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Joel's Bruder: Erfahrungsbericht
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eBook352 Seiten5 Stunden

Joel's Bruder: Erfahrungsbericht

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Über dieses E-Book

Eine Mutter bekommt mit vierzig Jahren nach drei gesunden Kindern in zweiter Ehe einen Sohn mit Down-Syndrom. Ihre Ehe hält dann nur noch eineinhalb Jahre, sie verlässt Ihren Mann und erzieht die beiden Kinder aus dieser Ehe alleine. Angewiesen auf Unterhalt, da die Behinderung des Kindes keine regelmäßige Einkommensbeschaffung zulässt, trifft sie alle Entscheidungen für Behandlung und Zukunft ihres Sohnes alleine. Total überfordert durch dauernden Geldmangel und Ausgegrenztheit aus der Gemeinschaft der "normalen Familien" erwägt sie eine Trennung von dem behinderten Kind und entschließt sich für einen Heimaufenthalt, als das Kind mit sieben Jahren eingeschult wird. Jahre mit Freud und Leid, Erfahrungen mit Ärzten und Mitmenschen schildert die Mutter auf 260 Seiten
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum17. Juli 2013
ISBN9783732221387
Joel's Bruder: Erfahrungsbericht
Autor

Anne Liegal

Anne Liegal, geboren 1944 in Hessen, war zweimal verheiratet und hat vier Kinder. Bücher waren immer ihre Leidenschaft und so schrieb sie die Geschichte ihres letzten Kindes, das 1983 mit dem Down-Syndrom geboren wurde, in einem Tagebuch auf. Zehn Jahre hat es gedauert, bis daraus ein Buch entstand. Früher mehrfach als Souffleuse tätig, ist sie heute Mitglied der Frauen-Laien-Theater-Gruppe "Die Wanderbra(v)'s" und spielt hin und wieder als Laiendarstellerin in Fernsehsendungen mit. 'Dazulernen' ist ihr Lebensmotto und deshalb macht sie noch einmal eine Ausbildung als Synergetik-Therapeutin.

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    Buchvorschau

    Joel's Bruder - Anne Liegal

    Nachtrag

    Ein neuer Anfang

    Mein zweites Leben begann als ich knapp dreiunddreißig Jahre alt war und, wie ich glaubte, fast erwachsen. Mit zwanzig wollte ich noch die Welt erobern, statt dessen heiratete ich den erstbesten Mann, von dem ich glaubte, daß er meine große und immerwährende Liebe sei.

    Nach zehn Jahren war es vorbei; mir blieben ein Mädchen von neun und ein Junge von acht Jahren. Ich bekam eine Stelle im Büro und zwei Jahre nach der Scheidung hatte ich mich so weit hochgerappelt, daß ich einigermaßen leben konnte.

    Als ich ihn in diesem Dezember zum ersten Mal sah, war ich keineswegs hingerissen von seiner Erscheinung. Es war auf einer Weihnachtsfeier des Verbandes der allein erziehender Mütter und Väter, die in unserer Stadt viele Mitglieder hatte. Diesmal wollten wir mit den Alleinerziehenden einer Nachbarstadt zusammen feiern. Eine Nachbarin schleppte mich mit; ich habe an solchen Massen-Kuchen-Fress-Orgien wenig Interesse.

    Er stand am Eingang, eine Fülle von Mann, im biederen, beigen Wollmantel und einem schwarzen Hut mit einer riesigen Krempe, darunter zwei braune Augen, die prüfend jeden musterten, der sich bei ihm zu einem Ausflugswochenende anmelden wollte. Alle Frauen wollten die Gelegenheit wahrnehmen, ein preiswertes Wochenende mit Kindern ohne Kochen und Hausarbeit zu verbringen. Es war ein Angebot des Verbandes, daß so außergewöhnlich war, daß auch ich unter den drängelnden Frauen stand.

    Als dann die Kuchenschlacht losging, jeder durch die Tische raste um ein Stück von seiner Lieblingstorte für sich und seine Kinder zu erhaschen, (den Kuchen hatten die Frauen gebacken und gespendet) ging er bedächtig durch die Reihen und ließ sich das von den Frauen anreichen, was er begehrte. Welch ein arroganter Mensch, dachte ich.

    Ich fand ihn trotz seiner schwarzen Kluft, fast hätte man ihn mit dem Herrn Pastor verwechseln können, unansehnlich fett. An seinem Kinn stand ein merkwürdiger Bart, so etwas kleines, dünnes, das sehr an eine Ziege erinnerte. Seine offensichtlich große Beliebtheit bei den Frauen konnte meinen negativen Eindruck nicht verbessern.

    Wir fuhren mit dem Bus in den Taunus, mindestens dreißig Frauen mit vierzig Kindern und als Organisator der große Dicke mit dem breitkrempigen, schwarzen Hut.

    Während der Busfahrt ging er durch die Sitzreihen und fragte jeden gönnerhaft, ob er etwas für ihn tun könne. Eine von den Tussis hatte ihm einen Platz freigehalten; mehrere Frauen hatten versucht, sich da hinzusetzen, aber die Tussi legte jedesmal hektisch einen Gegenstand neben sich und sagte zu jedem: »Der Platz ist für Herrn Liegal.« Herr Liegal aber dachte während der eineinhalbstündigen Fahrt nicht daran, seinen Platz einzunehmen. Offensichtlich wollte er nicht, daß man glauben könnte, er wäre mit dieser Frau liiert. Er stand im Mittelgang des Busses und unterhielt sich gelangweilt mit den Frauen, die er kannte.

    Nach der Ankunft gab es direkt ein gemütliches Zusammensein zum Kennenlernen. Jeder einzelne mußte sich vorstellen. Ich habe bestimmt kein schlechtes Mundwerk, kann reden wie ein Wasserfall, habe keine Probleme, meinen Freunden lange Vorträge zu halten, aber wenn ich mich fremden Leuten vorstellen soll, hapert es bei mir: Ich werde knallrot und stottere.

    Der einzige Mann, wieder in pastoralem Schwarz, machte das mit links. Er stand da, wie eine Statue in Rubensgestalt, nannte seinen Namen, seine Position als Vorsitzender des Verbandes seiner Heimatstadt, und seine Funktion für dieses Wochenende.

    Er hatte eine sehr angenehme Stimme, sprach langsam und verständlich; man merkte, daß er das Reden gewohnt sein mußte. Ich fand es sehr mutig, daß er das Rauchen verbot, kannte ich doch nur Frauen, die zu Furien wurden, wenn man ihnen ihre ‚persönliche Freiheit‘ absprechen wollte. Mir war es recht, ich war gerade dabei, mir zum zweiten mal das Rauchen abzugewöhnen und die Damen fügten sich ohne Protest.

    Er war zwar nicht mein Typ, aber ein Mensch besteht ja nicht nur aus Äußerlichkeiten. Vielleicht lohnte es sich, über ihn nachzudenken?

    In seiner Eigenschaft als Vorsitzender hielt er eine Rede über die Alleinerziehenden und ihre Probleme aus der Sicht seines Arbeitsbereiches, des Jugendamtes.

    Seine Rhetorik gefiel mir, er drückte sich gewandt aus, wenn er dabei auch dastand wie ein Eunuch. Er hielt beim Reden seine Arme angewinkelt, die Handflächen nach oben mit gekrümmten Fingern und schwenkte die Hände immer hin und her. In dieser Haltung tänzelte er auch durch den Raum.

    Abends beim geselligen Beisammensein umschwirrten die Damen diesen interessanten Herrn, wie die Motten das Licht. Nach einigem Alkoholkonsum stritten sie sich sogar um einen Platz auf seinem Schoß. Aber das war auch ihm zuviel und er kam an die Bar, an der ich mit Marianne amüsiert dem Treiben an den Tischen zusah.

    Er bestellte sich ein Bier und fragte mich: »Wie heißt du?«

    »Ich habe nicht auf Ihrem Schoß gesessen, wieso duzen Sie mich?«

    »Oh, die Dame ist vornehm… Ich bin Hans Liegal.«

    »Okay, ich bin Anne« sagte ich versöhnt und als ich ihm in die Augen sah, rastete irgend etwas bei mir aus. Es knisterte so laut, daß meine Nachbarin sagte: »Ich glaube, es bahnt sich was an zwischen den Beiden.«

    War das auch noch zu sehen?

    »Feierabend«, rief die Wirtin, gerade als Hans noch eine Flasche Sekt und zwei Gläser verlangte.

    »Die ist für uns beide, ich heb sie auf.«

    Er sah mir tief in die Augen, ich stand vor ihm und stippte ihm wie selbstverständlich, als ob wir uns schon ewig lange kennen, einen Fussel von seinem schwarzen Jackett.

    Wir trennten uns ohne ein weiteres Wort und gingen jeder in sein Zimmer schlafen. Ich habe in dieser Nacht kein Auge zugemacht. Wirklich, ich habe vor Aufregung nicht schlafen können, und dachte an den nächsten Morgen, wo wir uns noch vor dem Frühstück im Hallenbad im Keller des Ferienhauses treffen wollten.

    Am anderen Morgen ging ich schon um sieben Uhr ins Schwimmbad. Ich war froh, daß die Kinder noch schliefen. Er war schon da und wir waren da ganz alleine.

    Ich war zu keinem klaren Gedanken fähig, vergaß alles, meine Kinder, mein Büro, mein ganzes langweiliges Leben und schwebte in diesem Augenblick im siebenten Himmel. Es zog uns zueinander wie zwei Magnete. Wir vergaßen völlig die Zeit, schwammen immer so dicht aneinander vorbei, daß wir uns berühren mußten, neckten uns, um die Verlegenheit nicht zeigen zu müssen, bis sein Sohn ins Bad kam, um seinen Vater zum Frühstück zu holen.

    Achim war 12 Jahre alt, knapp ein Jahr älter als mein Sohn, ein hübscher Junge, ich sah ihn zum ersten Mal, wußte bis dahin nichts von seiner Existenz. Im Bus hatte ich ihn gar nicht gesehen, sein Vater hat sich jedenfalls nicht mit ihm beschäftigt, oder war er vielleicht unter der Obhut der Tussi?

    Hans und ich taten so, als kennen wir uns nur flüchtig und wären nur zufällig zusammen im Schwimmbad.

    Beim Frühstück setzte er sich zur Tussi, die schon von weitem mit den Brötchen winkte, die sie fürsorglich für ihn geschmiert hatte. Ich saß schon vor ihm im Frühstücksraum und konnte meine Aufregung kaum verbergen, war froh, daß wir noch etwas Abstand und Zeit hatten.

    Nach dem Frühstück gingen alle gemeinsam spazieren. Es war herrlicher Schnee bei strahlendem Sonnenschein, aber ich hatte keine Augen für die Landschaft. Ich suchte seine Augen, deren Blitze jedesmal bei mir einschlugen, und hatte das Gefühl zu brennen. Wir berührten uns zuerst zufällig bei jeder Gelegenheit, aber dann gingen wir Hand in Hand und natürlich blieb das den anderen nicht verborgen. Die Tussi, die im Bus und beim Frühstück den Platz für Hans freigehalten hatte und so gut Brötchen schmieren konnte, bewarf mich mit bösen Blicken und ich zog meine neue Eroberung damit auf. Es waren zwei wunderschöne Tage im Himmel.

    Auf der Heimfahrt saßen wir nebeneinander und berührten uns mit den kleinen Fingern; ich wunderte mich, daß niemand die Funken sah. Bei jedem Kilometer näher der Heimat wurde ich unruhiger. Ich mußte zuerst aussteigen, er fuhr noch bis zur Endstation.

    »Ich ruf dich an«, flüsterte er beim Abschied.

    Hans und ich trafen uns am nächsten Tag wieder, weil wir glaubten, es ohne einander nicht aushalten zu können. Wir gingen in sein Lieblingslokal und bestellten Hähnchen. Wir warteten auf die Vögel eine geschlagene Stunde, haben das nicht bemerkt, weil wir so damit beschäftigt waren, uns tief in die Augen zu sehen.

    Eine Menge Süßholz haben wir geraspelt, uns kaum etwas Vernünftiges erzählt; wie kommt es nur, daß man glaubt, einen Menschen zu lieben, von dem man gar nichts weiß.

    Um Weihnachten miteinander zu verbringen, kannten wir uns noch zu kurz und Hans hatte ja auch seiner Familie gegenüber Verpflichtungen. Als ich ihm erzählte, daß ich einen Weihnachtsbaum gekauft hatte und nicht wüßte, wie ich ihn in den Ständer bekommen sollte, und er auch bestimmt noch abgesägt werden müßte, bot er mir sofort seine Hilfe an: »Ich komme dann an Heilig Abend um achtzehn Uhr vorbei und bringe eine Säge mit.«

    Was Pünktlichkeit und Verläßlichkeit bei Männern angeht, war ich einiges gewohnt und ich war gespannt, ob ich meinen Weihnachtsbaum in einen Eimer mit Sand stecken müßte, oder ob er tatsächlich sein Versprechen hielt.

    Welch ein Wunder: Er brachte nicht nur eine Säge mit, er war auch noch pünktlich. Das hat meine Sympathie sehr verstärkt; ich glaubte schon lange nicht mehr an die Zuverlässigkeit eines Mannes.

    Ich habe gezittert, wie die Maus im Maul einer Katze, als ich nach Weihnachten den ersten Brief von meinem ‚Geliebten‘ bekam. Rosa Blüten und Blätter auf weißem Grund, der Umschlag und auch das Papier, übersät mir rosa Blüten. Vorsichtig faltete ich das Blatt auseinander. Eine schöne Schrift, sie war gleichmäßig und gefestigt. Zwei volle Seiten strahlender Liebe: »Meine Psyche flirrt, es ist ein schlimmes, starkes, schönes Fühlen…«

    Jetzt hatte die Maus den Todesbiß bekommen, ein Aufbäumen des Gefühls; danach das Meer ewiger Seligkeit: »In mir ist die ganz starke Gewißheit, daß unsere Zuneigung eine heftige, riesige Liebe in sich birgt.«

    Danach war mein ganzer Körper nur noch Fühlen. Nie in meinem Leben habe ich einen solchen Brief bekommen. Ich brauchte keinen Fußboden mehr, ich schwebte nur noch dahin.

    Dann kam Sylvester. Meine beiden Kinder waren bei ihrem Vater. Hans und ich verbrachten den ganzen Tag im Bett. Wir hätten auch nirgends hingehen können, denn an diesem Tag gab es einen Temperatursturz bis minus 20 Grad, und weil die Straßen feucht waren, gefror das Wasser innerhalb weniger Minuten zu einer spiegelglatten Eisbahn. Es gab ein Verkehrschaos, nichts ging mehr, die Straßen waren plötzlich ausgestorben wie an einem verkehrsfreien Sonntag.

    Abends hatten die Streuwagen fast alle Straßen erreicht und wir konnten in das Lokal gehen, wo wir mit Hans‘ Bruder verabredet waren, den ich kennenlernen sollte.

    Ich mochte ihn auf den ersten Blick nicht. Er schritt daher wie ein Graf, hatte ein blaues Mäntelchen an mit einem niedlich gleichfarbenen Pelzkrägelchen, bestellte das Essen auf der Karte ganz unten, und war in Begleitung einer reizenden Freundin, die er dauernd herumkommandierte, maßregelte, oder ihr das Wort verbot. Mir sagte er sofort, daß ich mir nicht einbilden sollte, daß mein Verhältnis zu seinem Bruder länger als sechs Wochen dauern würde; das sei bisher die längste Zeit gewesen, die er beobachten konnte, er sprach aus Erfahrung. Ich wollte mir die Harmonie des Abends nicht verderben lassen, ließ ihn links liegen und hatte nur Augen für Hans.

    Der siebente Himmel nahm kein Ende und ausgerechnet da mußte Hans zur Kur in den Schwarzwald.

    Wir kannten uns gerade erst vier Wochen und glaubten, die sechs Wochen Kur nicht heil überstehen zu können.

    »Ich werde dir schreiben, jeden Tag.«

    »Ja, ich auch.«

    »Wir werden uns in unseren Briefen nahe sein. Vielleicht ist es gut, wenn wir uns über unsere Gefühle klar werden.«

    »Was soll ich tun, all die Zeit ohne dich?«

    »Vielleicht kannst du mich einmal besuchen. Die Kinder gibst du zu deiner Nachbarin, eine Nacht, oder zwei wird das schon gehen.«

    Beinahe hätte ich beim Abschied geweint, ich dachte, mein Herz geht auf eine Reise, läßt mich erstarrt zurück.

    Sehnsuchtsvoll wartete ich auf den ersten Brief, dachte mir schon eine schwülstige Antwort aus; meine Arbeit litt, aber mein Arbeitgeber zeigte Verständnis, indem er mich mit weniger wichtiger Arbeit betreute.

    War in dem rosa Blümchenbrief schon alles gesagt? Gab es keine Liebesworte mehr? Der erste Brief aus der Kur schilderte ausgiebig die lange Autofahrt, die vornehmen Leute im Hotel, die erste Untersuchung beim Arzt und nur einen einzigen lieben Satz: »Eines weiß ich jedoch bestimmt: daß unser Verhältnis zueinander keine kurze fahrige Krankheit ist, wir werden uns sehr, sehr lieben.«

    Was sollte ich auf seine Reisebeschreibung bloß antworten, er gab mir kein Stichwort, aber mein Gefühl diktierte mir die Worte: »Trotz meiner realistischen Analyse unserer Beziehung finde ich kein Staubkorn Mißtrauen in meinen Gedanken; das erstaunt mich. Ich habe ein so großes Vertrauen in dich, eine solche Sicherheit, die mir fast wieder Angst macht… Ich halte dich für ein Wunder, du entsprichst so haargenau meinen Vorstellungen, die ich für unrealistisch hielt; und dann kommst du und verkörperst alle meine Träume, daß mir die Luft wegbleibt und ich nicht wage, daran zu glauben… Ich sitze in der Ecke eines riesengroßen Raumes und traue mich nicht ins Rampenlicht, deshalb meine Zurückhaltung. Ich möchte nicht mit Gewalt vordringen, aber du wartest doch auf mich? Eines Tages wird meine Seele dir entgegen fliegen. Ich habe Sehnsucht.«

    Wir kreuzten unser buntes Briefpapier: er schickte karminrotes, extra für mich gekauft, niemand sonst sollte einen Brief mit diesem Papier bekommen; ich wechselte pinkfarbenes mit kanariengelbem und grasgrünem ab.

    Auf karminrotem Papier: »Mir ist, als wären wir dicht aneinander, wenn ich die Augen schließe, spüre ich deine Zärtlichkeit, den Geruch deiner Haut, die Spannung in deinem Körper, wenn ich dich umfasse, ich ahne die Weichheit in deinen Augen… Ich ersehne den Tag, an dem du dich gleiten läßt, denn das ist der Tag, an dem auch ich hemmungslos in meiner Liebe zu dir werde.«

    Auf grünem: »Es ist so schön, daß es dich gibt, wenn es mir auch unfaßbar erscheint.«

    Auf gelb: »Ich spüre meine Zufriedenheit körperlich. Du bist ständig gegenwärtig.«

    Und auf rosa: »Ich bin süchtig auf jede Zeile von dir. Ich kann dir nicht beschreiben, welch schrecklich schönes Gefühl ich beim Lesen deines Briefes hatte, es sind richtige Fieberanfälle… Ich bin stolz, daß du mich liebst… Deine Zeilen vibrieren in mir, ich bin völlig sprachlos über so viel Übereinstimmung.«

    Und auf karminrot: »Nur der Gedanke, daß es dich gibt, hält mich aufrecht und meine Gedanken in angenehmer Lage… Mein inständigster Wunsch wäre, wenn du es schaffen würdest, einmal herzukommen.«

    Ich habe es dann tatsächlich geschafft. Sein Bruder wollte ihn an einem Wochenende besuchen und bot mir an, mich mitzunehmen. Ich fand auch eine Nachbarin, die auf meine Kinder aufpaßte, so daß sie nachts zu Hause in ihren eigenen Betten schlafen konnten. Sie tat das gerne, sie war so begeistert über meine neue Liebe, daß sie mir dieses Angebot machte.

    Fünf Stunden fuhren wir mit dem Auto immer tiefer in den Schnee. Zitternd trat ich meinem Geliebten entgegen, den ich kaum wiedererkannte, weil er seinen Ziegenbart entfernt hatte und um zwanzig Pfund erleichtert war. Hans hatte mich in dem Hotel als seine Frau angemeldet und so war das Zimmerproblem reibungslos gelöst.

    Mein großes Glück bekam den ersten Dämpfer, als mich Hans einmal kurz in seinem Zimmer allein ließ. Auf seinem Tisch lag seine Post, ein Brief von mir und noch ein anderer, mit einem weiblichen Absender. Normalerweise stöbere ich nie in anderer Leute Papiere herum, aber ich wollte mit meiner neuen Bekanntschaft auch nicht reinfallen, überwand meine Neugier nicht, holte den Brief aus dem Umschlag und las ihn.

    Eine offensichtlich sehr verliebte Frau Namens Maria beklagte sich über das plötzliche Desinteresse ihres Liebhabers, der wohl einige Zeit nicht mehr geschrieben hatte, und dessen Briefe plötzlich so merkwürdig steril waren, ohne das übliche Liebesgesäusel. Sie fand Gleichgültigkeit in seinen Zeilen und fragte zart an, ob denn da noch eine Nebenfrau sei.

    Dieses Mädchen hatte ein gutes Gespür, die Nebenfrau war ich; er hatte nicht den Mut gehabt, diese Beziehung zu beenden. Mir versetzte es den ersten Stich. Eigentlich hätte ich offen mit ihm darüber reden sollen, aber ich wollte lieber Augen und Ohren verschließen, Kopf in den Sand, der Vogel Strauß merkt dann wenigstens nichts. Außerdem war ich mir meiner Wirkung sehr sicher, er würde sich schon richtig entscheiden. Wie sich viel später herausstellte, war er auch Jahre danach zu keiner Entscheidung fähig, denn die Beziehung bestand noch, als wir verheiratet waren und schon ein Kind hatten. Maria wußte noch nicht einmal von seiner Eheschließung.

    Ich wollte mir das Wochenende nicht verderben lassen und vergaß den Brief schnell wieder. Wenn man seinen Bruder wegdachte, waren es zwei harmonische Tage in herrlicher Winterlandschaft und fabelhaftem Essen.

    Nach vierzehn Tagen kam Hans dann nach Hause, ich konnte es kaum erwarten. Sein erster Weg führte zu mir, ohne daß er vorher seine Koffer in seiner eigenen Wohnung abgestellt hatte. Ich war stolz, daß er mich so sehr liebte.

    Nach drei Tagen fragte ich vorsichtig an, wann er denn in seiner Wohnung mal nach dem Rechten sehen wollte; er winkte ab und kam statt dessen das nächste Mal mit zwei Kisten seiner Bücher nach Hause: »Die müssen dringend durchgesehen und katalogisiert werden.«

    Aha.

    Natürlich verstand ich das. Als er dann kurze Zeit später auch noch einen Kleiderschrank anschleppte und mir genau erklärte, wo man den in meiner Wohnung aufstellen könne, nahm meine freudige Erregung langsam ab.

    Nach ein paar Wochen wurde es Zeit, daß ich ihm erklärte, daß ich eigentlich allein wohnen wollte und keineswegs bereit war, einen Untermieter aufzunehmen, schon gar keinen Untermieter, der weder zu der Miete, noch zum Essen etwas beisteuerte und dauernd auf meine Kosten telefonierte.

    »Aber mein Schatz, wer wird denn so kleinlich sein, wir haben es doch gut zusammen«, war seine Antwort.

    Als ich ihn dann ausdrücklich bat, doch jetzt endlich wieder seine eigene Wohnung in Anspruch zu nehmen, eröffnete er mir, daß er sie an einen Kollegen vermietet habe und er daran denke, sie ganz aufzugeben. Zum ersten Mal war ich richtig wütend, hatte eine Auseinandersetzung, das heißt, ich hatte die Auseinandersetzung, er zuckte nur mit den Schultern.

    Ein paar Tage später kam er mit dem Rest seiner kläglichen Habe in mein Zuhause, seine Möbel hatte er alle verkauft.

    Ich fand mich mit dem Umstand ab, ich hatte nie richtig gelernt, mich zu wehren. Jeden Monat versuchte ich bei ihm wenigstens die Hälfte der Miete einzutreiben, das erforderte große Hartnäckigkeit, denn Hans hatte nie Bargeld. Manchmal brachte er Lebensmittel mit nach Hause, aber wir aßen selten zusammen, denn plötzlich blieb er tagelang weg ohne eine Erklärung. Ich fragte ihn nicht, wir waren ja beide frei, und an den Abenden, wenn er nicht nach Hause kam, ging ich mit meiner Freundin aus.

    Mein Kollege fragte mich, ob ich denn nicht glaube, daß da noch eine andere Frau im Spiel sei. Entrüstet wies ich das von mir: »So etwas tut er nicht.«

    In den Sommerferien der Kinder wollten wir zusammen verreisen. Die Kinder fuhren in ein Sommerlager, alles war vorbereitet, mein Urlaub hatte angefangen, die Koffer waren gepackt; nur Hans ließ sich seit ein paar Tagen nicht mehr blicken. In meiner Wut fuhr ich zu meiner Mutter, um den Urlaub nicht nutzlos verstreichen zu lassen. Ich schrieb Hans einen Brief, er möge sich doch bitte schleunigst aus dem Staub machen, und bei meiner Rückkehr wolle ich weder ihn, noch seine Sachen antreffen. Den Brief schickte ich an sein Postfach, seinen Aufenthaltsort kannte ich ja nicht.

    Als ich nach zwei Wochen nach Hause kam, hatte ich den Eindruck, daß er in diesen Tagen meine Wohnung nicht einmal betreten hatte, um seine Kleider zu wechseln.

    Er mußte bemerkt haben, daß ich wieder da war, denn am nächsten Tag kam er fröhlich lachend nach Hause, als ob überhaupt nichts gewesen sei und jubelte: »Was hast du mir einen schönen Liebesbrief geschrieben.«

    Ich wußte mit absoluter Sicherheit, daß darin von Liebe kein Sterbenswörtchen stand; ich glaubte, seine Sinnesorgane hätten eine Fehlschaltung. Ich haßte ihn, ich haßte mich, weil ich unfähig war, etwas dagegen zu sagen und er blieb.

    Die Gewohnheit ließ eine weitere Dummheit zu, oder war es Sehnsucht nach Geborgenheit?

    In der Verbandsgemeinde, wo wir das Aufgebot bestellen wollten, mußten wir zuerst auf dem Flur längere Zeit warten.

    Mein zukünftiger Mann hastete aufgeregt hin und her, bis er sich ruckartig neben mich setzte: »Ich muß dir etwas sagen, bevor wir jetzt da hineingehen. Der Beamte wird die Geschichte unserer Vorehen aus dem Stammbuch vorlesen und auch die Daten der Eheschließung und der Scheidung. Bitte erschreck nicht, wenn du dann feststellst, daß ich erst vor ein paar Monaten geschieden wurde.«

    Ich kriegte den Mund nicht mehr zu. Da lebten wir doch zwei Jahre zusammen und immer hatte er mich in dem Glauben gelassen, seine Scheidung sei schon vor unserer Bekanntschaft ausgesprochen worden.

    Ich hatte gar keine Zeit, diesen Schrecken zu verarbeiten, denn wir wurden aufgerufen.

    Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders, als der Beamte die Daten vorlas, und ich weiß bis heute das Datum seiner Scheidung nicht. In meinem Kopf schwirrte es so sehr, meine Reaktionen waren mechanisch, ich unterschrieb den Antrag und als wir gingen, hatte ich den Vorfall ins Hinterstübchen meines Bewußtseins verdrängt. Ich erwähnte es mit keinem Wort mehr, damals nicht und nicht später, es hatte ja sowieso keinen Zweck über verschüttete Milch zu weinen…

    In meinen trüben Gedanken entschuldigte ich sein Verhalten, er hatte eben Angst gehabt, es mir zu sagen, Angst, mich vielleicht zu verlieren; er mußte mich sehr lieben.

    Daß ein solches Verhalten das ganze Gegenteil von Liebe war, erkannte ich damals noch nicht. Ich wollte diese Liebe so sehr, daß ich sie mir einfach blind einredete, so lange in mein Bewußtsein hämmerte, bis sie angenommen wurde und alle Zweifel verdrängte.

    Die Zweifel stellten sich erst wieder nach drei Wochen ein, am Tag der Eheschließung.

    Als wir auf dem Standesamt ankamen, waren die Trauzeugen, ein befreundetes Ehepaar, schon da. Ursula gab mir einen hinreißenden Blumenstrauß, sie hatte geahnt, daß Hans in seiner Schusseligkeit vergessen würde, daß der Bräutigam die Blumen besorgt. Ich wäre sonst bestimmt als einzige Braut ohne Blumen vor den Standesbeamten getreten.

    Bald würde ich das Ehegelöbnis sprechen, würde versprechen, meinen Mann zu lieben und zu ehren, in guten und in schlechten Tagen, bis daß er Tod uns scheidet.

    Wir wurden in einen nüchternen Raum geführt, kein blumengeschmücktes Zimmer mit harmonischen Bildern an den Wänden und goldenen Kugelschreibern auf dem Tisch. Wir nahmen in der Mitte eines riesigen Tisches Platz, links und rechts die Trauzeugen, und noch zehn Leute hätten an diesem Tisch Platz gehabt. Wir hatten keine Verwandtschaft mitgebracht. Nicht einmal unseren Kindern hatten wir es gesagt, es tat mir jetzt leid, daß wir aus unserer Eheschließung überall ein Geheimnis gemacht hatten, ich kam mir so einsam und verloren vor.

    Ich war nicht bei der Sache, als der Standesbeamte die übliche Rede hielt, aber eines fühlte ich genau: Ich war nicht glücklich. An diesem Tag, der zum zweiten Mal der glücklichste Tag in meinem Leben sein sollte, hatte ich widersprüchliche Gefühle. Als dann der Standesbeamte die obligatorische Frage stellte: »Wollen Sie…«, und ich an der Reihe der Antwort war, sagte meine innere Stimme laut und deutlich: NEIN, ich aber gab ihr einen Schubs, drängte sie zurück: Das geht nicht, das Stammbuch ist schon geschrieben, alles ist vorbereitet, die Trauzeugen sind extra wegen uns den weiten Weg gefahren, ich kann doch jetzt nicht…

    Die Frage des Beamten war beendet, nach einigem Zögern hörte ich meine Antwort: »Ja«.

    Meine Stimme kam mir niederschmetternd vor, als ob ich ein Urteil angenommen hätte und nicht den Anfang einer glücklichen Beziehung.

    Wir tauschten die billigen Ringe aus Weißgold, die wie Gardinenringe aussahen, weil Hans nicht mehr Geld ausgeben wollte (es ist doch nicht so wichtig) und in dem Moment, wo die Brautleute sich umarmen und küssen sollten, strebten wir auseinander und nahmen die Glückwünsche unserer Trauzeugen und des Standesbeamten entgegen.

    Beim anschließenden Mittagessen schlug ich mir den Bauch voll, damit die Leere darin nicht mehr mit mir reden konnte. Ich wollte, daß alles gut würde. Es mußte einfach alles gut werden.

    Neues Leben braucht das Land

    »Ich will auf gar keinen Fall ein zweites Kind haben.«

    »Warum denn nicht,« sagte Hans, »das erste hast du so toll hingekriegt, warum sollten wir nicht wieder so ein süßes Kind haben. Vielleicht wird es ein Mädchen und dann sind wir komplett.«

    Joel war zu diesem Zeitpunkt gerade fünfzehn Monate alt, ein lieber Junge ohne Probleme, ich schon neununddreißig und ich hatte wirklich keine Lust mehr zum Kinderkriegen. Joel war gut geraten, nach ein paar Wehenschwierigkeiten im sechsten Monat hat er es doch noch bis zum Schluß durchgehalten und war fast pünktlich ohne jede Komplikation auf die Welt gekommen. Hans durfte es miterleben; ich wußte nicht, ob es für ihn ein besonderes Erlebnis war, er hat nur hilflos dagestanden, war mir in keiner Weise Trost und Stütze; im Gegenteil, zeitweise war mir seine Gegenwart unerträglich. Schließlich mußte ich schwer arbeiten, und das kann ich besser alleine. Ich empfand es als störend, daß mir jemand dabei die Hand hielt.

    Ich hatte mir dieses gemeinsame Erlebnis eigentlich sehr gewünscht, aber als es dann da war, verspürte ich keinen Augenblick die Verbundenheit, die ich mir ausgemalt hatte, von der ich in Büchern las, ich dachte, sie mußte doch einfach kommen wenn man gemeinsam etwas so Großartiges erlebt.

    Ihm schien es aber gefallen zu haben: »Du hast das so großartig gemacht. Du scheinst zum Kinderkriegen geboren zu sein.« Diese Meinung war wohl der Grund dafür, daß er das gerne noch einmal erlebt hätte.

    Ich war mir meiner wirklichen Wünsche nicht ganz klar, schwankte zwischen dem Gedanken: ‚es bei einem Kind zu lassen

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