Geschwistermörder
Von Lisa Richter
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Buchvorschau
Geschwistermörder - Lisa Richter
Impressum:
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet.
© 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag + Herszprung-Verlag
Mühlstraße 10, 88085 Langenargen
Telefon: 08382/9090344
Alle Rechte vorbehalten. Taschbuchauflage erschienen 2018.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM
Cover gestaltet
ISBN: 978-3-86196-866-5 - Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-286-9 - Ebook (2020)
*
Inhalt
Prolog
Kapitel 1: Beobachtet
Kapitel 2: Gefangen
Kapitel 3: Gesucht
Kapitel 4: Angerufen
Kapitel 5: Berührt
Kapitel 6: Erlöst
Kapitel 7: Geprägt
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Unser Buchtipp
*
Auge um Auge und die ganze Welt wird blind sein.
Mahatma Gandhi
*
Prolog
Hinter einem der vielen Bäume an der Rückseite des Schulgebäudes hatte er gelauert. Wie ein wildes Tier, das angreifen will, aber leise sein muss. Sein Blick suchte die Menge der jungen Leute ab. Er wusste, was er wollte.
Da sah er sie.
Jung.
Schön.
Sie hielt die Hand eines Jungen in ihrem Alter. Ihr Freund? Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Bald würde sie jemand anderen küssen.
Ihn.
Bald würde er sein Vorhaben umsetzen können, sein Ziel ein weiteres Mal erreichen: Vergeltung.
Aber war sie tatsächlich passend für ihn?
Vor ihr lief ein Junge mit einem Mädchen. Auch sie unterhielten sich. Er war jünger. Sah ihr ähnlich. Sie hatten dieselbe Augenfarbe.
Er versuchte, das Gespräch zwischen ihr und ihrem Freund zu verstehen. Im Lippenlesen war er geübt. Namen wurden nicht genannt.
Da fiel das Wort: Bruder.
Er lächelte. Das war sie. Sein Herz schlug schneller. Er wollte sie.
*
Kapitel 1: Beobachtet
Ich war fünfzehn, als diese schreckliche Geschichte ihren Lauf nahm. Eigentlich viel zu jung für so eine kranke Story. Ich, David, war ein ganz normaler Teenager – ging mit Freunden raus, fuhr gerne mit meinem BMX-Rad, war lässig drauf (manchmal etwas zu sehr) und ich war das erste Mal in meinem Leben verliebt.
Wie gesagt, ich war ein ganz normaler Teenager, bis dieser eine Tag mein Leben veränderte. Und ich noch gar nichts davon merkte. Nur meine Schwester Lorena spürte es bereits. Unsere Geschichte begann mit einem grauenvollen Albtraum ...
Panisch rannte meine Schwester durch fremde, menschenleere Gassen, ohne zu wissen, wo sich ihr Ziel befand. Da vernahm sie einen Schrei, der sie erschauern ließ. Es war die Stimme ihres Bruders – meine! Ihres geliebten, unschuldigen Bruders. Das brachte sie dazu, noch schneller zu laufen. Meine Schreie wurden immer lauter und flehender. Mit jedem Mal zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Warum hörten sie nicht endlich auf?
Nun waren die schrecklichen Geräusche so nah, dass sie ahnen konnte, aus welchem Gebäude sie kamen. Eilig trat sie in das alte graue Hochhaus und rannte so schnell die instabilen Treppen hinunter, dass es sich anfühlte, als würden ihre Füße ein paar Zentimeter vom Boden abheben.
„David?, rief sie meinen Namen aus in der Hoffnung, ich könnte sie bereits hören. „David?
Vor der Tür zögerte sie. Ihr Herz raste, als sie sie schließlich ängstlich, aber entschlossen öffnete und in die Dunkelheit trat.
Erschrocken wachte meine Schwester auf und spürte, dass sie zitterte. Wankend lief sie ins Badezimmer, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und schaute in das Zimmer ihres Bruders – in meines. Warum sie Letzteres tat, wusste sie selbst nicht so genau. Vermutlich einfach, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Ich schlief friedlich in meinem Bett, ohne zu wissen, was ich an diesem Tag noch durchmachen würde.
Anschließend schaute sie auch in das Zimmer unserer Eltern. Ein Schreck durchfuhr sie. Papa war weg! Mitten in der Nacht ... Sie atmete tief durch. Und dann fiel ihr etwas ein. Schnell ging sie zurück in ihr Zimmer, um auf die Uhr an der Wand zu blicken: sechs Uhr morgens. Papa war bereits auf der Arbeit. Er war wie jeden Morgen früh losgefahren.
Langsam beruhigte sich Lorenas rasendes Herz. Zum Glück würde in einer Stunde ihr Wecker klingeln. Sie hatte schon befürchtet, es wäre mitten in der Nacht und dass somit noch mehr Zeit bliebe, um über ihren Albtraum nachzudenken.
Sie ging zurück in ihr Zimmer und setzte sich zunächst auf das Bett. Fassungslos stützte sie den Kopf in ihre Hände, während ihr Tränen in die Augen traten. Tränen purer Angst. Angst, dass uns dasselbe Schicksal ereilen würde wie die vermissten Personen. Warum mussten gerade wir in dem Ort wohnen, in dem seit Wochen Menschen spurlos verschwanden? Und was hatte der Traum zu bedeuten? Würde ich als Nächster an der Reihe sein? Und müsste Lorena mich suchen, wie sie es im Traum gesehen hatte?
Diese Vorstellung war so schrecklich, dass ihr beinahe übel wurde. Sie versuchte, tief durchzuatmen und ihre Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Aber auf was? Seit Tagen hatte sie nichts anderes im Kopf als Sorgen, Vorstellungen, was den Opfern, die entführt worden waren, passiert sein könnte. Ob sie überhaupt noch lebten? Oder ob die Leichen längst in einem Wald verscharrt worden waren und Lorena bei ihrem nächsten Spaziergang eine grauenhafte Entdeckung machen würde? Oh Gott!
Mit einem Ruck stand sie auf und versuchte, diese Bilder abzuschütteln. An Schlaf war nun überhaupt nicht mehr zu denken.
Nachdem sie ein paarmal unruhig im Zimmer auf und ab gelaufen und der Tränenfluss gestoppt war, beschloss sie, ins Wohnzimmer zu gehen und den Fernseher einzuschalten. Jetzt bloß keinen Krimi schauen. Lieber eine schnulzige Romanze oder das Guten-Morgen-Programm für früh aufstehende Rentner. Beim Umschalten erwischte sie die Nachrichten und konnte einfach nicht wegschalten, obwohl sie das, was sie nun erfuhr, bereits wusste und gar nicht mehr sehen wollte. Die Nachrichtensprecherin berichtete mit besorgtem Gesicht von den Vorkommnissen in dem kleinen Dorf Jüterbog, in dem wir mit unseren Eltern leben.
„Vier Menschen sind noch immer spurlos verschwunden. Vor ungefähr vier Wochen wurde ein 20-Jähriger als vermisst gemeldet. Er verschwand am Nachmittag auf dem Weg zu einem Freund. Einen Tag darauf geschah es, dass seine ein Jahr jüngere Schwester am Abend Freunde verließ, aber nie zu Hause ankam. Dieses Ereignis wiederholte sich zwei Wochen darauf. Ein 21-Jähriger verschwand spurlos, genauso wie zwei Tage darauf seine zwei Jahre ältere Schwester, die nach dem Ende ihrer Nachtschicht im Krankenhaus um vier Uhr nicht nach Hause zurückkehrte. Die Polizei hat keinerlei Hinweise und es gibt es keine Zeugen. Jedoch lässt sich ein Täter, der für alle Fälle verantwortlich ist, nicht ausschließen. Wenn Sie etwas zu den Vorkommnissen wissen sollten, wenden Sie sich bitte an die Kriminalpolizei in Potsdam. Bisher sind zu wenige Hinweise eingegangen, um die Ermittlungen fortzusetzen. Die Polizei ist dringend auf Ihre Hilfe angewiesen."
Auf dem Bildschirm hinter der Nachrichtensprecherin wurden die Fotos der vermissten Personen gezeigt. Plötzlich, ohne es zu wollen, tauchten jene Gesichter auch in Lorenas Vorstellungen auf. Unwillkürlich stellte sie sich diese blass und blutverschmiert vor ... tot.
Sie kniff die Augen zusammen, um nicht länger auf den Fernseher schauen zu müssen, und versuchte, diese grauenhaften Bilder aus ihrem Kopf zu verdrängen. Sie legte die Stirn in Falten und fuhr sich nervös durch ihre langen dunkelblonden Haare. Die Angst ließ sie nicht los. Denn niemand konnte sich mehr sicher fühlen. Aber was ihr am meisten Sorgen bereitete war die Tatsache, dass sie und ich ebenfalls Geschwister waren und das passende Alter hatten. Ich war zwar erst fünfzehn und meine Schwester achtzehn, aber schließlich war das jüngste Geschwisterkind, das verschwunden war, neunzehn gewesen.
Meine Schwester glaubte an einen Serienmörder, weil sie es für unmöglich hielt, dass zufällig zwei Geschwisterpaare innerhalb so kurzer Zeit verschwanden. Folgte man dem Muster, müsste ihr Bruder – also ich – als Erstes entführt werden. Auch der zeitliche Rahmen stimmte. Denn zwischen dem Verschwinden des ersten und des zweiten Geschwisterpaares waren zwei Wochen vergangen. Also wäre es nun wieder so weit. Jeden Tag hoffte meine Schwester, dass mir nichts passieren würde.
Ich hingegen hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, meinte nur: „Warum sollte gerade uns so was passieren?" Aber das hatten die anderen Geschwisterpaare vermutlich auch gedacht.
Natürlich sah man zurzeit nur noch Gruppen von Menschen in der Stadt. Niemand traute sich mehr alleine vor die Tür. Niemand wusste, wer der Nächste war, der ohne jede Spur verschwand. Jeder redete nur noch über diese Vorfälle. Das machte Lorena langsam verrückt. Sie glaubte, ihr Albtraum hätte ihre Angst wegen dieser schrecklichen Situation ausgedrückt. Wäre hoffentlich nur die Widerspieglung ihrer Gefühle und Gedanken der letzten Wochen und keine schlimme Vorahnung. Zumindest versuchte sie sich mit diesem Gedanken zu beruhigen. Lorena schaltete den Fernseher nun wieder aus, denn nach dem Durchschalten hatte sie kein Programm gefunden, das sie hätte ablenken können. Als sie in der Küche die Kaffeemaschine betätigte, bildete sich ein Kloß in ihrem Hals, ohne dass sie genau wusste, warum das geschah.
Da vernahm sie Schritte, die sich die Treppe hinunter in Richtung Küche bewegten. Verschlafen und noch mit halb geschlossenen Augen wankte unsere Mutter herein.
„Lorena! Mama schnappte nach Luft. Sie schien meine Schwester erst jetzt wahrgenommen zu haben. „Du bist ja schon wach
, wunderte sie sich und schmunzelte etwas über ihre Erschrockenheit.
„Guten Morgen." Lorena brachte nur ein kleines Lächeln zustande.
Mama umarmte sie kurz. „Du kannst wohl auch nicht mehr ruhig schlafen?", murmelte sie verständnisvoll.
„Ja, ich hatte einen Albtraum, gab sie zu. „Ich glaube, der Einzige, der noch immer tiefen Schlaf findet, ist David
, sagte sie über mich.
„Das stimmt." Jetzt kam die Kaffeemaschine zu ihrem zweiten Einsatz.
„Du hast das Kaffeepulver vergessen", bemerkte Lorena trocken. Früher hatte sie sich immer kaputtgelacht, wenn Mama das einem stressigen Morgen verschusselt hatte und sich so nur heißes Wasser in ihrer Tasse befand. Aber erstens konnte Lorena am heutigen Tag über nichts mehr lachen und zweitens war das ein schlechtes Zeichen, denn es war kein stressiger Morgen. Es war sogar noch viel zu früh. Keine Eile für Mama, um zur Arbeit zu fahren. Und wenn diese an einem ruhigen Morgen das Kaffeepulver vergaß, war das eben ein sehr schlechtes Zeichen.
„Oh. Skeptisch schaute sich Mama den Kaffeeautomaten von oben bis unten an, als wäre er daran schuld. Eifrig korrigierte sie ihren Fehler, während meine Schwester den Kühlschrank und sämtliche Schränke öffnete und wieder schloss. „Was suchst du denn?
, fragte Mama.
Lorena lächelte, um ihre Nervosität zu überspielen. „Ich weiß nicht." Sie suchte etwas, das sie zum Frühstück essen konnte, aber der Appetit war ihr vergangen.
Nun betrat ich die Küche. Meine Schwester schloss mich viel länger als sonst in die Arme. Als wäre dies eine Verabschiedung, für die wir später keine Zeit mehr hätten. Ich verstand in diesem Moment noch nicht, was los war, warum meine Schwester so besorgt war. Sie versuchte zu lächeln und ich erwiderte es. Schließlich deckte ich den Tisch.
Lorena fand das zwar nett, musste mich aber unterbrechen. „David, mach nur dir was, wir haben keinen Hunger." Sie musste Mama nicht fragen, um das zu wissen.
„Warum denn? Ist etwas passiert?", wollte ich wissen und blieb wie angewurzelt stehen, wobei ich drei Teller und Besteck in den Händen hielt. Eine ironische Frage eigentlich, denn in den letzten vier Wochen war in unserer Stadt das Schrecklichste passiert, was wir uns jemals hätten vorstellen können.
„Ich habe schlecht geträumt und einfach keinen Hunger", kommentierte meine Schwester beiläufig, so als wäre das ganz normal.
Ich schaute zu Mama, um zu erfahren, ob auch sie wirklich nichts essen wollte, und sie schüttelte den Kopf. Daraufhin stellte ich nur einen Teller auf den Tisch, legte ein Brötchen auf den Toaster und wandte mich an meine Schwester. „Was hast du denn geträumt?"
„Das hätte ich lieber nicht erwähnen sollen, dachte Lorena, bevor sie laut antwortete: „Ich möchte nicht darüber sprechen, ich will mich nicht noch mal daran erinnern. Es war schließlich nur ein Traum.
Ich akzeptierte ihre Antwort, obwohl ich ihr ansah, wie sehr sie dieser Traum beunruhigen musste.
Plötzlich eilte meine Schwester ins Badezimmer. Ich wollte sie noch fragen, ob alles okay wäre, da war sie schon verschwunden. Ich lief ihr nicht nach, denn ich dachte, sie wollte lieber allein sein, vielleicht war ihr auch bloß schlecht geworden. Aber das war nicht der Fall, denn im Badezimmer angekommen, verstand Lorena nicht, warum mit einem Mal heiße, schwere Tränen über ihre Wangen strömten.
Panisch, dass sie jemand sehen könnte, schloss sie die Tür ab und flüsterte sich selbst zu: „Hör auf damit! Verdammt, warum weinst du denn?" Doch dann brach ihre Stimme weg und es wurde nur noch schlimmer. Obwohl ihr die Tränen unkontrollierbar über die Wangen rannen, putzte sie sich die Zähne. Das hatte sie sowieso vorgehabt und sie hoffte, das würde sie ablenken. Aber ihre Tränen ließen sich durch nichts aufhalten.
Nachdem sie ihre Zahnbürste wieder weggestellt hatte, legte sie ihre Stirn auf den kalten Rand des Waschbeckens und atmete ein paarmal tief durch. Verzweifelt zwang sie sich aufzuhören ... damit aufzuhören, ohne Grund wie ein Kind zu heulen. Dann verließ sie das Badezimmer und war ihren Haaren dankbar, weil sie Teile ihres Gesichtes verdecken konnten. Länger hätte sie nicht im Badezimmer bleiben können, das wäre aufgefallen und schließlich mussten Mama und ich uns auch fertig machen.
Später standen wir bereits vor der Tür, als Mama zu uns kam und wie jedes Mal, wenn wir das Haus verließen, sagte: „Passt schön auf euch auf und bleibt zusammen."
„Das machen wir", versicherte Lorena.
„Das machen wir immer", bestätigte ich.
„Ich weiß. Bis später."
Mit unseren Schulranzen auf den Rücken machten wir uns an einem sonnigen, aber noch kalten Morgen auf den Weg. Lorena wirkte unruhig, ihre Augen waren weit aufgerissen und schauten ängstlich nach hinten, dann nach links, rechts, schienen alles abzusuchen, als hätte sie Angst, jemand würde uns verfolgen.
Ich wusste in diesem Moment nicht recht, was ich sagen sollte. „Alles klar?", fragte ich zögerlich.
Sie wusste, dass sie mir eigentlich alles erzählen konnte, schließlich war ich ihr Bruder. Aber Lorena sah es als große Schwester vermutlich als ihre Pflicht an, mich nicht zu beunruhigen. Also sprach sie nicht über ihre persönlichen Sorgen, sondern nur über das, was ich ohnehin schon wusste.
„Weißt du, ich habe diese Situation satt. Zwei Wochen sind rum. Bald werden die nächsten Personen verschwinden. Geschwister – wie wir. Sie tun mir so leid. Warum kann die Polizei dieses Monster nicht endlich finden, das für all das verantwortlich ist?" Oder zumindest die Vermissten, falls sie überhaupt noch lebten ...
„Vielleicht hört es auch auf. Und die Polizei wird schon bald einen Hinweis finden", versuchte ich sie zu beruhigen.
Da