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Noch ein Leben
Noch ein Leben
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eBook509 Seiten8 Stunden

Noch ein Leben

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Über dieses E-Book

Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes fällt Hanna in ein tiefes Loch. Ihre zehnjährige Enkelin Lisa möchte sie da wieder herausholen und beschließt, in den nächsten Ferien eine Woche alleine zu ihr zu fahren, um sie aufzumuntern. Dann könnten ihre Eltern auch endlich mal wieder zu zweit wegfahren, anstatt sich immer nur zu streiten. Annabel - Lisas Mutter - gefällt der Plan. Doch dann kommt alles ganz anders. Und spätestens als Lisa auch noch ein altes Tagebuch ihrer Omi findet und unerlaubt liest, gerät Lisas, Annabels und Hannas "alte heile Welt" komplett aus den Fugen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Nov. 2018
ISBN9783742716552
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    Buchvorschau

    Noch ein Leben - Antje Aubert

    Noch ein Leben

    1. Teil

    1

    „Eines Tages wird er sie wieder sehen wollen. Dann wird er sich auf die Suche machen nach Ihnen. Egal, wo Sie dann sind. Er wird alles daran setzen, Sie zu finden. Das wird vielleicht in einem Jahr sein, vielleicht erst in fünf oder zehn oder sogar zwanzig Jahren. Aber er wird versuchen, Sie wiederzufinden. Da bin ich mir sicher. So gut kenne ich meinen Sohn, dass ich Ihnen das mit 100%iger Gewissheit sagen kann... Das Mädchen sah den Mann mit großen, hoffnungsvollen Augen an. Sie wollte ihm einfach glauben. Sie wollte diesen kleinen, aber im Moment so wichtigen Hoffnungsschimmer behalten dürfen. Ihr Blick schweifte an ihm vorbei in weite Ferne: fünf Jahre, zehn, fünfzehn... Die Wand, in die sie starrte, fing an, vor ihren Augen zu verschwimmen und langsam aber sicher drehte sich alles um sie herum. Sie nahm nichts mehr wahr, hörte nur noch immer und immer wieder: „Er wird sie wiederfinden. Er wird sie wiederfinden. Er wird sie wiederfinden. Er wird sie...

    Sie zuckte zusammen und war plötzlich hellwach. Ihr Herz klopfte wie wahnsinnig und sie wusste, dass sich bald ein ziehender Schmerz dazu gesellen würde, wenn sie sich nicht schnell beruhigen würde. Wie immer, wenn sie Angst hatte, wanderte ihre Hand automatisch nach rechts, auf seine Seite. Ein leichter Händedruck von ihm hatte immer genügt, um sofort all ihre bösen Gedanken zu verjagen. Sie tastete sich langsam immer weiter, doch ihre Hand glitt ins Leere und sie wurde sich wieder einmal schmerzhaft bewusst, dass er nicht mehr da war.

    Er war nicht mehr da und würde es nie wieder sein. Seit jenem Morgen, an dem er plötzlich einen Herzinfarkt bekommen und die Kontrolle über sein Auto verloren hatte. Einfach so, keine fünf Minuten von ihr weg. Einfach so, aus heiterem Himmel. Ohne Vorwarnung. Man hatte ihn ihr einfach weggenommen. Und auch wenn sie sich immer und immer wieder einredete, dass es so sein musste, dass seine Zeit gekommen war, dass er wenigstens nicht lange hatte leiden müssen, trotz alle dem schaffte sie es nicht, auch nur einmal an diesen Tag zurückzudenken, ohne dass ihr die Tränen in die Augen schossen.

    Auch jetzt fuhr sie sich wieder verstohlen mit dem Handrücken übers Gesicht und stieß einen großen Stossseufzer aus. „Ich schaffe es einfach nicht ohne dich. Du fehlst mir so sehr..." murmelte sie. Und ihr Blick wanderte hilflos von einer Ecke des Zimmers in die andere. Alles hier erinnerte an ihn. Jede Kleinigkeit, jeder Winkel. Einfach alles. Es wurde ihr mit jedem Tag schmerzlicher bewusst, wie sehr er ihr fehlte, wie sehr sie ihn geliebt hatte!

    Jeden Abend schlief sie ein mit der Hoffnung, nicht mehr aufzuwachen und ihn für immer wiederzufinden, dort, wo er jetzt war. Und jeden Morgen wachte sie mit derselben Enttäuschung auf: sie war da, aber er war es nicht mehr. Sie war allein. Ohne seinen Halt, den er ihr 30 Jahre lang gegeben hatte.

    Sie stand auf und ging ins Bad, wusch sich, zog sich an, ging in die Küche und machte sich ein Frühstück, dass sie lustlos herunterschluckte, um etwas im Magen zu haben. Sie dachte an den Traum zurück, der sie heute so unsanft geweckt hatte. Seit seinem Tod war sie oft unsanft aufgewacht aus Alpträumen, in denen sie ihn immer und immer wieder vor sich sah, wie er ihr ein letztes Mal zulächelte, bevor er um die Ecke verschwand und nie wieder zurück kam. Am Anfang hatte sie diese Alpträume fast täglich gehabt, in letzter Zeit ein wenig seltener, aber immer noch mit derselben Intensität, demselben Schmerz, der so tief in sie eindrang, das sie glaubte, man würde ihr eine Nadel durchs Herz jagen.

    Doch der Traum von heute Nacht war neu. Er hatte nichts mit ihm zu tun. Er war wie aus einem anderen Leben. Und doch war es ihr Traum. Sie war das junge Mädchen in dem Traum. Da war sie sich ganz sicher. Aber sie verstand den Zusammenhang nicht. Das Bild kam ihr merkwürdig vertraut, bekannt vor, aber sie konnte es im Moment noch nicht einordnen. Alles, was sie wusste, war, dass sie am Ende des Traums Angst verspürt hatte. Dass sie das Versprechen, das dem jungen Mädchen hatte Hoffnung machen sollen, vielmehr als Bedrohung empfunden hatte.

    Sie schüttelte den Kopf. Alles Unsinn. Sicher hatte ihr da einfach nur ihr Unterbewusstsein einen Streich gespielt und den ganzen Mist, den sie den ganzen Tag lang im Fernsehen sah und in den Zeitungen las, in einen zusammenhanglosen Traum gepackt. Kein Wunder! Um nicht ständig an seinen Tod zu denken und über die Sinnlosigkeit ihres Lebens ohne ihn zu grübeln, versuchte sie sich so gut wie möglich abzulenken. Und so starrte sie stundenlang ins Fernsehen oder las irgendwelche Klatschblätter, die sie auf dem Weg zurück vom Bäcker kaufte.

    Sie war erst seit kurzem in Rente. Hatte also den ganzen Tag Zeit, Dinge zu tun, zu denen sie jetzt, da er nicht mehr da war, gar keine Lust mehr hatte. Auch er hätte dieses Jahr aufgehört zu arbeiten. Was hätten sie alles gemeinsam machen können! Wie viele Pläne hatten sie schon geschmiedet für die Zeit „danach". Sie waren doch noch jung! Anfang sechzig, das war doch kein Alter! Und gesundheitlich hatten sie beide nie Probleme gehabt. Schwächen hier und da, die das Leben eben so mit sich brachte. Aber ansonsten waren sie rundum gesund, in den besten Jahren, wie man so schön sagte...

    Bis zu jenem Morgen vor einem Jahr... Ein Jahr. So lange war das jetzt schon her. Ihr kam es vor, als sei es erst gestern gewesen. Und es tat immer noch so weh, als sei es erst gestern gewesen. Der Schmerz wollte einfach nicht nachlassen. Die tiefe Wunde, die dieser Verlust in sie eingerissen hatte, wollte einfach nicht verheilen. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie auch gar nicht, dass sie verheilte. Sie wollte kein Leben ohne ihn, sie wollte nicht neu anfangen müssen! Sie fühlte sich einfach nicht stark genug dafür, hatte nicht die nötig Kraft dazu! Und so ließ sie sich immer mehr gehen. Verschloss sich gegenüber den anderen. All denen, die versuchten, sie wieder aufzupäppeln. Sie herauszuholen aus dieser tiefen Trauer, der sie sich völlig hingab in der Hoffnung, bald für immer bei ihm sein zu können.

    2

    „Ich will nicht, dass Omi stirbt! sagte Lisa mit Tränen in den Augen. Erstaunt drehte sich ihre Mutter zu ihr um: „Aber Mäuschen, warum sollte Omi denn sterben? „Weil sie Opa so vermisst und nicht ohne ihn sein will! Lisa versuchte vergeblich den Kloß herunterzuschlucken, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. Sie wollte nicht losheulen, aber sie fühlte sich so hilflos. Ihre Mutter versuchte sie zu beruhigen: „Aber Omi geht es gut. Sie ist völlig gesund. Natürlich ist sie traurig, weil Opa gestorben ist, aber das wird sich mit der Zeit geben. Du wirst sehen, mit jedem Tag, der vergeht, wird es ihr ein bisschen besser gehen und dann wird sie auch wieder fröhlich sein können und mit uns lachen, so wie vorher, als Opa noch da war. Lisa sah ihre Mutter mit großen Augen an und runzelte die Stirn. „Ich finde nicht, dass es ihr jedes Mal ein bisschen besser geht, wenn wir sie am Telefon haben. Im Gegenteil, sie hört sich immer trauriger an."

    Wie gerne hätte Lisas Mutter ihrer Tochter etwas entgegen gehalten. Aber unbewusst musste sie ihr recht geben. Ihr kleines Mädchen von gerade mal zehn Jahren sprach das aus, was ihr selbst seit einigen Wochen immer schwerer auf dem Herzen lag: Ihrer Mutter, Lisas Omi, ging es nicht gut. Natürlich war die erste Zeit nach dem plötzlichen Tod eines geliebten Menschen schwer. Sehr schwer. Sie selbst vermisste ihren Vater mehr als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Aber in den letzten Wochen hatte sie das Gefühl, dass ihre Mutter erst gar nicht mehr versuchte, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Lisa hatte recht: „Omi" war auf dem besten Wege, ihren Lebenswillen völlig zu verlieren. Und wenn sie sich weiter so gehen lassen würde, würde es nicht lange dauern, bis auch sie nicht mehr unter ihnen wäre. Solche Geschichten waren nicht selten. Dass Partner, die ihr ganzes Leben gemeinsam verbracht hatten, sich nach dem Tod des anderen aufgaben und kurz darauf selbst starben, weil sie ohne den anderen im wahrsten Sinne des Wortes nicht leben konnten.

    „Und wenn wir Omi einen neuen Mann finden? schlug Lisa plötzlich in ihrer ganzen kindlichen Unschuld vor. Ihre Mutter konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Das ist nicht witzig! empörte sich Lisa, um ihrer Verzweiflung Luft zu machen. „Natürlich nicht, Mäuschen. Ich habe auch nur gelächelt, weil ich das total süß von dir finde, wie du dich um Omi sorgst. Und du hast recht. Wir sollten etwas unternehmen. Die ganzen letzten Versuche, sie ein wenig rauszuholen, hat sie zwar vehement von sich gewiesen. Aber mit vereinten Kräften kriegen wir das schon hin! Gleich heute Abend reden wir noch mal mit Papi drüber, ok?" Lisa nickte begeistert und drückte ihrer Mutter einen dicken Kuss auf die Wange.

    3

    Sie hatte gerade die Augen ein wenig zu gemacht, als es an der Tür klingelte. Sicher war das wieder ihre Nachbarin von gegenüber. In all den Jahren, die sie jetzt schon hier wohnten, hatte sich eine herzliche Freundschaft entwickelt. Sie hatten ungefähr dasselbe Alter und auch die beiden Männer hatten sich immer sehr gut verstanden. Doch seit dem Tod ihres Mannes hatte sich das Verhältnis verschlechtert. „Natürlich war das ihre Schuld. Am Anfang war es dieses unterschwellige Mitleid, das sie einfach nicht ertrug, auch wenn sie selbst nicht anders reagiert hätte. Sie hatte tausend Ausreden erfunden, um nicht ständig immer und immer wieder von allen Seiten dieselbe Litanei zu hören: „Meine Güte, so ein Schock! Dabei war er doch noch so jung, so voller Leben! Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie es dir jetzt geht. Aber du bist nicht allein. Wir sind jederzeit für dich da, wenn du was brauchst. Das weißt du, oder? Natürlich wusste sie das. Aber sie wollte es nicht. Sie wollte die Hilfe der anderen nicht. Ihr ganzes Leben lang hatte sie keine Hilfe gewollt. Sie hatte sich immer alleine durchgeschlagen, immer versucht, alles selbst zu machen. Nur sehr selten, wenn es wirklich nicht anders ging, hatte sie akzeptiert, dass jemand von der Familie oder sehr gute Freunde ihr unter die Arme griffen. Aber das waren wirklich Ausnahmesituationen. Und genau so handhabte sie es auch jetzt. Sie wollte das Mitleid der anderen nicht.

    Und schon gar nicht deren gutes Zureden. Denn seit ein paar Wochen war das Mitleid ihrer Familie und auch ihrer Freunde und Nachbarn umgeschlagen in Aufmunterungsversuche. Als ob die Zeit, die man ihr zugestanden hatte, um traurig zu sein und den Schock zu verdauen, nun plötzlich abgelaufen sei. Die anderen hatten einfach so bestimmt, dass die Zeit der Trauer nun vorbei war und sie wieder dort weiterzumachen hatte, wo sie an jenem schrecklichen Tag aufgehört hatte. Sie sollte einfach genauso weitermachen wie vorher nur ohne ihn. Und deshalb überhäuften sie sie mit den tollsten Vorschlägen, die ihr dabei helfen sollten, auf andere Gedanken zu kommen und zurück in ein normales Leben zu finden. Keiner konnte oder wollte verstehen, dass sie noch nicht so weit war, es vielleicht nie sein würde. Keiner hatte Verständnis dafür, dass für sie ein Leben ohne ihn einfach nicht vorstellbar war. Sie hatte sich zu sehr an sein Dasein gewöhnt. Sie waren dreißig Jahre lang immer nur zu zweit gewesen. Alleine machte das Leben für sie keinen Sinn mehr, auch wenn alle ihr immer wieder zu bekräftigen versuchten, dass sie doch gar nicht alleine war. Dass sie ihre Tochter hatte. Ihre Enkeltochter. Und natürlich ihre Freunde und Nachbarn. Ja, so gesehen war sie wirklich nicht alleine. Aber die Einsamkeit, die sie tief in ihrem Inneren spürte, seitdem er nicht mehr da war, diese Einsamkeit konnte keiner nachvollziehen und verstehen. Und diese Einsamkeit konnte sie einfach nicht vergessen, und sie wollte es auch gar nicht. Er war ihr Leben gewesen. Und ihr Leben hatte in der Minute aufgehört, als sein Herz aufgehört hatte zu schlagen...

    Es klingelte mittlerweile schon zum dritten Mal und sie hörte die Stimme ihrer Nachbarin durch die Tür: „Hanna, mach auf. Ich weiß, dass du da bist!" Mühsam quälte sie sich aus ihrem Sessel. Sie hatte ja doch keine andere Wahl. Wenn sie nicht aufmachen würde, würde früher oder später ein Polizeiaufgebot oder ein Krankenwagen vor der Tür stehen, weil man davon ausging, dass ihr – gewollt oder ungewollt – etwas Schlimmes zugestoßen sei.

    Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und verzog diese zwei- bis dreimal nach oben und unten. Dann setzte sie ihr schönstes Lächeln auf und öffnete die Tür: „Hallo Chris. Was soll denn das Tohuwabohu? Alte Frau ist doch kein D-Zug! „Ja, ja. grummelte Chris. „Und gleich erzählst du mir wieder, dass du nur kurz eingenickt bist etc. pp. Nimm’s mir nicht übel, aber du könntest dir langsam auch mal was Originelleres einfallen lassen! „Oh, Madame sind heute schlecht gelaunt! versuchte sie zu schäkern und sah dabei Chris’ wütenden Gesichtsausdruck nicht, weil sie schon seit Monaten niemanden mehr direkt ansah aus Angst, dass man in ihren Augen all das lesen konnte, was sie mit ihren Worten so schwerlich zu vertuschen versuchte.

    Doch Chris ließ sich heute nicht so leicht einwickeln. „Schlecht gelaunt ist gar kein Ausdruck! fuhr sie Hanna an. „Ich bin nämlich stinksauer! „So, auf wen denn? „Da fragst du noch? Na, auf dich natürlich! Weil du dich immer noch so hängen lässt! Und weil du alle meine Angebote, ein wenig auf andere Gedanken zu kommen, einfach so ausschlägst und dich hier vergräbst und in Selbstmitleid versinkst! Und das Schlimmste ist, dass du mir jedes Mal dein strahlendstes Lächeln aufsetzt und so tust, als wäre alles beim Besten, obwohl man 10 Meter gegen den Wind sieht, dass gar nichts beim Besten ist, rein gar nichts! Wow, das saß!

    Hanna hatte alle Mühe, ihr so schön einstudiertes Lächeln beizubehalten, ja sogar noch zu verstärken, um Chris’ Worte Lügen zu strafen. Denn sie wusste: wenn sie auch nur die geringste Schwäche zeigen würde, wäre es aus mit ihrer Ruhe, die sie sich so mühsam in den letzten Monaten erarbeitet hatte. Dann würde ihr keiner mehr abnehmen, was sie immer und immer wieder brav vor sich her betete: „Macht euch keine Sorgen. Mir geht es wirklich gut. Ich melde mich schon, wenn ich was brauche. Es tut gut zu wissen, dass ihr euch um mich sorgt, aber ich komme sehr gut alleine zu Recht..." Mit diesen paar Sätzen hatte sie erfolgreich die Distanz geschaffen, die sie im Moment einfach brauchte. Eine Distanz zu all denen, die sie vorher regelmäßig umgeben hatten: ihre Familie, ihre Freunde, ihre Nachbarn. Als er noch da war, waren sie immer gerne und viel mit anderen zusammen und unterwegs gewesen! Wie oft hatten sie selbst Feste oder Ausflüge organisiert. Es war immer irgendjemand da gewesen, immer irgendetwas los. Seit seinem Tod war sie einfach nicht mehr in der Lage dazu. Lieber blieb sie allein zu Hause, als sich bei jedem Fest, bei jedem Ausflug nur noch schmerzlicher bewusst werden zu müssen, dass sie niemanden mehr neben sich hatte, der mit ihr zusammen am Ende eines erlebnisreichen Tages zufrieden und glücklich in die eigenen vier Wände zurückkehrte. Der mit ihr den Tag Revue passieren ließ und dabei über die großen und kleinen Ausrutscher des Tages herzlich lachte. Sie konnte es einfach nicht. Lieber blieb sie allein bei sich zu Hause, wo sie ihrem Schmerz und ihrer Trauer freien Lauf lassen konnte, wann immer sie wollte, ohne irgendwem Rechenschaft schuldig zu sein, dass sie nach einem Jahr immer noch nicht bereit war zu akzeptieren, dass das Schicksal ihr diesen harten Streich gespielt hatte...

    Sie schluckte also schleunigst den Kloß in ihrem Hals herunter, den Chris’ offene Worte in ihr ausgelöst hatten. Und sie antwortete mit einem breiten Lächeln: „Wow, welch harten Worte zu so früher Stunde! Setz dich doch erst mal. Willst du etwas trinken? Chris schien dadurch kein bisschen besänftigt, im Gegenteil. Noch aufgebrachter als vorher fuhr sie fort: „Wenn ich etwas hätte trinken wollen, wäre ich ins Café um die Ecke gegangen! Du bist wirklich unglaublich! Ich weiß nicht, wie du das hinkriegst, immer und immer wieder diese Schmierenkomödie vor mir zu spielen. Glaubst du wirklich, dass du sehr überzeugend bist in dieser Rolle? Glaubst du wirklich, dass ich nicht längst gemerkt habe, dass du das alles nur machst, damit man dich in Ruhe lässt? Damit du in aller Ruhe immer weiter im Selbstmitleid versinkst? Ich habe die ganze Zeit über nichts gesagt, aber langsam reicht es mir! Es wird endlich Zeit, dass ich dir mal ein paar Wahrheiten an den Kopf knalle, die ich dir vielleicht schon viel früher hätten sagen sollen, aber die ich aus Respekt vor deiner Trauer immer wieder heruntergeschluckt habe. Du kannst damit machen, was du willst. Aber das muss jetzt einfach raus: Ja, du hast einen großen und äußerst unsanften Schicksalsschlag erlebt. Allein die Vorstellung, dass mir dasselbe passieren könnte, macht mich wahnsinnig. Aber das Leben ist nun einmal so. Man weiß nie, was einem wann vorbestimmt ist. Es ist hart, aber man muss es akzeptieren und weitermachen. Du hast nicht das Recht, dich hängen zu lassen, denn du wirst hier noch gebraucht. Und zwar von all denen, die dich mögen und denen es in der Seele weh tut, zusehen zu müssen, wie du dich immer mehr gehen lässt und immer mehr in eine Welt abdriftest, die mit der Realität so gar nichts mehr zu tun hat! Sie holte tief Luft, bevor sie nach einem kurzen Seufzer fortfuhr: „Natürlich könnte auch ich es mir einfach machen und dich in Ruhe lassen. Und niemand weiß besser als ich, dass du alles daran setzt, damit genau das passiert! Und bei einigen hattest du damit leider auch schon Erfolg. Aber ICH werde dir den Gefallen nicht tun. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich dich zu gern hab und weil ich weiß, dass du umgekehrt genau dasselbe für mich tun würdest! Du würdest mich genauso packen und versuchen wachzurütteln, wie ich es jetzt mit dir tue! Chris’ Blick versuchte den von Hanna zu kreuzen. Doch die stand nur reglos vor ihr und blickte stumm an ihr vorbei ins Leere. „Ich kann nur hoffen, dass meine Hauruck-Methode von heute mehr Erfolg zeigt, als all das Verständnis und die Zurückhaltung, die ich dir bisher entgegen gebracht habe in der Hoffnung, dass du von selbst irgendwann aufwachst aus diesem fürchterlichen Alptraum! Aber auch wenn ich selbst bei dir kein Glück mehr habe, dann denke wenigstens ein wenig an deine Tochter und vor allem an deine Enkeltochter! Denn sie brauchen dich. Mehr als du es für möglich hältst. Sie haben schon einen Vater und einen Großvater verloren. Sie können es nicht gebrauchen, dich auch noch zu verlieren. Chris ging in Richtung Tür und drehte sich ein letztes Mal um: „Ich lasse dich jetzt wieder alleine und in Ruhe, so wie du es in letzter Zeit bevorzugst. Damit du siehst, dass ich dich und deine Wünsche respektiere. Aber auch und vor allem, damit du in Ruhe über all das nachdenken kannst, was ich dir gerade gesagt habe."

    Erst als die Haustür ins Schloss fiel, kam Hanna wieder zu sich. Ihre erste Reaktion war Wut! Mit welchem Recht hatte Chris ihr zu sagen, was sie zu tun und zu lassen hatte! Woher wollte sie wissen, was sie wirklich empfand? Sie war doch nicht diejenige, die ihren Mann von einem Tag auf den anderen für immer verloren hatte! Hatte sie nicht selbst zugegeben, dass es sie wahnsinnig machen würde, wenn ihr dasselbe passieren würde! Also, warum ließ sie dann nicht einfach in Ruhe? Warum ließ sie sie nicht einfach in ihrem Wahnsinn allein? Warum durfte sie nicht einfach um ihre Liebe trauern? Um ihr Leben zu zweit? Um all die Stunden, die sie noch hätten gemeinsam miteinander verbringen können? Warum nicht? Kraftlos ließ sie die Schultern hängen. „Wieso? schluchzte sie „Wieso, verdammt noch mal! Verzweifelt hämmerte sie mit den Fäusten gegen die Wand, bevor sie kraftlos in ihren Lieblingssessel sank. Ihren Lieblingssessel, um den sie sich beide immer liebevoll gestritten hatten, um letztendlich zu zweit darin eng aneinander gekuschelt vorm Fernseher einzuschlafen. Ihr Blick schweifte in weite Fernen und durch den engen Tränenschleier hatte sie plötzlich den Eindruck, ihn vor sich zu sehen. Er stand vor ihr und lächelte sie an. Sie lächelte zurück. Dann verschwamm das Bild vor ihren Augen und sie flüsterte fast lautlos: „Was soll ich bloß ohne dich anfangen?" Erschöpft schloss sie die Augen und fiel in einen tiefen, unruhigen Schlaf.

    4

    Lisa drückte ihr Ohr noch fester an die Tür ihres Zimmers. Eigentlich sollte sie längst schlafen, aber sie wusste, dass ihre Mutter heute Abend noch mit ihrem Vater über ihren Vorschlag, Omi auf andere Gedanken zu bringen, reden würde. Ihr Vater war, wie immer in letzter Zeit, erst spät von der Arbeit heimgekommen. Und so war es schon nach neun Uhr, als die beiden endlich anfingen, miteinander zu diskutieren.

    „Lisa macht sich große Sorgen um meine Mutter. Sie hat fast geweint heute, weil sie glaubt, dass sie bald sterben wird, wenn sie weiter so traurig ist... Annabel sah ihren Mann fragend an in Erwartung eines Kommentars. „Hmm. murmelte dieser nur und aß schweigend weiter. „Es scheint dir nicht sonderlich viel auszumachen, was deine Tochter empfindet und wie es meiner Mutter geht. sagte Annabel gereizt, als ihr Mann nach einigen Minuten absoluter Stille immer noch keine Reaktion zeigte. „Meine Güte, Annabel! Lass mir doch erst mal ein wenig Zeit, zur Ruhe zu kommen nach meinem Arbeitstag. Ich brauch einfach ein paar Minuten, bis ich ganz da bin. „Wieso sagst du das dann nicht gleich? Anstatt überhaupt nicht zu reagieren und mich damit auf die Palme zu bringen? „Du müsstest mich nach all den Jahren doch langsam kennen und wissen, wie ich funktioniere, oder? „Du aber auch!" Der Ton zwischen den beiden war eisig. Lisa wäre am liebsten unter ihrer Decke im Bett verschwunden! Wieso konnten sich ihre Eltern nicht ganz normal unterhalten, ohne immer gleich aufeinander los zu gehen? Und wieso stritten sie sich immer über Kleinigkeiten, die am eigentlichen Thema völlig vorbeigingen?

    Bei Omi und Opa war das immer ganz anders gewesen. Selbst wenn es hin und wieder zu einem Streit gekommen war, hatte der nie lange gedauert. Und wenn Omi wirklich einmal sauer war, brauchte Opa nie länger als fünf Minuten, um sie wieder zum Lachen zu bringen. Er nahm sie einfach in seine Arme und machte eine Grimasse oder irgendeinen anderen Blödsinn. Und schon war alles wieder gut. Wie gerne war Lisa bei ihnen gewesen! Doch seit ihr Opa tot war, war nichts mehr wie vorher. Ihre Omi lachte nicht mehr so wie früher, oder aber sie tat so, als würde sie lachen, aber in Wirklichkeit hatte Lisa sehr schnell kapiert, dass das alles nur vorgespielt war. Sie war zwar erst zehn Jahr alt, aber sie war nicht dumm. Sie hatte das Theater der Großen sehr wohl durchschaut. Das von ihrer Omi und auch das von ihren Eltern, die immer, wenn sie dabei war, so taten, als ob sie noch immer furchtbar ineinander verliebt wären, um dann sofort, wenn sie im Bett war, wieder aufeinander los zu gehen. So wie heute Abend. Und wie immer waren sie auch heute nach ihrem Streit wieder so eingeschnappt, dass sie noch nicht einmal mehr Lust hatten, weiter miteinander über das Thema zu diskutieren, das sie angeschnitten hatten, bevor sie sich wegen Nichts und wieder Nichts in die Haare geraten waren.

    Lisa wartete noch ein paar Minuten, aber als weiterhin Totenstille im Wohnzimmer herrschte, schlurfte sie mit hängenden Schultern in ihr Bett und vergrub ihr Gesicht unter dem Kopfkissen. Was war bloß los mit allen? Wieso war nichts mehr so wie früher? Als Opa noch da war. Sie merkte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Aber die Wut, die in ihr hochkam, war schließlich größer. Nein, dieses Mal würde sie nicht weinen! Sie würde den Kloß im Hals herunterschlucken und nicht mehr an ihre Eltern denken. Alles, was jetzt zählte, war ihre Omi. Und wenn ihre Eltern es nicht fertig brachten, Omi wieder zum Lachen zu bringen, dann würde sie es eben alleine tun. Gleich morgen würde sie sie anrufen und ihr sagen, dass sie kommen würde. Sie ganz alleine! Trotzig reckte sie das Kinn in die Höhe. Bis ihr plötzlich bewusst wurde, wie gut diese Idee im Grunde genommen war. ‚Genau das ist es!’ dachte sie. ‚Darauf hätte ich auch schon viel früher kommen könne!’ Sie würde alleine zu ihrer Omi fahren und sie auf andere Gedanken bringen. In einer Woche waren Schulferien. Früher, als Opa noch da war, hatte sie schließlich auch regelmäßig die Ferien dort verbracht. Warum also auch nicht jetzt? Außerdem könnten ihre Eltern dann endlich mal wieder zu zweit wegfahren. Vielleicht würden sie sich dann ja endlich mal wieder normal unterhalten, ohne ständig zu streiten... Je mehr Lisa über ihre Idee nachdachte, desto zufriedener wurde sie. Genauso würde sie es machen. Erst ihre Omi anrufen und dann ihren Eltern vorschlagen, mal eine Woche zu zweit wegzufahren. Dann würde alles wieder ins Lot kommen! Und mit diesem festen Vorsatz schlief Lisa zufrieden lächelnd ein.

    5

    Hand in Hand liefen sie die Straße entlang. Die Sonne verschwand langsam hinter dem Horizont und tauchte die Stadt in ein rötliches Licht. Sie war glücklich. Er war wieder da. Sie waren wieder zusammen. Sie gingen weiter, bis er plötzlich stehen blieb, ihr Gesicht in seine Hände nahm und ihr tief in die Augen sah: „Eines Tages werde ich dich entweder heiraten oder... töten. Und dann küsste er sie und ihr Herz quoll über vor Glück. Das rötliche Licht der untergehenden Sonne flößte eine wohltuende Wärme in ihr Gesicht. Er hatte von Heirat gesprochen! Endlich würden sie zusammen bleiben und endlich würden sie glücklich sein. Mehr war nicht wichtig. Sie suchte mit ihren Augen die Sonne und als sie ihren Blick wieder zurück auf ihn richtete, brauchte sie ein paar Sekunden, um wieder klar zu sehen. Doch sein Gesicht hatte sich verändert. Seine Augen starrten sie kalt an und sein teuflischer Blick löste eine Angst in ihr aus, die sie vorher noch nie gespürt hatte, bevor seine Stimme immer und immer wieder sagte: „Eines Tages werde ich dich töten. Eines Tages werde ich dich töten. Eines Tages werde ich dich töten...

    Hanna zuckte zusammen und fuhr in ihrem Bett hoch. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie überhaupt wusste, wo sie war. Das war schon die zweite Nacht hintereinander, in der sie solch einen merkwürdigen Alptraum hatte. Wieder war ihr die Szene irgendwie bekannt vorgekommen. Wieder glaubte sie, sich in dem jungen Mädchen wieder erkannt zu haben. Und doch konnte sich keinen richtigen Reim daraus machen.

    Sie schüttelte sich vehement, bevor sie nach dem Morgenmantel griff und das Bett verließ. Langsam schien sie wirklich durchzudrehen. So ein Unsinn aber auch! Wie kam sie nur auf solch merkwürdige Ideen? Wenn sie so weiter machte, würde sie noch in der Klapsmühle enden! Sie musste an Chris denken und das, was sie ihr gestern alles an den Kopf geknallt hatte. Natürlich hatte sie recht. Wie gerne hätte sie ihr gesagt, dass sie ja so recht hatte! Dass es langsam Zeit war, wieder herauszukommen, unter Leute zu gehen, auf andere Gedanken zu kommen! Aber es war so unendlich schwer loszulassen. Zu akzeptieren, dass das Leben zu zweit mit ihm ein für alle Mal vorbei war. Dass es nie wieder so sein würde wie vorher, wie mit ihm. Aber dass es deshalb für sie noch lange nicht vorbei war. Dass IHR Leben weiter ging.

    Wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte sie ganz einfach Angst. Eine Heidenangst! Davor, wieder von vorne anfangen zu müssen. Davor, immer wieder auf Leute zu stoßen, die sie auf ihren Mann ansprachen und somit die Wunde immer wieder aufs Neue aufreißen würden. Und ein bisschen hatte sie auch Angst vor dem Tag, an dem die Erinnerungen an ihn anfangen würden zu verblassen...

    Sie hatte gerade ihren Kaffee ausgetrunken, als das Telefon klingelte. Auch wenn sie heute Morgen zum ersten Mal seit seinem Tod ernsthaft damit angefangen hatte, sich mit der Idee auseinander zu setzen, dass ihr Leben ohne ihn weiterging -weitergehen musste, so war sie noch nicht bereit, diese Idee mit jemandem zu teilen, schon gar nicht mit all denen, die ihr seit Monaten genau dies immer wieder ans Herz legten!

    Deshalb nahm sie nicht ab und ließ den Anrufbeantworter laufen: „Hallo Omi, hier ist Lisa. hörte sie ihre Enkelin flüstern und bereute es sofort, nicht abgenommen zu haben. „Wollte dir nur ganz kurz sagen, dass ich vorhabe, die Schulferien bei dir zu verbringen, aber Mami und Papi wissen noch nichts davon. Kannst du das nicht irgendwie hinbekommen, dass sie einverstanden sind? Kurze Pause und dann plötzlich: „Mist, Mami ist im Anmarsch, muss auflegen. Tschüss, bis bald!"

    Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. So klein und schon so gewitzt! Wenn Lisa sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie es auch durch. Schon als Baby hatte sie alle immer so lange auf Trab gehalten, bis sie das, was sie wollte, auch bekam, ob das nun ihr Fläschchen, eine neue Windel oder Mamis Arm zum Einschlafen war.

    Vor dem Tod ihres Mannes war Lisa öfter in den Schulferien zu ihnen gekommen. Sie hatte sich mit ihrem Opa immer sehr gut verstanden und manchmal hatte sie die beiden stundenlang nicht mehr zu Gesicht bekommen, weil sie irgendwo in einem Geschäft oder beim Spazieren gehen die Zeit völlig vergessen hatten. Allein bei dem Gedanken daran kamen ihr schon wieder die Tränen in die Augen und ihr guter Vorsatz von heute Morgen, endlich nach vorne zu schauen, erschien ihr wieder einmal völlig unmöglich.

    Sie setzte sich in ihren Lieblingssessel und stieß einen tiefen Seufzer aus. Was würde sie ihrer Enkelin überhaupt noch bieten können, jetzt, da er nicht mehr da war? Und würde sie es überhaupt schaffen, eine ganze Woche lang gute Laune vorzuspielen, wenn sie doch, wie gerade jetzt mal wieder, schon bei der kleinsten Erinnerung an ihn, anfing zu weinen? Sie schüttelte traurig den Kopf. ‚Nein, Lisa’, dachte sie, ‚Ich kann dir nicht das bieten, was du möchtest. Ich bin nicht stark genug dazu!’

    Doch wie sollte sie das ihrer Enkelin bloß beibringen? Hanna stieß erneut einen Seufzer aus. Und was, wenn sie sich doch darauf einlassen würde? Was, wenn das vielleicht genau der Ausweg war, auf den sie so lange vergeblich gewartet hatte? Was, wenn diese Woche zu zweit ihr den Weg aus ihrem dunklen Tunnel, in dem sie sich seit dem Tod ihres Mannes befand, ermöglichen würde? War es nicht vielleicht genau das, was sie brauchte, um ihre Trauer endgültig zu besiegen? Eine Woche lang so zu leben wie vorher? Als wäre nichts geschehen, als würde das Leben einfach so weitergehen. Eine ganze Woche lang, und nicht nur einen Tag, an dem man abends all das, was sich angestaut hatte, einfach so wieder in einem Tränenbach laufen lassen konnte, sobald das Auto ihrer Tochter um die Ecke gebogen war.

    Denn dieser Tatsache musste sie nun einmal ins Auge schauen: das Leben ging weiter und sie würde sich nicht ewig hinter ihrer Trauer verschanzen können! Eine Woche mit Lisa. Mit ihr all das machen, was sie das ganze letzte Jahr vermieden hatte: unter Leute gehen, Nachbarn zu sich einladen oder deren Einladungen annehmen, einen schönen Film im Kino schauen, lachen! All diese Dinge, zu denen sie seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr in der Lage gewesen war, mit Lisa würden sie ihr sicher leichter fallen. Eine Woche mit ihrer Enkelin...

    Ja, wenn sie es sich richtig überlegte, war das vielleicht gar nicht so verkehrt. Sie würde endlich den ersten Schritt aus ihrer Lethargie wagen können, auf den Chris schon so lange wartete. Sie würde sich langsam, mit jedem Tag ein bisschen mehr daran gewöhnen können. Und vielleicht würde sie ja am Ende dieser Woche wieder Gefallen daran finden. Vielleicht hätte sie dann endlich den Weg zurück ins Leben geschafft. Dieses Leben, das sie ohne ihn nicht hatte weiterleben wollen, aber das nun einmal da war und dem sie die Stirn bieten musste!

    Ja, sie würde Lisa zu sich holen über die Ferien. Denn diese Chance, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, durfte sie sich einfach nicht entgehen lassen!

    6

    Annabel saß am Küchentisch und sah sich die Stellenanzeigen in der Zeitung an. Seit Lisas Geburt hatte sie keine Ganztagsstelle mehr gehabt. Sie hatte zwar hin und wieder halbtags oder aushilfsmäßig gearbeitet, um das Gehalt ihres Mannes– so gut es auch war – ein wenig aufzustocken, aber den letzten festen Arbeitsplatz hatte sie aufgegeben, als sie mit Lisa in Mutterschutz gegangen war. Das war jetzt schon über zehn Jahre her. Wie schnell die Zeit verging! Sie hätte gerne noch ein zweites Kind gehabt, nachdem sie ihre Karriere sowieso schon aufgegeben hatte, aber die Natur hatte es einfach nicht so gewollt. Und je unerfüllter der Wunsch nach einem zweiten Kind blieb, desto weiter hatte sie sich von ihrem Mann entfernt. So weit, dass es mittlerweile geradezu einem Wunder gleich käme, wäre sie jetzt noch schwanger geworden.

    Sie überlegte, wann sie überhaupt das letzte Mal zusammen geschlafen hatten. Das musste schon ein paar Wochen her sein, oder waren es sogar schon Monate? In letzter Zeit schafften sie es einfach nicht mehr, miteinander zu reden, ohne gleich aneinander zu geraten. Und wenn sie sich erst einmal gestritten hatten, hatte weder sie noch er Lust, in irgendeiner Weise aufeinander zuzugehen, und schon gar nicht intim zu werden!

    ‚Was war nur schief gelaufen?’ grübelte Annabel. Wieso hatten sie sich so weit voneinander entfernt? Wieso konnten sie keinen vernünftigen Dialog mehr führen? ‚Wie können wir bloß einen Ausweg aus diesem Teufelskreis finden?’ flüsterte sie vor sich hin und eine Träne lief ihr übers Gesicht. ‚Ich will ihn nicht verlieren!’

    Es war alles so viel einfacher, wenn sie sich nicht gegenüber saßen. Dann konnte sie zugeben, dass sie ihn brauchte, dass er ihr fehlte, wenn er nicht da war, und dass sie sich wünschte, dass er sich ein wenig mehr Zeit nehmen könnte. Einfach einen Schritt kürzer trat auf der Arbeit. Genau das war es, was sie wollte. Wahrscheinlich war auch das der Grund, wieso sie über diesen Stellenanzeigen hing. Vielleicht würde er ja weniger arbeiten können, wenn sie wieder regelmäßig ein zweites Gehalt nach Hause brachte. Lisa war mittlerweile groß genug. Sie könnte endlich wieder eine feste Stelle suchen, nicht nur eine vorübergehende Stellvertretung. Vielleicht erst mal nur halbtags, aber das wäre immerhin schon mal ein Ansatz, damit Harald weniger Überstunden zu machen brauchte.

    Denn wenn er in letzter Zeit immer mehr Überstunden machte, dann war das sicher auch eine Frage des Geldes. Es waren seine Überstunden, die es ihnen ermöglichten so zu leben, wie es momentan der Fall war, d.h. in einem wunderschönen Haus mit Garten und nicht eingeengt in einer kleinen Dreizimmerwohnung wie zu Anfang ihrer Ehe...

    Entschlossen nahm Annabel die Zeitung wieder in die Hand und wischte sich die Tränen weg. Nächstes Wochenende, nahm sie sich vor, würde sie mit Harald reden. Sie würde ihm sagen, dass sie sich wieder nach einer richtigen Arbeit umsah. Dass sie ihn entlasten wollte, damit sie wieder mehr Zeit miteinander verbringen würden. Sie beide und natürlich auch mit Lisa. Sie würde ihm alles sagen, was sich in den letzten Wochen in ihr angestaut hatte. In Ruhe und vor allem in aller Offenheit. Ihm sagen, dass sie sich in letzter Zeit immer öfter allein gelassen fühlte und Angst hatte, ihn zu verlieren!

    Allein der Gedanke daran, ließ schon wieder dicke Tränen ihre Wangen hinunter rollen. „Mami, du weinst ja! Lisa stand in der Tür und sah sie mit großen Augen an. „Was ist denn los? Ihre Mutter blickte überrascht von ihrer Zeitung hoch und wischte sich schnell die Tränen aus dem Gesicht. „Lisa? Was machst du denn jetzt schon hier? Ich hab noch gar nicht mit dir gerechnet! „Was ist los? bestand Lisa ihrerseits auf ihrer Frage und fühlte wie sich auch ihre Augen mit Tränen füllten. „Hat Omi sich irgendetwas angetan? Ist es das? Ist Omi etwas passiert? Annabels Herz machte einen Satz. Wie kam Lisa nur auf diese Idee! „Nein, Mäuschen, nein! sagte sie gerührt. „Mit Omi ist nichts. Annabel stand auf und nahm Lisa sanft in ihre Arme und drückte sie. Sie hörte, wie ihre Tochter einen Seufzer der Erleichterung ausstieß und eine Weile in der Umarmung verharrte. Dann löste sie sich aus den Armen ihrer Mutter und schaute sie erneut fragend an: „Aber, wenn mit Omi alles in Ordnung ist, weshalb weinst du denn dann? Nun war es an Annabel, einen Seufzer auszustoßen: „Ach, Mäuschen, weißt du, manchmal ist man halt einfach traurig. Heut ist so ein Tag, an dem ich traurig bin. Das kommt hin und wieder vor. Da ist nichts Schlimmes dabei. Und es tut gut, wenn man manchmal seinen Tränen einfach freien Lauf lässt. Lisa zog ihre Stirn in Falten und verschränkte die Arme vor der Brust. Ärgerlich meinte sie: „Natürlich weiß ich, dass Weinen gut tut. Aber ich bin kein kleines Kind mehr, Mama! Ich weiß, dass es immer einen Grund gibt, wenn man traurig ist. Also, was ist los?

    Annabel sah ihre Tochter überrascht an. Wieso hatte sie plötzlich das Gefühl, dass die Zeit an ihr vorbeigerast war? Das war nicht mehr ihre kleine Lisa, die da vor ihr stand. Das war nicht mehr das kleine Mädchen, das völlig hilflos auf der Straße nach ihrer Hand tastete, um sie bloß nicht aus den Augen zu verlieren, oder das sich unter ihrem Rock versteckte, weil jemand, den sie nicht kannte, ihr Guten Tag sagen wollte. Ihre kleine Lisa hatte einen gewaltigen Satz nach vorne gemacht. Sie war groß geworden. Natürlich, sie war noch lange nicht erwachsen – Gott sei dank! Aber sie war auch kein Baby mehr, das hatte sie ihr eben unmissverständlich zu verstehen geben! Und trotzdem, Annabel wollte Lisa nicht unnötig mit Erwachsenenproblemen belasten. Schon gar nicht mit den Problemen ihrer eigenen Eltern! Also dachte sie nun angestrengt nach, was sie ihrer Tochter wohl am besten erzählen konnte, ohne sie anlügen zu müssen...

    Lisa sah, wie ihre Mutter zögerte. Sie spürte ihren Blick auf sich und beschloss, erst gar nicht abzuwarten, sondern von sich aus das heiße Thema anzusprechen: „Du und Papi streitet euch immer öfter, stimmt’s? Annabel zuckte kurz zusammen. Dann traten ihr gleich wieder die Tränen in die Augen. „Ach Mäuschen. flüsterte sie. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Lisa strich zärtlich eine Träne von der Wange ihrer Mutter. „Vielleicht solltet ihr einfach mal wieder zu zweit wegfahren. sagte sie dann. „Nur du und Papi. „Wann denn? „Nächste Woche während der Schulferien, zum Beispiel. Papi nimmt doch immer eine Woche frei in der Zeit. „Ja, aber damit wir drei diese Woche zusammen verbringen können. Lisa strahlte ihre Mutter zufrieden an: „Aber ich hatte dieses Mal sowieso vor, zu Omi zu fahren... Alleine! Lisa wurde mit einem Mal bewusst, dass sie ja noch gar nicht darüber gesprochen hatten. Eigentlich hatte sie das Thema viel behutsamer anschneiden wollen. Sie sah ihre Mutter unsicher an und fügte fast betreten hinzu: „Ich meine, natürlich nur, wenn Omi das auch will und ihr es mir erlaubt...

    Annabel sah ihre Tochter zum zweiten Mal erstaunt an: „Du willst alleine zu Omi und das eine ganze Woche lang? „Ja, natürlich, wieso denn nicht? „Na ja, weil wir doch gerade gestern erst gemeinsam festgestellt haben, dass Omi überhaupt nicht offen für Besuche und Aufmunterungen ist, und weil es deshalb sicherlich nicht einfach wird, sie davon zu überzeugen, dass du gleich eine ganze Woche bei ihr bleibst. Lisa zögerte einen Moment. Dann gab sie kleinlaut zu: „Ich hab sie schon gefragt. „Du hast sie schon gefragt? Ja, wann denn, um Himmels willen? „Heute Morgen vor der Schule habe ich schnell angerufen, als du im Bad warst. Aber ich konnte ihre Antwort nicht abwarten, weil du schneller wieder raus kamst, als ich dachte. Also habe ich ihr gesagt, dass sie dich anrufen und mit dir darüber soll... „Meine Güte, Lisa! Wieso hast du nicht zuerst mit mir gesprochen! fuhr Annabel wütend hoch. Ihre Tochter ließ daraufhin traurig den Kopf hängen. Eigentlich konnte Annabel ihr gar nicht böse sein. Im Gegenteil. Lisas Idee war vielleicht gar nicht so schlecht. Für alle Beteiligten, auch wenn Annabel die Ferien mit ihrer Tochter immer genoss. Und sie wollte, dass ihre Tochter das auch wusste: „Komm her zu mir. sagte sie sanft und zog Lisa in ihre Arme. „Du weißt, dass mir unsere Ferien zu dritt immer sehr wichtig sind! „Ich weiß, aber... „Nein, nein, lass mich zuerst ausreden. Ich finde deine Idee nämlich wirklich sehr gut. Für Omi, für Papa und für mich... Annabel lächelte ihre Tochter an und Lisas Gesicht fing an zu strahlen. „Aber ich möchte wirklich nicht, dass du deine ganzen Ferien nur zum „Gute Samariterin-Spielen opferst! Annabel sah ihre Tochter bei diesen Worten ernst an. „Ich möchte, dass du selbst auch was davon hast. Ich möchte, dass du die Zeit auch für dich nutzt. Verstehst du, was ich meine? Lisa nickte und schmiegte sich noch enger an

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