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Der Märchenmörder: Nils Johansens erster Fall
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Der Märchenmörder: Nils Johansens erster Fall
eBook343 Seiten4 Stunden

Der Märchenmörder: Nils Johansens erster Fall

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Über dieses E-Book

Zwei Morde innerhalb kürzester Zeit erschüttern die sonst so ruhige Ostfriesenidylle.
Am helllichten Tag und mitten in einer Menschenmenge, doch keinem scheint etwas Ungewöhnliches aufgefallen zu sein.
Als die sechzehnjährige Mara und ihre Freundin drei fremde Kinder aus einer Garage befreien, ahnen sie nicht, dass sie sich damit mitten ins Geschehen begeben. Auch als die Situation brenzlig wird, steht für die beiden fest: Was auch immer diese Kinder mit dem mysteriösen Märchenmörder verbindet; sie werden sie auf keinen Fall alleine lassen, und der Sache auf den Grund gehen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum9. Aug. 2016
ISBN9783734539626
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    Buchvorschau

    Der Märchenmörder - Sarah Markowski

    Kapitel 1

    Manchmal wünsche ich mir die Zeit zurück, in der das frühe Zubettgehen die größte Sorge war. Die Zeit, in der Mama noch alles wusste und Papa der stärkste Mann der Welt war. Jungs waren doof, nur Papa natürlich nicht, den wollte ich schließlich später einmal heiraten. Die Zeit, in der Schule noch Zukunft war und Freunde nicht nach dem Aussehen ausgesucht wurden.

    Wäre das nicht alles schon Vergangenheit, müsste ich mir heute keine Sorgen über die Mathearbeit morgen machen.

    „Es ist doch immer dasselbe!"

    Schimpfend malte ich ein rotes Kreuz neben die Aufgabe, die sich soeben als falsch erwiesen hatte, und merkte, dass ich schon wieder das Ende meines Bleistiftes angekaut hatte. Angewidert warf ich ihn auf die Tischplatte, beobachtete wie er über mein Heft rollte und kurz vor der Kante liegen blieb und verzog das Gesicht, als ich die kleinen aufgeweichten Holzstücke auf meiner Zunge spürte.

    Seufzend stützte ich die Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und vergrub mein Gesicht in den Händen. Mathe war noch nie meine Stärke gewesen. Genau wie Physik, Chemie und so ziemlich alles, was auch nur im Entferntesten mit Naturwissenschaften zu tun hatte. Am liebsten mochte ich Sport, Kunst und Sprachen; Farben und Buchstaben lagen mir viel eher als Zahlen.

    Ich hob den Kopf und starrte erneut auf das vollgekritzelte Blatt, das vor meiner Nase auf dem Tisch lag. Ich gab mir wirklich größte Mühe, doch was Vektoren waren wusste ich auch nach drei Stunden Intensivlernen noch nicht. Langsam packte ich die Stifte zurück in mein Federmäppchen, klappte das Buch zusammen und ließ das Heft in den Tiefen meines Schulrucksacks verschwinden.

    Draußen vor dem Fenster tobte der Wind. Kleine Kristalle bildeten sich am Fensterrahmen und mein Herz hüpfte vor Freude, als ich mich daran erinnerte, dass für morgen der erste Schnee vorausgesagt war. Es war Anfang Dezember und für den Norden Deutschlands noch recht mild. Zumindest mittags schien die Sonne und hatte noch genug Kraft, um die Hoffnung auf Schnee zu verderben. Gedankenverloren blickte ich aus dem Fenster und freute mich, dass die bunte Lichterkette, die ich rund ums Fenster aufgehängt hatte, in der Dunkelheit so gut zur Geltung kam. Kleine Schlitten und Weihnachtswichtel standen neben der selbstgebauten Krippe aus hellem Eichenholz, die ich von Papa zu meinem ersten Weihnachtsfest bekommen hatte. Tannenzapfen lagen auf der Fensterbank und eine lange dünne Schneeflockengirlande hing an den weißen Vorhängen.

    Ich stand auf und warf einen Blick auf die Uhr über meinem Bett. Halb sechs und die Sonne war schon längst verschwunden. Mit einem Blick aus dem Fenster entschied ich, das Haus heute nicht mehr zu verlassen und stattdessen noch ein bisschen zu lesen. Ich ließ mich in den großen, kuscheligen Sitzsack fallen und griff nach dem Buch, das neben meinem Bett lag. Ich zog meine Knie an und schlug die Seiten auf, die von dem bunt gestreiften Lesezeichen markiert wurden.

    Der Wind pfiff durch die Ritzen des alten Bauernhauses und die Kristalle am Fenster wurden von leichten, winzigen Regentropfen verwischt. Bevor ich mich in der fesselnden Geschichte des Buches verlor, wandte ich meinen Blick noch einmal ab, um zu prüfen, ob es nicht doch schon Schnee war, der vom Himmel hinab rieselte.

    Doch wie geahnt, und zu meiner Enttäuschung, waren es nur Regentropfen, die leise gegen die Scheibe prasselten und mit langen Spuren am Glas herunterliefen.

    ***

    Der Zug war voll vom Eingang bis zum Ausgang. Gepäck stapelte sich und die Leute standen einander auf den Füßen. Achtlos kämpften sie sich durch die Gänge und Juna hatte Mühe, nicht alle fünf Minuten von einem Ellenbogen im Gesicht getroffen zu werden. Drei Tage waren sie schon unterwegs. Große Autos, Traktoren, alte Karren, Busse und Züge hatten sie bisher von einem Ort zum andern gebracht. Gelaufen waren sie, bis die Blasen an den Füßen bluteten und die Schuhe an den Knöcheln und Zehen scheuerten.

    Der Zug, in dem sie heute fuhren, war überfüllt. Viel zu viele Fahrgäste wurden in einen kleinen Raum gedrängt, doch das störte Juna nicht. Hauptsache sie kamen irgendwann ans Ziel. Hauptsache sie blieben zusammen und verloren einander nicht.

    Mit einem schnellen Schritt zur Seite schaffte sie es gerade noch einem Mann auszuweichen, der seinen Sohn hinter sich her zog und dabei, wie jeder andere auch, keine Rücksicht auf mitreisende Personen nahm. Juna drückte die Hand ihrer kleinen Schwester ein bisschen fester und streckte sich, um sicherzugehen, dass ihr Bruder noch in der Nähe war. Namik stand direkt am Ausgang und klammerte sich unsicher an einer Stange fest, die den Fahrgästen ermöglichte, auch im Stehen nicht umzufallen. Juna wischte sich den Schweiß von der Stirn und zupfte an ihrem T-Shirt, um wenigstens einen winzigen Lufthauch zu erzeugen. Obwohl es Winter war und draußen einstellige Temperaturen herrschten, war es im Zug unerträglich heiß und stickig. Sie schaute sich um und sah, dass die kleinen schmalen Fenster an den Wänden des Zuges bereits geöffnet waren. Juna schloss die Augen und versuchte die schlechten Gerüche auszublenden. Schweiß und stinkende Füße; Klamotten, die tagelang nicht gewechselt und gewaschen worden waren; Hunde, die ihr Geschäft verrichteten wo es ihnen passte; und Müll, der von den Mitfahrern achtlos weggeworfen wurde. Leere Getränkepäckchen lagen auf dem Boden und hier und da bildeten sich Saft- und Wasserpfützen unter den Sitzen und zwischen den Koffern. Leere Papiertüten und Plastikverpackungen lagen verstreut zwischen Beinen und Pfoten und selbst Essen, das nur einmal angebissen wurde, wurde achtlos herumgeworfen. Am liebsten hätte Juna ihnen die Meinung gesagt und durch das Abteil geschrien, dass es so nicht geht und man sich als Mensch nicht so verhält. Doch sie traute sich nicht. Wie immer.

    Draußen war es bereits dunkel und dicke Regentropfen klatschten gegen die Fensterscheibe.

    Wie gerne würde Juna jetzt schlafen und erst am Morgen wieder aufwachen… doch die Leute, die sich kreischend und schreiend unterhielten, ließen diesen Wunsch in Nullkommanichts zerplatzen.

    Der Zipfel ihres Rocks bewegte sich und Malina tippte mit dem Zeigefinger gegen ihren Oberschenkel. Juna beugte sich zu ihrer Schwester herunter, die ihr mit Zeichen zu verstehen gab, dass sie auf Toilette müsse.

    „Bald Malina. Bald sind wir da", sagte sie und versuchte verzweifelt ihre Schwester bei Laune zu halten. Die Kleine trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und schaute sich immer wieder nervös um. Keiner wusste wann der Zug ankommen würde. Niemand wusste was sie erwartete und niemand wusste, wo sie überhaupt hinfuhren.

    ***

    Das nächste Kapitel neigte sich dem Ende zu und erst mit einem Blick auf die Uhr merkte ich, dass es schon längst Zeit fürs Essen war. Ich las die letzten Zeilen und legte das Lesezeichen zwischen die beiden Seiten. Ich streckte meine Arme und quälte mich aus dem großen Sitzsack heraus. Müde lief ich ans andere Ende des Zimmers, schaltete das Licht aus und schloss die Türe hinter mir. Ich gähnte herzhaft und lief Stufe für Stufe die alte Holztreppe hinunter. Im Flur duftete es bereits nach Mamas Gemüseauflauf und ich merkte, wie mein Bauch anfing zu grummeln.

    „Na, fertig mit Mathelernen?", fragte Mama, ohne mich überhaupt gesehen zu haben. Ich ließ mich auf die Eckbank plumpsen und zuckte mit den Schultern.

    „Eher aufgegeben."

    Sie lachte und balancierte die heiße Schüssel mithilfe eines Topflappens auf einer Handfläche. Ich stand auf, schnappte mir einen Untersetzer und einen Schöpflöffel und folgte ihr ins Esszimmer.

    „Essen ist fertig!", rief ich und verscheuchte Findus, unseren dicken Kater, von meinem Platz. Widerwillig streckte er sich, gab dann aber doch nach und hüpfte einen Stuhl weiter.

    Neben mir schob Mama die TrippTrapp-Stühle der Zwillinge näher an den Tisch heran und legte ihnen ein Lätzchen um.

    „Diesmal bleibt das Essen auf dem Tisch, haben wir uns verstanden?"

    Emilia und Malte nickten und schielten unauffällig zu Findus hinüber, der sich schon wieder genüsslich die Lippen leckte und unter den Stühlen meiner kleinen Geschwister auf ein paar Leckerbissen wartete.

    „Du weiß auch genau, was gut ist."

    Lachend bückte ich mich zu ihm hinunter und kraulte sein weiches schwarzes Fell. Die Nase mit dem kleinen weißen Tupfer streckte er in die Höhe und schnurrte.

    „Essen ist fertig!", rief ich erneut, diesmal genervter, weil mein großer Bruder Hannes wieder einmal eine Extraeinladung brauchte. Hinter mir ging die Terrassentür auf und Papa kam herein. Er trug seine graue Latzhose und das blau-rot-karierte Holzfällerhemd, das er immer trug wenn er in der Schreinerei arbeitete. Die bernsteinfarbenen Haare standen, wie jeden Tag, wirr vom Kopf ab und die Sommersprossen rund um seine Nase hüpften mit jeder Gesichtsbewegung.

    „Bin schon da", sagte er und drückte den Zwillingen einen Kuss auf die Stirn. Seine Hände waren voller Lack und Holzspäne und man konnte unschwer erkennen, dass er seinen Job als Schreinermeister liebte und mit größter Leidenschaft ausführte.

    Ich rutschte ungeduldig auf meinem Stuhl herum, bis auch das letzte Familienmitglied, mein älterer Bruder, endlich eintrudelte.

    Er schob Findus ein wenig zur Seite und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, auf seinen Stuhl.

    „Hände waschen", sagte Mama und fing an den Auflauf auf unsere Teller zu verteilen. Mürrisch stand Hannes auf und ließ in der Küche Wasser über seine Finger laufen.

    „Alles klar?", fragte Papa, als er sich wieder zu uns gesellte. Er nickte und griff stumm nach dem Löffel.

    Papa runzelte die Stirn und Mama zuckte die Schultern, als sie sich gegenseitig verwirrte Blicke zuwarfen.

    „Wir kennen ihn doch", sagte ich schnell und zwinkerte ihm zu. Mein Bruder war noch nie sehr gesprächig gewesen. Eigentlich sehr verwunderlich für unsere Familie, aber Papa sagt immer, einer muss ja aus der Reihe tanzen. Er ist der Älteste von uns vier Kindern und verbringt den Tag am liebsten auf dem Fußballplatz, mit seinem Skateboard oder in seinem Zimmer am Klavier oder der Gitarre. Die Instrumente spielt er seit er vier ist und im Gegensatz zu mir hat er noch immer Spaß daran. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war haben meine Eltern versucht, mich fürs Blockflöte spielen zu begeistern. Nach etwa drei Wochen habe ich mich geweigert den Unterricht zu besuchen und auch das Angebot ein eigenes Schlagzeug, eine Trompete, oder ein anderes Instrument das Krach macht zu bekommen und zu lernen, scheiterte. Aber ich bin auch ohne musikalische Erziehung großgeworden und bereue es heute immer noch nicht, keine Noten lesen zu können.

    „Mara?"

    Ein leichter Stoß gegen die Schulter riss mich aus meinen Gedanken.

    „Was?"

    Ich schüttelte den Kopf und blickte verwundert nach rechts.

    „Ob du mir bitte das Wasser rübergeben kannst, habe ich gefragt."

    „Äh, ja klar."

    Ich nahm den schweren gläsernen Krug in die Hände und reichte ihn über den Tisch.

    Mama bedankte sich, nahm ihn entgegen und füllte Maltes Becher. Er schmollte und verzog das Gesicht, da er viel lieber Saft statt Wasser gehabt hätte.

    „Morgen wieder."

    Malte nahm den Becher und ließ ihn neben seinem Teller über den Tisch rollen.

    Ich nahm mir vor ihn nicht zu beachten, da er sich so am ehesten wieder abregte und nahm eine Gabel voll Gemüse, das inzwischen schon abgekühlt war.

    Im Fenster spiegelte sich unser Esszimmer und ich musste grinsen, als ich das alltägliche Familienchaos betrachtete.

    Draußen wurde der Regen immer stärker. Die Tropfen prasselten gegen die Scheibe und veranstalteten ein Wettrennen schräg nach unten. Ich schloss die Augen und wünschte mir mit aller Kraft, dass es heute Nacht schneite. Wenigstens ein klitzekleines bisschen.

    ***

    Draußen war es stockdunkel. Man konnte außer dem Mond am Himmel nichts erkennen. Der Zug war hell erleuchtet und die Gesichter der Menschen spiegelten sich in der Scheibe. Juna starrte immer geradeaus und konnte sich vor Müdigkeit kaum noch wach halten.

    Immer wieder gab ihr Malina zu verstehen, dass sie ganz dringend auf Toilette müsse, doch keiner wusste, wann sie endlich das Ziel erreichen würden. Am Anfang hatten sie Ich sehe was, was du nicht siehst und Ich packe meinen Koffer gespielt, doch nach einiger Zeit hatten sie auch daran die Lust verloren. Die stickige Luft im Abteil und der immer gleichbleibende Geräuschpegel verursachten Kopfschmerzen und Juna wünschte sich nichts sehnlicher, als auszusteigen und frische Luft zu schnappen. Ihre Beine fühlten sich wackelig an und die Augenlider wurden mit jeder Minute schwerer. Die Atmosphäre war angespannt und man merkte, dass die Müdigkeit jedem zu schaffen machte.

    Ein paar Meter weiter lehnte Namik an der Tür und schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Malina hatte noch immer die Beine gekreuzt und tippelte ungeduldig auf der Stelle herum.

    „Bald sind wir da."

    Juna versuchte ihrer kleinen Schwester Mut zu machen, obwohl sie nicht die Erste und sicherlich auch nicht die Letzte gewesen wäre, die es nicht mehr bis zur nächsten Raststelle aushielt.

    „Möchtest du etwas essen?"

    Malina schüttelte den Kopf und Juna seufzte. Neben ihr saß ein kleiner Junge auf dem Schoß seiner Mutter und lächelte sie mit seinem zahnlosen Grinsen an. Juna lächelte zurück und beobachtete, wie er immer wieder versuchte die kleine Dose in seinen Händen zu öffnen.

    Der Zug fuhr mit hoher Geschwindigkeit, doch man konnte nichts von der Umgebung erkennen. Manchmal kamen sie an Bahnhöfen in Städten oder kleineren Ortschaften vorbei, doch der Zug hielt nie an. Die Häuser, an denen sie vorbeifuhren, waren hell erleuchtet und manchmal konnte man sogar die Schatten von Menschen hinter den Fenstern erkennen. Juna wünschte sich, eine dieser Personen zu sein. Nicht durstig, nicht hungrig, frisch geduscht und mit feuchten Haaren vor dem Ofen sitzend. Sie stellte sich vor, in einem warmen Wohnzimmer zu sein. Ihre Geschwister neben ihr und die Eltern, sich leise unterhaltend, in der Küche. Wie wäre es jetzt wohl, mit einem warmen Kakao auf dem Sofa zu sitzen und nebenbei einen Film zu schauen?

    Traurig schaute sie sich im Zugabteil um und verabschiedete sich wehmütig von ihrem Traum.

    Mit einem Blick auf die Uhr merkte sie, dass es schon lange nach Mitternacht war und sich auch Malina nicht mehr lange wachhalten können würde. In regelmäßigen Abständen rieb sich die Kleine die Augen und gähnte herzhaft. Irgendwann würden sie schon ankommen. Am nächsten Bahnhof, bevor eine weitere lange Zugfahrt beginnen würde. Juna graute es schon allein bei dem Gedanken, erneut in einen dieser überfüllten Waggons steigen zu müssen.

    „Was bleibt uns anderes übrig?", murmelte sie, doch die einzige Antwort war ein fragender Blick ihrer kleinen Schwester.

    „Nichts…"

    Und das wussten wir beide ganz genau.

    Kapitel 2

    Der verhasste Piepton meines Weckers riss mich aus dem Tiefschlaf. Müde rieb ich mir die Augen, nachdem ich endlich den Ausschaltknopf an der Rückseite gefunden hatte.

    Ich streckte meine Arme und verkroch mich unter die Decke.

    „Drei, zwei, eins…", zählte ich leise und wartete darauf, dass einer der Zwillinge die Tür aufriss und lautstark Guten Morgen brüllte. Tatsächlich hörte ich auch heute wieder die kleinen nackten Füße über den Flur huschen. Vor meinem Zimmer hielten sie inne und stritten sich leise darüber, wer heute an der Reihe sei. Bevor ich mich darauf vorbereiten konnte wurde auch schon die Tür aufgerissen und meine Decke mit vereinten Kräften weggezogen. Kichernd standen sie vor meinem Bett und ich fragte mich, wie man an einem Montagmorgen schon so fit sein konnte. Ohne Vorwarnung rannten beide aus dem Zimmer und schalteten im Rausgehen das Licht an.

    „Nein!", rief ich und kniff die Augen zusammen. Blind quälte ich mich aus dem Bett heraus und tastete mich vorwärts. Unterwegs stieß ich meinen Zeh am Schreibtischfuß an und fluchte leise. Mittlerweile hatten sich meine Augen an das grelle Licht gewöhnt und ich konnte mir ohne weitere Vorfälle meine Klamotten für den heutigen Tag raussuchen.

    Mit einer Jeans, meinem Lieblingsshirt und einer grauen Sweatshirt-Jacke auf dem Arm machte ich mich auf den Weg in Richtung Badezimmer. Da Papa bereits in der Schreinerei war, Mama schon längst in der Küche stand und Hannes erst auf den letzten Drücker aufstand, musste ich mich mit niemandem um das Bad streiten.

    Verschlafen wusch ich mir den Schlafsand aus den Augen, putzte meine Zähne und kämmte mir die Haare. Nach etwa fünf Versuchen, meine widerspenstigen roten Locken in einem Zopf zu bändigen, gab ich auf und überließ meine Frisur dem Schicksal. Ich warf mir das T-Shirt über, schlupfte in die Hose und zog die Jacke erst auf dem Weg nach unten an.

    Das Bauernhaus war groß und jeden Morgen aufs Neue duftete das alte Holz in der unteren Etage, die wir mit Absicht kaum renoviert hatten.

    „Guten Morgen", begrüßte mich Mama, die schon bester Laune war.

    „Werden die das eigentlich nie lernen?", gab ich mürrisch zurück und warf einen ärgerlichen Blick auf Emilia und Malte, die schon im Wohnzimmer mit den Katzen spielten.

    „Haben sie dich mal wieder geweckt?"

    Lachend stellte sie mir eine Schüssel mit Müsli und eine Flasche

    Milch vor die Nase.

    Ich seufzte und verkniff mir eine Antwort.

    Eigentlich war ich immer gut gelaunt. Zumindest behaupten das meine Freunde und Eltern. Nur morgens, da konnte mir nichts und niemand ein Lächeln entlocken.

    Schlecht gelaunt schraubte ich den Deckel von der Glasflasche und goss Milch in die Schüssel. Zu spät bemerkte ich die Rosinen im Müsli und verzog angewidert das Gesicht. Mit spitzen Fingern rührte ich in der Milch herum und fischte nacheinander alle aufgeweichten Trockenfrüchte heraus. Ich ließ sie neben der Müslischüssel auf den Tisch fallen und wischte die Milchpfütze, die drohend in Richtung Tischkante floss, mit dem Ärmel weg.

    „Mara."

    Mit einem vorwurfsvollen Blick warf mir meine Mutter einen Putzlappen entgegen und sammelte die Rosinen auf.

    „Was soll das denn?"

    Lustlos versenkte ich den Löffel in der Milch und kaute auf den Haferflocken herum.

    „Wegen der Mathearbeit? Solange du nicht wieder eine fünf mit nach Hause bringst ist doch alles im grünen Bereich."

    Mama ließ sich neben mir auf der langen Eckbank nieder und strich mir durch die Haare.

    „Mist! Mathe!", rief ich und sprang auf. Ich flitzte die Treppe hinauf und griff nach meinem Taschenrechner und dem Geodreieck. Den Bleistiftspitzer steckte ich in meinen Rucksack und vergewisserte mich, dass ich auch nichts vergessen hatte.

    Auf dem Weg nach unten klopfte ich an die Tür meines Bruders und rief, dass er endlich aufstehen solle. Ich rannte die Treppe hinunter, nahm zwei Stufen auf einmal und setzte mich in der Küche auf meinen Frühstücksplatz.

    „Glück gehabt", murmelte ich und lehnte meinen Kopf nach hinten.

    „Wenn der Tag schon so anfängt, kann er ja nur besser werden..."

    ***

    Juna hatte sich an die gleichbleibende Geschwindigkeit des Zugs gewöhnt. Kaum merkbare Kurven, keine ruckartigen Bremsungen und gleichmäßiges Gleiten über die Schienen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie plötzlich langsamer wurden und schließlich zum Stehen kamen. Verwundert schaute sie sich um und entdeckte das Bahnhofsschild hinter der Fensterscheibe. Ihr Herz machte vor Aufregung einen kleinen Hüpfer und die gesamte Atmosphäre im Zug änderte sich schlagartig. Es wurde still und jeder schien auf etwas zu warten. Reflexartig griff Juna nach Malinas Fingern und half ihr, die kleine Tasche zu schultern. Juna selbst umklammerte den Griff des Rucksacks mit der freien Hand und hielt Ausschau nach ihrem Bruder. Namik erwiderte ihren Blick und gab ihr zu verstehen, dass sie sich zum Aufbruch bereithalten solle. Juna nickte, traute sich aber nicht einen Schritt vorwärts zu gehen. Niemand bewegte sich. Sogar die Kinder und Tiere standen wie versteinert da. Kein Mucks war zu hören. Die Stille war fast gespenstisch.

    Juna schluckte und fühlte wie ihr Herz pochte. Sie starrte durch die Glasscheibe nach draußen und ließ die Türe nicht aus den Augen.

    Sekunden verstrichen und fühlten sich an wie Stunden. Plötzlich ertönte das langersehnte Zischen der Türen, die beim Öffnen langsam die Sicht nach draußen freigaben. Zuerst passierte nichts. Alle waren wie zu Statuen erstarrt und wussten nicht, was sie als nächstes tun sollten.

    Doch sobald die Ersten nach ihren Koffern griffen, kam Bewegung in die Menschenmasse. Jeder wollte so schnell wie möglich nach draußen, der oder die Erste sein. Jeder wollte Hilfe und die besten Sachen ergattern, die von deutschen Hilfsorganisationen zur Verfügung gestellt wurden.

    Juna schluckte. Diese Leute waren vor der Krise in ihrem Heimatland geflohen. Sie hatte schon oft mitbekommen wie sich die Leute um sie herum über die Situation in ihrer Nachbarschaft unterhielten. Blutverschmierte Häuser, Bomben, Attacken und Tote mitten auf den Gassen. Jeden Tag aufs Neue musste man hoffen, abends im eigenen Bett einschlafen zu können und morgens wieder aufzuwachen. Die Kinder konnten schon lange nicht mehr zur Schule gehen und hatten seit Wochen keinen Kontakt mehr zu Freunden und Verwandten. Die Stadt stank nach Rauch und Dreck und jeder hatte Angst. Angst vor allem und jedem, dem man begegnete.

    Juna schauderte allein bei dem Gedanken an Blut. Sie hielt Malinas Hand fest in ihrer und versuchte, nicht in dem Strom der Menschenmassen unterzugehen.

    „Ihr müsst euch anpassen. Einfügen. Nicht auffallen. Die Flüchtlingskrise ist unser Glück. Das schafft ihr schon."

    Juna hörte Mamas Stimme in ihrem Kopf und nickte.

    „Nicht auffallen", murmelte sie und nahm sich vor, sich so gut wie möglich unter die Menschen zu mischen, gleichzeitig aber Ausschau nach Gefahr zu halten.

    Immer mehr Leute füllten den Bahnsteig. Sie blieben teilweise direkt vor dem Ausgang stehen und versperrten somit den Weg für weitere Reisende. Neben Juna gestikulierte ein aufgebrachter Mann wild um sich und es hätte nicht mehr viel gefehlt, bis er mit der geballten Faust ihren Kopf getroffen hätte. Gerade rechtzeitig konnte sie zur Seite ausweichen und die Hand neben ihrem Ohr flog ins Leere.

    Die Kinder wurden immer weiter nach vorne geschoben. Keiner nahm Rücksicht auf andere und niemand schien sich um die Kleineren und Schwächeren zu kümmern. Juna zog die kleine Schwester hinter sich her und bemühte sich gleichzeitig, die schwere Tasche nicht zu verlieren, die sie in der anderen Hand trug. Gerade dachte sie, sie könne kaum noch atmen, da wehte ihr ein leichter kühler Wind entgegen. Sofort richtete sie sich auf und bewegte sich langsam aber stetig dem Ausgang entgegen. Juna schloss die Augen, um die vielen Menschen um sie herum auszublenden und lief einfach mit dem Strom mit. Plötzlich verlor sie den Halt und rutschte mit dem rechten Fuß zwischen Bahnsteig und Zug. Ein brennender Schmerz durchfuhr ihr Bein und Panik stieg in ihr auf. Mit aller Kraft versuchte sie, sich an der Türe hochzuziehen, doch die Hektik auf dem Bahnsteig machte es unmöglich, sich festzuhalten und zu befreien. Juna merkte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie zog und zog, doch das Bein bewegte sich keinen Millimeter. Menschen drängten sich an ihr vorbei und bei jeder Berührung wankte sie gefährlich hin und her. Malina stand mit weit aufgerissenen Augen neben ihrer Schwester und beobachtete stumm, wie sie mit aller Kraft versuchte, nicht die Balance zu verlieren. Plötzlich griff jemand nach Junas Schulter und hob sie nach oben. Das Bein löste sich und ihr Herz pochte wie wild, als sie mit beiden Füßen sicher auf dem Boden stand.

    „Immer vorsichtig sein, junge Dame."

    Ein großer Mann mit breiten Schultern lächelte sie an und zwinkerte ihr freundlich zu. Juna nickte, starr vor Schreck, aber dankbar. Sie brachte kein Wort heraus, doch der Mann schien auch keine Antwort zu erwarten. Er rückte geübt seine Krawatte zurecht, griff nach der grauen Aktentasche, nickte ihr noch einmal zu und entfernte sich dann mit schnellen Schritten.

    „Juna!"

    Hinter ihr erschien Namik, Malina hielt er an der Hand.

    „Juna! Ist alles okay?"

    Sie konnte nur stumm nicken und betrachtete die rote Schramme an ihrem Unterschenkel.

    „Was ist mit dir? Hat dir der Mann wehgetan?"

    Sie schüttelte energisch den Kopf und ließ sich in die Arme ihres Bruders fallen. Tränen rannen in Strömen ihre Wangen hinunter und bildeten große nasse Flecken auf Namiks T-Shirt.

    Sie weinte und weinte, obwohl sie nicht wusste warum. Vor Schmerz? Oder vor Erleichterung?

    Sie waren hier. Zu dritt; mit allen Koffern und Taschen. Keiner wurde ernsthaft verletzt und sie hatten es endlich bis nach Deutschland geschafft.

    Juna wischte die Nase an ihrem Ärmel ab und schniefte. Bis zum Ziel konnte es nicht mehr weit sein.

    ***

    Sechs Uhr zweiundfünfzig. Wir hatten noch genau drei Minuten Zeit um Jacken, Schuhe und Schals anzuziehen. Ich band meine Schnürsenkel und schnappte meinen Rucksack. Hinter mir schmiss sich Findus auf den Rücken und streckte alle vier Pfoten von sich. Auffordernd schaute er mich an und miaute leise.

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