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Falkensommer
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eBook323 Seiten4 Stunden

Falkensommer

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Über dieses E-Book

Welches Geheimnis verbirgt sich auf der Burg Maus hoch über dem Rhein? Die 15-jährige Jenny folgt der Spur eines Falken auf das alte Gemäuer und lernt dort den 18-jährigen Miro kennen. Sie fühlt sich zu ihm hingezogen, doch er ist Gefangener einer dunklen Macht. Trotz seiner Warnungen nimmt sie den Kampf gegen das Böse auf, um ihn zu befreien und begibt sich dabei selbst in höchste Gefahr.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. Feb. 2020
ISBN9783944879765
Falkensommer

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    Buchvorschau

    Falkensommer - Anna Maria Pieroth

    1Super Aussichten

    Jenny atmete auf. Nach der wilden Toberei vor dem Abendessen lagen ihre 6-jährigen Zwillingsbrüder Timi und Flo endlich friedlich in ihren Betten. Ein Blick auf die Uhr verriet Jenny, dass sie es nicht rechtzeitig zu ihrem Rudertraining schaffen würde – dabei hatte Mama um acht zu Hause sein wollen. Jenny ließ sich auf das braune Polstersofa im Wohnzimmer sinken. Das Möbelstück mit der abgewetzten Sitzfläche war ein Erbstück von ihrer Oma. Mama wollte sich erst eine neue Couch leisten, wenn Timi und Flo sie nicht mehr als Trampolin benutzen würden. Gemütlich saß man trotzdem darauf. Doch kaum hatte sie sich hingesetzt, sprang sie wieder auf und lief im Zimmer auf und ab. Auf Mamas Handy meldete sich nur die Mailbox und als die Uhr halb neun anzeigte, war klar, dass Jenny das Training für heute sausen lassen musste. Mit Schwung trat sie gegen die Couch und stieß einen Fluch aus. Dann ließ sie sich darauf fallen und nahm sich eine Zeitschrift, in der sie ziellos herumblätterte.

    Erst gegen neun erschien ihre Mutter und berichtete atemlos: »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was heute auf dem Schiff los war. Im Bordrestaurant ist ein Gast kollabiert. Das hatte einen unerwarteten Stopp in Bacharach und einen Notarzteinsatz an Bord zur Folge. Bis das Schiff wieder in St. Goarshausen angelegt hatte, dauerte es eine Ewigkeit. Ich bin fix und fertig.« Mama fiel auf den gegenüberliegenden Sessel und streckte ihre Beine von sich. »Und, alles klar bei dir und den Jungs?«

    »Ja«, seufzte Jenny kaum hörbar. Die haben mich auch fix und fertig gemacht, dachte sie bei sich.

    »Wenn ich dich nicht hätte …« Auf Mamas Gesicht zeichnete sich Bedauern ab. »Tut mir leid, dass ich es nicht rechtzeitig nach Hause geschafft habe, aber das war höhere Gewalt!« Mama stöhnte auf. »Und Gina hat offenbar einen Auftritt als Loreley. Doppeltes Pech für dich. Ich habe einen Bärenhunger. Was gibt’s?«

    »Bratkartoffeln, Speck und Gurkensalat.«

    Mama ging in die Küche und kam mit einem vollbeladenen Teller zurück an den Esstisch im Wohnzimmer. In diesem Moment drehte der Schlüssel in der Wohnungstür. Gina, Jennys 17-jährige Schwester, die Sirene, stöckelte herein: Hellblond, bildschön, niemand konnte die echte Loreley besser verkörpern. Gina trug einen schwarzen Minirock, der ihre schlanke Figur betonte. Dazu passend die weißgerüschte Bluse, über die ihre langen offenen Haare wallten. Markenkleidung konnte sie sich nicht leisten, aber an ihr sah alles gut aus. Sie war das geborene Model. In ihrer Hand schwang sie eine Tasche, in der sich ihr Loreley-Kostüm befand: Ein wahr gewordener Mädchentraum aus grün-blauem Seidenstoff mit funkelnden dunkelblauen Pailletten am Dekolleté.

    Jenny musste sich eingestehen, dass wegen ihr selbst wohl kein einziger Schiffer von seinem Kurs abgekommen wäre; klein und blass wie sie war. Ihr schwarzgefärbtes glattes Haar band sie gewöhnlich zu einem Zopf zusammen. Nur im Unterricht ließ sie ihre halblange Mähne gerne in ihr Gesicht fallen, um dem bohrenden Blick des Lehrers auszuweichen. Ein schwarz-grünes T-Shirt mit dem Schriftzug von »Breaking Bad« kaschierte ihren Babyspeck am Bauch. Dazu trug sie eine knielange schwarze Cargohose, die ihr bequem auf den Hüften lag. Obwohl es schon sommerlich warm war, zog sie ihre türkisfarbenen Chucks an, wenn sie rausging. Sie hasste Sandalen und Flip-Flops. Die waren höchstens fürs Schwimmbad geeignet und dorthin ging sie nicht.

    »Jenny hat frischen Gurkensalat gemacht, Gina!«, rief Mama.

    »Danke, aber ich habe mich eben großzügig am Buffet vom Landrat bedient«, antwortete Gina und nahm beschwingt neben Mama Platz.

    Nachdem ihre Mutter das Essen verschlungen hatte, lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück und rieb sich den Bauch. Jetzt bot sich die Gelegenheit für Jenny, Mama von ihrem Plan zu überzeugen. Wenn sie das jetzt nicht tat, wäre es zu spät für die Anmeldung zur Ferienfreizeit und Spanien wäre gestorben. Jenny nahm die Broschüre aus ihrem Rucksack und betrachtete das Foto eines kilometerlangen Sandstrands. Nur raus aus dieser beengten Wohnung im Obergeschoss am Bahnhof von St. Goarshausen! Weg von den Touristen, die vor allem im Sommer wie Heuschrecken in die Stadt einfielen und mit ihren großen Reisebussen die Bundesstraße vor ihrer Wohnung verstopften. Sie wollte die immer gleichen Bilder vor dem Fenster auf die Autos und den Zug eintauschen gegen den Blick auf das weite Meer. Wellenrauschen hören statt des Lärms der Straße und des Bahnverkehrs und lieber eine salzige Brise in der Nase haben statt der Abgase vor der Haustür und dem Gestank nach Frittenfett von der Dönerbude im Erdgeschoss. Weg von ihrer Familie und dem Alltagstrott. Leonie hatte das Okay von ihren Eltern bereits erhalten. Und was konnte als 15-jährige wie sie schöner sein, als mit der besten Freundin ein Land zu entdecken und neue Leute kennenzulernen? Und vielleicht mit einem süßen Jungen Sonnenuntergänge am Meer zu genießen …

    Mama riss sie aus ihren Gedanken: »Schatz, was hast du da Interessantes in der Hand?«

    Jenny reichte ihr die Anmeldung und informierte sie über die wesentlichen Eckdaten. Als ihre Mutter nicht antwortete, schob Jenny schnell hinterher: »Sozial schwache Familien zahlen nur die Hälfte, das ist doch was, oder? Ich lege meine Ersparnisse obendrauf!« Mama seufzte und sah sie mit sorgenvoller Miene an. »Tut mir leid, mein Schatz, das geht nicht. Am Geld liegt es nicht alleine. Ich brauch dich.«

    Jenny senkte den Kopf. Wofür sie gebraucht wurde, konnte sie sich denken, und es ärgerte sie, dass sich ihre Lage im Vergleich zum letzten Jahr nicht im Geringsten verändert hatte. Dabei hatte sie insgeheim gehofft, dass ihr Wunsch sich in diesem Sommer erfüllen würde. Mit einem Ohr schaltete sie bereits ab, als Mama mit ihrer Erklärung fortfuhr.

    »Ich bekomme in den Sommerferien keinen Urlaub, da ist Hauptsaison auf dem Schiff. Die Zwillinge sind wie letztes Jahr von 8 Uhr bis 16 Uhr bei der Ferienbetreuung im Nachbardorf. Danach muss jemand zu Hause auf sie aufpassen. Das schaff ich wegen der flexiblen Arbeitszeiten nicht immer.«

    Mama wandte ihren Blick von Jenny ab und begann, an ihren Fingern zu nesteln. Jenny kannte diese Geste nur allzu gut. Sie kam immer dann zum Vorschein, wenn es darum ging, Jenny oder ihren Geschwistern einen Wunsch abzuschlagen. Jennys Blick glitt zu Gina, die sich bislang äußerst still verhalten hatte. Sie sprach ihre Schwester mit kaum unterdrückter Verärgerung in der Stimme an: »Und was ist mit dir, Gina?« Die hob ihre Augenbrauen und streckte abwehrend die Hände von sich.

    »Schau dir mal meinen vollen Terminkalender an! An manchen Tagen bräuchte ich eine Doppelgängerin, damit ich alle Empfänge, Weinproben und touristischen Veranstaltungen wahrnehmen kann.«

    Das war ja klar, dachte Jenny. Wer so wichtig wie Gina war, brauchte sich nicht mit alltäglichem Kram wie Kinderbetreuung abzugeben. Ungerecht war das trotzdem.

    Jenny spürte den Kloß in ihrem Hals. Doch dieses Mal sollte ihre Schwester nicht so leicht davonkommen: »Ich habe es satt, die ganze Zeit hier herumzuhängen und den Babysitter zu spielen!«

    Mama schaute sie nur kurz an, dann verlor sich ihr Blick auf dem Tisch. Ihr schlechtes Gewissen war unverkennbar. Sie antwortete: »Ich muss dir unsere Situation doch nicht noch einmal erklären – hätten sich eure Väter nicht aus dem Staub gemacht …

    »… dann müsstest du keinen Vollzeitjob annehmen und hättest mehr Zeit für uns«, vervollständigte Jenny den Satz. Sie kannte diese Rede ihrer Mutter, aber auch sie musste mal an die Reihe kommen. Mamas Schultern sackten ein.

    Jedes Mal kochte die Wut in Jenny hoch über diese Drückeberger, die Mama, sie und ihre Geschwister in diese Situation zwangen.

    »Trotzdem ist es nicht fair! Gina hat letztes Jahr während der ganzen sechs Wochen Ferien ihr Praktikum in Südfrankreich gemacht, während mir bei dem verregneten Sommer hier mit den Zwillingen die Decke auf den Kopf gefallen ist!« Gina verdrehte die Augen.

    »Ich brauche das Praktikum für die Zulassung zum Touristikstudium nach dem Abi, das weißt du genau!«, blaffte sie und sah Jenny dabei an, als sei sie ein dummes, begriffsstutziges Kind.

    Darauf richtete sich Mama auf und fixierte Jenny. »Apropos – du hast ja immer noch keinen Platz für dein Schülerpraktikum gefunden, da könntest du die Zeit in den Ferien sinnvoll nutzen und dich umgucken!«

    Jenny seufzte. Gina hatte Mama genau das richtige Stichwort geliefert, mit dem sie ihren wunden Punkt traf. Dieses Praktikum – sie fragte sich, woher sie mit 15 Jahren schon wissen sollte, was sie beruflich machen wollte. Nicht jeder war schließlich mit einem Businessplan auf die Welt gekommen wie Gina.

    »Was hat denn die Analyse deiner Stärken in der Schule ergeben?«, fragte Mama fordernd.

    Jenny wich dem Blick ihrer Mutter aus und murmelte mehr vor sich hin als an ihre Mutter gerichtet: »Ach, nichts genaues – Büro, etwas Soziales oder Labor – nichts, was mich brennend interessiert.«

    Mama zeigte auf Gina und sagte: »Nimm dir deine Schwester zum Vorbild, die weiß, was sie will! Wenn du unentschlossen bist, musst du dir mehr Mühe bei der Suche geben!«

    Mama hatte gewonnen. Diesem Argument hatte Jenny nichts mehr entgegenzusetzen. Jedes Mal versetzte es ihr einen Stich ins Herz, wenn Mama Ginas Stärke ihren Schwächen gegenüberstellte.

    Die Lieblingstochter, die Streberin, die Mama auf Kosten ihrer Freizeit förderte. Wie rasend vor Wut ihre Mutter sie damit machte. Arbeit, Geldverdienen und Karriere – nichts anderes zählte für Mama.

    »Das sind ja super Aussichten für die Sommerferien – Praktikumssuche und Kinderbelustigung«, sagte sie trotzig. Der Kloß in ihrem Hals verfestigte sich. Jenny war sich sicher – jeder Einwand würde nun ins Leere laufen.

    »Dazwischen wird doch ein bisschen Zeit für Freizeit sein, oder? Stell dich nicht so an!«, schob Mama nach.

    Jenny verschränkte die Arme vor der Brust. Mama schien nicht im Geringsten zu verstehen, wie ausgelaugt sie sich fühlte, wie sehr sie sich nach Abwechslung sehnte, wenn es auch nur für zwei Wochen war. Was sollte sie ohne Leonie in ihrer freien Zeit anfangen? Außer ihr hatte sie keine richtigen Freunde. Im Ruderclub würde auch nicht viel los sein. Die einzigen Leute, die sie zuverlässig treffen würde, waren die Mamis an der Bushaltestelle, die ihre Kinder zur Ferienbetreuung bringen und abholen würden. Diese Mütter hatten sie schon letztes Jahr so mitleidig angesehen. Sie, die Einzige in ihrem Alter, die während der Ferien nicht in Urlaub fahren würde und sich stattdessen um ihre jüngeren Geschwister kümmern musste.

    »Denk langfristig!«, durchbrach Mama ihre Gedanken für noch eine ihrer Belehrungen: »Lerne einen anständigen Beruf und pass auf, mit welchem Kerl du dich einlässt, sonst ergeht es dir wie mir – zu früh schwanger, keine Ausbildung und schon bleiben nur die undankbarsten Jobs für dich übrig!«

    Jenny spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen, aber diese Blöße wollte sie sich vor ihrer Mutter und Schwester nicht geben. Sie sprang auf. »Ich hab echt keine Lust mehr auf diese Scheiße hier!« Ohne sich nach den beiden umzudrehen, hechtete sie aus dem Raum, ließ die Tür krachend hinter sich zufallen und lief in ihr Zimmer.

    Hinter der Tür sank Jenny auf den Boden und schluchzte. Sich gegen Mama und Gina durchzusetzen, war wie gegen den Felsen zu kämpfen, der sich draußen vor ihrem Haus erhob. Da ratterte ein Zug an ihrem Fenster vorbei und riss sie aus ihren Gedanken. Sie schnellte hoch, eilte zum Fenster und schlug es zu. Unmöglich, hier Ruhe zu finden! Obwohl die Scheiben dreifach verglast waren, würde sie den nächsten Zug trotzdem hören. Sollte sie zum Rheinufer gehen und frische Luft schnappen? Eine Gefängniszelle stellte sie sich kaum kleiner vor als dieses Zimmer; zwischen dem Hochbett auf der rechten Seite, das sie sich mit Gina teilte und den zwei Schreibtischen auf der anderen Seite war kaum genug Platz, um sich zu bewegen. Die Hängeschränke nahmen alle verfügbaren Leerflächen an den Wänden ein, sodass der Raum noch enger und beklemmender wirkte. Selbst bei strahlendem Sonnenschein musste man hier das Licht anknipsen. Am Wochenende schlief Gina bei ihrem Freund Maurice Sovigny, dem Sohn des Besitzers des 5-Sterne-Hotels »Rheinblick« und ließ es sich bei ihm zu Hause fast ebenso gut gehen wie in einem Luxushotel, während sie hier schmorte. Die Zwillinge, die sich ein ähnlich kleines Zimmer teilten, verbrachten jedes zweite Wochenende bei ihrem Vater in einem großen Haus bei Köln mit einem Garten zum Fußballspielen.

    Jenny war gerade im Begriff, das Zimmer zu verlassen, da rief Leonie sie über Skype an. Seit Leonie mit ihrer Familie vor zwei Jahren zu Beginn der 8. Klasse von Frankfurt ins Rheintal gezogen war, hatten Jenny und sie sich schnell angefreundet. Im Gegensatz zu den anderen in der Klasse legte Leonie keinen Wert auf Markenklamotten. Gegen blöde Kommentare setzte sie sich mit ihrer offenen und humorvollen Art zu Wehr. Als Sitznachbarinnen unterstützten sich beide im Unterricht gegenseitig. Längst vertraute Jenny ihrer Freundin alles an, was sie bewegte. Skypen war eine gute Gelegenheit, bei der sie sich den Frust über den Streit mit Mama und Gina von der Seele reden konnte. Sie setzte sich an den Schreibtisch vor ihren Computer. Vor ihr erschien Leonies Bild.

    Gut gelaunt fragte sie: »Na, Jenny, hast du mit deiner Mutter wegen der Ferienfreizeit gesprochen?« Dabei hob sie erwartungsvoll die Augenbrauen.

    »Ja«, seufzte Jenny und senkte den Blick, »aber ich darf nicht mit. Mama muss zu ganz unterschiedlichen Zeiten arbeiten und Gina hat ständig irgendwelche PR-Termine. Ich bin stinksauer, weil ich vor und nach der Ferienbetreuung auf die Zwillinge aufpassen soll.«

    »Das lief doch letztes Jahr genauso! Warum lässt du dir das gefallen?« In Leonies Stimme schwang Empörung mit.

    »Ich habe ja protestiert«, verteidigte sich Jenny, »aber Mama hat sonst niemanden, der ihr die Zwillinge abnimmt. Und Gina hat wie immer die wichtigeren Gründe, um sich vor der Aufgabe zu drükken!« Sie verdrehte die Augen.

    »Sag einfach nein!«, kam von Leonie, als wäre das alles so einfach.

    Typisch verwöhntes Einzelkind aus einer Lehrerfamilie, dachte Jenny. Wie soll sie sich auch in meine Lage versetzen können, wenn sie nicht am eigenen Leib spürt, wie es ist, wenn die Mutter für vier Kinder allein verantwortlich ist und Hilfe braucht.

    »Wie stellst du dir das vor? Soll Mama, die sich für jeden Cent abrackert, auch noch einen Babysitter engagieren?« Jennys Stimme hatte an Schärfe zugenommen. Leonie war jetzt echt keine Hilfe.

    Verlegen presste Leonie die Lippen aufeinander. Sie überlegte kurz, dann sah sie Jenny fragend an. »Was ist mit Timis und Flos Vater? Warum hilft der nicht aus?«

    »Du weißt doch, dass Mama mit ihm und seiner Freundin Verena auf Kriegsfuß steht. Sie war der Grund für ihre Trennung vor drei Jahren. Alle zwei Wochenenden verbringen die Zwillinge bei Jens und reden bei ihrer Rückkehr zu Mama ganz begeistert von der Verena. Klar, dass Mama schwer mit sich ringen muss, damit sie nicht die Fassung verliert. Einen Urlaub mit den Kleinen würde sie Jens und Verena nicht zugestehen und ich glaube, dass Jens auch lieber seine Ruhe haben will. Sonst hätte er längst nachgefragt!«

    »Du bringst die beiden doch ab und zu mal mit dem Zug nach Köln. Frag Jens einfach, ob er sich einen Urlaub mit den Twins vorstellen könnte. Und wenn ja, muss sich deine Mutter eben einen Ruck geben und über ihren Schatten springen. Schließlich kannst nicht immer du die Leidtragende sein!«

    Leonie hatte zwar von vielen Dingen keine Ahnung, aber in diesem Punkt gab Jenny ihr Recht.

    »Das wäre eine Lösung, aber ich weiß genau, dass Mama von diesem Vorschlag nicht begeistert sein wird. Ich bin selbst sauer auf Jens und Verena.«

    »Aber Timi und Flo scheinen gut mit ihnen auszukommen. Das ist doch die Hauptsache.«

    »Ja, die nehmen die Jungs sogar mit ins Stadion zu den Spielen vom Kölner FC.«

    Jenny erinnerte sich an die gemeinsamen Ausflüge mit Jens zu den nahegelegenen Burgen und Schlössern, als er damals bei Mama eingezogen war. Sie und Gina hatte er »seine Prinzessinnen« genannt, doch nach der Geburt der Zwillinge hatte er sich nur noch um seine »Prinzen« gekümmert. Und mit vier Kindern, die sich nicht so artig wie bei Hofe benahmen, war es ihm zu viel geworden. Ständig hatten Jens und Mama gestritten, bis er Trost bei Verena gefunden hatte.

    Leonies Augen glitten zur Uhranzeige: »Du, ich muss gleich Schluss machen, meine Mutter ruft mich. Schade, dass wir jetzt nicht länger darüber sprechen können. Ich sag dir: Lass dich nicht einschüchtern!«

    Sie verabschiedeten sich. Für dieses Jahr war das jetzt eh zu spät. Das werden die ödesten Ferien werden, dachte Jenny frustriert. Aber im nächsten Jahr würde alles anders sein. Sie würde nicht mehr klein beigeben, ganz bestimmt nicht. Sie nahm sich vor, Jens vorsichtig für die Sommerferien im kommenden Jahr zufragen. Mit seinem Einverständnis zu einem gemeinsamen Urlaub mit den Jungs würde sie Mama vor vollendete Tatsachen stellen; entweder sie würde Jens den Urlaub zugestehen oder sie müsste sich einen anderen Babysitter suchen, denn sie selbst würde nicht mehr zur Verfügung stehen.

    2Zwischen den Fronten

    Jenny, gehst du mit uns auf den Sportplatz?« Timi und Flo schauten sie erwartungsvoll an. Die Uhr zeigte kurz vor fünf. Sie konnte jetzt nicht weg, sie musste zu Hause bleiben: Ein Berg Hausaufgaben lag vor ihr und die Englischvokabeln mussten in ihren Kopf rein. Der Notenschluss stand kurz bevor. Aber war es möglich, zu arbeiten, wenn die beiden Jungs in der Wohnung lärmten? Da ergab es mehr Sinn, wenn die Zwillinge sich beim Fußball richtig auspowern konnten und abends schneller einschliefen. Dann war Gelegenheit für sie, in aller Ruhe ihren Schulkram zu erledigen. Also doch raus aus der Wohnung und auf zum Bolzplatz um die Ecke. Sie nickte den beiden zu.

    »Kannst du im Tor stehen?«, fragte Timi.

    Nachdem sie das letzte Mal ein Ball mit voller Wucht an der linken Schulter getroffen hatte, hatte sie sich geschworen, nie wieder Torwart zu sein. Vor allem, weil sie sich eher wie eine lebende Zielscheibe vorgekommen war. Doch die Zwillinge riefen gleichzeitig »Bitte, bitte, bitte!«

    Jenny entfuhr ein schwaches: »Na, gut« und ihre Brüder streckten die Arme in die Höhe und jubelten los, als wenn es um das Endspiel der Weltmeisterschaft ginge.

    Kurze Zeit später standen sie auf dem Sportplatz und Jenny nahm ihren Platz im Tor ein. Als Mitspieler war sie gänzlich ungeeignet; auch im Sportunterricht sah sie meistens nur dem Ball hinterher und stellte eher ein Hindernis für ihre Mitschüler dar. Kein Wunder, dass sie immer als Letzte in eine Mannschaft gewählt wurde. Als Timi und Flo fast am anderen Ende des Spielfelds angelangt waren, verlor Jenny den Ball aus den Augen. Ihr Blick schweifte zum Himmel und sie fixierte die vorbeifliegenden Vögel. Sie verfolgte ihren Flug; frei sein wie ein Vogel, einfach abheben und alle Sorgen hinter sich lassen – diese Vorstellung rief die tiefe Sehnsucht in ihr hervor, es ihnen gleichzutun.

    Die Schreie der Jungs rissen sie aus ihren Gedanken – in der Mitte des Spielfelds gingen die beiden gerade mit Fäusten aufeinander los.

    Jenny rannte zu den Kampfhähnen und warf sich zwischen sie.

    »Also, entweder ihr vertragt euch jetzt oder wir gehen sofort nach Hause«, befahl Jenny genervt und fügte hinzu: »Wenn ich schon meine Freizeit mit euch verbringe, dann verhaltet euch gefälligst anständig!«

    Jenny atmete tief durch. Sie stellte fest, dass sie in letzter Zeit immer gereizter auf die Streitereien der beiden reagierte. Vielleicht brauch ich einfach mehr Zeit für mich, fuhr es ihr durch den Kopf; Zeit, die Mama und Gina ihr nicht zugestehen wollten.

    Timi und Flo beäugten sich feindselig. Aber Jenny war es klar, dass die beiden weiterspielen wollten. In ihrer engen Wohnung wussten sie erst recht nicht, was sie miteinander anfangen sollten.

    Jenny vernahm ein leises »Okay«. Die beiden gaben sich die Hand.

    Daraufhin entfernte Jenny sich vom Spielfeld: »Ich steh als Torwart nicht mehr zur Verfügung!«

    Nach einem kurzen Murren legten die Jungs los, als ob nichts passiert wäre.

    Später hatte Jenny große Mühe, die beiden zum Abendessen vom Platz zu ziehen.

    Gegen sieben Uhr erreichten sie ihre Wohnung. Kurz zuvor war Mama von der Arbeit gekommen und erwartete sie mit dem Abendessen. »Alles klar bei euch?« Die Augen auf die verschwitzten Jungs gerichtet fügte sie hinzu: »Habt ihr gut gespielt?« Die beiden nickten nur.

    Jenny stöhnte: »Timi und Flo haben sich wieder geprügelt. Ich musste die beiden auseinanderreißen, damit sie zur Vernunft kommen.«

    »Was? Wer von euch hat angefangen?« Mamas strafender Blick traf die beiden.

    Flo wollte gerade loslegen, als Jenny ihn unterbrach: »Fangt jetzt ja nicht mehr damit an – ihr seid beide wild übereinander hergefallen.«

    Mama nickte ihr zu. Als die Zwillinge ihr Brot verzehrt hatten, machten sie sich für das Bett fertig.

    Jenny atmete tief durch.

    »Sind Gina und ich als Kinder auch so aufeinander losgegangen?«

    »Ihr habt euch gestritten, aber ich erinnere mich nicht daran, dass ihr euch geschlagen habt. Du hast Ginas Barbiepuppe die Haare gestutzt – dafür hat sie deine Barbiesachen aus dem Fenster geworfen.« Jenny lachte.

    »Und du hast sie von den Gleisen geholt – das war nicht ganz ungefährlich! Ich finde es erstaunlich, wie heftig Timi und Flo sich zanken, und im nächsten Augenblick verhalten sie sich wieder friedlich.«

    Mama pflichtete ihr bei: »Das wundert mich auch immer. Ihr wart viel nachtragender.«

    »Aber insgesamt pflegeleichter, oder?« Mama runzelte die Stirn. »Vielleicht. Du warst als Baby mit Abstand am anstrengendsten, hast mir fast ein Jahr lang

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