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Lebensgeister
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eBook300 Seiten4 Stunden

Lebensgeister

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Über dieses E-Book

Hannah versucht nach einer schweren Enttäuschung das Leben neu in den Griff zu bekommen. Sie wagt einen radikalen Schritt und begibt sich auf eine Reise ohne Rückfahrkarte. Alte und neue Gespenster lagern am Wegesrand und bewirken immer wieder überraschende Wendungen. Überaus sinnlich werden die Gerüche und der Lebensstil Neapels heraufbeschworen, die Eigenarten der Menschen und deren Gefühle. Ein mitreißender Roman über Weggehen und Ankommen, über Freundschaft, Liebe, Zweifel, über Verrat und Neapel. Eine Geschichte wie ein Espresso: stark, intensiv – und geht runter wie Öl.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum27. Nov. 2014
ISBN9783737510851
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    Buchvorschau

    Lebensgeister - Valerie Travaglini

    Impressum

    Lebensgeister

    Valerie Travaglini

    Copyright: © 2014 Valerie Travaglini

    Fotonachweis Titelbild: Waltraud Travaglini-Konzett

    Published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    ISBN 978-3-7375-1085-1

    danke

    Gert in Berlin, meinem begeisterten Erstleser

    Bernadette und Horst in Wien fürs Erstlektorat

    Mario, Yuri und Federica, für das gemeinsame durchforsten der Schauplätze in Neapel

    Patricia Hesselaar für das Endlektorat

    danke allen, die mein Leben mit ihrer Freundschaft, Unterstützung, Hilfe und Aufmunterung bereichern

    Elena-Maria, Samuel und Sandrina, Paul ind Jonah

    meine Lieben

    alles kann schlussendlich

    den Ausschlag geben

    eine Kleinigkeit

    eine Mittelmäßigkeit

    eine Lächerlichkeit

    eine Eindeutigkeit

    eine Zweideutigkeit

    eine Niederträchtigkeit

    eine Unmenschlichkeit

    eine Zweisamkeit

    Einsamkeit

    Inhalt

    Aufbruch

    Bekanntschaft

    Duft nach Patchouli

    Nacht in der Via Garibaldi

    Unterm Wäschehimmel

    Mysteriöser Zettel

    In sospeso

    Treppe im Inneren

    Neugierige Ungeduld

    Libreria Zaffarelli

    Salvos Rettung

    Sophie

    Verirrungen

    Das andere Gesicht

    Sophies Entscheidung

    Efeu im Kopf

    Kleiner Zwischenfall

    Unerwarteter Anruf

    Schmerzliche Erkenntnis

    Zwei Quadratmeter Traum

    Hausrat

    Prophezeiung

    Lebensbeichte

    Schatten der Vergangenheit

    Polizeibesuch

    Unter den Augen des Engels

    Vorahnung

    Feuer

    Banges Warten

    Genug von Ziegen und Schafen

    Lügengebäude

    Depression

    Signore Zaffarellis Buch

    Letzte Ruhe

    Wohltat

    Aufbruch

    Über den Buchrand hinweg sah sie die Landschaft vorbeiflitzen. Es gelang ihr nicht, sich zu konzentrieren und jede Seite erschien ihr wie eine Anhäufung sinnlos aneinander gereihter Buchstaben ohne jeglichen Zusammenhang. Ihre Gedanken schweiften beharrlich ab, in die zurückgelassene Vergangenheit und in die ungewisse Zukunft. Sie sah der Landschaft zu, wie sie sich veränderte. Die Architektur, die Vegetation. Sogar die Ortschaften hatten immer schöner klingende Namen, je weiter man nach Süden reiste. Sie tastete nach ihrer Fahrkarte. Ja! Es war alles da!

    Sie ließ die Berge hinter sich und sauste durch die Ebene, auf einen unverschämt weiten Horizont zu. Sie verglich ungewollt die Gegend mit der, in der sie groß geworden war und die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Ihr Dorf, eine Tausend-Seelen-Gemeinde, lag in einem Gebirgstal in der gnadenlosen Umklammerung schroffer Felswände, von denen ohne Unterlass Wasser stürzte. Grimmige Regenwolken entluden sich beim Aufprall an den Felsen, was bewirkte, dass es tagelang nicht mehr aufhörte zu regnen. Die ganzen Wintermonate hindurch gelang es keinem Sonnenstrahl, über die mächtigen Felsen ins Tal vorzudringen. Schneefelder bedeckten beharrlich die Gipfel der Berge, um bis in den Frühsommer hinein nicht mehr zu schmelzen. Zwischen den Tannen, die das Landschaftsbild der Gegend prägten, waren vereinzelt Holzhäuser sichtbar. Relikte aus der Vergangenheit, in der ausschließlich das bäuerliche Leben das Dasein bestimmte. Sie dachte sich immer, wenn sie diese Häuser sah, dass früher für die Menschen obwohl oder gerade weil der Tagesablauf nur von der Sorge beherrscht war, das Überleben der Familie und des Viehs zu sichern, das Leben noch einfacher gewesen sein müsste. Es blieb nicht viel Energie für die Dinge, die dem heutigen Menschen das Leben schwer machten. Das Zeitalter, in dem sich alle nur noch über das Haben definierten und das Sein vergaßen, war über die Menschheit hereingebrochen wie eine wütende Welle. Sie bildete auch keine Ausnahme, schlug sich täglich mit der Technik von Handys, Fernbedienungen und Notebooks herum, nervös und entnervt, wenn etwas nicht funktionierte. Man musste sich alle möglichen und unmöglichen Codes und Pins merken und kam in Schwierigkeiten, wenn man die Sozialversicherungsnummer in den Bankomaten eintippte oder einem beim Zahlen im Supermarkt der Code der Bankomatkarte gar nicht mehr einfiel. Selbst in der einzigen Bar im Dorf, in der sie gearbeitet hatte, gab es für alle Getränke eine Nummer. Aber nun hatte sie es geschafft. Sie würde ein neues Leben beginnen! Sie hatte es satt, mit pochenden Schläfen und geschwollenen Füßen um drei Uhr morgens nach Hause zu kommen. Immer dasselbe Ritual: auf ihre abgewetzte rote Couch fallen, sich die Füße massieren und jeden Tag daran denken, dass es gut wäre, ein Fußbad zu nehmen. Aber sie schaffte es nie. Stattdessen zählte sie ihr Trinkgeld in eine große, rosenverzierte Blechdose, die von ihrer Oma war. Das einzige Erinnerungsstück an sie, deren Kindheit von Armut geprägt war, die selbst ihr Leben lang von der Hand in den Mund gelebt hatte. Ihr Vermächtnis war ihr gutes Herz. Ihre Oma fand, während sie dement den Streuselkuchen mit einer dicken Gemüsesuppe verzierte, einen friedlichen Tod. Wie immer entledigte sich Hannah ihrer Arbeitsklamotten, eines schwarzen Rockes und einer weißen Bluse, streifte die Nylonstrümpfe ab und warf sie über die Schulter hinter sich in einen Winkel. Die Kleidung verströmte einen penetranten Geruch nach Rauch und Küche und musste jeden Tag gewechselt werden. Im stillen Schmerz der Nacht trank sie noch ein Bier. Oft kam sie erst nach Hause, wenn die Sonne bereits aufzugehen drohte. Beim Versuch, einzuschlafen, fühlte sie sich immer besonders einsam. Ausgeschlossen vom Leben, vom beginnenden Tag, sie fühlte sich verhöhnt von den hupenden Autos des Frühverkehrs.

    Hannah war Mieterin einer kleinen Dachwohnung in einem gutbürgerlichen Haus. Immer frisch gebohnerte Böden und ein geputztes Stiegenhaus, mit einem pompösen Holzbalkon, der im Sommer mit roten Geranien verziert war. Die Rechtschaffenheit manifestierte sich in jeder Ecke des Hauses. Die Vermieterin, eine einfache Frau, hatte ihren Rhythmus gefunden. Sie lüftete am Morgen, machte die Betten, staubte ab, putzte die Böden, erledigte den Einkauf und bereitete das Mittagessen für ihren zu Mittag heimkommenden Gatten zu, der im Sägewerk in der Nähe arbeitete. Der Nachmittag verlief beschaulich, die Küche wurde saubergemacht und dann setzte sie sich in den Garten, wo sie über ihrer Häkelarbeit einnickte. Ab und zu kam eine Nachbarin vorbei, um sich mit ihr über den neuesten Klatsch auszutauschen. Aber im Grunde waren sie beide gute Seelen und taten keiner Fliege etwas zu Leide. Der Klatsch hatte bei ihnen nichts Boshaftes, er war einfach Unterhaltung und Zeitvertreib, weil in ihrem eigenen Leben nichts passierte. Es gab schon immer Geschichtenerzähler. Menschen brauchten Geschichten.

    Hannah selbst bekam nicht oft Besuch. Mit ihrer Familie hatte sie wenig Kontakt, da sie bei ihrer vor zwei Jahren verstorbenen Oma aufgewachsen war. Ihre Eltern trennten sich, als sie noch klein war, und beide hatten auf Grund ihrer eigenen komplizierten Lebensverhältnisse nicht viel Zeit für sie. Aber sie war nichts anderes gewöhnt und hatte auch nur bei gewissen Anlässen darunter gelitten, wie etwa bei Schulveranstaltungen, wenn alle mit ihren Eltern mit stolz geschwellter Brust anrückten. Ansonsten hatte ihr ihre Oma alles gegeben, was sie brauchte. Sie schenkte ihr, dem einzigen Enkelkind, all ihre Zeit, ihre Liebe und Aufmerksamkeit. Bei ihren ersten Dummheiten schimpfte sie liebevoll, legte ihr beschämt und wortlos große dicke Binden aufs Bett, als sie ihre erste Menstruation bekam. Sie war die, die ihr, nachdem sie mit fünfzehn Jahren ihren ersten Vollrausch hatte, ein Hühnersüppchen kochte und meinte, es würde ihr guttun. Ihr Tod hinterließ in Hannah eine quälende Leere, die zu füllen ihr wahrscheinlich niemals gelingen würde.

    Ab und zu traf sie sich nach der Arbeit mit ihrer Freundin Sophie. Diese hatte einen Bürojob und die Gelegenheiten waren deshalb rar. Auch ihren damaligen Freund nahm sie nie mit in ihre Wohnung. Sie hatte das Gefühl, er würde nicht in die Welt dieses Mietshauses passen. Alle würden sich das Maul zerreißen, unverheiratet wie sie waren, schlampig gekleidet wie er war. Unsicher wie sie selbst war. Deshalb trafen sie sich immer bei ihm. Er wohnte in seinem Elternhaus im ausgebauten Keller, aber er hatte einen eigenen Eingang, was sie immer als sehr angenehm empfunden hatte. Er brachte die Geduld auf, auf sie zu warten, auch wenn dies hieß, dass er bis in die frühen Morgenstunden wach war. Zumindest am Anfang ihrer Beziehung. Sogar wenn er morgens zeitig aufstehen musste. In der ersten Zeit der Verliebtheit machte einem nichts etwas aus. Man hatte unvorstellbare Energien und brauchte keinen Schlaf, um fit zu sein. Jeder Song im Radio klang, als wäre er nur für einen geschrieben und man wachte am Morgen mit einem Lächeln auf den Lippen auf. Man würde jedes erdenkliche Opfer auf sich nehmen, um die geliebte Person zu sehen, man würde ohne Schuhe zum Nordpol eilen. Aber wie bereits gesagt: es handelte sich nur um die erste Zeit. Nach der ersten kam zwangsläufig die zweite, in der es einem zu weit war, mit den bequemsten Schuhen einen Kilometer zurückzulegen. Wenn das Auto nicht ansprang, war es eben nicht möglich, zu kommen. Und wenn einem in der langen Wartezeit jemand über die Einsamkeit der Nacht hinwegtröstete … was sollte man machen? Sie hatte Alex, ihren Freund, mit eigenen Augen gesehen. Er konnte wieder einmal nicht kommen und Gott sei Dank hatte ihr Sophie versprochen, im Gasthaus »Hirschen« auf sie zu warten. Der »Hirschen« war – abgesehen von der Bar, in der sie selbst arbeitete, das einzige Lokal im Dorf. Man konnte nicht groß um die Häuser ziehen, doch das war ihnen egal. Sie wollten nur gemütlich etwas trinken und quatschen. Das Motiv für die langen Öffnungszeiten des »Hirschen« war die Spielleidenschaft des Wirts, der bis in die Morgenstunden die Karten nicht aus der Hand legte und nebenbei ein paar Bier verkaufte.

    Sie freute sich aufrichtig, Sophie zu sehen, und nicht nur, weil diese als Lückenbüßerin für ihren Freund bereitstand. Schon lange hatten sie sich nicht mehr gesehen und so ausgiebig gequatscht wie früher. Sophie setzte gerade an, über ihren Job zu schimpfen, als Hannah sich an ihrem Bier verschluckte und es über den Tisch hinweg wieder ausprustete, bevor es sich in die Luftröhre verirren konnte. Hannah schnappte nach Luft und sah ihren Freund am Fenster vorbeischlendern, den Arm vertraut um die Schultern einer unsympathischen Schönheit gelegt, die mit unglaublich hohen Schuhen neben ihm her stöckelte.

    Ach, das war der Grund, warum er morgens früh raus musste! Dieses Schwein! Szenen ihrer vieljährigen Beziehung schossen ihr durch den Kopf. Die Küsschen, die er ihr gab, waren nur mehr flüchtig auf die Wange, immer in Eile! Er schlief auch des Öfteren neben ihr ein, ohne irgendwelche Lust nach ihr zu verspüren. Er war müde! Müde! Und sie lag noch lange neben ihm wach und dachte: »Es gab auch Zeiten, in denen er unermüdlich war!« Das Schweigen war in ihre Beziehung eingedrungen wie die feuchte Kälte durch die Ritzen ihres schlecht isolierten Hauses und hatte sich dumpf und lautlos zwischen ihnen ausgebreitet. Was war noch zu bereden, man wusste ja alles voneinander! Was blieb nach so langer Zeit, über das man noch reden oder gar lachen konnte? Ihre Beziehung war zu einem Museum geworden, das von schönen, antiken Stücken lebte, von fein säuberlich angehäuften Erinnerungen bevölkert. Hannah war sich dessen schon lange bewusst, aber dass er so weit gehen würde, sie einfach auszutauschen! Nach all den Jahren und all dem was sie gemeinsam erlebt hatten! War es die Sprachlosigkeit, die ihre Beziehung vergiftet hatte? Die Gewohnheit? Sie hegte allerdings den wahrscheinlich nicht unberechtigten Verdacht, dass es weit trivialere Beweggründe gab, die ihn dazu bewogen hatten! Und die waren: wasserstoffblondes Haar und hohe Schuhe!

    Schmerz durchzuckte sie abwechselnd mit Wutausbrüchen, die Sophie mit Sprüchen wie: »Du weißt ja, wie Männer sind«, zu mäßigen versuchte. Niemand am Stammtisch nahm Notiz von ihnen, sie waren alle zu konzentriert auf ihren Karten.

    Die Verletzung steckte in ihr wie ein Angelhaken im Rachen eines noch zappelnden Fisches. Sie hasste ihn und hätte ihn am liebsten umgebracht. Oder besser noch diesem Biest mit den Stöckelschuhen ihr lächerliches Täschchen um die Ohren gehauen. Hannah selbst trug immer dasselbe Paar Turnschuhe. Nur bei der Arbeit zwängte sie ihre geschundenen Füße in schwarze Ballerinas zu ihrer Kellnerinnen-Kluft passend. Warum hatte sie nicht gemerkt, dass er auf Eleganz stand? Aber was hätte es geändert? Sie würde sicher nicht in Stöckelschuhen durch die Gegend staksen. Sophie versuchte ihr Bestes, ihre Freundin zu beruhigen, aber es gelang ihr nicht. Als der Wirt gegen fünf Uhr morgens seinem Hobby genug gefrönt und die Bude dichtgemacht hatte, trollte sie sich wie ferngesteuert nach Hause. »Er ist es nicht wert!«, hörte sie noch Sophies Stimme, während diese um die Ecke verschwand.

    In einer seltsam grauen Stimmung zwischen Nacht und Einbruch des Tages, sah sie, wie das unschuldige Dorf langsam zum Leben erwachte. Auch Hannah schaltete in automatischer Gewohnheit das Licht ein, setzte sich aufs Bett und starrte zum Fenster. Nicht vorstellbar, dass noch zu Mittag rosa Wolken über den Häuser schwebten. Der Bäcker fuhr seine Runde und die zwei Hunde des Nachbars begrüßten den Tag mit einem ausgiebigen Gekläffe, was ihren Kater Carlo dazu bewog, im tagtäglichen Schrecken darüber die Vorhänge hinauf zu springen. Es gibt Dinge, an die gewöhnt man sich nie! Im selben Moment, an diesem besagten Morgen, brannte die Glühbirne über ihrem Küchentisch durch. Sie bäumte sich ein letztes Mal mit einem kurzen Aufblitzen auf, bevor sie erstarb. Hannah saß still im dämmrigen Licht und konnte alle Umrisse der Gegenstände deutlich erkennen. Sie sah sich sitzen, von den Schatten ihres Lebens umgeben und das war der Punkt, an dem sie beschloss, dass sie hier nichts mehr hielt. Sie hatte keine Zeit, um zu warten, bis die Zeit alle Wunden heilen würde.

    Bekanntschaft

    Sie verfolgte ihren Freund die nächsten Tage noch mit Verwünschungen, Träumen, SMS und sonstigen Mitteln der modernen Technik, er aber ließ sich nicht beeindrucken und ließ sie fallen wie eine heiße Kartoffel. Sie wollte ihn nicht zurück. Nein! Sie wollte Rache! In dieser Zeit begann sie, sich mit Voodoo zu befassen. Mit Hilfe eines Buches, in dem die Praktiken beschrieben waren, steckte sie Nadeln in das Foto ihres Freundes. Sie verteilte sie sorgfältig: Eine in sein Herz, eine in die Stirn und eine in sein »Bestes Stück«. Sie verspürte unbändige Lust auf Grausamkeit. Da sie eigentlich nicht der Typ dafür war, nahm sie von weiteren tätlichen Angriffen Abstand und so verblieben weitere Grausamkeiten in ihrem Kopf und brachten ihr Herz aus dem Rhythmus. Sie hatte ihre Lebensmitte erreicht, oder schon überschritten, jagte es mit Schrecken durch ihren Kopf, es wurden nicht einmal alle achtzig! Sie fragte sich, ob ihre Entscheidung und ihr momentaner Gefühlszustand mit der berüchtigten Midlifecrisis in Zusammenhang standen. Aber was auch immer ihr Zustand für einen Namen tragen sollte, sie wollte ihre zweite Lebenshälfte in einer Gegend verbringen, von der sie immer träumte. Sie hatte die Schnauze endgültig voll!

    Sie stellte sich einen weiten Horizont vor, sanfte Hügel, Zypressen, vereinzelt Steinhäuser … Sonne, Wärme. Statt dem Getöse des Wildbaches, das einen um den Schlaf brachte das Meer! Das war ein anderes Rauschen! Statt der Bar einen ruhigen Job. Sie war auf nichts Spezielles fixiert, vielleicht am Wochenende frei … weniger Stress wäre so eine Sache … Ja! Sie würde abhauen! Außer Sophie und Carlo würde sie sowieso niemand vermissen.

    Sie kündigte ihren Job und hielt noch tapfer die Kündigungsfrist durch. Sie absolvierte all die Dinge, die zu bewältigen waren und brachte als letzte Amtshandlung Carlo in ein Tierheim, was das einzige war, das ihr emotional zu schaffen machte.

    So sinnierte sie vor sich hin, als sie es sich, so gut es ging, auf dem hart gepolsterten, grünen Sessel ihres Zugabteils bequem gemacht hatte und ihr auf Grund der Strapazen der letzten Wochen die Augen zufielen. Die Zelte abzubrechen bereitete ihr einen unerwarteten Stress.

    Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als ein dumpfer Knall sie aus dem Schlaf riss. Der Rucksack ihres jugendlichen Mitreisenden war aus dem Gepäckshalter, ihren Kopf nur knapp verfehlend, vor ihren Füßen zu Boden geknallt. Der Zug kam mit einem ungemütlichen Rumpeln zum Stillstand. So unsanft aus dem Schlaf gerissen, schrie sie reflexartig ihren Sitznachbarn an:

    »He, bist du wahnsinnig! Willst du mich erschlagen?!«

    Ihre Nerven lagen blank. Er entschuldigte sich in einem breiten Tiroler Dialekt:

    »Es tut mir wahnsinnig leid, aber es ist nicht meine Schuld, wenn der depperte Zug da ohne Vorwarnung hält! Ich bin selbst auch erschrocken, Mann!« Sofort beruhigte sie sich aufgrund der netten, gewinnenden Art des Typs und entschuldigte sich, dass sie ihn angefahren hatte wie eine Furie.

    »Das passt schon …« grinste dieser locker. Obwohl sie ursprünglich keine Lust auf Höflichkeitskonversation im Zug hatte, entwickelte sich ein Gespräch.

    Sie musterte ihn verstohlen und stellte fest, dass er sympathisch war. Er gefiel ihr sogar außerordentlich gut! Seine Haare fielen ihm lockig und pechschwarz auf die Schultern. Sein Gesicht war länglich und die gebogene Nase einen Gedanken zu lang. Irgendwie erinnerte er sie an einen Südamerikaner. Er erzählte ihr, er käme aus Lana, einem kleinen Ort im Südtirol, was »Wolle« bedeutete und seine Augen blitzten dunkel und schelmisch. Er sei zweisprachig aufgewachsen, italienisch und deutsch, und seine Mutter käme aus Chile, was seinem Aussehen diesen unverkennbaren lateinamerikanischen Touch verlieh und er bemerkte, dass er es bedauere, ihre Sprache nie gelernt zu haben. Er studiere in Bologna Kartographie und Geoinformation, berichtete er stolz, ohne danach gefragt geworden zu sein.

    »Wie kommt man auf so was?«, fragte sie überrascht und etwas zu laut.

    »Ich war immer schon verrückt nach Landkarten«, legte er los. »Der Atlas war mein Lieblingsbuch. Er lag immer auf dem Tisch. Ich studierte ihn zum Frühstück und las in ihm, wie andere sich ein Buch zur Hand nehmen. Mich interessierte sowohl, dass es auf der Hochebene im Westen Boliviens einen See gibt mit dem Namen Titicacasee als auch, dass es ein Frankfurt nicht nur am Main gibt, sondern auch eins an der Oder!« Er erzählte von einem Ort in Russland, der den Namen Ulan-Ude trägt und in der Republik Burjatien zu finden ist. Er wusste auch, dass es im Burgenland ein Spitzzicken an der Pinka gibt und in den Kanadischen Rockies ein Bonnyville. In Malaysia ein Kuala Tahan und auf Sizilien ein Cefalù. Er redete sich in eine solche Begeisterung, dass er kein Ende mehr fand.

    »Und was machst denn du so im Leben?« Die Frage traf sie unvorbereitet Sie fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Ja, was eigentlich? Sie konnte ihm unmöglich auf die Nase binden, dass sie kein konkretes Ziel hatte. Sie hatte weder vor, zu studieren, noch hatte sie Arbeit in Aussicht. Sie hatte auch keine Verwandten vorzuweisen, die sie besuchen konnte. Es kam ihr verwegen vor, ihm von ihrem Kellnerinnen-Dasein zu berichten. Sie konnte ihm auch nicht sagen, dass sie ein neues Leben beginnen wollte! Wie kitschig und klischeehaft! Er würde sie für verrückt erklären, wie alle anderen auch, denen sie es gezwungenermaßen erzählen musste. Sie war sich bis zu diesem Augenblick vollkommen sicher. Und jetzt, wahrscheinlich vom klaren Lebensplan dieses Jugendlichen und von dessen sprühender Lebenslust, die sich nach Ablauf der Jugend verflüchtigte wie der Rauch einer ausdampfenden Zigarette, verunsichert, überfielen sie Selbstzweifel, wie schon so oft in ihrem Leben, und sie war sich nicht mehr im Klaren, ob es richtig war, was sie tat. Sie begann, sich in Gedanken gut zuzureden: »Musste man denn alles schon im Vorhinein wissen und planen? Wo blieb das Abenteuer? Wo das Adrenalin? Das Leben war zu kurz!« Genervt presste sie die Nase an die Scheibe, um sich ein Bild der Situation zu verschaffen. Fast hätte sie vergessen, was eigentlich geschehen war.

    »Was ist hier eigentlich los?«, fragte sie halblaut. »Warum halten wir hier mitten in der Pampa?« Ihr Mitreisender zuckte mit den Schultern, ohne eine Antwort zu geben, und schaute beleidigt zum Fenster hinaus.

    Hannah bot sich ein Blick auf eine Landschaft, die an Schönheit schwer zu überbieten war. Einsam lag ein schon teilweise verfallener Hof aus Stein erbaut in einer weiten Ebene. Er schien nicht mehr bewohnt zu sein, es waren keine Anzeichen von Leben mehr zu erkennen. Vereinzelte Spuren wiesen darauf hin, dass hier einmal Menschen gelebt hatten. Ein Fahrrad lehnte, traurig vor sich hin rostend, an der Hausmauer und ein roter Traktor, von Brombeerstauden überwuchert und ebenfalls dem Rost zum Opfer gefallen, zeugte von der ehemaligen Bewirtschaftung dieser Felder, die nun brachlagen. Weit und breit kein weiteres Haus. Zum Hof führte ein Kiesweg gesäumt von Zypressen, die sich wie Zinnsoldaten am Rand reihten.

    Als sie sich von dem überwältigenden Eindruck erholt hatte, den ihr dieser Anblick bereitete, schoss ihr jäh die Frage nach dem Grund ihres abrupten Anhaltens wieder in den Kopf. Warum hielten sie hier? Wo waren sie überhaupt und was war passiert? Hoffentlich hatte der Zug keinen technischen Schaden und sie mussten hier Stunden verharren, bis der Schaden behoben wurde! So würde sie in Bologna jedenfalls ihren Anschluss verpassen. Auch die anderen Reisenden blickten sich fragend an und es brach ein wirres Geschnatter aus. Die meisten im Zug waren Italiener. Arbeiter, die in ihre Heimat zurückkehrten, um ihren Urlaub dort zu verbringen. Elegant gekleidete Italienerinnen mit glühenden Augen und schwarzem Haar, Familien mit kleinen Kindern. Darunter auch zwei junge, japanische Mädchen mit peinlich kurzen Röcken, riesengroßen Rucksäcken und einer Plastikblume im Haar. Um den Hals den obligatorischen Fotoapparat und eine Landkarte von Süditalien. Eine deutsche Familie, unklassisch mit dem Zug unterwegs, reiste mit zwei Kindern im Teenageralter. Sie trugen Sandalen und Kleider, die sie in ihre eigene Hippie-Phase zurückversetzten. Hannah war damals auch in Zügen unterwegs gewesen, teilweise sogar ohne Schuhe, was jetzt unvorstellbar wäre! Komisch, dass sie früher nie an Fußpilz gedacht hatte! Es tat gut, dass manche Leute ihr Leben lang an ihren Idealen festhielten!

    Je mehr Zeit verging, umso nervöser wurden die Reisenden. Eine drückende Schwüle herrschte im Zug, die Menschen hatten schweißglänzende Gesichter, die an mit Speckschwarte polierte Ostereier erinnerten, und ein penetranter Schweißgeruch verbreitete sich. Die Klimaanlage funktionierte nicht mehr und das Geplapper der Leute schwoll zu einem Lärm an, der hart an die Grenze des Erträglichen ging. Der herrschende Tumult wurde von drei Polizisten durchbrochen, die steif und autoritär mit Pistolen am Gürtel ihr Abteil betraten. Sie trugen alle die Haare kurz und eine dunkle Sonnenbrille auf der Stirn. Mit ihren dunklen Augen schauten sie die Reisenden forschend und streng an. Uniformierte lösten in ihr immer ein undefinierbares Unbehagen aus. Reflexartig ging sie im Kopf durch, ob sie auch alles dabei hatte. Den Pass, die Fahrkarte … alles da! Keine Drogen im Gepäck. Sie war sauber und ihr konnte nichts passieren. Hilfesuchend schaute sie ihren Nachbarn an, der schon lange schweigend dasaß und sein Beleidigt-Sein überwunden und akzeptiert hatte, dass sie nicht über sich reden wollte.

    Die Polizisten redeten in einem Schwall auf sie ein und Hannah verstand kein Wort, da sie außer schnell auch noch in einem Dialekt redeten, in dem man nur mit viel Phantasie italienische Wörter wieder erkennen konnte. Ihr Nachbar gab vor, alles zu verstehen und bestätigte ihre Vermutung, dass sie jemanden suchten, aber auch ihm war unklar, um wen es sich handelte. Eingeschüchtert zeigten alle im Abteil ihren Pass und niemand wagte es, eine

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