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Das Antwerpener Testament
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eBook337 Seiten5 Stunden

Das Antwerpener Testament

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Über dieses E-Book

Ein Jahrhundert, eine Familie, eine Ehe. Und nichts als Lügen.

Als Henriette Stanley stirbt, ist die Familie, die sich um ihr Grab versammelt, schon nicht mehr groß: Da ist Harry, ihr "geistesgestörter" Sohn, auf dem einst die Hoffnungen der Familie, Reeder aus Antwerpen, lagen. Da ist ihre Tochter Ann mit ihrem deutschen Mann, deren Ehe Henriette nicht verhindern konnte, obwohl sie die Verbindung nach dem Krieg um ihr Erbe aus Belgien gebracht hat. Und da ist die Schwester ihres Mannes, der vor vielen Jahren unter mysteriösen Umständen verschwunden ist. Niemand spricht mit ihr, aber sie allein weiß, was aus ihrem Bruder geworden ist und was in dem Testament aus Antwerpen wirklich gestanden ist. Und sie weiß auch, dass jede Anstrengung, vergessen zu wollen, vergebens ist.

Dieser Roman ist ein großes Gemälde, und Evelyn Grill beweist darin ihre ganze Meisterschaft. Sie erzählt die Geschichte einer Ehe, den Roman einer Familie voller Risse, in denen die Abgründe eines ganzen Jahrhunderts erkennbar werden.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum21. Mai 2013
ISBN9783701743513
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    Buchvorschau

    Das Antwerpener Testament - Evelyn Grill

    Ulrich

    1. Kapitel

    Worthing Seafront 1983

    Der arme Harry

    Henriette Stanleys Begräbnis fand an einem Märztag bei strömendem Regen und heftigen Windböen statt, wie sie an der Seafront nichts Ungewöhnliches sind. Auf dem Friedhof, der sich über ein weites, baum- und strauch-loses Feld erstreckte, von dem aus man einen Blick auf die Downs und auf das Meer hatte, das sich heute im Dunst verbarg, verlor sich beinahe das kleine Häuflein Trauernder, über deren Köpfen kreischende Möwen lärmten, ein Geräusch, das in Ulrich Breuer ein Unbehagen hervorrief. Zwischen den grauen, teilweise bemoosten Grabplatten hatte er sich auf den schlammigen Wegen mit den übrigen Konduktteilnehmern an die ausgehobene Grube heran bewegt und wartete auf das Eintreffen des Sargs, des Pfarrers und der Ministranten. Er war mit seinen drei Kindern erst gestern aus Karlsruhe angereist, während Ann,seine Frau, schon zwei Wochen zuvor im Krankenhaus in Brighton dem Sterben ihrer Mutter beigewohnt hatte. Der arme Harry, wie er in der Familie genannt wurde, der in seinem abgetragenen Burberry vor Kälte zitterte und eine gestrickte, bunte Wollmütze tief in die Stirn gezogen hatte,stand neben ihm. Als Ulrich seinen Schirm auch über ihn halten wollte, rückte er weiter von ihm ab. Kümmere dich um meinen Bruder, hatte Ann ihn gebeten, man weiß nicht,wie er reagieren wird. Alle, außer Harry, trugen langstielige, gelbe Rosen, Blumen, die die Verstorbene besonders geliebt hatte. Auch der Arzt, Dr. Crack, ein rotgesichtiger Ire, der die alte Dame die letzten Jahre betreut hatte, und einige ehemalige Schülerinnen der Verstorbenen, distinguierte Damen mit bläulich oder rosa gefärbten Löckchen und fein gepuderten Gesichtern, wollten ihrer einstigen Lehrerin das letzte Geleit geben; sie warteten in zweiter Reihe,steckten gelegentlich ihre Köpfe unter den Regenschirmen zusammen und flüsterten miteinander. Ulrich hatte sie im Laufe der Jahre alle kennengelernt, aber seit langem nicht mehr wiedergesehen. Natürlich erkannte er auch Molly,die Putzfrau der Verstorbenen, die sich wegen ihrer arthritischen Gelenke auf einen Stock stützte und in der freien Hand eine langstielige Teerose trug. Sie hatte Ann und ihn begrüßt und sich dann hinter die ältlichen Damen zurückgezogen. Betty Brown, eine enge Freundin seiner Frau aus Kinder- und Jugendtagen, war sogar aus Liverpool angereist.

    Das Requiem fand in der kleinen, römisch-katholischen,aus rotem Sandstein in neugotischem Stil erbauten Kirche statt. Die beiden Freundinnen trafen an der Kirchentür zusammen, Ann ging auf Betty zu, sie hatte sie sofort wiedererkannt, obwohl sie sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte, und fiel ihr zu Tränen gerührt in die Arme. Betty, die ebenfalls sichtlich bewegt war, drückte sie fest an sich und strich ihr sanft über den Kopf. Da verschob sich Anns kastanienbraunes Haar, und sie machte sich von der Freundin los und rückte es hastig zurecht wie einen verrutschten Hut. Ulrich hielt sich etwas abseits und beobachtete die Frauen. Bettys Gesicht spiegelte das Erschrecken über Anns verändertes Aussehen wider; das war kein Wunder, denn sie war die Schönste auf dem College gewesen und demzufolge sehr umschwärmt, aber unnahbar. Diese Aura der Unnahbarkeit hatte sie noch umgeben, als Ulrich ihr zum ersten Mal begegnet war. Er erinnerte sich an ihre leicht schräg gestellten, grünen Augen und an ihren zarten Teint, der ihn an Gainsboroughs Ladies denken ließ, der manche Britinnen auszeichnete und der jeder Kosmetikfirma zur Werbung für ihre Produkte hätte dienen können. Doch jetzt schaute man in ein müdes, erschöpftes, ja verhärmtes Gesicht, in dem Betty Brown nur mit Mühe die Züge ihrer Freundin wiederentdeckte. An ihrem bestürzten Gesichtsausdruck erkannte Ulrich, daß er mit seiner Wahrnehmung recht hatte, und es war ihm, als müßte er seine Frau davor in Schutz nehmen.

    Ann winkte ihn herbei, denn er hatte sich abseits gehalten, und machte ihn mit ihrer Freundin bekannt. Dann präsentierte sie ihre Kinder, den erstgeborenen, 28jährigen David, der ihrer Freundin erst nach Aufforderung der Mutter die Hand hinstreckte, jedoch seinen Kopf abgewandt hielt, aber die wohlgeratenen, achtzehnjährigen Zwillinge Greg und Maud begrüßten Betty mit einem höflichen Lächeln. Kurz darauf läuteten die Glocken, und man betrat die Kirche. Das Gebäude war, entsprechend der kleinen Gemeinde römischer Katholiken, nicht viel größer als eine Marienkapelle auf dem Kontinent. Der alte Pfarrer, der heute die Seelenmesse lesen würde, hatte schon Ann und Harry getauft. Und auch Anns und Ulrichs Kinder hatte er über das bronzene Taufbecken gehalten. Damals hatte noch die Verstorbene, als stolze Großmutter, der Zeremonie beigewohnt. Inzwischen war der Pfarrer krumm und zittrig geworden, er würde sich bald aus seinem Amt,vielleicht sogar aus der Welt zurückziehen müssen, aber er hatte es sich nicht nehmen lassen, seine frömmste Katholikin, der er an Jahren voraus war, einzusegnen.

    Während Ann durch die Erinnerung an die Taufe ihrer drei Kinder von melancholischen und wehmütigen Gefühlen bewegt wurde, wie er von ihrem Gesicht ablesen konnte, waren Ulrichs Reminiszenzen düster und bitter. Er dachte an David, ihr Sorgenkind, der bei der Taufe kein Geschrei gemacht, nicht einmal die Augen geöffnet hatte, weshalb der Pfarrer immer nur jolly good gemurmelt hatte, während er ihm das geweihte Wasser über den Kopf hatte rieseln lassen. Die Zwillinge hingegen hatten ein markerschütterndes Gebrüll ausgestoßen, und die Patin, Mrs. Worthing, eine Freundin und Schülerin von Henriette, hatte hilflos die kleinen Bündel an sich gedrückt, bis sie sich in den Armen der Mutter beruhigten. Er hatte Ann immer bewundert,mit welcher Geschicklichkeit sie es fertiggebracht hatte,beide Babies in den Armen zu halten. Das Geplärr aus den kleinen Mündern war Ann peinlich gewesen, da sie sich für die Unruhe verantwortlich fühlte; sie erinnerte sich lieber an die Taufe von David, die in den Anekdotenschatz der Familie eingegangen war.

    Das war Ulrich in den Sinn gekommen, und er konnte ein schmerzliches Lächeln nicht unterdrücken, als er endlich den Pfarrer mit zwei Ministranten, gefolgt vom Leichenwagen, einem schwarzen Rover, über das Feld kommen sah. Der Wind peitschte die Gewänder des Geistlichen und der Ministranten, das gab dem Zug etwas Theatralisches. Ulrich faßte die Hand seiner Frau, die sie ihm mit einem dankbaren Blick überließ. Sie war so wund, so aufgerieben von den letzten Wochen, in denen sie am Sterbebett der Mutter gesessen war und auf eine klärende Aussprache über die dunklen Punkte in der Familiengeschichte gehofft hatte. Doch die Mutter hatte nicht daran gedacht, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sterbende blicken nicht zurück, sie, die keine Zukunft mehr vor sich haben. Am Sterbelager, warnte Ulrich, lassen sich keine Rätsel mehr lösen. Nun machte sich Ann insgeheim Vorwürfe,daß sie nicht früher auf ein Gespräch gedrängt, wie Ulrich es immer angeregt hatte. Das hatte zwischen ihnen zu Auseinandersetzungen geführt, die mit den Jahren an Heftigkeit zunahmen und die jetzt, da die Mutter tot war und ihr Geheimnis mit ins Grab genommen hatte, ein bitteres Gefühl der Vergeblichkeit in ihnen aufkommen ließ. Ann erwiderte den Druck seiner Hand und senkte den Kopf.

    Ulrich wunderte sich nicht, daß der Kondukt so spärlich ausgefallen war, denn Henriette Stanley, die jahrzehntelang in der kleinen Stadt an der Seafront eine prominente und begehrte Privatlehrerin für Französisch gewesen war, lebte seit dem Ausbruch und dem unaufhaltsamen Fortschreiten ihrer Krankheit vor mehr als zehn Jahren zurückgezogen mit ihrem Sohn in einem der hier typischen semi-detached houses. In ihrem kleinen Vorgarten wucherte duftender Lavendel und spreizten sich üppige Hortensienbüsche, die im Sommer ihre lilafarbenen Köpfe den Eintretenden schon an der Pforte entgegenstreckten, eine Bepflanzung, die dem Haus etwas Verwunschenes gab und eine Idylle vortäuschte.

    Da durch die Krankheit Henriettes Sprechen leise, vor allem aber undeutlich geworden war, hatte sie, immerhin erst als Siebzigjährige, ihren Sprachunterricht aufgegeben. Das war ihr trotz des Alters nicht leicht gefallen, und es war auch nicht ganz freiwillig geschehen. Erst als sich ihre Schülerinnen allmählich, zum Teil unter durchsichtigen Entschuldigungen, von ihr zurückzogen und sich keine neuen Schüler mehr finden ließen, war es unabwendbar geworden.

    Ihre Lektionen waren durch die unkonventionelle und lebendige Methode sehr beliebt gewesen. In ihrem hellen Salon, einem großen Raum mit einem schönen Erker, in dem ein schwarzer Steinway-Flügel seinen Platz hatte,hielt sie ihre Stunden ab. Vor dem Chippendale-Glasschrank aus Mahagoni war ein langer ovaler Tisch plaziert,an dem, wenn er ausgezogen war, gut und gerne achtzehn Personen sitzen konnten. Zu Henriettes Klientel gehörten vor allem Damen der upper middle class im Alter von dreißig bis sechzig Jahren, die den nicht unbeträchtlichen Kurs-Beitrag gerne entrichteten. Die Beziehung Henriette Stanleys zu ihren Schülerinnen ging über ein Lehrer-Schüler-Verhältnis hinaus. Mit den Jahren wurden familiäre und gesundheitliche Probleme auf französisch abgehandelt,wodurch auch drückendste Schwierigkeiten, wenigstens für kurze Zeit, von den Bedrängten abrückten; denn daß es ihnen gelang, ihre Sorgen auf französisch zu schildern, und daß darüber diskutiert und nach Auswegen gesucht wurde,gab ihnen durch die Bewältigung der ungewohnten Syntax und des fremden Vokabulars das Gefühl, auch Herr über ihre Probleme werden zu können. Durch die Überführung ihrer Sorgen in eine fremde Sprache schien es manchen von ihnen sogar, als erzählten sie nicht die eigenen Kümmernisse, sondern die anderer, von denen sie nur gehört hatten. Die Betroffenen gingen fürs erste getröstet von dannen; alle aber freuten sich über ihre sprachliche Kompetenz, die sie in komplizierten Fragen des Lebens bewiesen hatten. Ganz besonders genoß man den five o’clock tea, der von Henriette persönlich in einem dünnwandigen Wedgwood-Service serviert wurde.

    Irgendwann, die Schülerinnen konnten sich an das Jahr nicht mehr erinnern, übernahm diese Aufgabe der arme Harry, der plötzlich aus Glasgow, wo er nach einem abgeschlossenen Universitätsstudium ein Praktikum an einem physikalischen Institut absolviert hatte, wieder ins Haus der Mutter zurückgekehrt war. Seine Rückkehr geschah in Intervallen, manchmal nur für eine oder zwei Wochen, danach verschwand er wieder für eine Weile. Seine abwechselnden An- und Abwesenheiten zogen sich mehrere Jahre hin. Allmählich, beinahe unmerklich, wurden seine Anwesenheiten immer länger. Die Damen gewöhnten sich an sein Hiersein und vermißten ihn, wenn er wieder einmal abwesend war. Sie nahmen die Präsenz des stillen Sohnes, zu der von Henriette keinerlei Kommentar abgegeben wurde, nicht nur hin; nach und nach empfanden sie sogar eine gewisse Zuneigung oder ein unbestimmtes Mitleid für ihn. Harry war eben eines Tages da und blieb, und bald war es den Schülerinnen, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, daß ein junger Mann in den Dreißigern nichts anderes zu tun hatte, als einmal wöchentlich Tee und Muffins zu reichen.

    Als der Sarg aus dem Auto gehoben und an die Grube getragen wurde und der alte Pfarrer mit brüchiger Stimme zu einer Trauerrede ansetzte, merkte Ulrich, daß Harry mehr als zuvor, da man das Zittern noch der Kälte zuschreiben konnte, bebte, daß schließlich sein Körper wie von einem Krampf geschüttelt wurde. Beinahe gleichzeitig begann Harry in sich hineinzukichern, dann legte er seinen Kopf in den Nacken und lachte laut mit weit geöffnetem Mund, was in Ulrich die Vorstellung eines Schakals heraufrief, der den Mond anheult; eine Szene, die er in einem Film gesehen haben mußte. Die Trauergäste erstarrten. Ann schaute ihren Mann hilfeflehend an, die Zwillinge grinsten verstohlen, er würde sie hinterher deswegen zur Rede stellen. Er versuchte besänftigend auf Harry einzureden. Aber der ließ sich nicht beruhigen, und Ulrich merkte, daß er mit seinen erfolglosen Versuchen keine gute Figur abgab. Erst als die Trauerrede,in der sich der Pfarrer glücklicherweise nicht beirren ließ,zumal er schon ziemlich taub war, mit einem Pater Noster und Ave Maria endete, wurde Harry still, senkte den Kopf,faltete seine Hände wie ein Kind und betete laut mit.

    Die Verstorbene hatte sich als höhere Tochter zwar das Klavierspielen und feine Tischsitten angeeignet, konnte einen anspruchsvollen Haushalt führen, Gäste empfangen und sie gewandt unterhalten, hatte aber keinen richtigen Beruf erlernt. Deshalb war Henriette als Lehrerin nur eine, allerdings begabte Autodidaktin, was wahrscheinlich ihren Unterrichtsstunden den Charme verlieh, den die erwachsenen, weiblichen Schüler so schätzten. Henriettes Sprachkurse endeten nie. Die Schülerinnen blieben ihr jahrzehnte lang treu, alterten mit ihrer Lehrerin. Nur selten mußte man sich von einer Teilnehmerin verabschieden, weil sie in eine andere Stadt zog; manchmal waren es gesundheitliche Probleme, die die Trennung verursachten, dann wurde sehr schnell Ersatz gefunden. Erst der Ausbruch von Henriettes Krankheit brachte es mit sich, daß sich schließlich auch ihre ergebensten Schülerinnen verliefen. Ann erreichten in jener Zeit Briefe der ehemaligen Kursteilnehmerinnen, die über den bedauernswerten Gesundheitszustand ihrer Mutter berichteten, von denen sie überaus beunruhigt wurde. Ulrichs Frau erwog damals sogar, die Mutter zu sich nach Karlsruhe zu holen. In ihrer schönen Gründerzeitwohnung hätte es nicht an Platz gemangelt. Allerdings verhinderte die unbeantwortete Frage, was dann mit dem zurück bleibenden Harry geschehen sollte, diesen Plan in die Tat umzusetzen.

    Die Teerosensträuße, die von den ehemaligen Schülerinnen verläßlich zu Henriettes Geburtstagen an der Tür abgegeben und von Harry entgegengenommen wurden,steckte er in eine der schönen Gallé-Vasen, die Henriette einem Antwerpener Kunsthaus verdankte, stellte sie auf das Intarsientischchen indischer Herkunft, wo Henriette sie teils beglückt, teils wehmütig betrachtete. Der kleine, mit Perlmutt und exotischen Hölzern ausgelegte Tisch, den Henriette liebte mit einem Blumenstrauß zu schmücken, stammte vermutlich von einer der Reisen des verstorbenen Mister Alan Stanley, der vor seiner Heirat einige Zeit in Indien verbracht haben dürfte. Das hatte sich Ann zusammengereimt, da sie als junges Mädchen zufällig auf der Unterseite des Möbels den Namen ihres Vaters und eine Adresse in Delhi entdeckte. Daraus entnahm sie nicht nur die Provenienz des Tischchens, sie vermutete sogar einen jahrelangen Aufenthalt ihres Vaters in Indien, was zu jener Zeit für Angehörige seiner Gesellschaftsschicht nichts Ungewöhnliches war. Diese Vorstellung beschäftigte sie eine Zeitlang, und sie stellte sich ihren Vater als einen großen,schlanken Offizier des Britischen Empire vor, der, mit Tropenhelm ausgestattet, irgendeine wichtige Mission auf dem Subkontinent zu erfüllen hatte. Die Entdeckung und ihre Träume hatte sie gegenüber jedem, natürlich auch gegenüber ihrer Mutter, verschwiegen. Insgeheim aber betrachtete sie das achteckige Tischchen, das zusammenklappbar war, als Träger eines Familiengeheimnisses, das sie nicht enträtseln konnte.

    Mit dem armen Harry hatte es eine eigene Bewandtnis. Auch Ulrich erfuhr nichts, abgesehen von der Tatsache, daß er eines Tages in Glasgow einen Nervenzusammenbruch erlitten habe und von diesem Tage an nicht mehr derselbe war. Daß Ulrich annahm, seine Schwiegermutter könnte an dem Kollaps ihres Sohnes nicht unschuldig sein, lag daran,daß er sie als Verursacherin von allem Verschwiegenen und Unaufgeklärten betrachtete, das auf der Familie seiner Frau lastete. Molly, die gichtgeplagte, ergebene Reinigungsfrau,die, seit Henriette in der Portslade Garden Street wohnte, im Haus putzte, hatte sich an Harrys Eigenarten gewöhnt. Obwohl sie sich im Laufe der Jahre verstärkten, fand sie daran nichts Ungewöhnliches mehr, wie man den langsamen Verfall eines Möbelstücks nicht mehr wahrnimmt. So fiel ihr auch nicht auf, daß ihm die Pflege seiner von Schüttellähmung geplagten Mutter, die zuletzt nicht mehr ohne Unterstützung ihren Lehnsessel verlassen konnte,kaum noch möglich war. Molly, die selbst nicht nur von Gicht, sondern auch von Asthma gepeinigt wurde, konnte der Verwahrlosung im Haus während der vier Stunden, die sie pro Woche für die Reinigung engagiert war, nicht richtig Einhalt gebieten. Henriette beklagte oft ihrer Tochter gegenüber, daß es ihre prekäre finanzielle Situation nicht erlaube, Molly länger und öfter zu beschäftigen. Es lag allerdings nicht nur an den vier Stunden wöchentlich, die für eine gründliche Putzarbeit nicht ausreichten, sondern auch und vor allem daran, daß Molly im Reinigungsdienst nicht ihre wirkliche Aufgabe sah; insgeheim war sie zu der Überzeugung gelangt, daß es wichtiger war, weniger für Sauberkeit, als vielmehr mehr für Gespräche, also social contacts, an denen es Henriette Stanley und ihrem Sohn offensichtlich mangelte, Sorge zu tragen. Also rollte die Frau mit dem Staubsauger über die fleckigen, abgetretenen Teppichböden, in denen sich im Laufe der Zeit ein lebhaftes Gewusel von Motten und anderem Ungeziefer eingenistet hatte, und spülte oberflächlich das Geschirr, das sich in der kleinen Küche im Laufe der Woche angesammelt hatte. Doch die meiste Zeit verbrachte Molly damit, sich von der alten Dame mit ihrer leisen, immer verwaschener klingenden Stimme Geschichten aus ihrem vergangenen Leben, das einmal glanzvoll gewesen sein mußte, erzählen zu lassen. Obgleich sich die Erzählungen des öfteren wiederholten, lauschte Molly ihnen hingebungsvoll. Sie hörte Episoden aus einer Welt, die sie, obgleich fremd,faszinierte, aus einem Land, das sie nie bereist hatte, einer Gesellschaft, die sie nur aus Romanen oder Illustrierten kannte, mit Dienstboten in weißen Handschuhen und in Livrée, mit Kristalleuchtern, festlichen Diners, Theaterbesuchen, glanzvollen Bällen und eleganten Herren, die schönen Damen mit Perlencolliers den Hof machten, einer Welt, der offensichtlich auch Henriette Stanley einmal angehört hatte. Henriette selbst ließ sich darin nicht vorkommen, sie erwähnte zwar ihre Schwestern und Brüder, nannte sie beim Namen, häufig tauchte ihr älterer Bruder Frans auf, angeblich der größte Reeder Antwerpens, der in seinem Stadtpalais opulente Feste zu veranstalten pflegte,bei denen sich die Hautevolee Antwerpens vergnügte; doch ihren Part an dem schillernden Geschehen verschwieg sie. Insgesamt schilderte sie die Familiensituation ziemlich unübersichtlich, doch die Atmosphäre des Wohlstands, ja des Reichtums und des gesellschaftlichen Glanzes wurde in allen Farben ausgemalt. Molly schien es, als würde dabei sogar die Aussprache der Kranken verständlicher, auch ihr maskenhaftes Gesicht schien sich zu beleben, einen heiteren Ausdruck zu bekommen, und ihre sonst trüben Augen begannen zu strahlen. Während Molly der gebrechlichen Alten zuhörte, träumte sie sich in eine Welt der Reichen und Schönen, vergaß darüber die unwirtliche Umgebung und ihre Gicht, sodaß sie sich auf dem Heimweg noch in einer sanften Hochstimmung befand.

    Das alles entnahm Ann den Gesprächen, die sie bei ihren alljährlichen zweimonatigen Aufenthalten im Sommer bei ihrer Mutter mit Molly führte. Die Geschichten kannte Ann. Aus diesen Geschichten erfuhr sie nichts über ihre Mutter, nur daß sie wohlbehütet und im Reichtum aufgewachsen war und daß sie ihre Kinder später in bescheidensten Verhältnissen großziehen mußte. Ann wollte diese Ballgeschichten nicht mehr hören. Die Erinnerungen an ihre Kindheit in Antwerpen waren weniger erfreulich. Sie hatte sich nicht wohl gefühlt in den düsteren, prunkvollen Räumen, in denen sie sich schwer zurechtfand, mit den strengen Onkeln und Tanten, die vor allem auf gute Manieren und, besonders die Tanten, auf täglichen Kirchgang achteten. Aber diese Erinnerungen waren undeutlich, sodaß sie manchmal glaubte, sie entstammten einem Alptraum.

    Da die Kranke unter Schweißausbrüchen und Atemnot litt, bat sie Molly, noch bevor sie mit dem Erzählen anfing,sogar an frostigen Wintertagen die vier Erkerfenster weit zu öffnen und die elektrische Heizung abzustellen. Sie ließ sich dann mit ihrem Rollstuhl ans Fenster schieben, atmete mehrmals tief ein und aus. Unter diesen Gepflogenheiten war es ein Wunder, daß sich die Kranke erst Jahre später eine Lungenentzündung zuzog und daran verstarb.

    Während Henriette in den Erinnerungen ihrer frühen Mädchenzeit kramte, stand Harry wie eine Wache neben dem Rollstuhl, schlotterte vor Kälte und rieb mit seinem Zeigefinger, der durch einen spitzen Fingernagel unnatürlich lang und dünn erschien, den Nasenrücken entlang. Ob er der Erzählung seiner Mutter folgte, war ihm nicht anzusehen, denn er blickte starr geradeaus und verzog keine Miene.

    Luft, sagte sie schwer atmend, ich brauche Luft. Hier ist es zum Ersticken.

    Daß Sie sich nur nicht erkälten, Madam, warnte Molly jedesmal; darf ich Ihnen Ihren Pelz bringen? Molly hätte gerne das Fuchscape aus dem Schrank geholt und es der Kranken um die Schultern gelegt; das hätte Henriette Stanley vielleicht etwas von dem mondänen Aussehen gegeben, das Molly gerne an ihrer gnädigen Frau wiederbelebt hätte.

    Nein, um Gottes willen, keinen Pelz, ich ersticke sonst, wehrte die Kranke heftig ab. Sie verlangte ihren schwarzen, mit Spitzen und Glitzer besetzten Fächer, den sie sich von Ann, die vor Jahren mit ihrem Mann nach Spanien gereist war, als Mitbringsel erbeten hatte. Mit ihm fächelte sie sich Kühle zu, während sie nach Luft schnappte. Es war ein kostbarer Fächer, den Ann für ihre Mutter in Granada keineswegs in einem Souvenirladen, sondern in einem Juweliergeschäft erstanden hatte, einer, den die feinen spanischen Damen in der Stierkampfarena oder im Theater bei sich führten, wenn sie entsprechend festliche Kleidung trugen. Ulrich wagte leise einzuwenden, daß ein so kostbares Utensil für Anns im Rollstuhl sitzende Mutter wohl kaum passend und sie sicher mit einem einfacheren besser bedient sei. Daraufhin hatten sie eine Auseinandersetzung,an die er sich ungern erinnerte. Es hatte einige Mühe seinerseits gebraucht, Ann wieder zu versöhnen.

    Die Kranke blieb am geöffneten Fenster sitzen, solange die Putzfrau in der Wohnung werkte oder der Erzählerin lauschte. Sobald sie jedoch das Haus verlassen hatte, schloß der kälteempfindliche Harry, die wütenden Proteste seiner Mutter nicht beachtend oder sie nicht einmal wahrnehmend, eilig die Fenster und drehte die Heizung wieder auf die höchste Stufe. Beglückt legte er danach seine Hände an die rasch sich erwärmenden Heizkörper, lächelte seine Mutter an, die ohnmächtig in ihrem Rollstuhl verharren mußte. Das verzweifelte Fächeln mit dem wertvollen spanischen Souvenir mochte ihr ein bißchen Erleichterung verschaffen.

    Als der Priester vom Grab zurückgetreten war, kamen Ann und Ulrich mit den Kindern an die Grube, in die der Sarg hinabgelassen war. Es schwindelte Ann, als sie den Schrein,in dem sie sich den Körper ihrer Mutter vorstellen mußte,in der Tiefe sah, und sie hatte plötzlich Angst, irgendeine Macht, der sie nicht widerstehen konnte, würde sie auf das helle Holz mit dem Bukett aus gelben Rosen hinunterstoßen. Später erzählte sie ihrem Mann von diesen Ängsten;er hatte bemerkt, wie sie wankte und sich an seinen Arm klammerte. Er führte sie behutsam weg. Die Kinder folgten ihnen. Harry stand lange mit gesenktem Kopf am Grab,gestikulierte, murmelte, es klang wie Verwünschungen, und rieb den Zeigefinder am Nasenrücken auf und ab. Endlich trat er zur Seite, und die Konduktteilnehmer kamen einzeln heran, bekreuzigten sich und ließen ihre Rosensträuße in die Tiefe fallen. Jetzt erst fiel eine großgewachsene, nicht mehr junge Dame auf, deren breitkrempiger, dunkelblauer Filzhut ihr Gesicht beschattete. Sie trat rasch an das Grab heran, senkte den Kopf, starrte in die Grube, ohne sich zu bekreuzigen, und wandte sich wieder zum Gehen, ohne die Trauergemeinde zu beachten. Ulrich folgte der Gestalt mit seinen Blicken, bis sie in ein Taxi stieg, das vor dem Friedhofstor auf sie gewartet hatte. Den heftiger gewordenen Regen peitschte ein böiger Wind über die Fläche,trotzdem harrte Ann mit Mann und Kindern noch aus, um die wenigen Beileidsbekundungen entgegenzunehmen. Ulrich, der immer noch Anns Hand hielt, merkte, wie sie zusammenzuckte, als sie, gleichzeitig mit ihm, die Unbekannte wahrnahm, die, ohne an sie heranzutreten, wieder verschwand. Als er später seine Frau fragte, ob sie die Person erkannt habe, schüttelte sie den Kopf. Sie muß deine Mutter gekannt haben, überlegte er, sonst wäre sie nicht an das Grab gekommen. Vielleicht eine Verrückte, sagte Ann,es soll hier eine Frau geben, die zu jedem Begräbnis geht, in die Grube schaut und dann wieder verschwindet. Wir hätten sie ansprechen sollen, sagte Ulrich, den Anns Erklärung nicht überzeugte. Ann schüttelte den Kopf.

    Zu den wenigen eher unfreiwilligen Besuchern, die immer noch in der Portslade Garden Street 9 klingelten und die von Harry zu Henriette Stanley geführt wurden, wo sie sie,in ihrem Rollstuhl sitzend, empfing, zählten der Milchmann und der Briefträger, manchmal auch ein Handwerker. Sie alle wurden genötigt, gegenüber dem zuletzt maskenhaft gewordenen Gesicht Platz zu nehmen und der Dame des Hauses ihre Reverenz zu erweisen. Ihnen wurde von Harry auf einen Wink seiner Mutter Tee in nicht immer sauberen Tassen angeboten, den die Besucher vergeblich ablehnten, ihn also eilig tranken und sich, so rasch es ging,verabschiedeten.

    Die alte Dame erhielt, abgesehen von Strom- und Telefonrechnungen, regelmäßig Schreiben von Rechtsanwälten und Notaren aus Antwerpen, deren Empfang sie dem Briefträger mit ihrer Unterschrift bestätigen mußte, außerdem wöchentlich Briefe von ihrer Tochter aus Karlsruhe, denen häufig Fotos beigelegt waren. Die Fotos wurden, nachdem Henriette sie ausgiebig betrachtet und kommentiert hatte, von Harry auf dem mantlepiece oberhalb des offenen Kamins plaziert, in dem in der kälteren Jahreszeit ständig elektrisches Feuer flammte. Obwohl die Briefträger häufig wechselten, wußte doch jeder bald, daß die alte Dame besonders die Briefe der Tochter beglückt in Empfang nahm,die ihr Harry mehrmals vorzulesen pflegte, bevor sie sie mit ihrer kleinen, kritzelig und nahezu unleserlich gewordenen Handschrift beantwortete. Sie beantwortete auch die Schreiben der Notare, wofür sie viele Stunden, manchmal Tage brauchte, da durch ihren Tremor das Formen der Buchstaben sehr mühsam geworden war. Außerdem waren es immer komplizierte juristische Sachverhalte, mit denen sie wenig vertraut war, die eine Entscheidung verlangten. Auch mit den Briefen an ihre Tochter verbrachte sie viele Stunden, nickte darüber immer wieder in ihrem Rollstuhl ein; oder sie ließ sich, wenn sie sich erschöpft fühlte, von Harry ein Gläschen Sherry Dry servieren, worauf sie sich jedesmal kräftiger und auch beschwingter fühlte. Sie vergaß nicht, Harry zu erinnern, daß ihm vom Arzt jeder Alkohol verboten war, hatte ihn allerdings in Verdacht, sich nicht immer an das Verbot zu halten; denn manchmal kam er aus der Küche mit rotem, fröhlichem Gesicht, das sich wenig später verfinsterte, erstarrte und das Anrücken einer jener Absencen anzeigte, die seine Mutter so sehr fürchtete.

    George, der Milchmann, kassierte wöchentlich die Milch und die Brötchen, die er täglich vor dem Haustor abstellte. Er kannte die alte Dame aus ihren besseren Tagen, als sie, noch gesund und stattlich, eine richtige Lady war, die ihm häufig bis zum Gartentor entgegenkam und freundliche Worte mit ihm wechselte. Es bewegte ihn immer noch, anzusehen, daß sie nun alt und zitternd im Rollstuhl saß, ihn nötigte, auf einem imposanten, aber zerschlissenen, blumengemusterten Chesterfield-Ohrensessel,in dem er fast versank, Platz zu nehmen, um ihm stolz die Fotos zu zeigen, mit denen sich das Anwachsen der Familie und das Gedeihen der Kinder im fernen Deutschland dokumentieren ließen. Er kannte inzwischen alle ihre in Deutschland lebenden Angehörigen, die hübsche Tochter,den gutaussehenden Schwiegersohn, der als Historiker und Lehrer an einem Gymnasium, meist inmitten seiner Bücher, abgebildet war, wurde Zeuge der Geburtstagsfeste, der Schuleintritte und der Erstkommunionsfeiern. Auf letztere Festlichkeiten wies Henriette den Milchmann besonders hin. Sie selbst, die gebürtige Flämin und tiefgläubige Katholikin, fühlte sich in England in der Diaspora.

    In unregelmäßigen Abständen und meistens überraschend kam eine Sozialarbeiterin, die sich von Henriette bestätigen ließ, daß sie keine Hilfe außer ihrem Sohn benötige. Die Vertreterin des National Health Service bemerkte zwar die Mängel in der Betreuung; da diese aber in ihrem Rayon keine Seltenheit waren und ihr eine Änderung der Verhältnisse ohnehin nicht möglich war, gab sie sich mit der Auskunft zufrieden und nahm sie zu Protokoll. Auch Miss Dusty gestattete sich meist ein Viertelstündchen, um der Kranken zuzuhören. Ihr erzählte sie immer nur von ihrer fernen Familie, den wohlgeratenen Enkeln; nie äußerte sie sich über

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