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Flucht: Roman
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eBook796 Seiten10 Stunden

Flucht: Roman

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Über dieses E-Book

Lajla, eine junge Tschetschenin, die nach Österreich geflohen ist, findet sich plötzlich, ohne zu wissen wie, in einem Bordell wieder, in dem sie misshandelt und zur Prostitution gezwungen wird. Ein Entkommen scheint unmöglich.
Kurze Zeit später wird ein Schulmädchen tot aufgefunden.
Dies alles ereignet sich in Dreistätten, einer kleinen Stadt nicht weit von Wien. Normalerweise lebt es sich dort recht beschaulich. Etwas getrübt wird die Idylle nur durch ein riesiges Flüchtlingslager innerhalb der Stadtgrenzen, das in regelmäßigen Abständen für politische Diskussionen sorgt.
Mit dem Tod des jungen Mädchens ist es mit dem ruhigen Leben vorbei. Es beginnt eine Serie von Verbrechen, die alle irgendwie mit dem Lager zu tun zu haben scheinen, und die meisten der Beteiligten verbindet eines: Sie sind auf der Flucht, weit weg von ihrer Heimat, Fremde, die niemand haben will.
Der Sog der Ereignisse führt schließlich zu einer Eskalation von Hass und Gewalt, die es den Ermittlern rund um Chefinspektor Weininger nicht leicht machen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Aug. 2014
ISBN9783847695912
Flucht: Roman

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    Buchvorschau

    Flucht - Marian Liebknecht

    Montag, 20. September 20:30 Uhr

    Sie erwachte auf einem Bett in einem fensterlosen Raum. Ihr Kopf war schwer, sie vermochte ihn kaum zu heben. Zweifellos hatte man ihr ein Narkotisiakum verabreicht. Nur langsam fand sie den Weg zurück in die Realität. Die Dunkelheit um sie herum ließ die wirren Träume, die ihren Schlaf beherrscht hatten, noch weiter wirken.

    Was war passiert? Welche ihrer Erinnerungen waren wirklich geschehen und was entstammte den Trugbildern, die noch immer ihr Bewusstsein beherrschten?

    Sie dachte zurück, an die Flucht aus ihrem Dorf, nicht weit von Urus-Martan, wo sie in Tschetschenien gelebt hatte. All ihre Ersparnisse waren für dieses ungewisse Abenteuer draufgegangen. Die beiden Männer, die den Transport geleitet hatten, hatte sie nicht einmal gekannt, es war eine Freundin gewesen, die ihr von der Möglichkeit erzählt hatte, ihre Heimat und ihr Elternhaus zu verlassen, um die Chance auf ein besseres Leben im Westen wahr werden zu lassen. Es hatte geheißen, dort, wo man sie hinbrachte, wären die Aufenthaltserlaubnis und ein Job, von dem man gut leben konnte, kein Problem, alles sei organisiert.

    Die Fahrt Richtung Westen im Laderaum eines Klein-LKW verlief dann tatsächlich ohne größere Probleme. Trotz ständiger Angst, entdeckt zu werden, erwies sich ihr Versteck als so gut, dass sie es unbehelligt bis hierher schafften. Hier mussten sie plötzlich raus aus dem Wagen und wurden kurz darauf von Grenzwachebeamten aufgegriffen. Da sie sofort einen Asylantrag stellten, wurden sie schließlich in ein riesiges Flüchtlingslager überstellt. Die Fahrt dorthin hatte eine gute Stunde gedauert. Wo genau es sich befand, wusste sie nicht. Es war irgendwo in diesem Land, das sie nicht kannte und das sie auf so verschlungenen Wegen erreicht hatte.

    Bis zu den Tagen im Lager – es konnten nicht viele gewesen sein – war ihre Erinnerung gestochen scharf. Danach fing alles an, nebelig und lückenhaft zu werden. Nur unscharfe Bilder von den weiteren Ereignissen tauchten immer wieder auf: wie sie in der Nacht von Männern durch die Gänge geführt wurde, wie sie sie zwangen, in ein Auto zu steigen, eine Art Lieferwagen. Dann verloren sich die Bilder, alles weitere bestand nur aus zusammenhanglosen Bruchstücken, die sie nicht mehr zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen vermochte, so sehr sie es auch versuchte.

    Eine Zeit lang blieb sie liegen und ließ die Erinnerungen vorüberziehen, ohne darüber nachzudenken, wo sie sich befand und was das alles zu bedeuten hatte, so weit war sie noch nicht.

    Irgendwann, unmerklich aber stetig, und ohne dass sie etwas dagegen zu tun vermochte, begann ein Gefühl der Angst in ihr hochzukriechen und sich in ihrem Kopf einzunisten. War es zunächst nur eine dumpfe Empfindung, die ohne ihr Zutun durch ihre Gedanken schweifte, so übernahm dieses Gefühl langsam in dem Maße die Oberhand, in dem ihr die völlige Ohnmacht ihrer Lage immer bewusster wurde.

    Ekel stieg in ihr hoch, sie meinte, sich übergeben zu müssen und beugte sich über die Bettkante, aber nichts geschah. Dieser Abscheu, der sie durchdrang, lag tiefer, er konnte nicht durch die Entleerung des Magens überwunden werden. Sie streckte sich wieder auf dem Bett aus, und fühlte, nach und nach das volle Bewusstsein erlangend, dass sie nichts tun konnte als liegen zu bleiben und die Angst ihren Körper durchströmen zu lassen.

    So verharrte sie eine Weile, vielleicht waren es Minuten, vielleicht eine Stunde. Irgendwann, so unmerklich, wie die Furcht von ihr Besitz ergriffen hatte, begann sie langsam, sich an dieses Gefühl, wenn es sie auch nicht verließ, zu gewöhnen. Sie fand sich damit ab, dass es bei ihr bleiben würde und schaffte es dennoch, wieder Gedanken zu fassen und festzuhalten.

    Sie blickte um sich, versuchte, trotz der Dunkelheit, die sie umgab, etwas zu erkennen und schaffte es schließlich, einen schwachen Lichtschimmer hinter dem Bett wahrzunehmen. Bedächtig erhob sie sich. Der Schwindel, der sie durchfuhr, machte ihr das Mittel, das in ihrem Körper wirkte, wieder bewusst. Zu stehen gelang ihr nur mit Mühe. So hatte es sich als Kind angefühlt, wenn das Fieber sie am Höhepunkt einer Grippe niederdrückte und sie jeden Gang zur Toilette nur schwankenden Schrittes, sich an jedes verfügbare Möbelstück klammernd, zurücklegen konnte. Schließlich gelang es ihr, die Ursache des kaum wahrnehmbaren Schimmers zu erkennen. Es war eine Tür, an deren unteren Ende sich der selbst nur schwache Lichtschein des angrenzenden Zimmers einen Spalt breit Eintritt verschaffte.

    Plötzlich wurde der Spalt unter der Tür heller und Wortfetzen drangen an ihr Ohr. Zwei oder drei Männer hatten das Nebenzimmer betreten und dort helleres Licht eingeschaltet. Sie sprachen russisch, soweit sie es verstehen konnte. Augenblicklich fühlte sie wieder, wie die Angst lähmend von ihr Besitz ergriff und sie stürzen ließ, da öffnete sich auch schon die Tür, ein vierschrötiger Kerl erschien darin und schaltete auch in diesem Raum das Licht ein, eine Neonröhre an der Decke, die mehrmals flimmerte, bevor sich ihr Leuchten beruhigte.

    „Was liegst du da am Boden, verdammte Schlampe, schrie der Mann auf Russisch, während er sie mit grobem Griff am Arm packte, „der Chef will dich sehen.

    Sie spürte schmerzhaft seine zupackenden Hände und ließ sich fort ziehen, ohne Widerstand zu leisten oder auch nur zu wissen, wie ihr geschah. Als sie das angrenzende Zimmer durchquerten, erkannte sie im Vorübergehen einen Kellerraum, eine Art Kammer, spärlich möbliert und mit seltsamen Utensilien ausgestattet. Über eine Treppe gelangten sie in einen Gang, in dem von einem angrenzenden Raum Musik hörbar war.

    An dessen Ende erschien eine Tür, vor der sie stehen blieben. Der muskelbepackte Russe klopfte, während er sie weiter festhielt. Es öffnete ein Typ von ähnlichem Kaliber und ihr Begleiter stieß sie hinein.

    Der Raum, den sie betraten, war im Gegensatz zu allem anderen, was sie in diesem Gebäude bisher gesehen hatte, gediegen, fast luxuriös eingerichtet. Die Wände verbreiteten einen rötlichen Schimmer durch die Samttapeten, mit denen sie ausgeschlagen waren. Sie trugen Kristallluster mit Jugendstilornamenten. Auch das Mobiliar strahlte durchwegs fast übertriebene Eleganz aus. Neben einem in stilvollem Mahagoni gehaltenem Schreibtisch erstreckte sich eine geschwungene cremefarbene Ledersitzgruppe mit einem Couchtisch aus geschliffenem Kristallglas.

    An einem Schreibtisch am anderen Ende des Raums saß jemand, dessen Aussehen ihr verborgen blieb, da zwei Männer mit dem Körperbau von Bodyguards vor ihm standen, um ihn zu verdecken. Sie durfte sein Gesicht nicht sehen, so viel war klar. Zwischen den beiden vierschrötigen Gestalten hindurch konnte sie nur wahrnehmen, dass er einen Anzug trug.

    Er sagte etwas in ihre Richtung, seine Stimme hatte etwas Unbestimmtes, Seelenloses in ihrem Klang, etwas, das nichts über die Person dahinter verriet. Sie konnte ihn nicht verstehen, glaubte aber, die harten Betonungen der deutschen Sprache erkannt zu haben.

    Ihr Begleiter stieß sie grob in die Rippen.

    „Ich hoffe, jetzt wirst du mich verstehen." Der Mann im Anzug versuchte es diesmal auf Englisch, das sie leidlich beherrschte. Er sprach nicht unfreundlich, aber gerade dadurch bekam seine seltsam leere Stimme etwas zutiefst Beunruhigendes.

    „Lajla, richtig?", fragte er.

    Sie nickte.

    „Du weißt, wo du hier bist?"

    Kaum wahrnehmbar schüttelte sie den Kopf.

    „Nun, dann wird es Zeit, dass es dir jemand erklärt. Wir sind hier ein Club. Die Leute, die zu uns kommen, haben eine Menge Geld, das sie hier ausgeben wollen. Deswegen soll ihnen auch etwas geboten werden. Dafür seid ihr zuständig, du und die anderen Mädchen. Du wirst sie bald kennen lernen. Sie werden sich um dich kümmern und dir alles beibringen, was du benötigst."

    Er machte eine Pause.

    „Dafür kümmern wir uns auch um dich. Du brauchst keine Angst zu haben, du wirst nicht dorthin zurück geschickt, wo du herkommst. Alles ist ganz legal, wir besorgen dir auch Papiere. Die bleiben natürlich bei uns, für den Fall, dass wir kontrolliert werden."

    Wieder unterbrach er seinen Redefluss.

    „Mit Außenstehenden, egal ob Kunde oder jemand anderer, hast du keine Gespräche zu führen, sonst wirst du Probleme bekommen. Mach deine Arbeit, und das gut, im Übrigen halt’ den Mund."

    Die Art, wie er das sagte, diese seltsame Mischung aus Freundlichkeit und Drohung, ließ Lajla mehr erschauern, als wenn er sie angebrüllt hätte.

    „Im Grunde wär’s das, setzte er fort, „am besten du suchst jetzt die anderen auf, damit sie gleich mit deiner – er machte eine Pause – „,Einschulung‘ beginnen."

    Der Russe nahm sie wieder mit dem bereits bekannten durchdringenden Griff am Arm mit sich.

    „Ach ja, etwas habe ich noch vergessen. Kurz vor Erreichen der Tür zwang ihr Begleiter sie, sich noch einmal umzudrehen. „Es wäre nicht klug von dir, zu versuchen, von hier wegzukommen. Es ist noch keiner gelungen. Du kannst mir glauben, wir kriegen dich, und was dich dann erwartet, willst du lieber nicht wissen. Aber damit du auch einen Eindruck davon bekommst, was in so einem Fall mit dir geschieht, wird dir Sergej einen Vorgeschmack davon geben. Das kann ich dir leider nicht ersparen.

    Nach diesen Worten öffnete ihr Begleiter die Tür und riss sie, etwas grober und brutaler als zuvor, mit sich, die Richtung, die sie zuvor gekommen waren, zurück. Sie ging mit wie in Trance. Als sie die Stufen ins Kellerabteil hinab stieg, überfiel sie das Gefühl hinabzugleiten, einzutauchen in einen See, einen kalten See aus Schmerz und Tränen, in dem sie ertrinken würde, ohne irgendetwas dagegen tun zu können.

    Dienstag, 28. September 15:45 Uhr

    Das Zimmer war groß und unpersönlich. Insgesamt standen acht Betten an den seelenlosen weißen Wänden, die aussahen, als wären sie erst vor kurzem getüncht worden. Nur an einzelnen Stellen liefen hässliche schwarze Striemen die Mauern entlang, gleich Narben, die das Gesicht des Raumes entstellten. Sie stammten von den Zimmerinsassen, die ihre Schuhe nur selten auszogen, wenn sie sich auf ihre Liegestätten legten. Vier der Betten waren bezogen und zum Teil mit Kleidern und allem möglichen Gerümpel belegt. Die hintere Seite des Zimmers bildete eine Kastenfront im selben sterilen Weiß, das auch die Wände bedeckte. Bei kurzem Hinsehen drängte sich auch hier der Eindruck einer kahlen Wand auf.

    Sofort, als der Wachebeamte die Tür geöffnet hatte, war Levon klar geworden, dass seine Frau Sona und er noch nicht die Station ihrer Reise erreicht hatten, an der sie sich heimisch fühlen durften. Dieses Domizil, das sie für die Dauer ihres Asylverfahrens beziehen mussten, war nicht mehr als ein notwendiges Übel, das auf ihrem Weg in das erhoffte bessere Leben eben zu ertragen war.

    Gerade zehn Stunden war es her, dass die beiden die Tür ihrer Wohnung in Jerewan, die mehr als zwanzig Jahre das Zentrum ihres Lebens gewesen war, zum letzten Mal geschlossen und das Taxi zum Flughafen bestiegen hatten. Es sollte sie ihrem Traum entgegen bringen, die Zeit, die ihnen noch blieb, in der Nähe ihres Sohnes Raffi zu verbringen, der vor acht Jahren mit seiner Frau Leniya nach Europa gegangen und schließlich in Österreich hängen geblieben war. Als talentierter Musiker hatte er sehr bald eine Arbeit als Violinlehrer am Wiener Konservatorium bekommen und seitdem immer wieder seine Eltern bearbeitet, sie mögen ihm nachkommen, damit die Familie wieder an einem Ort vereint wäre, in einem Land, das allen die Möglichkeit bot, ein gutes Leben zu führen.

    Auf ihre große Reise hatten Sona und Levon nur das Notwendigste mitgenommen, zwei große Koffer mit Wäsche und zwei kleinere mit Büchern und einigen Sachen, von denen sie sich nicht hatten trennen wollen und die nicht viel Platz einnahmen. Ein Stück, an dem Levons Herz besonders gehangen hatte, war zurück geblieben, sein Cello, dem er immer die wehmütigsten Töne entlockt hatte. Zu groß und zu sperrig für die Reise, hatten sie es zusammen mit den Einrichtungsgegenständen, die sie in ihrer Wohnung in Jerewan zurück gelassen hatten, ihrem Vermieter für gerade einmal zweihundert Dollar verkauft. Geld, das sie jetzt brauchen konnten, um über die erste Zeit zu kommen. Ihr Sohn würde sie zwar nach Kräften unterstützen, war aber selbst alles andere als auf Rosen gebettet. Er bewohnte mit seiner Frau Leniya eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Simmering, einem Stadtteil Wiens, der nicht das reichste Publikum beherbergte. Dennoch war die Miete für ihre Verhältnisse hoch und seine Lehrverpflichtung am Konservatorium umfasste nicht allzu viele Stunden. Dazu kam, dass Leniya noch immer ohne Arbeit dastand, nachdem sie erst vor kurzem ihre Stelle als Aushilfskraft in einem Lebensmittelmarkt verloren hatte.

    In Armenien war Levon Musiker gewesen, hatte in Jerewan an der Musikhochschule Cello und Klavier unterrichtet, eine Beschäftigung, die ihn zwar erfüllte, von der man aber dort, wo er herkam, kaum leben konnte, schon gar nicht, wenn die Ehefrau, wie es bei Sona der Fall war, zu Hause blieb.

    Die beiden hatten ein Alter erreicht, das dem Begriff Heimat zwar einen hohen Stellenwert beimaß, ihn aber noch nicht zu absoluter, unveränderbarer Wichtigkeit erhob, wie es im letzten Lebensabschnitt oft der Fall ist, wenn bei Verlassen der vertrauten Umgebung mit den eigenen Wurzeln mitunter auch der Inhalt des Lebens verloren geht. Außerdem hatte Levon seit jeher mit Heimat vor allem seine Familie und die Musik verbunden und erst in zweiter Linie einen bestimmten Ort dieser Welt. Von den beiden war Sona es gewesen, der es anfangs schwer gefallen war, loszulassen. Allein die Aussicht auf ein familiäres Beisammensein mit ihrem Kind hatte den Ausschlag gegeben, dass sie der Abreise zugestimmt hatte.

    Am Flughafen Schwechat war es verhältnismäßig schnell gegangen, nachdem Raffi ihre Ankunft bereits vorher den Behörden gemeldet und gleichzeitig ein Aufenthaltsansuchen gestellt hatte. Sie waren von zwei Wachebeamten empfangen und in ein Vernehmungsbüro geführt worden, in dem sie eine ganze Litanei von Fragen über die Gründe ihrer Einreise und ihre damit verbundenen Absichten über sich ergehen lassen mussten. Diese seltsame Prüfungssituation – bei jeder Antwort von der ungewissen Angst überschattet, einen all ihre Hoffnungen zunichtemachenden Fehler zu begehen – hatte aber immerhin nur eine halbe Stunde gedauert, auch wenn es den beiden viel länger vorgekommen war. Nach Unterfertigung des unverzüglich erstellten Protokolls waren die beiden von zwei Polizisten hierher ins Flüchtlingslager gefahren worden. Verglichen mit anderen hatten sie Glück, denn die Tatsache, dass ihr Sohn Raffi seit Kurzem die österreichische Staatsbürgerschaft besaß, ermöglichte ihnen eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung, auf deren Grundlage die Betreuung in der Flüchtlingsaufnahmestelle Dreistätten ohne weitere Prüfung möglich geworden war.

    „Sie können Ihre Sachen jetzt auspacken, bemerkte der Wachebeamte, der sie am Eingang von den Polizisten übernommen und ins Zimmer geführt hatte, mit mechanischer Routine, „hier ist der Schlüssel für den Kasten. Ihrer ist der ganz rechts.

    Er drehte sich um und sah Sona an. „Sie haben Ihr Bett im angrenzenden Zimmer und können Ihre Sachen dort auspacken. Ich bringe Sie gleich hin."

    Wieder zu Levon gewandt, bemerkte er: „Kommen Sie in einer halben Stunde hinunter ins Aufnahmezimmer. Sie erhalten dort die Schlüsselkarte für den Eingang und Ihre Essenskarten."

    Der Wärter öffnete die Tür, um mit Sona ins Nebenzimmer zu gehen. Im selben Moment stieß der Wind eines der alten, hohen Fenster des Zimmers auf und brach sich für einen Moment Bahn ins Innere. Dabei wirbelte er einige auf einem Bett liegende Zeitungen durcheinander und stieß eine auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers stehende Vase mit ein paar dunklen Nelken um. Sie war das einzige im gesamten Raum, das man mit etwas gutem Willen als Dekoration bezeichnen konnte. Obwohl sie hart am Tisch aufschlug, zerbrach sie nicht. Nur der trübe, grünliche Inhalt begann sich auf der hölzernen Oberfläche auszubreiten und mit ihm ein Geruch nach Fäulnis und Verwesung. Ohne darauf zu achten, verschwand der Aufseher mit Sona und schloss die Tür, was den Luftstrom zur Ruhe kommen ließ. Levon nahm ein im Eck liegendes Bodentuch und wischte den Tisch sauber. Danach schloss er das Fenster, so gut es bei diesen alten Hebeln und Scharnieren möglich war, setzte sich an den Tisch und dachte eine Minute an gar nichts. Er war müde. Der Tag hatte sehr früh begonnen und ihm schien es, als sei heute mehr passiert als sonst in einem Monat. Schließlich stand er auf und begann, den Inhalt des Koffers, der auf dem Bett lag, langsam im Kasten unterzubringen und mit jedem Kleidungsstück, das hinter dem anonymen Weiß der Schranktür verschwand, wurde ihm klarer, dass das glückliche Leben, das ihnen beim Auszug aus ihrer Heimat vorgeschwebt war, noch auf sich warten lassen würde.

    Dienstag, 5. Oktober 17:55 Uhr

    Obike und Rasul befanden sich auf dem Heimweg und schlenderten am Rand von Dreistätten durch eine etwas vernachlässigt wirkende Gegend, die hauptsächlich aus Ein- und Mehrfamilienhäusern der Siebziger- und Achtzigerjahre bestand. Nur gelegentlich wurden die bebauten Grundstücke von kleinen, brachliegenden Grünflächen abgelöst. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen und tauchte die von Kastanienbäumen gesäumte Straße in ein nur unmerklich schwächer werdendes Halbdunkel, das sich, wie immer im Herbst, noch eine Zeit lang am Himmel hielt. Der Boden war bereits bedeckt von den ersten Kastanien und zwischen den dichten Ästen der Bäume verbarg sich noch eine Unzahl schon leicht aufgesprungener Früchte, alle dazu bestimmt, demnächst ihren Inhalt über die Straße zu ergießen.

    Die beiden Afrikaner waren vor vier Wochen per Flugzeug aus dem Kongo gekommen, wo sie mit knapper Not der völlig zerrütteten Situation, die der Bürgerkrieg dort hinterlassen hat, entflohen waren. In Österreich angelangt, war es für sie nicht ganz einfach gewesen, die erste Hürde im Kampf gegen die unfreiwillige Heimkehr zu überstehen. Obwohl sie bei der Einvernahme am Flughafen anfangs nicht begriffen hatten, worum es überhaupt ging, wurden sie trotz illegaler Einreise nicht in Schubhaft genommen, vor allem, weil sie während des Verhörs begonnen hatten, ihre Verletzungen, die sie während des Bürgerkrieges in der Heimat davongetragen hatten, zu zeigen. Dies und der Hinweis auf das Land, von dem sie kamen, veranlassten die einvernehmenden Beamten schließlich, die unübersehbaren Anzeichen einer Asyl begründenden Verfolgung zu akzeptieren und die vorläufige Aufnahme im Flüchtlingslager Dreistätten zu veranlassen.

    Im Lager selbst ging es ihnen für ihre Begriffe außerordentlich gut. Schon allein die Tatsache, dass es regelmäßig etwas zu essen gab, war eine Wohltat, die sie in ihrem bisherigen Leben noch nicht kennen gelernt hatten. Wahrscheinlich würde einem verwöhnten einheimischen Gaumen das Essen dort nur Mitleid erregende oder spöttische Bemerkungen entlocken. Für zwei Afrikaner allerdings, die seit frühester Jugend keine geordneten Verhältnisse, sondern nur das Elend ständigen Umherziehens kannten und in den schlimmsten Zeiten froh gewesen waren, wenn sie zwei Mal in der Woche etwas zu Essen bekamen, war es eine erwärmende Erfahrung.

    Die beiden hatten sich vor etwa fünf Jahren kennen gelernt, als der schwelende Bürgerkrieg im Kongo wieder voll aufgeflammt war. Obike war es gelungen, mit seinen Eltern vor den unmittelbaren Kampfhandlungen in ein Flüchtlingssammellager irgendeiner Organisation zu fliehen, deren Namen er nicht mehr wusste. Dort hatten sie Rasul zu sich genommen, den der Krieg zum Waisen gemacht hatte. Es begann ein mehrere Jahre dauernder Spießrutenlauf der Familie, der zwei seiner Geschwister und seiner Mutter das Leben gekostet hatte, nicht direkt durch Kampfhandlungen, sondern durch Unterernährung und daraus entstandenen Krankheiten. Wer in diesem Krieg gegen wen kämpfte, hatten sie im Grunde nie verstanden. Mit fünfzehn waren sie von einer Rebellentruppe rekrutiert worden, die Soldaten aus ihnen machten. Von diesem bunt zusammen gewürfelten Haufen hatten sie nach einem knappen Jahr fliehen können und waren einem Aufruf der Regierung Joseph Kabila gefolgt, der jedem Nicht-Regierungs-Soldaten, der innerhalb einer bestimmten Frist seine Waffen bei den Behörden abgab, freies Geleit, Papiere und einen ganz brauchbaren Geldbetrag versprach. Mit dem freien Geleit und den Papieren klappte es, das Geld hatten sie allerdings nie gesehen, was sie – zwei zornige junge Männer – veranlasst hatte, sich in Michael-Kohlhaas-Manier vom Staat zu holen, was ihnen zugesagt worden war, sprich, in einem Amt in die Kasse zu greifen. Jemand hatte sie dabei zwar gesehen, sie konnten aber entkommen. Da sie Papiere hatten und das Geld reichte, waren sie, nach einer bangen Stunde am Flughafen, mit dem nächstbesten Flugzeug, das Richtung Europa ging, weggeflogen. Es hatte sie nach Österreich gebracht.

    Ihre Probleme indes hatten sich mittlerweile verlagert. Das große Damoklesschwert, das jetzt über ihnen schwebte, war die Gefahr, wieder in ihre Heimat zurück befördert zu werden, wo es keine Arbeit gab, wo man jeden Tag überlegen musste, wie man zu etwas Essbarem kommen konnte, ohne jemanden zu überfallen und wo nie auszuschließen war, dass wieder eine der Kampfparteien Anspruch auf einen erhob und man – wenn es gut ging – vor die Wahl gestellt wurde, entweder sofort erschossen zu werden oder zu kämpfen, ohne zu wissen, wofür.

    Die beiden Kongolesen waren jetzt sechzehn Jahre alt und entschlossen, alles dafür zu tun, um aus ihrem zu Hause aufgezwungenen Kreislauf des Dahinvegetierens und Tötens heraus zu einem geordneten Leben zu kommen, das zwar als Sehnsucht vor ihnen lag, das sie sich aber noch nicht einmal real vorstellen konnten.

    „Die beiden Idioten müssen letzte Nacht wieder mit den anderen zusammengetroffen sein. Bis nach Mitternacht hat es sich auf dem Gang abgespielt, ich habe gedacht, jetzt schlagen sie sich endgültig die Schädel ein", sagte Obike.

    Die beiden Idioten, das waren zwei Ukrainer, die seit knapp einer Woche im selben Zimmer wie sie selbst schliefen, und ‚die anderen’ waren eine Gruppe von Tschetschenen, besser gesagt, deren männliche Vertreter, die seit eineinhalb Wochen im Lager einquartiert waren.

    „Ich warte nur darauf, dass irgendwann einer von denen mit durchgeschnittener Kehle am Gang liegt." Die Antwort von Rasul war von keinerlei Mitgefühl gekennzeichnet. Diesen Luxus hatten sie sich in ihrem bisherigen Leben, das nur darauf ausgerichtet gewesen war, ihre Haut zu retten, nicht leisten können. Der Lärm und die Schreie der anderen Heiminsassen ließen etwas in ihren Köpfen auferstehen, das sie am liebsten schon lange begraben hätten, nämlich die Gespenster aus ihrer Soldatenzeit, als sie immer damit rechnen mussten, im Schlaf umgebracht zu werden. Überhaupt war es die Nacht, in der sie schutzlos waren gegenüber den Eitergeschwüren, die in ihrem Inneren arbeiteten. In der Nacht brachen sie auf und ließen die beiden gerade dem Kindesalter Entwachsenen nicht zur Ruhe kommen. Und die Schreie der Flüchtlinge im Lager bildeten den geeigneten Katalysator, um die Erinnerungen zum Fließen zu bringen, Erinnerungen, die sie ihr ganzes Leben begleiten würden. Seit sie angekommen waren, wurden sie psychologisch betreut, aber diese so genannte begleitende Kontrolle war ein einmal pro Woche stattfindendes Gespräch mit einem der Lagerpsychologen. Immerhin war es jedes Mal derselbe, die Fälle wurden unter den Betreuern nicht weiter gegeben. Bisher hatte er sie immer nur gefragt, wie es ihnen gehe, ob etwas nicht in Ordnung sei, wie sie schliefen, ob sie Angstgefühle hätten und ähnliches Zeug. Teilweise verstanden sie die Fragen nicht einmal. Ziemlich schnell hatten sie erkannt, dass sie ohnehin nicht viel sagen mussten, gelegentliches Kopfnicken und da und dort ein eingestreuter Satz, am besten nach einer Frage, bei der sie zu wissen glaubten, was ungefähr gemeint war, genügte vollauf. Diese halbe Stunde pro Woche gehörte eben dazu, wenn man hier bleiben wollte.

    Sie bogen in eine Seitenstraße ein, die nach etwa zweihundert Metern auf die Zufahrtsstraße zum Lager traf. Von dort hatte man noch knapp dreihundert Meter zu gehen. Wie fast jeden Tag waren sie im Grunde recht ziellos im kleinen Stadtzentrum von Dreistätten umherspaziert, bis sie sich in einem Lebensmittelmarkt ein Getränk gekauft hatten, um es auf einer malerisch von der Nachmittagssonne beschienenen Bank zu leeren. Die fünfzig Euro Taschengeld, die ihnen als in die Bundesbetreuung aufgenommene Asylwerber zustanden, reichten gerade für derlei bescheidene Annehmlichkeiten.

    Mittlerweile war es dunkel geworden. Als Obike etwa fünfzig Meter vor dem Ende der Straße auf die linke Seite blickte, wo eine von der Straßenbeleuchtung nur unzureichend beschienene strauchbewachsene Grünfläche sichtbar wurde, sprang ihm ein heller Fleck ins Auge. Genauer besehen schien es etwas zu sein, das vom Gebüsch verborgen werden sollte, von dem aber ein Teil, wenn auch nur sehr klein und kaum zu erkennen, sichtbar war. Vielleicht war es die ungewollt reiche Erfahrung, die sich Obike seit seiner Zeit als Kindersoldat mit gewissen Dingen erworben hatte, aber beim Nähertreten wusste er trotz des Wenigen, das das Blattwerk freigab, sofort, was es war, auch wenn er sich weigerte, es zu glauben. Rasul folgte ihm zu der Stelle am Straßenrand, und als sie die Zweige beiseite bogen, wurde es Gewissheit. Im Gebüsch lag die Leiche eines kleinen Mädchens, das acht oder neun Jahre alt sein mochte. Bei diesem Anblick konnten beide nicht verhindern, dass die Erinnerungen an die vielen zum Teil verstümmelten Leichen, die sie in der kurzen Zeit ihres bisherigen Lebens schon gesehen hatten, wieder lebendig wurden. Aber dennoch sträubte sich etwas in ihnen gegen das, was sie sahen. Diese Dinge gehörten nicht hierher. Elend, Krieg, Kinder, die starben, das war zwar in dem Land, aus dem sie kamen, an der Tagesordnung, aber wie war es möglich, dass sie auch hier auf dieses Gesicht des Todes trafen? Sie brauchten beide ein paar Augenblicke, um zu begreifen, was los war. Vor ihnen lag das Opfer eines Verbrechens.

    „Verdammt, das haben wir gebraucht", sagte Rasul zu seinem Freund, als ihm klar wurde, dass die Lage, in der sie sich befanden, nicht ganz einfach war.

    „Ich glaube, man müsste es der Polizei melden", erwiderte Obike, aber es klang nicht nach einer Selbstverständlichkeit, sondern wie eine etwas ungewöhnliche Vorschrift, die es in diesem Land, in dem sie sich jetzt befanden, gab.

    „Und was passiert dann?, fragte Rasul, „glaubst du, sie werden denken, wir haben was damit zu tun?

    Obike, dem so etwas bis dahin noch gar nicht in den Sinn gekommen war, begann zu überlegen. „Ich weiß es nicht", antwortete er schließlich.

    Plötzlich drehte sich Rasul nach mehreren Seiten um und flüsterte Obike zu: „Komm, verschwinden wir so schnell wie möglich, bevor uns jemand sieht. Am besten, wir waren gar nicht hier und haben von all dem nichts gesehen."

    Sie blickten sich um, sahen niemanden in unmittelbarer Umgebung und gingen so unauffällig wie möglich den Weg weiter bis zur Zufahrtsstraße zum Lager, die sie rechts hinunter bogen.

    Als sie weg waren, versank der Platz, an dem das tote Mädchen lag, wieder in Schweigen. Erst nach etwa einer Minute wurde ein Rascheln hörbar. Jemand, der von den Afrikanern geweckt worden war, kam langsam aus seinem Unterschlupf, um nachzusehen, ob der Wortwechsel der beiden im Gebüsch eine bestimmte Ursache gehabt hatte. Als er den Grund der Unterhaltung erkannte, entfuhr ihm ein unterdrückter Laut und er benötigte einige Augenblicke, um das Gesehene zu verdauen. Sobald er die Fassung wiedergewonnen hatte, sammelte er so schnell wie möglich seine Habseligkeiten ein und ging schnurstracks Richtung Stadtzentrum.

    18:50 Uhr

    Gerade als Chefinspektor Weininger in seine Übergangsjacke schlüpfen wollte, um sich in den wohlverdienten Feierabend zu begeben, begann sein Handy, Töne von sich zu geben. Es waren die ersten Takte der g-Moll-Symphonie von Mozart, eine Melodie, die er irgendwann beim Herumprobieren eingestellt hatte. Mittlerweile wusste er nicht mehr, wie der Klingelton zu ändern war, weshalb er sich wohl oder übel an die auf die Dauer sehr penetrante Tonfolge gewöhnen musste. Er zögerte kurz, während er in Sekundenschnelle die Geruhsamkeit eines gemütlichen Tagesausklangs dahinschwinden sah. Schließlich gewann aber, wie immer in solchen Situationen, das Pflichtgefühl die Oberhand und er drückte auf den Verbindungsknopf.

    „Weininger!", schleuderte er ob der späten Stunde etwas forscher als üblich in den Äther.

    Es war Revierinspektor Schinnerer vom Polizeiposten Dreistätten, der keine guten Nachrichten hatte. Ein Landstreicher hatte ein totes Mädchen gefunden, ziemlich sicher ein Verbrechen, möglicherweise sexuell motiviert. Für Schinnerer war die Sache jedenfalls eine Nummer zu groß, was bedeutete, dass der Chefinspektor, wie befürchtet, sich ab sofort über seine Abendbeschäftigung keine Gedanken mehr zu machen brauchte. Er fragte nach dem Fundort. Wie sich herausstellte, war die Leiche in unmittelbarer Nähe des Flüchtlingslagers entdeckt worden. Nach einem knappen „Ich komme, so schnell ich kann", beendete er das Gespräch, um gleich darauf die Verbindung mit Revierinspektor Margreiter, seinem dienstältesten Kollegen im Polizeikommando Fürstenberg, herzustellen.

    „Hallo, hier ist Weininger. Er meldete sich nie mit seinem Vornamen, obwohl er mit allen in der Abteilung das Du-Wort pflegte. „Schlechte Nachrichten, in Dreistätten haben sie eine Mädchenleiche gefunden, in der Hiblerstraße, gleich hinter dem Lager. Komm so schnell wie möglich hin und bring, wenn möglich auch Nicole und Viktor mit. Schließlich werden wir ja alle mit den Ermittlungen zu tun haben.

    „Ein totes Mädchen?, erwiderte Margreiter überrascht, „Ist schon Näheres über die Umstände bekannt? Ich kann mich gar nicht erinnern, dass es so was bei uns schon einmal gegeben hat.

    „Ich weiß selbst noch so gut wie nichts, antwortete der Chefinspektor, „Schinnerer hat irgendwas von ‚möglicherweise sexuell motiviert’ gesagt, aber in so einem Fall liegt man mit dieser Vermutung wohl selten daneben.

    „Na gut, bemerkte Margreiter, „ich versuch’, hier so schnell wie möglich wegzukommen, es wird aber eine halbe Stunde dauern. Dann bis gleich.

    Der Chefinspektor interessierte sich nicht für den Grund, der seinen jüngeren Kollegen daran hinderte, sofort zu kommen. Gelegentlich waren zwar Geschichten von seinem etwas turbulenten Privatleben zu hören, er hatte es aber immer vermieden, ihn darauf anzusprechen. Wichtig für ihn war, zu wissen, dass er sich jederzeit auf Margreiter verlassen konnte.

    Weininger leitete die Kriminalabteilung des Bezirkspolizeikommandos Fürstenberg jetzt schon fast fünfzehn Jahre lang und kannte jeden Winkel seiner Arbeit mittlerweile so gut, dass es Momente gab, in denen seine Routine ihn selbst fast beängstigte. Der Bezirk Fürstenberg war allerdings auch nicht der Ort, der ständig neue Herausforderungen an die kriminalpolizeiliche Ermittlungsarbeit stellte. Das Gros der Fälle, die über Weiningers Schreibtisch wanderten, bestand in Kleinkriminalität, von denen vor allem die Zahl der Drogendelikte hervorstach, eine Tatsache, die vielfach in Zusammenhang mit der räumlichen Nähe zu eben dem Flüchtlingslager gebracht wurde, in dessen Umgebung man das tote Mädchen gefunden hatte. Daneben stieg in letzter Zeit auch die Zahl der Wirtschaftsdelikte an, was wiederum als Ausfluss der schlechten Konjunktur der vergangenen Jahre gesehen wurde. Weininger gab auf derartige Analysen nicht allzu viel, sondern beschränkte sich darauf, seine Arbeit so gut wie möglich zu erledigen.

    Er war vor fünfundzwanzig Jahren in den Dienst der Polizei eingetreten, nachdem er, solange er denken konnte, nie etwas anderes werden wollte als Polizist. Seine Eltern waren Arbeiter in einer Textilfabrik gewesen und noch heute sah er ihr stolzes Gesicht vor sich, als sie erfahren hatten, dass ihr Sohn die Aufnahmeprüfung für die Polizeischule geschafft hatte. Ihre Unterstützung und ihr Vertrauen waren ihm auch später noch Motivation und Antriebsfeder gewesen, die seine Einstellung zur Arbeit bestimmt hatten, auch dann noch, als sie längst nicht mehr lebten. An seiner kompromisslosen Haltung, was die Arbeit betraf, war allerdings auch die einzige ernsthafte Liebe in seinem Leben gescheitert. Er wollte damals noch nicht heiraten, sie schon. Was weiter geschah, entbehrte nicht einer gewissen Folgerichtigkeit: Sie heiratete einen anderen. Weininger hatte nie ganz verwunden, wie die Dinge damals gelaufen waren. Anfangs war er es gewesen, der sich als Betrogener gefühlt hatte. Später allerdings war er sich nach und nach seines eigenen Anteiles am Zerplatzen der damaligen Träume bewusst geworden. Die kompromisslose Sturheit, mit der er über vielleicht berechtigte Wünsche hinweggegangen war, hatte sich im langsamen Prozess dieser Erkenntnis immer schmerzlicher in sein Bewusstsein gebrannt. Doch späte Reue hat in der Liebe keinen Stellenwert. Was vorbei ist, ist vorbei. Mittlerweile war eine mehr oder weniger dicke Vernarbung über die Wunden dieses Lebensabschnittes gewachsen. Dass nicht alle in diesem Zusammenhang entstandenen Verletzungen völlig spurlos verheilt waren, zeigte sich allerdings noch heute. Immer dann, wenn jemand sein Verhältnis zu Frauen ansprach, es konnte auch eine bestimmte Frau gemeint sein, wurde Weininger seltsam. Bei solchen Gelegenheiten, wie harmlos die Bemerkung auch sein mochte, war er außerstande, ebenso harmlos zu reagieren. Alles, was er dann heraus brachte, war ein unvermitteltes „Lassen wir das" und es kam vor, dass er seinen Gesprächspartner, wollte dieser am Gegenstand festhalten, einfach stehen ließ. Diese etwas linkisch wirkende Eigenschaft hatte verhindert, dass er seit dem emotionalen Desaster seiner ersten und einzigen Liebe auch nur in die Nähe einer neuerlichen Beziehung zu einer Frau gelangt war. Außerdem stand er durch diese merkwürdige Eigenart da und dort im Ruf eines Frauenhassers. Manche hatten sogar den Verdacht, er wäre vom anderen Ufer. Doch sowohl das eine als auch das andere war Unsinn. Alles, was dahinter stand, war ein Ort in seinem Herzen, den er nicht mehr betreten wollte. Wenn aber ein anderer ihn in dessen Nähe drängte, wusste er nichts anderes, als sich zu wehren.

    Was den Dienst anlangte, ließ Weininger keine halben Sachen zu. Eine Marscherleichterung hatte er sich im Laufe der Jahre allerdings angewöhnt. Die tägliche Knochenarbeit, also die Durchführung von Vernehmungen, das Verfassen von Berichten und der ganze Kleinkram, der den Großteil der Arbeit einer Kriminalabteilung ausmachte, waren seit einiger Zeit auf seine drei Mitarbeiter aufgeteilt. Er selbst trat vor allem dann in Aktion, wenn es sich um besonders wichtige Angelegenheiten handelte. Mit zunehmendem Alter – er stand jetzt immerhin zwei Jahre vor seinem Fünfzigsten – stiegen die Ansprüche an die Fälle, die er sich selbst vorbehielt, allerdings stetig, was sein Arbeitspensum im selben Maß reduzierte. Nicht zuletzt lag das am uneingeschränkten Vertrauen, das er seinen Mitarbeitern entgegenbrachte.

    Margreiter beispielsweise war schon über acht Jahre in Weiningers Abteilung. Er hatte im Polizeiposten Bad Schönau, etwa zehn Kilometer von Fürstenberg entfernt, angefangen, wo ihm aber recht bald klar geworden war, dass ihn, den die Lust am Abenteuer zur Polizei getrieben hatte, wohl nur die kriminalpolizeiliche Tätigkeit befriedigen konnte. Deshalb hatte er sich, als er noch Streifenpolizist gewesen war, für die kriminalistische Ausbildung gemeldet. Nach deren erfolgreichem Abschluss war er nach Fürstenberg versetzt worden. Wenn sich auch entgegen seinen Erwartungen die Arbeit nicht als permanente Abfolge von Sondereinsätzen a là „James Bond oder „Kobra übernehmen Sie herausgestellt hatte, so war Margreiter im Lauf der Zeit doch immer mehr hineingewachsen und mit zunehmender Verantwortung hatte er auch Interessen und Talente an sich entdeckt, die über die pure Lust am Nervenkitzel weit hinausgingen. Auf diese Weise war mittlerweile ein umsichtiger und gewissenhafter Ermittler aus ihm geworden, der bei seinen Untersuchungen keine noch so vage Möglichkeit ausließ. Zudem besaß er die Kombinationsgabe, aus dem zusammengetragenen Material die richtigen Schlüsse zu ziehen, wenn auch seinem Temperament entsprechend manchmal etwas zu voreilig und ungestüm. Mit dieser Eigenschaft war er gerade bei Weininger gut aufgehoben, der mit seiner gesetzten Art immer wieder dafür sorgte, dass er nicht über das Ziel hinaus schoss.

    In seiner Freizeit ließ Margreiter allerdings keine Möglichkeit aus, seine Vorliebe für Gefahr und Abenteuer auszuleben. Fast an jedem Wochenende frönte er seinem Lieblingshobby, der Abrichtung von Hunden. Dabei hatte er den größten Spaß, wenn er richtige Kampfmaschinen vorgesetzt bekam, die ihm alles abverlangten. Dieses Vergnügen wurde nicht einmal durch die Spötteleien der Kollegen getrübt, die am Montag nach einem solchen Ereignis fast automatisch folgten, wenn sein Gesicht wieder einmal an einen persischen Kämpfer nach der Schlacht bei Issos erinnerte.

    Schließlich waren da noch Nicole Hofmüller, Tochter des Konditors Hofmüller aus Fürstenberg, und Viktor, der jüngste. Nicole war seinerzeit durch mehrere Interventionen ihres bis in höchste städtische Kreise geschätzten Vaters in die Kriminalabteilung gelangt, hatte sich aber in ihrer mittlerweile fast zweijährigen Tätigkeit den Ruf einer quirligen Mitarbeiterin mit beachtlichem Einfühlungsvermögen erworben, das sich schon in einigen Fällen als wichtig für die Ermittlungen erwiesen hatte. Außerdem war mit ihrer Herkunft ein unbestreitbarer Vorteil verbunden. Mindestens einmal pro Woche wurde die Amtsstube mit ausgesuchten Gaumenfreuden aus dem väterlichen Betrieb versorgt, eine Tatsache, die Nicole mittlerweile für das ganze Polizeirevier unersetzlich machte.

    Viktor war erst seit vier Monaten dabei. Anfangs war sich Weininger nicht sicher gewesen, ob er mit seiner ruhigen, unauffälligen Art ins Team passte. Er hatte immer etwas misstrauisch zugehört, wenn Margreiter, der die Einschulung übernommen hatte, hauptsächlich Gutes von ihm zu berichten wusste. Der einzige Punkt, über den sich Margreiter gelegentlich auch kritisch geäußert hatte, war eine gewisse Eigenwilligkeit, die in regelmäßigen Abständen zu, wie Margreiter es ausgedrückt hatte, unnötigen Diskussionen über klare Angelegenheiten führte. Über diese Kritik war der Chefinspektor fast noch überraschter gewesen als über das Lob. Inzwischen war aber auch ihm schon bei mehreren Gelegenheiten aufgefallen, dass Viktor ein außerordentlich tiefer und eigenständiger Denker war. Anders als die meisten Menschen hatte er allerdings die Gewohnheit, bestenfalls einen Bruchteil dessen, was sich in seinem Kopf abspielte, nach außen dringen zu lassen. In seiner ernsthaften Einstellung zur Arbeit erinnerte er Weininger manchmal sogar ein wenig an sich selbst, da auch bei ihm Pflichtbewusstsein immer an erster Stelle gestanden war.

    Als der Chefinspektor jetzt den Ort erreichte, an dem der Landstreicher die Leiche gefunden hatte, war bereits ein beachtliches Polizeiaufgebot am Werk. Rund um die provisorische Absperrung stand eine Gruppe Schaulustiger, die jede Handlung der Polizisten mit offensichtlicher Spannung verfolgten und dabei immer wieder das bewegungslos daliegende Kind im Auge behielten, das unter einem sorgfältig zur Seite gebogenen Busch lag. Durch die Scheinwerfer, die zur Beleuchtung an mehreren Stellen aufgestellt waren, hatte die Szenerie etwas Unwirkliches. Sie ließ an die Betriebsamkeit eines Filmsets denken, in dem jeder Beteiligte vor und hinter der Kamera um seine Rolle genau Bescheid wusste. Sogar die Leblosigkeit des Mädchens wirkte irreal. Man hatte das Gefühl, es könnte jeden Moment aufstehen und fragen, was all die Leute hier wollten.

    Ohne sich um die Zuschauer zu kümmern, ging der Chefinspektor durch die Absperrung und sah sich zunächst den Fundort aus einigen Metern Entfernung an, um einen Gesamteindruck zu gewinnen.

    „Von hier sind’s nur ein paar hundert Meter zum Lager, sagte er nach einer Weile zu Schinnerer, der ihn angerufen hatte und plötzlich ein paar Meter neben ihm auftauchte, „ich hoffe nur, wir erwischen ihn bald, sonst seh’ ich schlechte Zeiten auf uns zukommen.

    Der Kommandant des Polizeipostens Dreistätten, ein mittelgroßer, drahtiger Mann mittleren Alters, wusste, was Weininger meinte und sah mit trübem Blick in die Richtung des die Umgebung dominierenden Gebäudes im klassizistischen Stil, das zwischen zwei von ungezähmt wuchernden Ligustersträuchern umgebenen Einfamilienhäusern in der Dunkelheit hindurchschimmerte.

    „Wie lange ist sie schon tot?", fragte Weininger mit gehobener Stimme, um sich selbst aufzuraffen und seine Arbeit zu beginnen.

    „Steht noch nicht fest, antwortete Schinnerer, „die Ärztin hat sie sich nur kurz angesehen und gesagt, dass es noch nicht lang her sein kann. Genaueres kann sie erst nach der Obduktion sagen.

    „Weiß man schon, wer sie ist?", fragte der Chefinspektor weiter.

    „Heute kurz bevor wir hergekommen sind, ist eine Vermisstenmeldung bei uns eingegangen, antwortete Schinnerer, „ein junges Ehepaar, genauer gesagt der Vater, hat angerufen und gesagt, dass seine achtjährige Tochter noch nicht von der Tagesmutter nach Hause gekommen ist. Sie war schon fast eine Stunde über der Zeit. Er hat dann betont, nichts dramatisieren zu wollen, aber bisher habe sie das noch nie gemacht. Also, ich bin schon lang Polizist und verlier nicht so leicht die Fassung, aber in diesem Moment hab’ ich wirklich nicht gewusst, was ich sagen soll. Ein Mädchenmord wird gemeldet und kurz darauf hab ich den mutmaßlichen Vater dran, der die Vermisstenmeldung abgibt. Ich hab’ nur die Beschreibung aufgenommen und dann noch gesagt, sie sollen sich keine Sorgen machen, wir melden uns, wenn wir was wissen. Nun, was soll ich sagen, die Beschreibung, die mir der Vater gegeben hat, hat in allen Einzelheiten mit der Leiche zusammengepasst. Einer meiner Streifenpolizisten ist gerade bei den Eltern. Hundertprozentig sicher werden wir aber erst sein, wenn sie identifiziert ist.

    „Hat die Ärztin schon eine Vermutung wegen der Todesursache?"

    „Da sie Blutergüsse am Hals bemerkt hat, hat sie auf Erwürgen getippt, war sich aber nicht sicher. Auch die Frage eines sexuellen Missbrauchs ist noch nicht geklärt. Die Kleine war angezogen, als wir sie gefunden haben."

    „Dass es dazu schon etwas gibt, hab ich nicht erwartet", sagte der Chefinspektor und ging jetzt zum leblosen kleinen Körper, der inmitten all der aufgeregten Bewegung ruhig dalag.

    „Ist an der Lage schon irgendwas verändert worden?", fragte er, wohl wissend, dass bis zu seinem Eintreffen noch keinerlei Sicherungsmaßnahmen am Tatort durchgeführt werden durften, sofern es sich nicht um Notfallmaßnahmen handelte. Aber ihm war in den fast dreißig Jahren, die er bei der Polizei war, schon so viel untergekommen, dass er sich angewöhnt hatte, diese Frage zu stellen.

    „Nein, meine Leute haben nur das Buschwerk bearbeitet, um die Leiche freizulegen, und die Ärztin hat ihre obligatorische Untersuchung durchgeführt, dabei aber nichts verändert", erklärte Schinnerer.

    Der Chefinspektor sah sich die Leiche genau an. Am Hals bemerkte er die Spuren, von denen Schinnerer gesprochen hatte, mehrere deutlich erkennbare Blutergüsse, und kam ebenfalls zum Ergebnis, dass es sich dabei wohl um die tödlichen Würgemale handeln dürfte. Die interessanteste Erkenntnis dieses Augenscheins am Tatort aber war für ihn, dass der Körper im Übrigen völlig unversehrt schien und gänzlich bekleidet war. Außer den auf den ersten Blick kaum auffälligen Würgemalen waren weder Verletzungen noch Beschädigungen an den Kleidungsstücken erkennbar. Das tote Mädchen trug einen Jeansrock mit weißer Bluse, darüber eine braune Jacke und schließlich eine hellblaue Wollstrumpfhose.

    Im unmittelbaren Umkreis der Leiche fand der Chefinspektor außer der Schultasche, die ungeöffnet in zwei Metern Entfernung stand, nur ein paar Schuhsohlenabdrucke, die allerdings wegen des recht harten Untergrundes kaum erkennbar waren.

    „Ich bin hier fertig, sagte er schließlich, „die Kollegen vom Erkennungsdienst können jetzt ihre Arbeit machen. Sie sollen sich vor allem die Spuren hier neben der Leiche genau ansehen. Es dürften die Abdrücke von mehreren Schuhen sein, so wie’s aussieht.

    Auf einen Wink Schinnerers kam die Abordnung vom Landeskriminalamt, die in ein paar Metern Entfernung gewartet hatte, zum Fundort und begann, das Terrain im Umkreis der Leiche auf das genaueste abzusuchen. Jeder Grashalm und jede Faser, die von Bedeutung sein konnte, wurde in verschließbare Plastiksäckchen gesteckt. Von den Schuhspuren wurden Gipsabdrücke gegossen, während die Leiche mit einer PVC-Folie abgedeckt wurde.

    Der Chefinspektor ging zu Margreiter und Viktor. Die beiden waren mittlerweile eingetroffen und standen neben der Absperrung.

    „Was Interessantes entdeckt?", fragte Margreiter.

    „Eigentlich gar nichts, offenbar erwürgt, keinerlei Spuren, die auf sexuellen Missbrauch schließen lassen. Sie scheint sich auch nicht gewehrt zu haben, aber wir sollten den Obduktionsbefund abwarten, bevor wir irgendwelche Schlüsse ziehen, erwiderte Weininger und ging wieder zu Schinnerer, „Sie haben gesagt, ein Obdachloser hat sie gefunden?

    „Ja, er ist in der Umgebung bekannt, streunt einmal da, einmal dort herum, nicht immer in derselben Gemeinde, sonst hätte man ihn da schon längst rausgeschmissen, aber durch seine regelmäßigen Ortswechsel hat er’s bisher geschafft, toleriert zu werden, gab Schinnerer bereitwillig Auskunft, „wir haben ihn im Revier behalten, da er nicht mit hierher kommen wollte.

    „Hat er irgendwas gesagt?", fragte Weininger weiter.

    „Bisher nur, wo er die Leiche gefunden hat. Er war ziemlich aufgeregt, ist wahrscheinlich zum ersten Mal über eine Leiche gestolpert." Das berufsmäßige Grinsen, das bei Schinnerer nach der letzten Bemerkung einsetzte, hatte sich Weininger nie angewöhnt, weil er es seit Beginn seiner Polizeiarbeit als unpassend empfunden hatte.

    „Na gut, sagte er, „hier können wir sowieso nichts mehr tun, wir sollten uns den Landstreicher einmal ansehen, dann können wir, glaub’ ich, für heute Schluss machen.

    Er informierte Schinnerer, dass sie im Dreistättner Polizeiposten noch den Obdachlosen befragen wollten, worauf Viktor, Margreiter und er sich von den Kollegen verabschiedeten.

    Zur örtlichen Polizeidienststelle, die sich in unmittelbarer Nähe des Lagers befand, waren es nur ein paar hundert Meter. Der diensthabende Beamte, der von Schinnerer informiert worden war, empfing die Fürstenberger Abordnung bereitwillig und führte sie zu einem lumpenhaft gekleideten Mann mit schmalen, ausgezehrten Gesichtszügen, die unter einem eher dünnen Vollbart hindurchschimmerten. Er saß auf einer Sitzbank im sonst leeren Wachzimmer. Weininger trat auf den Mann zu und wollte gerade die erste Frage stellen, als ihm ein käsig-fauliger Geruch entgegentrat, der ihn fast zurücktaumeln ließ. Während er noch gegen den Brechreiz ankämpfte, gab er Margreiter ein Zeichen, dass er die Vernehmung durchführen sollte. Dieser, obwohl nicht begeistert, war in solchen Dingen doch wesentlich robuster als der Chefinspektor und stellte ohne Rücksicht auf den in ihm aufsteigenden Ekel seine Fragen. Viktor, der die übertriebene Gewissenhaftigkeit des Neulings noch nicht ganz abgelegt hatte, stand in geringem Abstand daneben, um nur ja nichts zu versäumen.

    „Guten Abend, wie geht’s?, fragte Margreiter mit routinierter Freundlichkeit und erkannte sofort, dass bei seinem Gegenüber der Alkohol bereits begonnen hatte, irreversible Spuren zu zeigen. Er nuschelte etwas, das so ähnlich wie „Schönen Abend klang, um gleich darauf, ähnlich schwer verständlich „Gibt’s hier nichts zu trinken?" folgen zu lassen. Margreiter, der merkte, dass es nicht leicht sein würde, zu verwertbaren Aussagen zu kommen, begann sehr vorsichtig.

    „Haben Sie alles, was Sie brauchen?", fragte er. Eine Handbewegung seines Gegenübers sagte ihm, dass alles soweit in Ordnung war.

    „Sie wollen was trinken?", fragte er weiter und als der Obdachlose seinen kurz zuvor geäußerten Wunsch bestätigte, bat er den hiesigen Beamten um einen Cognac. Von früheren Besuchen wusste er, dass normalerweise einer im Kasten stand. Der Dreistättner Kollege überlegte einen Moment, entsprach dann aber dem Wunsch. Das Gläschen, das serviert wurde, war schneller getrunken, als das Einschenken gedauert hatte.

    „Wie heißen Sie?", fragte Margreiter im liebenswürdigsten Tonfall, den er in seinem Repertoire hatte, was bei ihm nicht allzu viel hieß.

    „Max", war die unerwartet verständliche Antwort. Nach einem Schluck Cognac schien es ihm besser zu gehen.

    „Und was haben Sie heute gesehen?", fragte Margreiter, so schnell wie möglich zur Sache kommend.

    „Wo?", erwiderte der Landstreicher. Margreiter sah ihm in die Augen. Er wusste nicht, ob es nur Fopperei war oder ob sein Gesprächspartner wirklich schon so neben den Dingen stand.

    „In der Hiblerstraße, heute Abend", antwortete er.

    „Eine Tote, sie ist da gelegen, und hat sich nicht gerührt." Die Antwort von Max kam sehr langsam, er schien in Zeitlupe zu denken.

    „Ja, das tote Mädchen haben wir auch gesehen, erklärte Margreiter, „ist Ihnen sonst noch irgendetwas aufgefallen, das vielleicht von Bedeutung sein könnte, haben Sie etwas oder jemanden gesehen, als sie zum toten Mädchen kamen?

    „Ja, ich weiß nicht genau, ich glaub’ schon, kann ich vielleicht noch …… zu trinken …… sie verstehen?" Und er hielt Margreiter das leere Glas hin.

    Nach einem kurzen Blick zum Chefinspektor, den dieser wegen der Besonderheit der Situation mit einem Kopfnicken erwiderte, goss er ihm einen zweiten Cognac ein.

    Der Obdachlose schüttete ihn genauso schnell hinunter wie den ersten.

    „Na, geht’s besser?, fragte Margreiter nach einer Weile, so als warte er darauf, dass die Medizin zu wirken begann. „Ist ihnen schon was eingefallen?

    „Ja, ja, langsam kommt’s wieder, es waren zwei von den Schwarzen, diese verdammten Kaffern aus dem Lager haben sie umgebracht …"

    „Immer mit der Ruhe, versuchte Margreiter dem Ausbruch ein Ende zu setzen, „jetzt erzählen sie uns eins nach dem anderen, was Sie gesehen haben.

    „Ich hab’s mir auf der Bank hinter den Büschen gemütlich gemacht … irgendwann, ich muss eingeschlafen sein, da hör ich auf einmal Stimmen. Es waren diese schwarzen Typen … zwei von denen, wie sie irgendwas aushecken …"

    „Er hat schon Recht, es sind wirklich zu viele Afrikaner hier, das kann nicht gutgehen. Klauen alle wie die Raben und mindestens jeder zweite von denen verkauft Drogen. Crack, Ecstasy oder sonst irgendeinen Mist." Der vom Obdachlosen inspirierte Dreistättner Beamte beendete seinen spontanen Monolog nach einem scharfen Blick Margreiters auf der Stelle.

    „Wann war das ungefähr?", fragte Margreiter.

    „Keine Ahnung, ungefähr um Viertel bin ich vom Olympia weg."

    „Viertel was?"

    „Viertel sechs, was sonst?"

    „Also um Viertel sechs vom Einkaufszentrum in der Stadt in die Hiblerstraße, ergänzte Margreiter, „kann kaum ein Kilometer sein. Für den Weg braucht man nicht mehr als zehn Minuten.

    Er wandte sich wieder an den Landstreicher.

    „Können Sie die Afrikaner, die Sie gesehen haben, genauer beschreiben?, versuchte Margreiter, mehr zu erfahren. „Haben Sie ihre Gesichter gesehen?

    „Ja, kurz, war die Antwort, „aber was soll ich da beschreiben, sieht doch einer aus wie der andere. Damit man denen das Handwerk legt, muss man sie alle ausrotten.

    Gestank hin, Gestank her, dem Chefinspektor, der bisher ruhig zugehört hatte, wurde es jetzt zu bunt.

    „Jetzt hör’ mir gut zu, mein Freund, du beantwortest die unsere Fragen, mehr nicht. Andernfalls bist du die längste Zeit durch die Gegend spaziert, dann kommst du hier nämlich nicht mehr raus."

    Die kleine Unbeherrschtheit Weiningers verfehlte nicht ihre Wirkung. Der Säufer war sichtlich eingeschüchtert. Aber nicht nur er, auch der daneben stehende Beamte wirkte etwas betreten.

    „Können Sie das Alter der beiden schätzen, glauben Sie, Sie würden sie zwischen anderen – schwarzen – Personen wieder erkennen, wenn Sie sie sehen?", setzte Margreiter schließlich fort.

    Der Landstreicher gab sich Mühe, so zu wirken als dächte er ernsthaft nach und sagte dann: „Sie waren jung, sehr jung …… das heißt, ihre Stimmen waren jung, die Gesichter hab ich kaum gesehen … ich weiß nicht, ob ich sie erkennen würde."

    „Na gut, erwiderte Margreiter etwas nachdenklich, „was ist dann passiert, was haben die beiden gemacht?

    „Na ja, sie sind dort gestanden …… nach einer Weile sind sie dann gegangen …… oder …… nein, erst haben sie sich nach allen Seiten hin umgedreht, als ob sie sicher gehen wollten, dass niemand sie gesehen hat, dann haben sie sich weggeschlichen."

    „Und am Anfang, was haben sie da gemacht, auch nur geredet?", fragte Margreiter.

    „Als ich aufgewacht bin, hatten sie die Kleine ja schon umgebracht, die Schweine, deshalb hab’ ich davon nichts mehr mitbekommen", sagte der Säufer mit verkniffenem Gesichtsausdruck.

    „Also haben Sie die beiden Schwarzen nur reden gehört, Sie haben aber nicht gesehen, wie sie das Mädchen getötet haben."

    „Aber das ist doch klar, dass die sie umgebracht haben, rief der Landstreicher jetzt aufgebracht, als er begriff, worauf Margreiter hinaus wollte, „warum sind sie denn nicht so wie ich zur Polizei gegangen, wenn sie sie nicht umgebracht haben?

    „Die Fragen, die sich stellen, werden wir zu lösen haben, nicht Sie", sagte Margreiter abschließend und beendete damit die Vernehmung. Zwischendurch hatte er sich immer wieder Notizen gemacht.

    „Sie bleiben die Nacht über hier, morgen komme ich mit einer Niederschrift Ihrer Aussage, die Sie dann unterschreiben", fügte er noch an, eine Mitteilung, die der Obdachlose widerspruchslos entgegennahm. Offenbar war es ihm gar nicht so unangenehm, hin und wieder bei der Polizei zu übernachten.

    Weininger teilte dem Dreistättner Beamten mit, dass er den Landstreicher noch einen Tag dabehalten müsse. Dann verließ er mit Viktor und Margreiter den Posten.

    „Wo ist eigentlich Nicole?", fragte er, als sie wieder auf der Straße waren.

    „Die war auf irgendeiner Party in Fünfkirchen. Sie hat da anscheinend Freunde, antwortete Margreiter. „Es hätt’ sich nicht ausgezahlt, deswegen zu kommen. Wahrscheinlich wär’ sie noch gar nicht hier.

    Nach einer Pause fragte er: „Was denkst du eigentlich über das Ganze?"

    „Eine unangenehme Angelegenheit, antwortete Weininger, „die Aussage war genau das, was wir brauchen können. Ich sehe schon die Schlagzeilen in der Zeitung: ‚Einheimisches Mädchen von Lagerinsassen ermordet. Sperrt diese Mördergrube endlich zu!’ Und wenn ich diesen Alkoholiker richtig einschätze, geht der auch noch zur Presse. Deshalb möcht ich ihn noch ein paar Tage festhalten, was ja kein Problem ist, da er offenbar nicht einmal einen Wohnsitz hat.

    Margreiter nickte zustimmend. „Der Mord wird sicher Staub aufwirbeln. Glaubst du, es könnten wirklich welche aus dem Lager gewesen sein?"

    „Es ist viel zu früh, darüber zu spekulieren. Momentan kann man noch gar nichts sagen, wir müssen jetzt einmal so viele Informationen wie möglich sammeln. Am besten, ihr seht euch morgen im Lager um. Die beiden Schwarzen sollten wir so schnell wie möglich aufstöbern, das würde uns weiterbringen, denn ich glaube, wenn wir sie erst haben, wissen wir ziemlich schnell, ob sie für die Tat in Frage kommen. Außerdem müssen wir das Umfeld der Kleinen so genau wie möglich durchleuchten. Das macht am besten Nicole."

    „Das Benehmen der beiden Schwarzen am Tatort, von denen der Obdachlose gesprochen hat, ist schon sehr verdächtig, warf Viktor ein, „immer vorausgesetzt, die Aussage ist verlässlich.

    „Man kann zu dem Typen stehen, wie man will, erwiderte Weininger, „aber seine Angaben würde ich bis auf Weiteres nicht anzweifeln. Trotzdem sind die beiden, die er gesehen hat, nicht automatisch die Mörder. Es kann viele Gründe geben, warum sie so reagiert haben.

    Sie waren bei Weiningers Auto, einem alten Toyota Corolla, angekommen. Weininger und Viktor verabschiedeten sich.

    „Na dann, erklärte der Chefinspektor, als er einstieg, „morgen spätestens um neun im Büro, zur Befehlsausgabe. Gute Nacht!

    Mittwoch, 6. Oktober 9:30 Uhr

    Als Margreiter und Viktor durch das große Tor des Lagers ins Innere traten, stieg ihnen der Geruch nach frischen Semmeln und Frühstückskaffee in die Nase. Viktor fühlte sich an seine Bundesheerzeit in der Marokkanerkaserne in Wien erinnert, die für ihre gute Verpflegung bekannt gewesen war. Während seines Militärdienstes hatte er freilich festgestellt, dass dieser Ruf wohl nur in Relation zu anderen militärischen Einrichtungen seine Berechtigung besaß.

    Da sie ihren Besuch telefonisch angekündigt hatten, erwartete sie der Geschäftsführer des Lagers, Alexander Schirmer, bereits. Direktor Schirmer war von Humano Serve vor etwas mehr als einem Jahr mit der Führung des Lagers Dreistätten betraut worden. Humano Serve, das war eine private Gesellschaft, deren Geschäftszweck in der Verwaltung von Betreuungseinrichtungen aller Art bestand. Pflegeheime, Pensionistenheime, und eben Flüchtlingsbetreuungsstätten. Das Unternehmen war aus einem vom Ministerium durchführten langwierigen Ausschreibungsverfahren als günstigster Betreiber hervor gegangen und daraufhin mit der Verwaltung des Lagers beauftragt worden. Diese Übertragung einer öffentlichen Betreuungsinstitution in private Hände war Bestandteil eines weit reichenden Planes, mit dem eine ganze Reihe von Einrichtungen aus der unmittelbaren staatlichen Verwaltung entlassen werden sollten. Die Firma Humano Serve war seit den eineinhalb Jahren der Verwaltung des Lagers wegen ihrer in erster Linie auf Gewinnerzielung und nicht auf Verwirklichung gesetzlicher Vorgaben ausgerichteten Betriebsführung immer wieder lautstark kritisiert worden. Die Tatsache, dass sie bisher noch jedem Sturm erfolgreich getrotzt hatte, legte den Schluss nahe, dass die Gesellschaft und damit auch Schirmer in der Wirklichkeit des politischen Lebens sehr starke Verbündete besaßen. Es war nicht unausgesprochen geblieben, dass diese Verbindungen zur Politik auch beim Zuschlag für die Verwaltung des Lagers eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben könnten, allerdings wurden derartige Vermutungen aus Angst vor Klagen sehr vorsichtig geäußert. Es konnte auch nie etwas in diese Richtung bewiesen werden.

    Schirmers Büro entsprach der offensichtlichen Philosophie der Organisation, Dinge so lange zu verwenden, solange sie noch nicht völlig unbrauchbar waren. Das war an der gesamten Ausstattung des Gebäudes erkennbar. Das Büro bestand aus einem kleinen Sekretariat mit Kästen, Regalen und einem Schreibtisch, alles in dunklem Nusston, wie er in den achtziger Jahren modern gewesen war. Die Sekretärin, die über diesen Bereich herrschte, passte erstaunlich gut in dieses Interieur, was zum Teil an ihrer Kleidung, zum Teil aber auch an ihrem heute kaum mehr anzutreffenden herrschaftlich herablassenden Ton lag. Offenbar zähle auch sie zu den Inventarstücken, die bei Übernahme des Gebäudes durch Humano Serve nicht völlig unbrauchbar gewesen waren.

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