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Kein Wort – Nie: Die tragischen Folgen einer Familienlüge
Kein Wort – Nie: Die tragischen Folgen einer Familienlüge
Kein Wort – Nie: Die tragischen Folgen einer Familienlüge
eBook230 Seiten3 Stunden

Kein Wort – Nie: Die tragischen Folgen einer Familienlüge

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Über dieses E-Book

Diese ungewöhnliche Geschichte voller Lügen, Ängste, Sorgen, Wut und Zweifel einer jungen Heranwachsenden entstand infolge einer bemerkenswerten Begebenheit: Die Autorin Bärbel Rädisch sah zufällig eine junge Frau in einer Talkshow, in der sie aus ihrem Leben erzählte. Fasziniert von der tragischen Geschichte nahm sie Kontakt zu der Frau auf und ließ sich deren Leben detailliert erzählen, um daraus einen Roman zu verfassen. Das Ergebnis: ein spannender Real-Roman, der zu großen Teilen in Bremen spielt.
Nach dieser wahren Begebenheit erzählt Bärbel Rädisch die mitreißende Geschichte eines jungen Mädchens in den 1960er-Jahren, das jahrelang eine große Familienlüge geheim halten und bewältigen muss. Zufällig herauszufinden, dass die eigene Mutter gar nicht die echte Mutter ist, und dass ihre Familie jahrelang darüber schwieg, beschäftigt Josi als Kind, als Jugendliche und auch noch als junge Frau. Auf ihre Art versucht sie, mit diesem Geheimnis umzugehen, und darf gleichzeitig ihrer Familie niemals verraten, dass sie es kennt.
Vertrauen jahrzehntelang von einer Lüge verdrängt, bis kein Platz mehr ist für Gefühle. Die Angst das Leben beherrscht, dann alles verlieren zu müssen.
SpracheDeutsch
HerausgeberKellner Verlag
Erscheinungsdatum16. Sept. 2019
ISBN9783956512308
Kein Wort – Nie: Die tragischen Folgen einer Familienlüge

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    Buchvorschau

    Kein Wort – Nie - Bärbel Rädisch

    Bärbel Rädisch

    KEIN WORT – NIE

    Die tragischen Folgen einer Familienlüge

    Roman

    KellnerVerlag_30Jahre_SW.psd

    Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek

    registriert. Die bibliografischen Daten können online

    angesehen werden:

    http://dnb.d-nb.de

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    Impressum

    © 2019 KellnerVerlag, Bremen • Boston

    St.-Pauli-Deich 3 • 28199 Bremen

    Tel. 04 21 - 77 8 66 • Fax 04 21 - 70 40 58

    sachbuch@kellnerverlag.de • www.kellnerverlag.de

    Lektorat: Kai Klenner, Marieke Fischer

    Satz: Kai Klenner

    Umschlag: Jens Vogelsang, unter Verwendung eines Fotos von photocase.de, © winternana

    Gesamtherstellung: DruckKellner, St.-Pauli-Deich 3 • 28199 Bremen

    ISBN 978-3-95651-228-5

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    Die Autorin

    Bärbel Rädisch, geboren 1942 in Wuppertal, ist gelernte Drogistin und hat in verschiedenen medizinischen Berufen gearbeitet. Heute schreibt sie als freie Mitarbeiterin des Weser-Kuriers in Bremen für die Lokalredaktion Syke. Sie hat bereits drei Romane veröffentlicht sowie zahlreiche Kurzgeschichten in Anthologien. Mit ihrer Kurzgeschichte »Fräulein Bergendonks Pferd« wurde sie 1995/96 Preisträgerin beim Wettbewerb der VHS Niedersachsen und 2009 Preisträgerin des Instituts für Migrationsforschung mit der Kurzgeschichte »Wenn es Morgen wird in Boipatong«, verbunden mit einer öffentlich Lesung im Haus der Geschichte in Bonn. Bärbel Rädisch lebt seit 1999 in Asendorf-Hohenmoor in Niedersachsen.

    Zur Entstehung dieses Buches

    Diese ungewöhnliche Geschichte voller Lügen, Ängste, Sorgen, Wut und Zweifel einer jungen Heranwachsenden entstand infolge einer bemerkenswerten Begebenheit: Die Autorin Bärbel Rädisch sah zufällig eine junge Frau in einer Talkshow, in der sie aus ihrem Leben erzählte. Fasziniert von der tragischen Geschichte nahm sie Kontakt zu ihr auf und erfuhr unfassbare Einzelheiten. Das Ergebnis: ein spannender Real-Roman, der zu großen Teilen in Bremen spielt.

    Das Leben ist gar nicht so –

    es ist ganz anders

    (Kurt Tucholsky)

    Die Welt ist ein Theaterstück,

    spielt eure Rolle gut.

    Ihr spielt ums Leben.

    (Erich Kästner)

    Teil 1

    1. Kapitel

    »N ein, es ist gelogen!« Josi sprang mit einem Satz von der Schaukel, stampfte mit dem Fuß auf und starrte in Richtung Haus. Aber Oma und Opa lügen doch nicht, oder? Wenn ich Mama erzähle, was ich gehört habe, wird sie sagen: »Kind, Kind, was hast du für eine blühende Fantasie.«

    Aber wenn es doch stimmt?

    Die Schaukel schwang auf und ab, auf und ab, als fächele sie Luft in die Schwüle, die sich unter der mächtigen Krone des Kirschbaums zusammenballte. Als Josi jetzt einen Fuß vor den anderen setzte, hatte sie das Gefühl, als hingen Gewichte daran. Zu atmen machte ihr Mühe, ihr schien, plötzlich verlernt zu haben, Luft zu holen. Die Sonne, die sie schon so oft mit einem lachenden Mund gemalt hatte, war an diesem Tag ihr Feind. Großvater wischte sich unentwegt mit seinem großen Taschentuch den Schweiß von der Stirn, wobei er knurrte: »Seit Wochen diese Hitze und kein Regen in Sicht. In der Zeitung steht, dieser August kommt fast an den Jahrhundertsommer von 1959 heran.«

    Schlaff, als sei er verwelkt, hing in einem Johannisbeerstrauch ein roter Luftballon, der von Josis Geburtstagsfeier am Tag zuvor übrig geblieben war. Zehn Jahre alt war sie geworden. Was für großen Spaß hatte sie mit ihren Freundinnen gehabt mit Topfschlagen, Seifenblasen und Limonade, so viel jede wollte. Das Beste war das Planschbecken gewesen, das Papa immer größer und größer aufgepumpt hatte, worin sie anschließend herumtobten und gar nicht genug kriegten vom Nassspritzen.

    »Zehn Jahre alt«, hatte Papa gesagt, als sie noch im Schlafanzug die Kerzen auf dem Geburtstagskuchen ausblies. Seufzend raufte er sich die Haare und stöhnte: »Leider bist du jetzt eine junge Dame, die sonntags bestimmt nicht mehr zum Kuscheln in unser Bett kommt.«

    Josi hatte gekichert, heftig den Kopf geschüttelt, sich an ihn geschmiegt und geschnurrt: »Papa, das Kuscheln ist doch das Schönste. Schade, dass nicht jeden Tag Sonntag ist.«

    Mit hängendem Kopf trottete sie jetzt am Teich entlang, blieb kurz stehen, um den Zickzackflug einer Libelle zu verfolgen.

    »Die Rote ist die erste Art im Jahr. Sie heißt Adonislibelle, weil es eine Blume mit rotschwarzen Blüten gibt, das Adonisröschen, also mit den gleichen Farben«, hatte Mama ihr erklärt.

    »Sie sieht wie eine rote fliegende Nähnadel aus«, hatte Josi staunend gesagt.

    Im Sommer zeigte Mama ihr die blauen Azurjungfern, die bis zum Herbstende surrten, dann die doppelt geflügelten dicken braun-grünen Mosaikjungfern, die kleinen Hubschraubern glichen, wenn sie über die Teichfläche schossen. »Was für schöne Namen sie haben«, fand Josi.

    Vielleicht hat Mama jetzt gar keine Lust mehr, mir weiter so etwas zu zeigen und zu erklären. Sie schluckte, schlug dann wütend mit beiden Händen um sich, nicht nur wegen der Mücken, die begannen, sich auf sie zu stürzen. Als sie fast schon am Haus war, hörte sie noch immer das Quietschen der ausschwingenden Schaukelketten.

    »Du wirst schon sehen, wunder dich nicht«, schienen sie zu kreischen. Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und den nackten Armen und huschte durch die Tür. Die blonden Haare klebten wie ein Helm am Kopf. Noch war es eine böse Vorahnung, aber ihr Leben würde an diesem Tag einen Riss bekommen.

    Gleich nach dem Frühstück war Josi an diesem Morgen in den Garten gestürmt, um nachzusehen, ob bei den Radieschen, die sie ein paar Tage zuvor mit Mama ausgesät hatte, schon grüne Spitzen durchs Erdreich lugten. Ein bisschen bohrte sie am Ende einer Reihe mit dem Finger im Boden, ob sie etwas spüren könnte, und klopfte die Erde dann vorsichtig wieder fest. Danach stromerte sie noch ein wenig herum, entschloss sich aber, weil es ihr nach kurzer Zeit schon zu heiß draußen war, lieber in ihr Zimmer zu gehen. Vom zweiten Stock sah sie hinunter auf die Straße, die Stirn an die kühle Scheibe gepresst und beobachtete das Verkehrsgetümmel aus der Vogelperspektive. Vor dem Haus bildete die stark befahrene Straße einen Gegensatz zum weitläufigen Garten auf der Rückseite. Ständig gab es etwas zu sehen, wenn man genug hatte von der Ruhe, den Rasenflächen und den Rabatten mit Blumen, die den Gemüsegarten abgrenzten, in dem Oma und Opa Tag für Tag werkelten. Was an Gemüse und Kartoffeln auf den Tisch kam, bauten die Großeltern an. Mama freute sich, dass sie das ganze Jahr die Vasen mit Blumen aus dem Garten füllen konnte.

    An Regentagen, wenn sie nicht draußen spielen konnte, war es für Josi kurzweilig, das Treiben auf der Straße zu beobachten. Sie und ihr großer Bruder Jasper wetteten oft, welche Farbe das nächste Auto hätte, das um die Ecke bog, oder wie viele Minuten es dauere bis eine Straßenbahn käme, ob die Linie 10 eher da wäre als die 4, die zum Bahnhof fuhr. Manchmal gaben sie den Leuten auf dem Gehweg gegenüber Namen, weil sie sich auf eine merkwürdige Art bewegten oder auffällig angezogen waren. Die alte Frau, die täglich ihren dicken Spitz hinter sich herzog, nannten sie Frau Pott.

    »Ihr Hut sieht genauso aus wie ein Kochtopf«, hatte Josi gekichert.

    »Ja, sie hat gerade noch Kartoffeln drin gekocht und ihn dann aufgestülpt«, lästerte Jasper.

    Sie alberten herum bis ihnen vor Lachen der Bauch wehtat.

    Wie viele Leute innerhalb von zehn Minuten gegenüber in die Bäckerei gingen, zählten sie und schätzten, welche von denen gleich nebenan auch noch in der Metzgerei einkauften. Jasper hatte sogar zum Spaß eine Liste angefertigt, aus der hervorging, an bestimmten Tagen gab es tatsächlich ein derartiges Zusammentreffen eher, als an anderen.

    Josi seufzte. Schon in wenigen Wochen hatte ihr Bruder für so einen Quatsch mit ihr, wie er es neuerdings nannte, keine Zeit mehr. Er würde seine Sachen packen, um in Berlin mit dem Studium anzufangen. Wie langweilig würde es ohne ihn sein.

    Ein blauer Lieferwagen mit einer Leiter auf der Ladefläche holperte vorbei. Bei jeder Unebenheit in der Fahrbahn flog sie ein Stück in die Höhe. Dann bog ein Mann auf einem Fahrrad um die Ecke. Sein aufgeknöpftes Hemd wehte wie weiße Flügel hinter ihm her. Josis Zunge klebte am Gaumen. Sie lief treppab in die Küche, strich sich die Haare aus dem heißen Gesicht, schob ihren Mund unter den Wasserhahn und trank. Mama konnte das nicht leiden, aber sie sah es ja nicht. Sie kam erst gegen Abend vom Einkaufen zurück. Josi hatte keine Lust, zurück in den Garten zu Oma und Opa zu gehen. Die beiden saßen unter der Esskastanie. Oma schnippelte Bohnen und Opa wurde ungehalten, wenn man ihn morgens beim Zeitunglesen störte. Sie schlenderte weiter ins Wohnzimmer. Hier hatte Mama schon am frühen Morgen die Fenster geschlossen und die Schlagläden vorgelegt, um die Hitze abzuwehren. Hölzerne Läden, die sich wie eine Ziehharmonika vor die Scheiben falten ließen. Mama hatte ihr erzählt, dass Papa beim Kauf des Hauses überlegte, moderne Rollläden einzubauen, sich aber dann entschied, das Althergebrachte zu behalten.

    »Weißt du, ich fand, das Haus wurde vor vielen Jahrzehnten gebaut, da passt etwas ganz Modernes nicht.«

    Kühle und Dunkelheit verwandelten das sonst so helle Zimmer in einen geheimnisvollen Raum. Sie setzte sich in Papas wuchtigen Lesesessel, fand es zuerst ulkig, dass sie mit den nackten Beinen in der kurzen Hose, wenn sie hin und her rutschte, auf dem Leder quietschende Töne erzeugen konnte. Nach einer Weile fühlte es sich eher eklig an, wie sich ihre verschwitzte Haut am Sitz festsaugte. Später wusste sie zuerst nicht, ob sie nur geträumt oder das Gespräch der Großeltern tatsächlich gehört hatte.

    Erschöpft hatte sie sich auf den Parkettboden hinter das große Sofa gelegt, die Arme und Beine von sich gestreckt. Allmählich waren ihr die Augen zugefallen. Nach einer ganzen Weile weckte sie ein Brummer, der wohl auf der Suche nach einem Fluchtweg durch das Zimmer surrte. Dann klingelte das Telefon in der Diele. Omas eilige Schritte waren zu hören. Josi blieb still liegen, verfolgte nur den Zickzackflug der dicken Fliege mit den Augen. Hörte ihre Oma eine Zeitlang sprechen, ohne etwas zu verstehen. Dann lachte die laut, legte auf und holte noch etwas aus der Küche. Die Tür zum Garten fiel ins Schloss. Das Surren der Fliege verstummte. Sie war aus Josis Sichtfeld verschwunden. Viel später drang ein Gemurmel in ihr Bewusstsein, dann kristallisierten sich Wörter heraus, Sätze. Sie war immer noch zu schläfrig um aufzustehen, merkte aber, die Stimme der Großmutter hörte sich ängstlich an und die des Großvaters ärgerlich. Eine ganze Weile floss das Gespräch an ihr vorbei, ohne dass sie sich rührte oder zu ergründen versuchte, worüber sich die beiden unterhielten. Lange Pausen, während die Großeltern schwiegen, ließen sie wieder einschlummern.

    Ein scharfes »Niemals!« der Oma und die Antwort des Opas: »Wenn er es aber so will!« schreckten sie auf und vermittelten ihr die Ahnung, irgendetwas beunruhigte die Großeltern. Die Stimmen kamen näher. Die beiden standen jetzt im Flur vor der halboffenen Tür zum Wohnzimmer. Von ihrer Mutter war die Rede, ihrem Bruder Jasper, von Papa, der Nachbarin Frau Holst, die manchmal mit schriller Stimme über die Hecke rief: »Frau Vomhoff, es ist schon zum wiederholten Mal ein Ball in meinen Garten geflogen. Ich dulde das nicht länger.«

    Mama sagte dann meist nur: »Könnt ihr nicht in einer anderen Ecke Ball spielen?«, aber sie zog nur lächelnd die Schultern dabei hoch.

    Josis rechter Arm begann vom Liegen auf dem harten Fußboden zu schmerzen. In ihrer Hand kribbelte es, als läge sie in einem Ameisennest.

    »Das Kind ... es muss endlich die Wahrheit erfahren, und zwar die ganze Wahrheit ohne Wenn und Aber. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, wenn durch einen dummen Zufall herauskommt, was Josi längst wissen sollte.«

    Ihre Großmutter sprach schrill und abgehackt und fuhr fort: »Auch Jasper wird von Anfang an etwas nahezu Übermenschliches abverlangt.«

    »Aber wer soll es dem Kind sagen?«

    Josi hörte den Großvater so schwer atmen, als wäre er die Treppe zum Obergeschoss hinaufgestiegen.

    »Unser Schwiegersohn glaubt ja felsenfest, der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch ist der Tag, an dem Josi volljährig wird. Ich konnte mich noch nie mit dem Gedanken anfreunden. Aber du weißt, nur unter der Bedingung den Kindern gegenüber dieses Thema unter keinen Umständen anzuschneiden, vor allem striktes Stillschweigen zu bewahren, war Frank damit einverstanden, uns hier mit ins Haus einziehen zu lassen.«

    »Zumal wir von unseren Vorgängern wussten …«, ließ Oma den Satz unvollendet.

    Josi wollte gerade ihr Versteck hinter dem Sofa aufgeben, fragen, wann sie denn volljährig würde, und was es überhaupt bedeute, volljährig zu sein. Was meinte Oma wohl mit Vorgängern, als sie hörte: »Dir ist klar, Eduard, die Holst ist eine Klatschtante, die nichts für sich behalten kann. Wenn sie beim nächsten Einkauf auf unsere Josi trifft, ihr womöglich auf ihre boshafte Art zuckersüß die Wahrheit unter die Nase reibt, was ist dann? Ich verstehe dich auch immer noch nicht wie du neulich zu ihr sagen konntest, wir sind bloß die Stiefgroßeltern und Simone ist nur angeheiratet.«

    Jetzt, halb aufgerichtet, versuchte Josi diese merkwürdigen Sätze einzuordnen. Wörter, die bedrohlich klangen, so wie Oma sie ausgesprochen hatte. Stiefgroßeltern? Hieß das Stiefopa? Stiefoma? Sie kannte nur das Wort Stiefmutter. Böse Stiefmutter, so wie im Märchen, die ihre Kinder in den Wald schickt, ihnen einen vergifteten Apfel gibt? Sie ihrem Schicksal überlässt, egal was passiert? Immer war die Stiefmutter die Böse, fiel Josi ein.

    Mit einem Ruck sprang sie auf, taumelte ein wenig und griff an die Sofalehne um sich festzuhalten. Sie hatte das Gefühl, der rote Ballon, der eben noch im Garten im Busch hing, würde jetzt in ihrem Kopf sitzen und wieder aufgeblasen; er wurde groß und größer. Sie sah noch, wie ihre Oma den Kopf durch die Tür steckte und erschrocken die Hand vor den Mund schlug. Dann zerplatzte der Ballon direkt hinter ihrer Stirn.

    »M ein Gott, mein Gott«, kam eine Stimme von weit her. »Kind, was hast du uns für einen Schreck eingejagt.«

    Josi stellte verwundert fest, sie lag jetzt auf dem Sofa. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit Wasser, in das Oma ein Tuch tauchte, es auswrang und ihr zum Kühlen auf die Stirn legte. »Du warst zu lange in der Sonne, mein Kleines, liebe Güte. Geht es dir besser? Komm, ich leg dir ein frisches Tuch auf.«

    Es plätscherte in der Schüssel, die Großmutter wrang das Tuch erneut aus und schob Josi die nassen Haare aus der Stirn.

    »Uns so in Angst zu versetzen«, wiederholte sie. »Da hockst du hinter dem Sofa und wir wissen es nicht. Nein, o nein, Kind.«

    Josi richtete sich mit einem Ruck auf und schob die fürsorgliche Hand beiseite. »Lass mich!«

    Etwas Schlimmes hatte sie gehört, doch Oma tat so, als wäre sie besorgt, weil sie zu lange in der Sonne gewesen war. Sie behandeln mich wie ein Baby, dachte Josi. Warum sagen die beiden nicht, was Frau Holst mir um Gottes Willen nicht erzählen soll? Diesen Quatsch, dass sie Stiefgroßeltern sind und Mama womöglich eine Stiefmutter. Es kann nur gelogen sein, kann nur gelogen sein!, beschwichtigte sie sich selbst und fing an zu zittern. Warum lacht Oma nicht, nimmt mich in den Arm, knuddelt mich und erklärt: »Wir haben nur Spaß gemacht.«

    Sie sah in das besorgte Gesicht der Großmutter und auf die fest zusammengepressten Lippen des Opas. Immer noch sagte keiner von ihnen ein Wort.

    »Ich will das nicht!«, schrie Josi, »Nimm das weg!« Sie riss sich das Tuch von der Stirn. »Ich will auch nicht, dass ihr weiter ›Josi‹ zu mir sagt. Ich bin kein Baby mehr. Ich heiße Josephine! Lasst mich in Ruhe. Es geht mir gut. Geht raus!«, schrie sie noch lauter, schlug die Decke zurück, die auf ihren Füßen lag und sprang auf. Statt des Ballons fuhren nun tausend Sterne vor ihren Augen Karussell. Erschrocken ließ sie sich wieder auf die Sofakante plumpsen.

    »Aber Liebes.« Großmutters Stimme klang verzweifelt. »So beruhige dich doch.«

    »Lass mich in Ruhe!« Josi rannte zur Tür, stieß sich den Ellbogen an der Türklinke, hastete mit schmerzverzerrtem Gesicht weiter in den Garten. Stürzte sich wieder auf die Schaukel, schwang sich mit aller Kraft in die Höhe, wollte das, was sie gerade gehört hatte, weit hinter sich lassen.

    Nur ein paar Sekunden hielt sie es auf der Schaukel aus, sprang wieder herunter, lief quer durch den Garten und starrte auf das Haus der Holsts nebenan. Die quietschenden Schaukelketten schienen jetzt noch höhnischer zu rufen: »Frau Holst weiß alles, weiß alles.«

    Weinend ließ sie sich ins Gras fallen. Was sollte sie jetzt tun? Mit Mama reden? Aber Oma hatte noch hinter ihr hergerufen: »Deiner Mama sagen wir am besten nichts. Wir wollen sie nicht beunruhigen.«

    2. Kapitel

    Frank Vomhoff zerrte an seiner Krawatte, nestelte sie unter dem Hemdkragen hervor, hielt sie eine Weile unschlüssig in der Hand und stopfte sie schließlich in die Tasche seines Jacketts. Dabei starrte er auf die Kränze auf dem frischen Grabhügel. Ein Würgen stieg ihm in die Kehle. Er meinte förmlich zu hören, wie die Erdbrocken auf den Sarg polterten, als die Gärtner das Grab zuschaufelten, obwohl er sich davor fluchtartig von der Trauergemeinde entfernt hatte. Er grub die Zähne in die geballte Faust und stöhnte: »Carola, was mache ich ohne dich?«

    Nie wieder würde er das Lachen seiner Frau hören, besonders ihr ausgelassenes Lachen, wenn sie mit den Kindern spielte.

    Mit aufeinandergepressten Kiefern, um nicht laut zu schreien »WARUM?«, war es gut eine Stunde zuvor eine Qual für ihn gewesen, mit gesenktem Kopf den ewig gleichen Ausspruch des Pfarrers zu hören: »Aus Erde sind wir genommen, zu Erde sollen wir wieder werden. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.«

    Beate, seine Schwägerin, hatte nach seinem Arm gegriffen, als sie merkte, wie er zitterte.

    »Komm«, sagte sie dann, um mit ihm zu der nach einer Beisetzung üblichen Kaffeetafel für die Trauergesellschaft in die nahe Gaststätte zu gehen.

    »Nein, lass mich los«, mit diesen Worten hatte er ihren Arm abgeschüttelt und sich schnellen Schrittes vom Grab entfernt, ohne auf ihr gerauntes »Wohin willst du denn?«, zu antworten. Ihm wäre unerträglich gewesen, dass

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