eine schöne Perle. Aber die Perle hat schrecklich wehgetan, als ich sie angefasst habe. Ich konnte aber nicht mehr loslassen. Und dann wurde alles dunkel bis ich hier in der Nähe aufgewacht bin. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, wo ich bin und will einfach nur noch nach Hause!" Beinahe atemlos schloss sie ihre wild aufgezählte Darstellung und konnte kaum ihren Kummer, der wie eine Woge über sie hinwegrollte, zurückhalten. Bebend sackte sie in sich zusammen und schluchzte laut. Lea sagte immer noch kein Wort. Blass und erschrocken eilte sie um den Tisch zu Cassandra und nahm das Mädchen in die Arme.

    Es musste wohl eine Stunde vergangen sein, ehe Cassandra sich einigermaßen beruhigt hatte. Lea hielt sie immer noch eng gedrückt an ihre Brust und strich ihr über das sandverstaubte Haar. Cassandra fühlte sich auf einmal ganz müde. Widerstandlos ließ sie sich von Lea zu einem Bett führen und mit einer Decke zudecken. Sofort fiel sie in einen tiefen Schlaf. Lea saß noch eine Weile schweigend auf der Bettkante und sah in das verstörte Kindergesicht. Also war sie es, auf die sie gewartet hatte?

    Plötzlich blieben ihre Augen an dem Bündel haften, das die Kleine noch immer eng umschlungen hielt. Behutsam und mit spitzen Fingern zog sie es an sich. Es war rot und aus weichem Material. Eine kleine Maus mit einer ihr unbekannten Kopfbedeckung –später würde sie erfahren, dass es sich um eine Basecap handelte- lächelte ihr darauf entgegen. Der Mund der Maus war erhaben aufgestickt. Mit dem Zeigefinger strich Lea über die feine Linie. Weiterhin schien das Bündel mehrere Innenfächer zu besitzen und sogar zwei Träger, um es zu tragen. Es faszinierte Lea, zumal ihr so etwas noch nie zu Gesicht gekommen war. Leise stellte sie die Tasche neben das Bett auf den Boden und verließ ohne einen Blick zurück das Haus. Sie musste jetzt unbedingt eine Nachricht an ihn schicken.

    Der Tag war vorüber und die Sonne verschwand bereits am Horizont, als Cassandra auf ihrem Lager hochschreckte. Es dauerte einige Sekunden bis sie sich orientieren konnte und daran erinnerte, dass sie bei der alten Lea in der Hütte war. Das Rauminnere wurde von Kerzen erleuchtet, die auf dem Tisch standen, an dem sie vor einigen Stunden noch mit Lea gesessen hatte. Außerdem fiel noch der schwache Schimmer des Tages durch eines der Fenster hinein. Die Tür des Hauses stand offen. Lea war nirgendwo zu sehen. Von draußen war ein bedächtiges Klicken und Klacken zu hören. Vorsichtig befreite sich Cassandra aus der Decke, die ihr Lea umgewickelt hatte und stellte fest, dass sie gar keine Schuhe mehr trug. Lea musste sie ihr ausgezogen haben. Kleine, dreckige Zehen reckten sich ihr entgegen. Wenigstens trug sie ihre Kleidung noch! Neben ihrem Rucksack standen ordentlich aufgereiht ihre Schuhe, in die sie gleich mit ihren Füßen glitt.

    Das Klicken und Klacken von draußen verstummte. Die warme Stimme Leas tönte von draußen zu ihr hinein:

    „Bist du wach, Liebes?"

    Wie konnte sie das wissen?, dachte Cassandra.

    Verwundert ging sie zur geöffneten Tür und sah Lea, wie die in einem Schaukelstuhl mitten in ihrem Vorgarten saß und freundlich zu ihr hinüberlächelte. Draußen war es ziemlich kühl. Daher hatte Lea sich in ein Schafsfell gehüllt. Ein weiterer, kleinerer Schaukelstuhl stand neben dem ihrem. So, als hätte sie erwartet, dass Cassandra zu ihr hinauskommen würde.

    „Bring dir am besten die Decke vom Bett mit nach draußen", sagte sie und begann wieder mit ihrem Stuhl hin und her zu schaukeln. Dabei machte das fein geschliffene Holz ihrer Sitzgelegenheit auf den feinen Kieselsteinen des Gartens wieder das klickende und klackende Geräusch. Cassandra folgte der Bitte sofort und setzte sich nach draußen zu Lea.

    Eine ganze Weile lang verweilten beide schweigend nebeneinander und schauten in die Ferne, die langsam von den langen Schatten der Nacht verschluckt wurde. Der Himmel sah ungewöhnlich lila aus. Vielleicht würde ein Gewitter heranziehen.

    Dann nach einigen Minuten seufzte Lea: „Ja. Es ist schön hier draußen bei mir. Jeden Abend sitze ich im Garten und höre mir die Musik der Bäume im Grünwald an. Nach so vielen Jahren bin ich diese Musik immer noch nicht leid." Verträumt sah die Alte in die Ferne.

    Wovon redet sie da? Welche Musik?, fragte sich Cassandra, die nichts hören konnte.

    Lea wurde ihr immer rätselhafter. Und trotz alledem mochte Cassandra sie. Daher ließ sie sich auch nichts anmerken und warf nur einen verstohlenen Seitenblick zu ihr herüber.

    „Als Kind habe ich immer im Grünwald gespielt. Ich bin manchmal stundenlang durch die Wälder gewandert und habe versucht, Fährten von Tieren zu finden. Zu der Zeit lebten noch viele Familien hier im Grüntal. Mit ein paar Kindern habe ich darin auch Fangen gespielt oder Baumhäuser gebaut. Ich hatte eine schöne Kindheit hier. Und ich war kein Kind von Traurigkeit. Sooft ich es konnte, habe ich meine Mutter mit meinen Weisheiten verrückt gemacht. Ein richtiges Rotzgoer, will man sagen." Lea gluckste. Auch Cassandra konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

    Sie kicherte: „Genau wie ich. Meine Mama sagt immer, dass ich ihr graue Haare mache." Bei der Erwähnung ihrer Mutter spürte Cassandra wieder die Welle aus Trauer durch ihr Herz stechen.

    Lea schaute sie nun mit einem ernsten und besorgten Gesichtsausdruck von der Seite her an: „Mein Kind, was du mir erzählt hast, macht mir Sorgen. Und ich muss dir ehrlich gestehen: Ich weiß nicht, wo der Ort liegt, in dem du wohnen sollst. Bäääärnaaah…?!"

    „Bernau", half Cassandra ihr, als sie merkte, dass Lea den Namen nicht mehr wusste.

    „Wie dem auch sei., winkte Lea ab, „es scheint auf jeden Fall etwas sehr Tragisches bei dir zu Hause geschehen zu sein. Und ich weiß auch nicht, wo deine Eltern sein könnten. Ich kann dir nur sagen, dass du bei mir bleiben kannst so lange du willst. Du bist mir ein willkommener Gast, mein liebes Mädchen.

    „Ich will zu meinen Eltern zurück."

    „Ich weiß, ich weiß, Cassandra. Ich schicke meinen Ced nach Aragast. Er soll sich umhören nach deinem Bernau."

    „Warum rufen wir nicht die Polizei an? Die können mich doch nach Hause fahren!" Cassandra zitterte. Doch nicht vor Kälte, sondern weil ihr langsam bewusst wurde, dass sie so schnell oder eventuell nie wieder ihre Eltern wiedersehen würde. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

    „Polizei? Das sagt mir nichts…"

    „Warum sagt Ihnen das nichts?!", fuhr Cassandra hoch. Wollte die komische Frau sie etwa auf den Arm nehmen?! Konnte sie nicht verstehen, dass sie ihre Eltern vermisste?!

    Tränen der Wut und Verzweiflung traten ihr in die Augen. Dann riss sie sich wütend die Decke vom Körper und rannte weinend ins Haus. Vor Frust, vor Trauer, vor Verwirrung. Lea hörte sie noch lange schluchzen und mit den Händen auf den Tisch schlagen. In ihrem eigenen Kopf überschlugen sich die Gedanken.

    Konnte sie das Mädchen sein, das man ihr bei ihrer Jugendweihe vorausgesagt hatte? Wie konnte sie sie nur wieder glücklich machen und sie auf ihren vorbestimmten Weg vorbereiten? Und warum antwortete er ihr nicht. Oder warum gab er ihr nicht mal ein Zeichen? Nicht mal nach so vielen Jahren interessierte er sich für ihre Angelegenheiten.

    Sie musste auf jeden Fall sicher gehen, dass Cassandra die längst Erwartete war. Aufgeregt sah Lea zum Schuppen hinüber, der inzwischen vollkommen im Dunkeln gelegen war. Die Tiere schliefen bestimmt längst, aber nicht Ced.

    Der schlief fast nie seit Lea ihn als Welpen gefunden und aufgezogen hatte. Er hatte stets sein wachsames Auge auf ihr liegen gehabt.

    „Ced! Komm her, ich brauche dich!", hauchte Lea kaum vernehmlich, sodass ein Nebenstehender hätte nachfragen müssen, da er es nicht verstanden hätte.

    Sofort regte sich etwas im Dunkeln. Lea kniff die Augen zusammen, um etwas erkennen zu können. Der Mond stand inzwischen hoch am Himmel und warf den faden Schein seines Antlitzes in ihr aufgewühltes Gesicht. Aus dem Schatten löste sich eine weiße Gestalt. Klein und gedrungen kam sie auf Lea zu. Es war ein Hund. Er hatte kurzes, weißes Fell. Doch auf seinem Rücken verlief gerade wie die Mähne eines Pferdes ein langes, seidiges Vließ, dessen Haar im Mond silbern glitzerte. Aus grünen, fast menschlich wirkenden Augen sah Ced sie an. Er stand völlig ruhig, während Lea ihm die lange Mähne sanft berührte und ihm etwas zuflüsterte.

    Hätte Cassandra nicht im Haus gesessen und in ihrem Trotz und ihrer Verzweiflung so bitterlich geweint, dann hätte sie gesehen, wie Lea dem Hund Ced etwas ins lange, spitze Ohr gehaucht hatte. Sie hätte gesehen, wie sich um die beiden –sobald Lea den Hund berührt hatte- eine leiser Schimmer gelegt hatte. Sie hätte gehört, wie der Wind die leisen Worte Leas beide hatte umtanzen lassen. Und sie hätte erlebt, wie der weiße Hund nach Aragast losgestürmt war, um über die Herkunft des Mädchens im Grüntal Nachforschungen anzustellen.

    3

    Als Cassandra sich irgendwann beruhigt hatte, hatte sie ein schlechtes Gewissen gegenüber Lea überkommen, die so freundlich zu ihr gewesen war. Aber nach draußen hatte sie sich nicht mehr getraut. Geknickt und erschöpft war sie also im schwachen Lichtschein der Kerzen in das vertraute Bett gehuscht und hatte sich einem unruhigen Schlaf hingegeben.

    Am frühen Morgen des nächsten Tages erwachte sie. Die Sonne schien zu den Fenstern herein und auf den Dachbalken herrschte wieder das geschäftige Treiben von den Mäusen, die dort wohnten. Lea war nicht zu Hause. Die Tür war geschlossen und Cassandra zugedeckt. Lea musste irgendwann zu ihr hereingekommen sein. Auf dem Tisch stand eine dampfende Schale. Daneben lag ein dicker Holzlöffel. Cassandra merkte erst jetzt, wie hungrig sie eigentlich war. Sie musste seit zwei Tagen nichts mehr gegessen haben. Schnell ging sie hinüber zum Tisch und sah in die Schale. Lea hat ihr etwas gekocht, das aussah wie Haferschleim. Es schmeckte sehr gut. Cassandra aß gierig alles auf. Wenn ab und zu eine Maus vorbeikam, warf sie ihr ein Bröckchen von dem Schleim hin. Sie war erstaunt über sich selbst. Hatte ihre Mutter ihr nicht immer eingebläut nichts von Fremden zu essen oder zu trinken? Andererseits war sie nicht hier. Niemand war hier bei ihr. Nur die Mäuse über ihrem Kopf.

    Es vergingen einige Stunden, in denen sich Lea nicht mehr blicken ließ. Cassandra sah sich noch weiter im Haus um und stellte verwundert fest, dass das Bett, auf dem sie geschlafen hatte, aus dem Boden gewachsen zu sein schien und wie ein verformter Baumstumpf aussah. Die wenigen Bücher, die Cassandra fand, enthielten zahlreiche Rezepte, die Lea wohl selbst hineingekritzelt hatte. Ihre Handschrift war nur schwer zu lesen, aber auf einigen Seiten meinte Cassandra Namen von Pflanzen, die sie kannte, entziffern zu können. Eines der Bücher stellte sich als Leas Tagebuch heraus. Es war sehr verlockend. Trotzdem stellte Cassandra das in lilafarbenem Leder eingebundene Büchlein wieder zurück in seine Nische. Sie war stolz auf sich selbst, da sie mal wieder ihre Disziplin bewahrt hatte.

    Als das Hausinnere ihr keine Ablenkung mehr bot, nahm sie die Bettdecke vom Bett, schlug sie eng um sich und ging nach draußen. Überraschenderweise hatte sich die Kälte der vergangenen Nacht komplett verzogen. Es war sogar so warm, dass sie die Decke auf einen der Schaukelstühle ablegen musste, die noch vor der Hütte standen. In einem nahegelegenen Schlammloch lag der Esel aus dem Schuppen und döste im Sonnenschein. Die Kühe schienen im Stall zu sein. Aus einem nahe gelegenen Gebüsch heraus raschelte es und knackten Äste. Ein kleiner borstiger Haaransatz lugte daraus hervor. Das musste die Ziege Leni sein. Da Lea weit und breit nicht zu sehen war, entschied sich Cassandra dafür, einen Spaziergang zu machen und die Gegend zu erkunden. So vergingen die Stunden, in denen sie den Rand des Grünwaldes aufsuchte, in denen sie in westlicher Richtung einen kleinen Bach entdeckte, in dem sie sich waschen konnte –das Wasser war furchtbar kalt- und in denen sie feststellte, dass in diesem Tal anscheinend wirklich sehr wenige Menschen lebten. Auf ihrem Rückweg war Cassandra einen Bogen zurückgegangen und hatte sogar ein kleines Gehöft entdeckt. Als sie ihre Nase gegen eines der staubigen Fenster platt gedrückt hatte, hatte sie enttäuscht feststellen müssen, dass auch hier niemand mehr war. Und plötzlich war ihr Bernau in den Sinn gekommen, wo immer so viel los war – wenn man mal von den Sonntagen absah, wo generell nie besonders viel zu passieren schien.

    Am frühen Nachmittag kehrte sie auf Leas Grundstück zurück. Alles lag in Einsamkeit. Selbst der Esel war nicht mehr an seinem Ruheplatz. Nur das Gebiet vor der einfachen Behausung der Alten hatte in der Zeit ihrer Abwesenheit offenbar einer Invasion von Maulwürfen standhalten müssen –so mutmaßte sie, denn die Erde war an zahllosen Stellen zu winzigen Haufen aufgetürmt, sodass alles beinahe wie ein Schweitzer Käse aussah. Wie weit Cassandra davon entfernt war mit ihrer Theorie, dass da Maulwürfe am Werk gewesen sein mussten, von der Wahrheit entfernt war, würde sie bald herausfinden. Die leise Hoffnung Lea im Haus anzutreffen wurde auch enttäuscht. Auf dem Herd stand ein Krug mit klarem Wasser. Cassandra trank in tiefen Zügen davon und legte sich aufs Bett.

    Auch gut! Irgendwann wird sie schon wiederkommen!, dachte sie.

    Sie musste vor Langeweile eingenickt sein, als sie plötzlich von einem Geräusch geweckt wurde. Lea stand in der offenen Tür und schaute sie freundlich an. Ihre Haare wirkten ganz zerzaust und um ihr Handgelenk war ein Tuch gebunden, durch das ein wenig Blut gesickert kam. Sie trug ein grünes Kleid und passend dazu grüne Strümpfe. Wenn Cassandra nicht so erschrocken über die Wunde an Leas Hand gewesen wäre, hätte sie über diesen Anblick sicher gelacht.

    „Hallo mein Kind. Wie geht es dir, besser?"

    „Ja. Danke. Was ist mit der Hand passiert?"

    „Ach, das, winkte Lea ab, „eines von den Waldhörnchen hat mich da gebissen. Ganz launische Biester sind das. Können aber gut Nachrichten überbringen, wenn die Anzahl der Nüsse stimmt…

    Cassandra sah sie irritiert an.

    „Hier ist alles ein wenig anders als du es anscheinend gewohnt bist, gluckste die Alte und begann die vielen Töpfchen und Phiolen an der Wand zu durchsuchen. „Aber keine Sorge, sagte sie über die Schulter hinweg, „du lernst diese Welt noch kennen."

    „Diese Welt? Sie meinen, diese Gegend?"

    Lea hielt kurz inne.

    „Ja. Die Gegend meinte ich natürlich." Die Alte wirkte so, als nagte sie an irgendetwas. Jedenfalls biss sie sich heftig auf die Unterlippe und machte sie erneut ans Suchen. Aus ihrer Schürzentasche lugte ein Zipfel Pergament hervor. Ganz nebenbei und unauffällig schob sie es zwischen zwei bauchige Vasen. Das leuchtende Rot der Buchstaben und Worte darauf war, da es anscheinend mit Tinte geschrieben war, etwas verschmiert.

    „Wir sind hier im Grüntal, richtig?", fragte Cassandra, die nichts davon mitbekommen hatte.

    „Ja, mein Kind. Und jetzt, hilf mir mal bitte. Nimm doch bitte mal diesen Topf und stell‘ ihn für mich auf den Tisch, ja?"

    Lea hielt ihr einen kleinen, braunen Tonkrug entgegen, aus dem es merkwürdig roch. Cassandra stellte ihn mit gerümpfter Nase ab und setzte sich Lea gegenüber auf einen der Baumstümpfe. Aus ihrem Kleid, das diverse Taschen zu haben schien, zog Lea große Blätter, die Cassandra als Kastanienblätter erkannte. Dann öffnete sie den Tonkrug und schmierte eine braune Paste auf die Blätter und legte sie auf ihre Wunde, die bereits entzündet war. Der Geruch der Paste schlug Cassandra wie eine Wand entgegen und sie musste aufpassen, sich nicht zu übergeben. Zum Glück hatte sie den Haferschleim schon vor längerer Zeit gegessen.

    „Das ist die gemeine Tundrawurzel, erklärte ihr Lea, „sie wächst praktisch überall in diesen Gefilden. Die meisten Leute halten sie für Unkraut und beachten sie nicht, aber vermengt mit einer ordentlichen Menge Wolfsurin wird daraus ein sehr wirksames Heilmittel gegen die tödliche Wundinfektion.

    Cassandra lief ein Schauer über den Rücken. Abgestandener Urin! Das musste den Gestank erklären.

    „Wie sind Sie denn an den Urin von den Wölfen herangekommen? „Ich habe einfach gefragt.

    Lea lächelte und war im nächsten Moment sofort wieder auf den Beinen. Cassandra kam nicht mehr aus dem Staunen heraus.

    „Was möchtest du essen? Du musst hungrig sein", fragte Lea und kramte schon wieder in einem Schränkchen, das hinter dem Herd versteckt lag, herum.

    „Ich weiß nicht. Ich esse eigentlich alles", sagte Cassandra. So ganz sicher war sie sich nicht, ob sie nach dem Gestank noch etwas essen können würde.

    „Das ist gut. Solche Gäste habe ich gerne!, lachte Lea und zog einen kleinen, geflochtenen Korb aus dem Schrank hervor. „Hilfst du mir Blätter für das Essen zu sammeln?

    „Äh… ja." Cassandra zögerte. Hatte sie wirklich Blätter gesagt? Vielleicht hätte sie doch nicht so voreilig behaupten sollen, alles zu essen.

    Lea drückte Cassandra den Korb in die Hände. Gemeinsam gingen sie nach draußen. Jenseits des Gemüse- und Kräutergartens hinter Leas Hütte standen große, grüne Bäume. Lea erklärte Cassandra, dass es Weinbäume seien und zeigte ihr, welche Blätter sie davon abrupfen sollte. Schnell hatten beide so das Körbchen mit Weinblättern gefüllt. Danach präsentierte Lea noch stolz ihren eigens angelegten Garten. Von den wild wuchernden Tomatensträuchern zupfte sie ein paar besonders große Tomaten ab und aus der Erde holte sie eine Hand voll Kartoffeln hervor. Während Lea sich darum kümmerte, Wasser in einem Topf zu erhitzen, um die Kartoffeln darin zu garen, durfte Cassandra mit einem Messer die Tomaten in kleine Würfel schneiden. Die Arbeit machte ihr Spaß. Vor allem war sie stolz, dass Lea ihr das Arbeiten mit einem Messer erlaubte, das so groß und spitz war. Ihre Mutter hätte das bestimmt nicht getan. Als die Kartoffeln weich und zerkleinert waren, saßen beide zusammen am Tisch und wickelten das Gemüse in die Weinblätter.

    Die ganze Zeit über hatten sie nur wenig gesprochen und dann auch nur belanglose Dinge. Doch nun, das sie so vertraut zusammen saßen, konnte Cassandra ihre Fragen, die ihr auf der Seele brannten, nicht mehr zurückhalten:

    „Lea. Ich muss dich etwas fragen", begann sie. Es kam ihr albern vor, jetzt noch beim Sie zu bleiben.

    „Ja?"

    „Du hast gesagt, du schickst jemanden nach Aragast, um nach meinen Eltern zu fragen. Du sagtest irgendwas von einem Ced….", Cassandra holte tief Luft, „und nun frage ich mich, was daraus geworden ist."

    „Er ist noch nicht zurück, mein Kind. Die Reise nach Aragast dauert etwa drei Tage."

    „Ok…", sagte Cassandra, „ aber wo liegt denn dieses Aragast? Das kenne ich gar nicht."

    „Es ist das Zentrum unserer Welt. Eine kleine Stadt, in der das Leben sich tummelt. Die meisten menschlichen Wesen leben dort."

    „Das Zentrum eurer Welt? Was hat das zu bedeuten? Es ist alles so komisch hier. Du hast komische Tiere, dein Haus ist komisch…. Wo ist der Boden des Hauses? Warum laufen wir hier auf Gras? Was trägst du für komische Klamotten? Du sprichst mit Wölfen? Wo ist dieser Ced, der angeblich meine Mama und meinen Papa sucht?", stampfte Cassandra unvermittelt auf.

    Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Seit sie hier eingetroffen war, hatte sie immer wieder irgendwelche rätselhaften Dinge gehört oder gesehen. Und es kam ihr so vor, als würde Lea ihr nicht alles erzählen, was sie wusste. Eigentlich erzählte ihr Lea alles andere, was sie gerade gar nicht gebrauchen konnte. Wo waren ihre Eltern? Wo war Bernau? Träumte sie vielleicht?

    „Es ist schwer zu erklären mein Kind und ich fürchte die Stunden dieses Tages würden gar nicht reichen für all das, was ich dir sagen will. Was ich dir sagen muss. Lea war sichtlich aufgeregt und pfriemelte an einem Weinblatt herum, bis es ganz zerfleddert war. „Die Wahrheit ist: Ich will dir nicht weh tun, Cassandra.

    „Was soll das heißen?" Auch Cassandra wurde nun unruhig und kippelte auf ihrem Baumstumpf hin und her.

    „Ich fürchte, mein Liebes, dass du aus einer ganz anderen Welt als dieser stammst. Du hast mir von einer Perle erzählt, die du berührt hast und die dich bis zu meinem Sonnenblumenfeld gebracht hat. Das ist die Erklärung. Ich kenne dein Bernau nicht. Habe noch nie

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