Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Charlie und die Hexe
Charlie und die Hexe
Charlie und die Hexe
eBook377 Seiten4 Stunden

Charlie und die Hexe

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Mit Charlie ist alles in Ordnung, redet sich ihre Mutter immer wieder ein. Trotz aller alarmierenden Symptome.
Erst ein nicht vorgesehener Arztbesuch konfrontiert sie mit der nieder-schmetternden Diagnose. Doch ist diese nur Teil einer unaussprechlichen Wahrheit …


Ein Krimi, der betroffen macht. Und die Geschichte einer Mutter, die um das Leben und die Seele ihrer Tochter kämpft. Und dies über zwei Kontinente und zwei Kulturen, das pragmatische Europa und das mystische Afrika, hinweg.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum24. Apr. 2015
ISBN9783738670769
Charlie und die Hexe
Autor

Max Graf

Max Graf lebt, arbeitet und schreibt in Luxemburg. In seinen Romanen verarbeitet er Geschichten aus seinem Heimatland und aus fernen Ländern.

Ähnlich wie Charlie und die Hexe

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Charlie und die Hexe

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Charlie und die Hexe - Max Graf

    www.luxkrimi.lu

    Krimis aus Luxemburg

    Kriminalromane des Autors:

    Moselland

    Der Dritte Bruder

    Charlie und die Hexe

    Inhaltsverzeichnis

    PROLOG

    TEIL 1

    BRÜSSEL 1996

    BENNY

    MEIN KRÜMELCHEN

    BRÜSSEL 1997

    MAGDA

    BRÜSSEL 1997

    MEINE MUTTER

    BRÜSSEL 1997

    MAMA

    KARL UND FRANZ

    BRÜSSEL 2002

    DER ARZT

    PJOTR

    DAS KRANKENHAUS, TEIL 1

    RONALD

    DAS KRANKENHAUS, TEIL 2

    RUSSLAND, JANUAR 1943

    OBANA

    RUSSLAND, OSTERN 1984.

    DAS DING

    DER FRIEDHOF

    LIMPOPO, UM 1800

    DIE ERSTE REISE

    DIE BEGEGNUNG

    LIMPOPO, UM 1800

    DER HEILIGE WALD

    LIMPOPO, UM 1800

    DER FOTOGRAF

    LONE RIVER LODGE, VOS TREKKER

    DIE FOTOS

    LONE RIVER LODGE, 1985

    DER PAKT

    LIMPOPO, UM 1800

    DAS LETZTE DINNER

    DIE TRÄUME

    DER ABSCHIED

    DAS WUNDER

    DIE FASSADE

    ENTRACTE

    TEIL ZWEI

    DER NOTAR

    MEIN VATER

    DER BULLE

    DAS GESCHWÜR

    DAS MÄDCHEN

    DIE DÄMONEN

    DER PLAN. LUXEMBURG, 1990

    DIE ZWEITE REISE

    JOHANNESBURG

    DIE FOTOS, NACHTRAG

    MISTER WILCOX

    DIE GEISTER

    DAS DORF

    LIMPOPO, 1919

    DIE HÖLLE

    LONE RIVER LODGE, 1999

    DAS FEGEFEUER

    LONE RIVER LODGE, 2000

    RIP

    DER PLAN. AM HOF DER BALOBEDU, 2010

    DAS GERICHT

    LIMPOPO, JUNI 2001

    DAS GEFÄNGNIS

    LIMPOPO, 2005

    DIE ENTHÜLLUNG

    DER VATER

    DIE HOFFNUNG

    N’GONA

    INTERLUDIUM

    DAS REVISIONSVERFAHREN

    DER ANWALT

    DAS REVISIONSVERFAHREN, FORTSETZUNG

    AM HOF DER BALOBEDU, 2010: DER NEUE PLAN.

    AM HOF DER BALOBEDU, 2010: DIE TAT

    DIE HEILIGE SCHLANGE

    EPILOG

    Danksagung

    Moselland

    Der Dritte Bruder

    PROLOG

    Hallo, mein Name ist Marie. Heute kann ich endlich wieder lachen und fröhlich sein.

    Nach all dem Kummer. Nach all den Schicksalsschlägen.

    Und ich verspüre nun den unbändigen Drang, Ihnen meine Erlebnisse mitzuteilen.

    Nun gut, ich möchte ehrlich mit Ihnen sein - mein Therapeut hat mir dazu geraten.

    Aber womit soll ich nur anfangen?

    Das Folgerichtigste wäre mit dem Tag, an dem das Unheil begonnen hat sich abzuzeichnen.

    TEIL 1

    CHARLIE

    Charlie ist der Name meiner Tochter. Zur Zeit der Ereignisse war sie sieben Jahre alt. Damals hab ich sie immer nur Krümelchen genannt, da sie anfangs nur sehr langsam an Gewicht zugenommen hat. Wobei sie auch heute nicht mehr als ein Krümel ist.

    „Mama, Mama", schrie Krümelchen, als sie wie immer vom Schulbus nach Hause gehetzt kam. So konnte sie sich dem Zusammensein mit den anderen Kindern entziehen. Soziale Kontakte zu knüpfen war nie ihre Stärke.

    Nun stand dieses bleiche Ding – ihre Großmutter hatte sie einmal Die mit der durchsichtigen Haut genannt – vor ihrer Mutter und rang nach Atem.

    „Kuck mal, Mama", keuchte sie und krempelte ihr linkes Hosenbein hoch. Ihr Hund Benny sprang dabei zum Zeichen seiner Freude immer wieder an ihr hoch.

    Ein Handteller großer blauer Fleck schmückte ihr zierliches Schienbein.

    „Was hast du denn da wieder angestellt?", rügte Marie sie. Dann fiel ihr ein, dass sich diese Hämatome in letzter Zeit häuften. Sämtliche Alarmglocken hätten laut schrillen müssen. Doch sie blieben stumm. Vielleicht auch, weil sie sich keine weiteren Sorgen aufhalsen wollte. Denn ihre Ehe durchlebte damals ziemlich stürmische Zeiten. Zudem brachte Krümelchen achtbare Schulnoten mit nach Hause, sodass Marie alle düsteren Gedanken guten Gewissens weit von sich schieben konnte.

    Aber dennoch blieben Zweifel. Unbequeme Fragen, die an diesem ruhigen Gewissen nagten. Hatte Charlies Lehrer sich nicht dahingehend geäußert, dass sie immer auffällig müde wäre?

    Ach was. Kinder durchleben doch immer wieder solche Phasen. Wachstumsschübe oder so nennt man das. Oder?

    Sie durchforstete das Internet nach einer Bestätigung. Und wurde auch rasch fündig, was das Wachstum im Zusammenhang mit Müdigkeit betraf.

    Allerdings ließ sie dabei außer Acht, dass Charlie in den letzten Monaten keinen Millimeter in die Höhe geschossen war. Während andere Kinder stets in zu kurzen Hosen herumliefen, saßen Charlies Kleider, die immerhin schon ein Jahr alt waren, noch immer wie angegossen. Oder wollte sie es nicht sehen?

    Denn da wäre noch Zeit gewesen.

    „Komm, ich tue dir etwas von der Salbe drauf." Marie hatte einen Kompromiss gefunden, der ihr das Gefühl gab, ihrer Rolle als fürsorglicher Mutter gerecht zu werden.

    „Und nun wollen wir essen, sagte sie, nachdem das Bein versorgt war. „Dein Lieblingsgericht. Spaghetti mit Tomatensoße.

    „Ach, Mama, ich möchte mich noch ein bisschen aufs Sofa legen. Bitte, bettelte Charlie. Dabei sah sie ihre Mutter mit ihren großen braunen Augen an. Denn sie wusste ganz genau, dass ihre Mutter ihr so nie etwas abschlagen konnte. „Bitte.

    „Na gut. Aber nicht länger als eine Viertelstunde. Da, schau auf die Uhr. Wenn der große Zeiger auf der Zwanzig steht, dann kommst du."

    Nachdenklich setzte sich Marie an den alten Küchentisch. Ihre Gedanken kreisten unweigerlich um Ronald, ihren Mann. Mal wieder hatte er sich kurzfristig zum Mittagessen abgemeldet. Wegen angeblicher Kundengespräche.

    Mit ihrer Gabel stocherte sie lustlos in den Nudeln herum und erinnerte sich an vergangene glückliche Tage, als ein beißender Geruch ihren Tagtraum plötzlich platzen ließ. „Verdammt, die Soße!" Sie sprang auf und riss den Topf von der Platte. Doch zu spät. Die Tomatensoße war verbrannt.

    Und der große Zeiger stand mittlerweile auf der Vierzig.

    „Mist", fluchte sie. Wütend schmiss sie den Löffel in den Topf. Soße spritzte auf die weißen Kacheln hinter dem Herd.

    „Nicht auch das noch ... Verdammt, Charlie, wieso hast du dich auch hinlegen müssen." Schnell hatte sie einen Sündenbock ausgemacht. Aufgebracht stapfte sie zum Sofa. Und fand ihre Tochter fest schlafend vor.

    So zierlich. So zerbrechlich. Mit ihrem bleichen Gesicht, kontrastvoll umrahmt von ihren braunen Haaren. Und Benny zu ihren Füßen. Maries Ärger war schlagartig verflogen.

    „Hallo, aufwachen." Sie rüttelte Charlie ganz behutsam an der Schulter.

    „Hm, was ist?", nuschelte das Mädchen, ohne dabei die Augen zu öffnen.

    „Das Essen. Verbrannt. Ihre Mutter sprach zu ihr wie zu einer Schwachsinnigen. „Ich schlage vor, dass wir uns ein Sandwich besorgen. Das können wir dann während der Fahrt zur Schule verzehren. Dann brauchst du auch nicht den Bus zu nehmen.

    „Nein. Keinen Hunger. Lieber noch ein bisschen liegen bleiben", erwiderte Charlie und schlief auch prompt wieder ein.

    Ihre Mutter blieb ratlos neben ihr sitzen. Sie streichelte die Stirn ihrer Tochter.

    Und dachte dabei erneut an ihren Mann. Und wie alles begonnen hatte.

    BRÜSSEL 1996

    Ein kühler Herbsttag. Marie hatte, nach unendlich langen Sommerferien, ihre Studien an der Hochschule in Brüssel wieder aufgenommen.

    An dem Abend fand sie sich mit ihrer damals besten Freundin Magda auf einer Studentenfete ein. Spaß hatten ihr diese rauchgeschwängerten, improvisierten Discos mit all den Angeheiterten nie gemacht. Doch sie hatte ihrer Freundin den Wunsch, sie dorthin zu begleiten, nicht abschlagen können.

    „Hey, darf ich dich auf einen Drink einladen?" Ein unbekannter, aber offensichtlich nüchterner, junger Mann sprach sie an.

    Schwarze, gegellte Haare, eine hübsche Nase, unwiderstehliche braune Augen mit perfekt dazu abgestimmten Augenbrauen. Binnen weniger Momente hatte sie ihn gemustert und als nett eingestuft. Ja, sie fand ihn sogar gut aussehend. Was umso erstaunlicher war, da sie sich bis zu dem Zeitpunkt nicht allzu viel mit dem anderen Geschlecht abgegeben hatte. Ein Umstand, der ihre Kommilitoninnen des Öfteren zum Tuscheln veranlasst hatte.

    „Äh …"

    „Ein Äh. Mit oder ohne Eis?" Der Adonis wollte witzig erscheinen.

    Doch bei Marie zog die Masche nicht. „Was?"

    „Ein ... vergiss es. Ob du etwas trinken möchtest?"

    Verunsichert sah sie ihn an. Verwirrt, weil ihr in solchen Situationen jegliche Erfahrung fehlte. Aber auch, weil ihr tausend Gedanken durch den Kopf schossen, unbekannte Gefühle sie durcheinanderbrachten.

    „Nein, danke." Sie starrte ihn an, obwohl sie bemüht war den Blick zu senken. Die Sache mit der Unerfahrenheit. Und ihrer angeborenen Naivität.

    Und diese Umstände zwangen wiederum den jungen Mann in die Defensive. Er war sich nicht über ihre Absichten im Klaren. Wollte sie ihn einfach nur an der Nase herumführen? Denn so arglos konnte doch kein Mensch sein. Oder? Er wagte einen weiteren Versuch. Denn er war es nicht gewohnt, dass ein Mädchen ihm widerstand.

    „Mein Name ist Ronald ... Ich studiere Maschinenbau im vierten Semester. Und ich gehe gerne aus. Ins Kino, Essen und so fort", erzählte er und kämmte mit einer Hand einige widerspenstige Haare zurück.

    Auf eine Antwort wartete er jedoch vergeblich. Da er aber mittlerweile Gefallen an der Situation gefunden hatte, oder war es nur die Neugierde, wie diese Geschichte sich weiterentwickeln würde, gab er weitere Einzelheiten von sich preis. Von seinen Freunden. Von seinen Erlebnissen an der Schule. Dabei nahm er sie genauer unter die Lupe. Ihr rot schimmerndes Haar, ihre geschwungene Stirn, ihre ausgeprägten Wangenknochen und ihre vollen Lippen verliehen ihr eine natürliche Erotik.

    Ein hübsches Mädchen. Wenn nur ihr Unbeholfensein und ihre angeborene Scheu ihr nicht immer wieder im Wege gestanden hätten.

    Und dies schien auch ihre Freundin erkannt zu haben, denn nach einer Weile schloss sich Magda den beiden an. „So trocken?"

    Marie schenkte ihrer Freundin ein dankbares Lächeln für deren Erscheinen.

    „Nun ja. Ronald war bemüht, diese neue Situation unter Kontrolle zu bringen. „Wer möchte nun was trinken? Ich bin am Verdursten.

    „Eine Cola. Magda meldete sich kichernd zu Wort. Und nach einem Blick auf Marie fügte sie hinzu: „Zwei Cola, bitte.

    Zufrieden nahm er die lang ersehnte Bestellung entgegen. Aber auch erfreut, weil Magda eines jener Mädchen war, das über seine Witze lachen konnte.

    Auch sie unterzog er, nachdem er mit den Erfrischungsgetränken zurück war, einer genauen Überprüfung. Auf keinen Fall hatte sie die sexy Ausstrahlung ihrer Freundin. Mit ihrem biederen Haarschnitt und ihrem spitznasigen Gesicht entsprach sie eher dem Klischee der grauen Maus, doch hatte sie Marie gegenüber den Vorteil, dass sie aufgeschlossener war. Und eindeutig die größeren Brüste. Ein für Ronald gewichtiges Argument.

    „Maschinenbau. Soso. Ich, das heißt wir, Marie und ich, studieren Pädagogik. An der Hochschule. Im zweiten Jahr." So erfuhr er dank Magdas Plappermäulchen doch noch Maries Namen. Und noch viele andere Details dazu.

    „Musstest du ihm so viel von mir erzählen?", beschwerte sich Marie auf dem Nachhauseweg. Zu jener Zeit konnten sich zwei junge Frauen nachts noch alleine durch die Großstadt wagen.

    „Was denn? Magda widersprach ihr aufs Heftigste. „Du musst doch zugeben, dass er ganz in Ordnung ist. Also ich könnte mir ...

    „Danke, ich habe kein Interesse an deinen Fantasien. Außerdem ist er ein arroganter Arsch", unterbrach Marie ihre Freundin ungewohnt schroff. An dem Abend war alles gesagt.

    Schweigend erreichten sie nach einer Viertelstunde ihr Studentenheim. Still und leise verschwanden beide auf ihre Zimmer.

    Da Marie sich fortan, ob ihres in ihren Augen beschämenden Auftritts, nicht mehr auf die auch nur harmloseste Studentenmanifestation traute, war diese Geschichte für sie abgeschlossen. Aber dann lief er ihr eines Tages, in einem Einkaufszentrum nahe der Gare du Midi, über den Weg.

    „Hallo, Marie", begrüßte er sie erstaunlich ernst. Weil er wusste, dass seine faden Witze bei ihr keinen Eindruck schindeten.

    Artig, weil gut erzogen, erwiderte sie seinen Gruß. Und starrte ihn wieder unverhohlen an.

    „Ja, gut, tja", stotterte er und wünschte sich Magda herbei. Herbei gesehnt hatte er sie sich schon öfters, vor allem nachts. Aber da eher wegen ihrer großen ... doch in diesem Moment, da diese als Einzige Einblicke in Maries Seelenleben zu haben schien. Da er sich allein der Situation nicht gewachsen fühlte, wollte er sich schon verabschieden, als Marie überraschenderweise doch noch auf ihn einging.

    „Bezaubernde Stadt", meinte sie.

    „Wie bitte?"

    „Nun, die Stadt hier. Eine charmante, alte Stadt. Vor allem die Altstadt rund um die Grand‘ Place strahlt viel Gemütlichkeit aus. Oder bist du hier geboren und hast keinen Blick mehr für deren Schönheiten?"

    „Nein. Nein, ich wohne nicht hier ... doch, schon. In einer Studentenwohnung. Mit einigen Freunden zusammen." Mit nur wenigen Worten hatte sie es fertig gebracht, ihn aus dem Takt zu bringen.

    Und vielleicht war es genau dieser Anflug von Unsicherheit, dieser Einblick hinter seine überhebliche Fassade, die ihr Herz plötzlich ins Stolpern gebracht hatte. Schmetterlinge im Bauch. „Ich wohne in einem großen Heim. Ein Ordenshaus. Nur Mädchen."

    „Ein Traum. Sozusagen." Er hatte sein wahres Ich nicht lange verbergen können.

    Doch Marie verzieh ihm dies. Und überhaupt sollte sie in den nächsten Tagen und Wochen immer öfters über seine offensichtlichen Charakterschwächen hinwegsehen.

    Denn die Liebe macht bekanntlich blind.

    Seither waren beide ein Paar. Die Schöne und das Biest.

    Und die Tratschereien hinter ihrem Rücken loderten wieder auf.

    BENNY

    Benny ist unser Familienhund.

    Es war ein Spätsommer vor acht, neun Jahren, als ich ihn mit einer gebrochenen Pfote im Straßengraben gefunden habe.

    Der Herbst nahte. Die Blätter begannen sich zu verfärben. Marie war mit ihrem dunkelblauen Fahrrad auf dem Weg zu ihrer Mutter.

    Plötzlich vernahm sie ein Winseln. Sie blieb stehen und horchte. Von wo mochte dieser Jammerlaut hergekommen sein? Üppige Büsche vereinfachten die Suche nicht. Doch da, unter der Hecke, die sich fast bis zum Straßenrand neigte, glaubte sie, eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Sie stellte ihr Fahrrad ab und bewegte sich vorsichtigen Schrittes zum Wegesrand. Sie lugte in den Straßengraben. Was sie sah, ließ ihren Magen verkrampfen. Ein kleiner Hund, ein Welpe noch, das weiße Fell blutverschmiert, lag dort und blickte Marie aus seinen traurigen Augen an.

    Sie sprang zu ihm hinunter. Allerdings wusste sie nicht, wo und wie sie ihn anfassen sollte und begnügte sich erstmal damit, seinen Kopf zu tätscheln.

    „Verdammt, was soll ich nur machen? ... Und du willst Kinder in die Welt setzen und traust dich nicht einmal, einem kleinen Hund zu Hilfe zu eilen." Auf ihre Weise sprach sie sich Mut zu. Dann griff sie mit einer Hand unter den Bauch des Tieres, was wiederum ein fürchterliches Gejaule zur Folge hatte.

    Mit einem Satz war sie aus dem Graben gesprungen und schwang sich auf ihr Fahrrad.

    „Ich komme wieder, halte durch, ich bin bald wieder bei dir." Eiligst und unter Tränen fuhr sie Richtung Elternhaus.

    In ihrem Kopf das Heulen des kleinen Hundes.

    Mit dem Auto fuhren Marie und ihre Mutter zurück zu der Stelle, wo das kleine Wollknäuel lag.

    „Das ist wirklich noch ein Welpe", stellte die Mutter fest.

    „Ach nein."

    „Eine Art Terrier. Die Frau aus dem Haus bei der Kirche hatte mal so ..."

    „Ja, Mama, das interessiert nun keinen, sagte Marie aufgeregt. „Sag mir lieber, was wir nun tun sollen.

    „Wir müssen versuchen, ihn vorsichtig da herauszuholen. Komm, hilf mir mal." Doch dasselbe herzzerreißende Jaulen wie vorhin quittierte diese Aktion. Beide Frauen, Mutter und Tochter, standen nun hilflos am Straßenrand.

    „Gibt es eigentlich so etwas wie einen Krankenwagen für Tiere", wollte die Mutter wissen. So hatte sie wenigstens einen Vorschlag gemacht. Wenn auch einen unsinnigen, der sogleich mit einem energischen Kopfschütteln vonseiten der Tochter quittiert wurde.

    „Dann schlag du doch etwas vor, Kind. Du hast doch im Rahmen deiner Ausbildung einen Kurs in Erster Hilfe absolviert. Was würdest du denn tun, wenn ein verletzter Mensch dort liegen würde?"

    „Einen Krankenwagen verständigen, Mama."

    „Aha."

    Beide standen noch immer ratlos herum, als plötzlich ein Autofahrer anhielt, um sich nach dem Problem zu erkundigen.

    „Verstehe", meinte er kurz und bündig, nachdem die zwei Frauen ihm die Lage in mehr oder weniger dramatischen Worten geschildert hatten.

    Dann ging der Mann zurück zu seinem Wagen, entnahm dem Kofferraum eine Decke und stieg zum Hund hinunter. Ohne Zweifel ein Fox Terrier, wie er nebenbei feststellte und sich so zugleich als großer Hundekenner outete. Dann wickelte er das Fellbündel in die Decke ein. Das gelegentliche Aufheulen des Welpen ignorierte der Mann dabei stoisch. Mit Maries Hilfe hievte er das Paket aus dem Graben und auf die Rückbank des Autos ihrer Mutter.

    Ohne größere Diskussionen bewegte sich der ganze Konvoi zur nächstgelegenen Tierarztpraxis nach Bereldingen. Zu dem alten Johannes mit seiner Stirnglatze und seiner zierlichen Nickelbrille, die in Kontrast zu seinem grobschlächtigen Äußeren stand.

    „Ein schöner Bruch. So wie er sein sollte, meinte dieser mit unbewegter Miene. „Ich meine damit, dass es eine glatte Fraktur ist. Einfach zu behandeln. Ohne, dass Komplikationen zu erwarten wären, fügte er auf die erstaunten und erbosten Blicke der beiden Frauen hinzu. „Ein sauberer Gipsverband und in sechs Wochen redet niemand mehr davon. Ist noch ein Welpe, da heilt das gut und schnell. Ein Jack Russel. Ein Rüde. Ein schöner Hund. Den hier hab ich aber noch nie gesehen. Ich wüsste auch nicht, wem der gehören könnte. Bis sich ein etwaiger Besitzer meldet, müssten sie ihn also in ihre Obhut nehmen", teilte er Mutter und Tochter unverblümt mit.

    Der selbst ernannte Hunderassenexperte hatte sich mittlerweile unauffällig entfernt.

    „Ein Jack Russel also, flüsterte die Mutter ihrer Tochter zu. „Dann wollen wir ihn doch einfach Jacky nennen.

    „Ach, Mama, seufzte Marie und schüttelte den Kopf. „Fantasieloser geht’s wohl nicht ... Benny. Was hältst du von Benny?

    „Benny? Da war doch was."

    „Meine Kindergartenliebelei. Der kleine Benny von nebenan. Der mit den Sommersprossen und der Stoppelfrisur. Was macht der eigentlich heute?"

    „Benny ... Der sitzt im Knast. Fünf Jahre wegen Körperverletzung."

    „Aha. Egal."

    MEIN KRÜMELCHEN

    So also sind wir auf den Hund gekommen. Zudem hat ein dorfbekannter Knacki Namenspate gestanden. Aber das muss keiner wissen. Und der schon gar nicht.

    „Mama." Verschlafen protestierte Charlie, als ihre Mutter den Kopf ihrer Tochter losließ. Augenblicklich legte sie ihre Hand wieder auf deren Stirn. So wundervoll geschwungen wie das Werk eines Bildhauers. Aus Marmor. Und ebenso weiß.

    Benny hob den Kopf und schielte vorwurfsvoll in die Runde. Als er festgestellt hatte, dass Charlie noch immer schlief, senkte er sein Haupt wieder.

    Währenddessen tätschelte Marie mit der anderen Hand die Flanke des Hundes. „Hey, Alter. Du magst sie. Nicht wahr? Sie dich auch. Ich hoffe, dass du ihr noch lange erhalten bleibst." Dabei lief eine Träne über ihre Wange und fiel auf Charlies Bluse, auf der sie einen kleinen Flecken bildete.

    Wieso muss es immer sie treffen? Wieso? Sie hat doch niemandem etwas angetan. Wieso ist sie zu dem geworden, was sie heute ist? Ein unsicheres, scheues Kind. Mit fast schon autistischen Zügen. Kind? War sie jemals Kind?

    Verzweifelt kramte Marie in ihren Erinnerungen. Doch ein spielendes, lärmendes Mädchen kam darin nicht vor.

    Eigentlich lebte sie immer nur im Beisein von Tieren auf ... Vor allem, wenn sie mit Benny, ihrem Benny, allein sein konnte.

    In ihrer Welt. In ihrer und Bennys Welt.

    „Ach, wenn ich doch auch mal Zutritt zu diesem Universum erhalten könnte", seufzte Marie, als sie Charlies Stimmchen vernahm.

    „Mama, Mama, mir ist so kalt, flüsterte diese im Schlaf. „Mama, wer sind die? Mama, wer ist da? Geh weg, geh weg.

    Sie schlug um sich. Dann wurde sie wach und sah erst ihre Mutter und dann ihren Hund ganz aufgelöst an.

    „Hey, ist okay, du hast nur schlecht geträumt." Verzweifelt versuchte Marie ihre Tochter zu beruhigen.

    „Nein, nein, diese Dämonen kehren immer wieder ... Ihre widerlichen Fratzen, wimmerte sie und suchte zum Leidwesen ihrer Mutter Trost bei ihrem Hund. Sie hatte ihn, ganz zu seinem Gefallen, fest an sich gedrückt. „Oh, Benny, wieso kannst du nicht bei mir sein? In meinem Kopf. Du würdest die verscheuchen.

    „Willst du vielleicht etwas trinken? Marie wollte noch nicht klein beigeben. „Oder hast du nun Hunger?

    Doch Charlie verneinte kopfschüttelnd.

    „Gut. Ich habe noch in der Küche zu tun. Benny kann bei dir bleiben." Doch wie so oft wartete sie vergebens auf eine Antwort.

    Charlie und Benny waren wieder in ihrer Welt angelangt.

    Zutritt für Erwachsene verboten.

    In der Küche wurde Marie von ihrer eigenen Realität eingeholt. Ein Kochtopf mit verkohltem Inhalt und eine mit Tomatenflecken verzierte Wand erwarteten sie.

    Doch dies war das geringere Übel gegenüber der Schwermut, die nun wie ein Damoklesschwert über ihr hing, und die sie zu erschlagen drohte. Denn auch beim Saubermachen konnte sie sich ihren düsteren Gedanken nicht entziehen.

    Unerträgliche Bilder quälten sie auch dort. Und immer wieder dieselbe Frage. Was hab ich falsch gemacht?

    Ihr Mann hatte ihr in der jüngeren Vergangenheit des Öfteren zu verstehen gegeben, dass er die Schuld für Charlies Unzugänglichkeit vor allem bei ihr, seiner Ehefrau, ausmachte. Vor allem wenn sie sich gestritten hatten, und das kam in letzter Zeit immer häufiger vor.

    Und er hatte hinzugefügt, dass ihm unter den Umständen schon lange die Lust auf weitere Kinder vergangen wäre.

    Eine Charlie reicht mir, hatte er einmal im Beisein des Kindes geschrien. Wobei seine Tochter einfach nur geistesabwesend vor sich hingestarrt hatte.

    Dass sie später im Bett geweint hatte, war keinem aufgefallen. Denn nur wenn sie alleine war, konnte sie Gefühle zeigen. Manchmal sogar lächeln. Aber dann durfte kein anderer Mensch dabei sein. Mit Ausnahme von Benny. Doch das war ein Hund, kein Mensch. Oder?

    Als sie dann zwei, drei Jahre alt war, hatte sie begonnen, sich zu verschließen.

    Wieso, wieso, wieso? Gedankenverloren starrte Marie auf ihren Putzlappen. Am liebsten hätte sie ihren Frust laut hinausgeschrien. Doch sie wollte nicht das Risiko eingehen, Krümelchen zu wecken.

    Krümelchen. Allein schon dieser Name. So zerbrechlich. So verletzlich. So zart, so sensibel … so schutzbedürftig.

    Bin ich gut zu ihr? Bin ich ihr eine gute Mutter? Bin nicht ich es, die sie zu dem gemacht hat? Mit Tränen in den Augen setzte sie sich hin. Ihr chronisch schlechtes Gewissen hatte sie mal wieder voll im Griff.

    Am anderen Morgen, Ronald war bereits ohne große Worte zur Arbeit gegangen, begab sich Marie ins Zimmer ihrer Tochter. „Hallo. Zeit für die Schule."

    Doch als sie die Lampe anknipste, erschrak sie. Charlie lag schweißgebadet in ihren Laken.

    Sie fieberte stark. Zudem fantasierte sie: „Nein, nicht schon wieder, lasst mich."

    Marie informierte erst ihren Mann, der das Ganze kommentarlos zur Kenntnis nahm, und rief dann den Hausarzt an, der gleich um die Ecke wohnte.

    Dieser versprach auf der Stelle vorbeizuschauen.

    Dann kehrte Marie zu ihrer Tochter zurück. Sie dämmte das Licht und hockte sich auf den Boden neben das Bett. Dort wollte sie den Besuch des Arztes abwarten.

    Nach zwei Stunden wurde sie wach. Und da das sofortige Erscheinen des Doktors der Medizin noch immer auf sich warten ließ, blickte sie sich in Charlies Zimmer um.

    Auf dem kleinen Schreibtisch stapelten sich diverse Bücher für das erste Lesealter und verschiedene Gegenstände, die Charlie gesammelt hatte. Etliche mehr oder weniger kurios geformte Steine, Zweige, Tannenzapfen. Aber auch einige Püppchen, Farbstifte und andere undefinierbare Kuriositäten waren darunter.

    Lächelnd betrachtete Marie das Poster mit den verschiedenen Hundewelpen. Charlie hatte es sich gewünscht. Es hing an der Wand neben dem Kleiderschrank, den sie mit einem Stuhl verbarrikadiert hatte. Charlie hatte Angst, dass dort nachts Monster herauskriechen könnten. Eine Pforte zur Anderswelt.

    Sieht aber auch ein wenig unheimlich aus, müsste ich mal umstellen. Vielleicht so, dass sie aus ihrem Bett nicht drauf schauen kann. Vielleicht da hinten in die Ecke ... Was ist denn das?

    Ihr Blick blieb an der Mauer haften. Unheimliche Fratzen starrten sie von einigen Zeichnungen an.

    Schwerfällig erhob sie sich. Sie wollte sich das genauer anschauen.

    Die erste stellte ein Zottelwesen, eine Art Menschenaffen, dar. Aber doch anders. Lange schwarze Haare am ganzen Körper, dunkle Augen und ein mit spitzen Zähnen bewaffneter Mund. Aber mit einem traurigen Blick ausgestattet. „Puh, dem möchte ich nicht begegnen. Aber was ist das?"

    Leere Augenhöhlen blickten sie aus einem maskenähnlichen Kopf an. So realistisch, dass sie gleichwohl fasziniert wie auch erschrocken über die Zeichenkünste ihrer Tochter war.

    Aber vielleicht hat ein anderer das gemalt. Oder sie hat die Zeichnungen irgendwo gefunden.

    Dass dies Charlies Albträume waren, kam ihr dabei nicht in den Sinn.

    Marie hatte sich gerade die letzte Skizze, eine Art Assel im unnatürlich zusammengekauerten Zustand, angeschaut, als es klingelte. Kopfschüttelnd verließ sie dieses Horrorkabinett.

    „Kommen Sie, Herr Doktor. Sie liegt in ihrem Bett."

    Nachdem der alte Herr, die jüngeren Kollegen waren sich für solch zeitraubenden Firlefanz wie Hausbesuche zu schade, seinen Mantel und seinen Hut abgelegt hatte, untersuchte er seine Patientin akribisch.

    Soweit dies in drei Minuten möglich war. Denn nach genau dieser Zeit wandte er sich an Marie. „Erkältung. Beginnende Bronchitis. Ich werde ein Rezept ausstellen. Und Sie behalten die Kleine bitte einige Tage im Bett. Meine

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1