Sehnsucht (eBook)
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Buchvorschau
Sehnsucht (eBook) - ars vivendi Verlag
978-3-86913-852-7
Inhalt
Monika Helfer – 7 Sehnsuchtsgeschichten
Michael Köhlmeier – Nachtschatten – Reiter in der Nacht – Die Stunde ist da
Root Leeb – Die Farben der Sehnsucht
Franz Hohler – Das weiße Spitzchen
Nataša Dragnić – Nah am Wasser
Rafik Schami – Syrisches Klassentreffen – Die merkwürdige Sehnsucht des Herrn Hamid
Nachwort des Herausgebers – Die letzte Burg
Die Autorinnen und Autoren
Monika Helfer – 7 Sehnsuchtsgeschichten
Liebe am falschen Platz
Ein Lastwagenfahrer, ein haariger Mann mit freundlichen Augen, fuhr und träumte auf der Landstraße. Er war gerade in einem Wohngebiet angekommen, da streikte sein Fahrzeug. Der Mann hielt an und kroch unter das schwere Gefährt, um den Fehler zu finden. Öl tropfte auf den Asphalt. Eine junge Frau mit zwei Kindern ging an ihm vorbei, er sah gerade ihre Beine, die Schnürstiefel der Frau und die Sandalen der Kinder. Die Kinder zerrten an der Mutter. Sie wollten sehen, wer darunter liegt. Die Mutter mahnte die Kinder, sie habe keine Zeit. Der Lastwagenfahrer dachte: Ihre Stimme klingt zwar genervt, aber das Rauchige darin gefällt mir. Er kroch unter dem Lastwagen hervor, um zu sehen, zu wem die Stimme gehörte. Er stand aufrecht, rieb sich die Hände an der Brust und grüßte, erst die Frau, dann die Kinder. Sein Hemd war ölverschmiert. Die Frau musterte ihn. Er fand sie ziemlich süß, fast ein Mädchen, mit toupierten Haaren und kurzem Rock.
Sie schaute ihn an und fand, dass er gemütlich aussehe, und Hintergedanken bedrängten sie. Sie fragte, ob er bei ihr einen Kaffee trinken wolle, sie habe nämlich Lust auf einen Kaffee. Der Lastwagenfahrer dachte sich: Wird wohl hoffentlich nicht nur an mir liegen, dass das, was sie sagt, zweideutig klingt, und er sagte: »Ich komme gern auf einen Kaffee, wenn Ihnen meine Aufmachung nicht zu schmutzig ist.« »Ist ja nur Öl«, sagte sie leichtfertig, »Dreck von der Arbeit kann gar nicht schlecht sein.«
Der Lastwagenfahrer, ermutigt durch ihre Reden, ging schwungvoll neben ihr her, er achtete darauf, dass sie seinen kleinen Gehfehler nicht bemerkte. Er schleifte ein wenig das rechte Bein, das kam von einem Unfall. Die junge Frau aber, ganz in Gedanken, sah zu ihm auf, denn er war um einiges größer als sie, und dachte: Er wirkt vertrauenswürdig.
Die Kinder saßen bereits auf seinem Schoß, er hatte den Kaffee getrunken, und ihm fiel auf, dass die Frau ständig auf ihre Uhr schaute. Das gefiel ihm nicht. Den Kindern gefiel es aber sehr, auf seinem Schoß zu schaukeln, er brummte wie ein Lastwagen, bremste wie ein Lastwagen, beschleunigte und überholte. Dabei hob er seine Stimme, und sie klang wie eine Sirene.
Da sagte die Frau: »Wenn ich jetzt zwei, drei Stündchen weggehe, könnte ich die Kinder bei Ihnen lassen?« Aha, dachte der Mann, so läuft der Hase, und er war enttäuscht, hatte er ihre Zweideutigkeit doch völlig falsch eingeschätzt. Sie ist ein Luder, dachte er sich, und hat zwei so liebe Kinder, aber ich werde auf sie aufpassen.
Die Frau wiederum dachte sich, während sie sich schminkte, nämlich vor den Augen des Lastwagenfahrers sich puderte, sich die Lippen grell anstrich, an den Augen herummalte, dieser Mann, dem kann ich trauen, irgendwie erinnert er mich an den Pfarrer, den ich als Kind in Religion hatte.
Der Lastwagenfahrer, obwohl er überhaupt keine Zeit hatte, verschenkte sich an die Kinder, spielte mit ihnen und tat, was ein guter Vater tut. Er suchte nach Gegenständen, die auf einen Ehemann schließen lassen könnten, fand aber keine. Er sagte fragend zu den Kindern: »Wo ist euer Papa?« Aber sie schauten nur ungläubig. Anzunehmen, dass ihnen keiner in Erinnerung war.
Der Lastwagenfahrer, ein sentimentaler Mensch mit gescheiterten Beziehungen und einer verpfuschten Ehe, malte sich aus, wie es sein könnte, käme die Frau nach Hause und würde anstelle der Kinder auf seinem Schoß sitzen. Er kochte Milchreis, weil ihn das an seine eigene Kindheit erinnerte, auf dem Bauernhof, als seine Mama in ihrer weißen Schürze am Herd gestanden war und alles nach Zimt roch, wie im Morgenland. Außerdem waren es die einzigen Zutaten, die er fand, die nach Mahlzeit aussahen, Geld war da nicht viel in diesem Haus. Das Mädchen fand auf dem hintersten Regal noch ein Glas Brombeermarmelade. Hoffentlich nicht schimmlig.
In diesen Stunden lag die junge Frau mit einem Mann im Bett. Für den war sie nur ein Abenteuer, ihre kleinen Brüste gefielen ihm, und dass sie wie ein Knabe aussah. Es war nur ein Abenteuer für ihn, und er dachte bei sich, ausprobieren, bis ich endlich weiß, wohin ich gehöre. Er war in Wirklichkeit verklemmt und erlaubte sich nicht, an junge Männer zu denken. Wenn er die Augen schloss und über die Hüften der jungen Frau strich, fühlte es sich an, als sei sie ein Kerl. Was dem Liebhaber gar nicht gefiel, war, dass sie viel von ihren beiden Kindern sprach und ihn offensichtlich als Vater aufreißen wollte. Nicht mit mir, dachte er sich. Als er dann ihren BH, obwohl sie ja wirklich keinen gebraucht hätte – bei ihren Knospen –, an der Stuhllehne hängen sah, wurde ihm flau im Magen, und er rollte sich aus dem Bett. Er wollte ihr sagen, dass es aus sei, ihr Liebesverhältnis nicht mehr weiter bestehen könne, weil, ja weil, was sollte er für einen Grund nennen.
Die Frau sagte, »bleib, ich hab noch eine halbe Stunde.«
»Für uns«, stammelte er, »kann es keine Zukunft geben, ich kann nicht zwei fremde Kinder aufziehen und will das auch nicht, verstehst du. Ich brauche einen klaren Schnitt. Ich möchte überhaupt nie Kinder haben, auch keine eigenen. Mein Leben ist ohne Struktur, und jetzt will ich das ändern. Ich habe mich in der Abendschule eingeschrieben und will alles abbrechen, was mich an mein altes Leben erinnert. Verstehst du?«
»Nein«, sagte sie, »das verstehe ich nicht, ich kann nicht verstehen, dass man etwas Schönes nicht mehr will, und unsere Beziehung ist doch etwas Schönes. Du musst mich nicht heiraten, und meine Kinder sind meine Sache, ganz allein meine Sache.« Sie wusste, dass sie unglaubwürdig klang.
»Du sollst mich nicht mehr besuchen, mich nicht anrufen, mir keine SMS mehr schreiben, kapiert, denn das alles belastet mich und macht mich unfähig für Neues.«
Die Frau versuchte, nicht zu weinen, trotz alledem schossen ihr die Tränen in die Augen, und sie wischte sie mit dem Handrücken weg. »Versager«, sagte sie, als sie ihr federleichtes Kleid über den Kopf zog, in ihre Schnürstiefel schlüpfte, die Schuhbändel offen ließ, fast darüber stolperte, sich die Haare nach hinten strich und sich verbot, auch nur einen Blick zurückzuwerfen.
Sie sah zu Hause den Lastwagenfahrer und erwog, ob er für sie infrage käme, fand ihn aber zu alt, er hätte ja ihr Vater sein können. Deshalb bedankte sie sich nur bei dem Fremden, sie fand, seine Augen wirkten so traurig, und deshalb gab sie ihm einen Kuss mitten auf den trockenen Mund, der nach Brombeermarmelade schmeckte. Die Zunge ihres Liebhabers kam ihr in den Sinn, die so weich und eilig gewesen war, aber sie wollte es sich verbieten, an diesen Versager zu denken, er hatte für sie keinen Namen mehr, aber vergessen konnte sie ihn trotz allem nicht.
Die Kinder jammerten, als sie sahen, dass der Lastwagenfahrer weggehen wollte, sie sagten: »Aber Mama, dein Bett ist so breit, da hat er doch leicht Platz.« Sie wussten noch nichts vom Leben, waren noch so unschuldig, der Bub fünf, das Mädchen gerade drei Jahre alt.
Der Lastwagenfahrer stieg in sein Gefährt und brauste davon, er nahm sich vor wiederzukommen, vielleicht in einem Monat, wenn er von seiner Tour zurück war, er könnte in Italien eine Puppe für das Mädchen kaufen, in so einem Seidenkleid, und für den Bub ein Löschfahrzeug, denn davon hatte er die ganze Zeit gesprochen. Die Frau würde er nicht beschenken, sie hatte es nicht verdient. Er würde die Sachen einfach nur abgeben und wegfahren, im besten Fall Sehnsucht zurücklassen.
Die Frau dachte bei sich, als sie den Lastwagen wegfahren sah: Ich habe vielleicht etwas falsch gemacht; sollte er wiederkommen, will ich ihn ausprobieren.
Noch aber war die Geschichte mit ihrem Liebhaber nicht zu Ende, Sehnsucht plagte die Frau, und sie dachte, sie könnte ihn gewiss umstimmen. Sie schickte ihm SMS, eine nach der anderen, bis zu zwanzig am Tag. Sie ließ die Kinder allein und stellte sich hinter einen Baum, sodass sie auf seine Haustür sehen konnte, er kam und ging. In einer Anwandlung schlechten Gewissens rannte sie nach Hause, fand ihre Kinder spielend auf dem Teppich. Weiter schrieb sie SMS, und dann erreichte sie ihn nicht mehr. Garantiert hatte er sich ein neues Handy angeschafft. Wieder versteckte sie sich nahe bei seinem Haus, und einmal tat sie so, als treffe sie ihn zufällig. Er war gerade mit einem anderen Mann im Gespräch, und sie sagte: »Was für ein schöner Zufall« und ging auf ihn zu.
Er sagte: »Ich kenne Sie nicht, Sie verwechseln mich« und ging weiter. Sie war so fassungslos, dass ihr nichts einfiel. Wieder lief sie nach Hause. Das kleine Mädchen saß in der vollen Badewanne, und der Bub spielte mit einem Schiffchen. Er hatte seiner Schwester ein Bad einlaufen lassen, aber das Wasser war schon kalt, und die Kleine zitterte.
Für die Frau wurde es zu einer fixen Idee, ihren ehemaligen Liebhaber zu sehen. Immer öfter ließ sie ihre Kinder allein, manchmal bis in die Nacht. Einmal hatte sie ihm ein Kellerfenster eingeschlagen und sich versteckt.
Es war das Haus seiner Eltern, in dem er wohnte.
Sie hörte ihn kommen und verschwand.
Einmal erwischte er sie im Heizungskeller, und er holte die Polizei. Sie fuhren in ihre Wohnung und fanden die Kinder in der Küche. Das Radio lief laut, und der Junge stand am Herd, und Eier waren in einem Topf ohne Wasser, es stank fürchterlich.
»Man wird Ihnen die Kinder wegnehmen«, sagte ein Polizist. Die Frau flehte ihn an, es würde nie wieder vorkommen, und lange kam es auch nicht wieder vor. Sie kümmerte sich in ihrer fahrigen Art um die Kinder, spielte mit ihnen unter dem Tisch, als wär sie selber noch ein Kind. Jeden Monat wurde ihr die Sozialhilfe überwiesen, es war nicht viel, aber sie kam damit zurecht. Sie hatte eine Nähmaschine und schrieb auf ihre Tür, dass sie Änderungsschneiderin sei. Sie nähte fremde Reißverschlüsse in fremde Hosen und verbot es sich, zum Haus ihres ehemaligen Liebhabers zu gehen.
Lange hielt sie das nicht durch. Wieder ließ sie die Kinder allein, versorgte sie mit Süßigkeiten und Saft, und versprach, bald wiederzukommen. Erneut schlich sie sich in das Haus, das kaputte Fenster war nicht repariert worden, und es fiel ihr leicht einzusteigen. Sie ging in sein Schlafzimmer, nahm seinen Pyjama unter dem Kopfkissen mit und verschwand. Zu Hause dann roch sie viel am Pyjama, bis er nicht mehr nach ihm roch.
Sie war ungeduldig mit den Kindern.
Da kam wie gerufen der Lastwagenfahrer mit seinen Geschenken. Der Junge öffnete die Tür. Gleich waren die Kinder wieder mit ihm vertraut, sie öffneten ihre Päckchen und sprangen an ihm hoch wie Kätzchen. Er wollte auf die Frau warten. Lange kam sie nicht, und sie fand den Mann mitsamt den Kindern im Lehnstuhl, alle eingeschlafen.
Der Lastwagenfahrer machte ihr einen Antrag, er wollte sie heiraten, und, bis sie etwas Besseres gefunden hätten, zu ihr ziehen, vorausgesetzt, es wäre ihr recht.
Der Frau war das recht, denn sie dachte nur, wie günstig es wäre, ihre Kinder versorgt zu wissen, dann könnte sie jederzeit in das Haus ihres ehemaligen Liebhabers einsteigen. Es war ihre fixe Idee.
Der Lastwagenfahrer und die Frau heirateten, er ließ sich frühpensionieren, hatte er doch beruflich bedingte Bandscheibenbeschwerden. Seine Rente war nicht schlecht, und er hatte einiges an Erspartem. Er wollte Geduld haben mit seiner neuen Frau, die sich ihm entzog, gerade ein Mal hatte sie mit ihm geschlafen, einen Tag nach der Hochzeitsnacht, in der Küche, im Stehen. Ihre Obsession verschlimmerte sich. Einmal fand sie ihren ehemaligen Liebhaber im Haus mit seinem Freund, sie saßen auf der Treppe und küssten sich. Die Männer führten sie aus dem Haus und drohten mit der Polizei.
Am Ende der Geschichte brandschatzt die Frau im Haus ihres ehemaligen Liebhabers, sie tränkt Lumpen mit Benzin und zündet sie an. Das Haus brennt ab. Die Frau wird überführt und eingesperrt.
Der Lastwagenfahrer war Mann und Frau in einem, Vater und Mutter, die Kinder liebten ihn. Und die Frau? Sie wollte weder ihn noch die Kinder sehen.
Der Bergkristall
Zum Zeichen seiner Liebe schenkte er ihr den Bergkristall, er werde sie vor schädlichen Strahlen bewahren, ihre Migräne lindern und ihre Leber reinigen. Sie hielt nichts von Steinen, aber seine Bekundung machte sie glücklich, weil sie den Mann liebte. Sie zog in sein Elternhaus, von Kindern wurde gesprochen und einer Zukunft. Die Eltern des Mannes waren esoterisch erleuchtet, überall lagen Steine in der Wohnung herum, solche, die