Immer denk ich deinen Namen: Roman
Von Evelyn Grill
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Über dieses E-Book
Als Adrian die einwöchige Bildungsreise nach Prag antritt, wagt er nicht zu träumen, was ihm dort wenig später widerfährt: Er begegnet Vera, und plötzlich kehrt Farbe in sein Leben zurück. Fern von daheim, wo die todkranke Ehefrau zu pflegen ist und die beiden Söhne Probleme machen, fühlt sich der erfolgreiche Germanistikprofessor vom ersten Augenblick an von der jungen Schriftstellerin angezogen. Wieder zu Hause, will ihm das schöne schmale Gesicht mit den braunen Augen nicht aus dem Kopf gehen. Er bannt seine aufkeimende Sehnsucht in Briefen, die Vera ab nun regelmäßig erreichen. Sanft, aber eindringlich nähern sich die beiden aneinander an, in leidenschaftlichen Botschaften in eine andere Welt.
DIE GESCHICHTE EINER SEHNSUCHT MIT BERÜHRENDEM FEINGEFÜHL ERZÄHLT
Nicht nur Adrian, auch Vera ist gefangen in beengten Verhältnissen, kontrolliert vom patriarchischen Ehemann. Die Briefe des Professors treffen sie mit ebensolcher Wucht wie ihn die ihren. Es sind Briefe voller Sehnsucht, die sie austauschen, einer Sehnsucht weniger nach Liebe als nach dem Gefühl der Liebe, das beide so lange nicht verspürt haben. Wird der Wunsch, diese Liebe zu leben, letztendlich stärker sein als die Skrupel, das Vertraute zu verlassen?
Evelyn Grill, Autorin der erfolgreichen Romane "Vanitas oder Hofstätters Begierden" und "Der Sammler", erzählt die Geschichte dieser besonderen Liebe mit viel Feingefühl und berührendem Ernst - ein tiefschürfendes Leseerlebnis.
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Buchvorschau
Immer denk ich deinen Namen - Evelyn Grill
Evelyn Grill
Immer denk ich deinen Namen
Roman
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Text
Evelyn Grill
Zur Autorin
Impressum
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Adrian hatte dem Pflegepersonal den Besuch angekündigt. Seine Mutter saß bereits in ihrem Rollstuhl, als er das Zimmer betrat. Es schien ihm, dass sie seit dem letzten Mal, als er sie besucht hatte, das war vor drei Monaten gewesen, noch mehr zusammengeschrumpft war, dass sich ihr Rücken stärker gekrümmt hatte und die Schultern schmäler geworden waren. Er küsste sie auf die Stirn, sie hob mit Anstrengung ihren Kopf, sah ihn an und lächelte, nahm seine Hand, umklammerte sie mit beiden Händen und wollte sie nicht mehr loslassen. Er spürte die kühlen mageren Greisenhände.
Wir wollen heute in den Park, sagte er, hast du Lust?
Wo warst du so lange?, fragte sie.
Ja, dachte er, drei Monate war ich nicht bei ihr und wahrscheinlich hat sie seither außer dem Pflegepersonal niemanden gesehen oder gesprochen. Sie hatte die überregionale Zeitung, die sie früher regelmäßig las, wieder in schmale Streifen zerrissen. Sie zerriss auch Briefe, die sie manchmal noch aus Amerika erhielt, und Postkarten, die er ihr von seinen Reisen schrieb, zerstückelte sie. Er würde die Zeitung abbestellen müssen. Er blickte sich in ihrem Zimmer um. Über ihrem Bett, vor das man nachts ein Gitter schob, hing ein großes Ölgemälde, auf dem der Maler sie als junge schöne Frau in einem meerblauen Kleid dargestellt hatte, die ihrem Mann, der an einem Tisch sitzt, den Rücken zuwendet und gedankenverloren in die Ferne schaut. Das Bild verführte ihn seit Jahren zu Spekulationen über die Ehe seiner Eltern.
Neben dem Rollstuhl, in dem seine Mutter saß, hatte man ihren kleinen Biedermeierschreibtisch platziert. Das Nussbaumholz zeigte Wasserflecken und Risse. Sie hatte einige Möbel aus ihrer Wohnung mitnehmen dürfen. Auch den bequemen, voluminösen Polstersessel, in dem sie gerne saß und den sie „mein Sesselchen" nannte, obwohl es ein stattliches Sitzmöbel war. Das Zimmer hatte einen Balkon, der Blick ging auf den Garten hinaus. Nur von Ferne vernahm man bei geöffneter Tür den Autoverkehr von der Schnellstraße.
Ich möchte mit meiner Mutter das Monrepos aufsuchen, sagte er zur Pflegerin.
Das wird sie freuen, meinte diese.
Er schob seine Mutter im Rollstuhl in den Lift. Auf den Gartenwegen begann er ihr zu erzählen, was er seit seinem letzten Besuch gemacht hatte, berichtete von seinen Vorträgen in Badenweiler, in Nürnberg und in Basel, seinen Seminaren in Göttingen. Alles sei sehr erfolgreich verlaufen, erklärte er, denn er glaubte immer noch, seiner Mutter vorführen zu müssen, wie gefragt er sei. Gerne betonte er, wie furchtbar gestresst er die vergangenen Monate gewesen war, noch immer sei, erzählte, dass seine Frau seit der letzten Chemotherapie geschwächt, dass Alfred, sein ältester Sohn, schon wieder ausgerissen sei – der Förster habe ihn herumirrend und verwirrt im Bannwald aufgegriffen – und dass Nadine sich darüber furchtbar aufgeregt habe. Es sei wieder einmal die Hölle gewesen, die Hölle, wiederholte er. Er sprach mit leiser, monotoner Stimme, während er sie durch den Park schob. Er legte keinen Wert darauf, von der Mutter gehört zu werden, es war ihm wichtig auszusprechen, was ihn sonst erstickt hätte. Außerdem wusste er nicht, wie viel seine Mutter noch verstand, wahrscheinlich vergaß sie das Gesprochene sehr rasch, erkannte aber seine Stimme wieder. Jedenfalls lächelte sie, sobald er sprach, es schien, als hörte sie ihm zu, möglicherweise war es vor allem die Stimmmelodie, die ihr vertraut war, die sie vielleicht an etwas Verschüttetes erinnerte, das sie nicht mehr einordnen konnte. Sie war die Einzige, der er sowohl von seinen Erfolgen wie auch von seiner häuslichen Misere erzählen konnte. Hätte sie alles verstanden, so hätte er schweigen müssen. Er schob sie über die schmalen, tulpengesäumten Wege. Manchmal hielt er an, beugte sich über sie und sagte ihr dann mit veränderter Stimme ins Ohr: Schau doch, Mutter, diese Blumenpracht! Manchmal hörte er ein leises Ja. Oder ein gehauchtes: Schön. Nicht wahr, Mutter, das ist doch schön?, wiederholte er dann, um noch ein Schön aus ihr herauszulocken, was ihm bisweilen gelang.
Am Ende des Parks lag das kleine, in Barockmanier gebaute Kaffeehaus Monrepos. Seine Mutter war eine Dame gewesen, die nie ohne Hut und Handschuhe das Haus verließ, selbst heute hatte ihr auf seinen Wunsch die Pflegerin einen Strohhut aufgesetzt, den sie sich allerdings schon im Zimmer wieder vom Kopf gezogen hatte. Das bedauerte er, denn der Hut führte ihn in seiner Erinnerung in Tage seiner Kindheit, als er mit seiner Mutter, seiner Tante und seiner gleichaltrigen Cousine in regelmäßigen zeitlichen Abständen eine stadtbekannte Modistin aufsuchte und stundenlang dem Anproben der Schöpfungen der Madame Cachet beiwohnte. Madame Cachet hielt nicht nur Bonbons für die Kinder bereit, sondern auch Bilderbücher, in denen er und seine Cousine blättern durften. Und das Flair der längst vergangenen Zeit überglänzte für Sekunden seine gegenwärtige, problematische Lage.
Ebenso auf seinen Wunsch hatte die Pflegerin seiner Mutter ein blaues Seidenkleid mit talergroßen weißen Tupfen angezogen, das sie als junge Frau getragen und das sich erstaunlicherweise erhalten hatte, und die schlichte Perlenkette umgelegt; um ihre Beine hatte sie ein Plaid gebreitet und ihre Schultern wärmte das silbergraue Nerzcape, das sie früher zu festlichen Anlässen zu tragen pflegte. Es gab ihm das Gefühl, dass man ihr dadurch etwas von ihrer Würde zurückgab. Er konnte sich vorstellen, dass die Pflegerin viel Mühe aufwenden musste, der beinahe unbeweglichen Greisin das Kleid überzustreifen, aber sie wusste auch, dass er ihren Aufwand großzügig entlohnte. Den Strohhut mit der roten Banderole hatte er der Mutter wieder aufgesetzt, und nun behielt sie ihn auf dem Kopf. Meistens besprühte er sie vor dem Ausgang mit Chanel No5, das sie geliebt hatte, und der Duft überdeckte den leichten Uringeruch, der selbst in der freien Natur von ihrem Rollstuhl aufstieg.
Das Lokal war heute nur wenig frequentiert. Er fand einen angenehmen Platz am Fenster. Für die Mutter bestellte er eine cremige Torte, die die beinahe Zahnlose mit seiner Hilfe gierig aß. Er hatte ihr eine große weiße Stoffserviette unter das Kinn geschoben, dennoch bekam das Kleid einige Flecken ab. Es waren nicht die ersten, es hätte längst gereinigt gehört, aber dafür hätte er Order geben müssen und darauf vergaß er regelmäßig. Auch heute hatte er Fotos von früher mitgebracht, von seinem Vater, an den er selbst nur eine dunkle Erinnerung haben konnte, denn er wuchs wegen dessen ansteckender, tödlich verlaufender Lungenkrankheit bei seinen Verwandten auf. Erst als er fünf Jahre alt war, holte ihn, nach dem Tod seines Vaters, die Mutter wieder zu sich. Er erinnerte sich noch an die großzügigen Räume, an die dunkel glänzenden Möbel in der Wohnung nahe am Stadtpark, an die Bücher mit den Goldrücken, an das Porzellan hinter Glas, an die Ölgemälde. Er erinnerte sich auch, dass seine Mutter, als junge Witwe, die große Wohnung nicht halten hatte können; sie übersiedelten in eine kleinere in einer schlechteren Wohngegend mit einem Hausmeister, den er fürchtete.
Als die Torte verzehrt, das Gesicht der Mutter geputzt und das Gedeck abserviert worden war, zeigte er ihr – wie jedes Mal – Fotos von seinem Vater, auf denen er allein und in Gesellschaft mit Künstlern, in Ausstellungen, am Rednerpult stehend, zu sehen war, um ihre Erinnerung wachzurufen. Noch vor einem halben Jahr hatte sie einige Personen identifizieren können, heute griff sie nach den Bildern und wollte sie zerreißen. Es ist hoffnungslos, dachte er, bald würde sie auch seine Stimme nicht mehr erkennen, aber vielleicht erkannte sie sie schon jetzt nicht mehr und er bildete es sich nur ein? Mutter, sagte er, Mutter, und er nahm ihre Hände, die auf dem Tischtuch herumfuhren, sie blickte auf und lächelte. Als er ihre Hände losließ, fuhr sie fort, auf dem weißen Tuch herumzuwischen, schließlich mit den Nägeln darauf zu scharren. Es war Zeit, die Rechnung zu verlangen. Heute hatte Frau Hanne Dienst, die seine Mutter immer mit Frau Professor begrüßte. Er wusste nicht, weshalb ihm heute das als Farce erschien. Er schaute auf die Uhr, es war schon vier, er musste rasch aufbrechen, denn er hatte noch im Institut zu tun. Als er die Mutter in ihr Zimmer gebracht hatte, rief er die Pflegerin, küsste die Mutter auf die Stirn, er sah ihre trüben, grauen Augen, die einmal strahlend gewesen waren. Ach, die Zeit, die Zeit ist mir mein tiefstes Weh, zitierte er seufzend seinen Lieblingsdichter. Es beglückte ihn, dass der Dichter die Empfindungen, die auch ihn quälten, in Worte geformt hatte. Er fragte die Pflegerin, wie es um den Gesundheitszustand seiner Mutter bestellt sei. Er fragte das jedes Mal und jedes Mal, dachte er, das sei eine überflüssige Frage, er sah doch, wie es ihr ging. Sie würde die Mutter aus dem getupften Kleid herausquälen, ihr das Nachthemd, das am Rücken offen war, mit einfachen Handgriffen