Mami 1826 – Familienroman: Das Mädchen mit den roten Haaren
Von Eva-Maria Horn
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Die zwölf Mädchen der Freiherr-von-Stein-Schule hatten das Abitur bestanden. Alle! Sogar die, die sich schon damit abgefunden hatten, die Oberprima noch einmal zu machen. "Meine Abinote ist mir völlig schnuppe", behauptete Ilse Bauer. "Danach kräht doch kein Hahn." Die zwölf Mädchen standen auf dem Schulhof, sie trugen die festliche Kleidung, die nun einmal dazu gehörte. "Aber für das Studium ist die Note wichtig", gab Klara zu bedenken. Sie wollte Medizin studieren und hatte nur mit einer glatten Zwei abgeschlossen.
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Mami 1826 – Familienroman - Eva-Maria Horn
Mami –1826–
Das Mädchen mit den roten Haaren
Roman von Horn Eva-Maria
Die zwölf Mädchen der Freiherr-von-Stein-Schule hatten das Abitur bestanden. Alle! Sogar die, die sich schon damit abgefunden hatten, die Oberprima noch einmal zu machen.
»Meine Abinote ist mir völlig schnuppe«, behauptete Ilse Bauer. »Danach kräht doch kein Hahn.«
Die zwölf Mädchen standen auf dem Schulhof, sie trugen die festliche Kleidung, die nun einmal dazu gehörte.
»Aber für das Studium ist die Note wichtig«, gab Klara zu bedenken. Sie wollte Medizin studieren und hatte nur mit einer glatten Zwei abgeschlossen.
»Wer denkt denn gleich ans Studium?« ereiferte sich Laura lachend. Ilse war sehr vorsichtig in der Wahl ihrer Eltern gewesen. Seit Generationen war die Brauerei Bauer im Familienbesitz. »Ein Jahr werde ich mich mindestens von den Strapazen erholen.«
Fräulein von Bruchhausen trat, von den Mädchen unbemerkt, heran. Sie lächelte fein.
»Ich hatte gar nicht das Gefühl, Fräulein Bauer, daß Sie sich übermäßig angestrengt haben.«
»Da sieht man mal wieder, wie ich verkannt werde«, klagte Ilse. Aber die blauen Augen sprühten vor Übermut. »Mein Bruder behauptete auch immer, ich wäre eine faule Nuß. Ich glaube, es ist ein Risiko, mit diesem Knaben durch die Welt zu gondeln. Aber er hat nun mal das beste Auto.«
Die Mädchen lachten, sie fanden heute alles wunderbar. Aber der Lehrerin blieb nicht verborgen, daß Franziska Winter nur ein wenig die Lippen verzog. Sie hatte sich bis jetzt auch noch nicht an dem Gespräch beteiligt.
Franziska war Fräulein von Bruchhausens ganz besonderer Liebling. Natürlich hatte sie streng darauf geachtet, daß Franziska nicht bevorzugt wurde. Schon in der Sexta war sie Klassensprecherin gewesen. Furchtlos hatte sie ihre Meinung vertreten, war bei allen Lehrern nicht nur beliebt, sondern man nahm sie auch ernst, ja, man bewunderte ihre aufrechte Art, ihren Gerechtigkeitssinn. Es kam natürlich hinzu, daß sie eine sehr gute Schülerin war.
Franziska hatte das Abitur mit der besten Note der Klasse bestanden: Eine glatte Eins.
Warum also stand sie so blaß, ja, teilnahmslos zwischen den Freundinnen? Die Lehrerin musterte das Mädchen aus den Augenwinkeln. Nun, Franziska würde wissen, wie hübsch sie war. Nicht hübsch nach einer Schablone. Es war eine aparte Schönheit, eine Schönheit, die nicht unbedingt ins Auge fiel. Man mußte sie entdecken. Ihr rotblondes Haar war durch die Naturkrause pflegeleicht, mal hatte sie es kurzgeschnitten getragen, mal ließ sie es wachsen und band es zu einem Pferdeschwanz zusammen. Jetzt trug sie es ein wenig länger. In weichen Wellen fiel es bis zu ihren Schultern hinunter. Als einziges der Mädchen war sie nicht geschminkt. Das hatte sie auch gar nicht nötig, da die Natur sie üppig bedacht hatte. Die Brauen waren dunkel, feingezeichnet, die dunklen Wimpern lang und leicht gebogen. Sie warfen dunkle Schatten über die Wangen.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß ich endlich frei bin.« Vera warf die Arme in die Luft. »Frei. Ich brauche den Kasten nie mehr mit klopfendem Herzen betreten. Keine Arbeiten mehr, keine Hausaufgaben, nichts. Frei. Könnt ihr das kapieren?« Sie sah in die Augen der Mädchen und stöhnte.
»Ich weiß nicht«, gab Helga zögernd zu bedenken. »Eigentlich war die Schule doch gar nicht so schlimm. Wir haben viel Spaß gehabt. Und wir haben wie Pech und Schwefel fest zusammengehalten. Wenn wir zu übermütig waren, hat uns Franziska gebremst und uns die Leviten gelesen. Ich kriege es eigentlich nicht in den Kopf, daß wir jetzt auseinandergehen. Und uns vielleicht nie wiedersehen.«
»O Himmel«, stöhnte Petra und verdrehte die Augen. »Das mußte ja kommen. Du bist immer so entsetzlich rührselig.«
»Eigentlich hat sie recht«, überlegte Ilse zögernd. »Spaß haben wir gehabt. Und unser Gewissen«, sie zeigte augenzwinkernd auf Franziska, »hat schon dafür gesorgt, daß alles im Rahmen blieb. Oft genug haben wir sie beschimpft und sie einen Spielverderber genannt. Aber das war sie nie. Du warst mit allen gut Freund und immer gerecht. O Himmel, jetzt kommen mir gleich die Tränen. Jetzt stellt sich bei mir auch der Abschiedsschmerz ein.«
Fräulein von Bruchhausen lächelte auf ihre sympathische Art. »Nun, wir haben ja jetzt noch unser Abschiedsfest vor uns. Da haben Sie Zeit genug, meine Damen, sich in Tränen aufzulösen. Ich denke, Sie sollten jetzt nach Hause gehen. Ihre Eltern werden schon sehnsüchtig auf Sie warten.«
»Bestimmt«, behaupteten sie alle und schwatzten durcheinander. »Wenn ich mich verspäte, hängt mein Vater die schwarze Fahne ’raus. Er glaubt bestimmt nicht, daß ich durchgekommen bin.«
Sie schüttelten einander die Hände, umarmten sich. Sie stürzten davon, als hätten sie plötzlich keine Minute mehr zu verlieren.
Fräulein von Bruchhausen verstand es geschickt, an Franziskas Seite zu bleiben.
»Gehen wir doch zusammen«, lächelte sie freundlich. »Wir haben ja den gleichen Weg.«
Fräulein von Bruchhausens Eigentumswohnung lag dem Reihenhaus der Winters gegenüber. Ohne es zu wollen, hatte die Lehrerin vieles von dem Familienleben mitbekommen. Franziskas Vater war vor einem halben Jahr gestorben, und offensichtlich hatte sich das Mädchen von diesem Schicksalsschlag noch nicht erholt.
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Um diese Zeit war die Straße des kleinen Städtchens nur wenig belebt. Ein großer Schäferhund beschnüffelte einen Baum. Ein Auto fuhr über das alte Kopfsteinpflaster. Die Fachwerkhäuser träumten hinter den Vorgärten, sie waren es gewohnt, sehr oft von Fremden fotografiert zu werden.
»Mit Ihrem Ergebnis können Sie wirklich zufrieden sein, Franziska.« Fräulein von Bruchhausen hatte sich vorgenommen, dem Mädchen auf den Zahn zu fühlen. Franziska war ja nicht wiederzuerkennen. So lebhaft, immer zu Scherzen aufgelegt, war sie jetzt nur noch ein Schatten ihrer selbst. Fräulein von Bruchhausen hatte bisher gar nicht das Gefühl gehabt, daß der Vater eine besonders große Rolle im Haus Winter spielte. Er war selten zu Hause gewesen. Im Städtchen munkelte man oft über ihn. Das ist der Nachteil eines kleinen Ortes, dachte die Lehrerin ungeduldig. Da hat jeder ein Auge für den anderen, und selten bleibt etwas verborgen. Die Gerüchteküche brodelte, und nicht immer kam die Wahrheit heraus.
»Du willst Medizin studieren, nicht wahr?« Sie sah auf das blasse, abweisende Gesicht. Wahrscheinlich wünscht sie mich ins Pfefferland, dachte Fräulein von Bruchhausen spöttisch.
Sie dachte schon, sie würde keine Antwort bekommen. Sie bogen in die Parkallee ein, Franziska stieß ein Steinchen mit der Fußspitze fort.
»Das wollte ich.«
Fräulein von Bruchhausen blieb stehen und faßte Franziskas Arm. Erstaunt musterte das Mädchen das erregte Gesicht der Lehrerin.
»Hören Sie, Fränzi«, unwillkürlich benutzte sie den Namen, den die Mädchen für sie hatten. »Ich spüre doch, daß etwas nicht in Ordnung ist. Sie sind ja nicht wiederzuerkennen. Fränzi, durch all die Jahre habe ich Sie begleitet, ich habe Sie heranwachsen sehen, ich habe mich gefreut, wie Sie sich entwickelten. Sie… nun, jetzt kann ich es sagen, Sie sind mir ganz besonders ans Herz gewachsen. Was ist los? Bitte, haben Sie doch Vertrauen zu mir. Ich bin nicht mehr Ihre Lehrerin, wir treffen uns jetzt auf einer ganz anderen Ebene. Wollen wir uns dort auf die Bank setzen? Oder werden Sie zu Hause erwartet? Dann allerdings will ich Sie nicht aufhalten.«
Franziska winkte ab, mit Bestürzung sah Helma von Bruchhausen, daß Tränen in den grünen Augen des Mädchens glänzten.
»Meine Mutter hat diesen Tag kaum zur Kenntnis genommen.«
Sie setzten sich, Franziska glättete den dunklen Rock, streifte ihn über ihre Knie. Aber Helma sah nur die Verzweiflung in ihrem jungen Gesicht.
»Es muß schwer sein, den Partner zu verlieren.« Helma sprach nur zögernd. Franziska unterbrach sie grob.
»Natürlich. Aber das ist etwas Natürliches, nein, ich muß mich besser ausdrücken. Der Tod ist ein großer Kummer, aber irgendwie und irgendwann trifft es jeden.«
Sie wandte den Kopf, Tränen liefen über Fränzis Wangen, aber die Augen sprühten.
»Nur erfahren vermutlich wenige Frauen, daß der