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Raureif: Ein Baden-Württemberg-Krimi
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Raureif: Ein Baden-Württemberg-Krimi
eBook381 Seiten4 Stunden

Raureif: Ein Baden-Württemberg-Krimi

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Über dieses E-Book

Die bekannte Stuttgarter Künstlerin Mira Bellon, eine gute Freundin der Rechtsmedizinerin und forensischen Psychologin Kathrin Zimmermann, wird erwürgt aufgefunden. Kathrin hat sofort Elmar Witte im Verdacht, einen jungen Mann, mit dem die deutlich ältere Mira ein kurzes, leidenschaftliches Verhältnis unterhielt. Nachdem sie die Affäre beendet hatte, stellte Witte der Künstlerin monatelang nach. Doch der Stalker hat für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi.
Kathrins Lebensgefährte, der Stuttgarter Hauptkommissar Konstantin Marks, und sein Kollege Cornelius Schröder tappen im Dunkeln. Doch Kathrin lässt nicht locker. Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf ein dunkles Geheimnis in der Vergangenheit ihrer toten Freundin. Dann geschehen weitere Verbrechen, diesmal im Umfeld einer Selbsthilfegruppe für Stalkingopfer. Als Kathrin herausfindet, dass auch Mira für eine kurze Zeit diese Selbsthilfegruppe besucht hat, gerät sie in tödliche Gefahr …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum27. Okt. 2016
ISBN9783842517462
Raureif: Ein Baden-Württemberg-Krimi

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    Buchvorschau

    Raureif - Uschi Kurz

    erlebt.

    1

    Montag

    Als Katharina Zimmermann an dem tristen Novembernachmittag in Echterdingen aus dem Flugzeug stieg, war ihr kalt – und sie musste unwillkürlich an jenen Sommertag denken, an dem Marks sie zum ersten Mal von einem Flughafen abgeholt hatte. Damals hatte der Serienmörder, der später als »Totenschöpfer« in die Klatschpresse eingehen sollte, zu ihrer Zusammenarbeit in einer Sonderkommission geführt. Eigentlich müsste sie dem durchgeknallten Modeschöpfer, der seine ebenso genialen wie rigiden Modevorstellungen an einer Kollektion toter Mädchen umgesetzt hatte, dankbar sein. Immerhin hatte er sie und Marks zusammengebracht. Eineinhalb Jahre war das nun schon her, doch manchmal kam es ihr vor, als wäre es gestern gewesen.

    Kathrin schüttelte den Kopf. Sie war abgeschweift. Offensichtlich wollte sich ihr Unterbewusstsein nicht mit der traurigen Realität auseinandersetzen. Doch es half alles nichts. Entschlossen betrat sie das Flughafen-Gebäude und begab sich zur Gepäck-Ausgabe.

    Wieder war es eine tote Frau, die sie zur unfreiwilligen Rückkehr aus dem Ausland zwang. Damals hatte sie nur widerwillig einen Urlaub auf Sardinien abgebrochen, dieses Mal war es eine Tagung in den USA, bei der die Rechtsmedizinerin, die zudem Psychologie mit Schwerpunkt Forensik studiert hatte, einige der profiliertesten Profiler kennengelernt hatte. Dennoch war es für sie keine Frage gewesen, vorzeitig abzureisen, als Konstantin sie anrief. Denn es handelte sich nicht um irgendeine Tote. Es war Mira. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Ihre Freundin Mira Bellon war tot.

    Kathrin trat aus der Glastür, die die Gepäckausgabe von dem Gästebereich trennte, und sah sich suchend um. Konstantin Marks stand an einen Pfeiler gelehnt und musterte aufmerksam die Schlange der ankommenden Passagiere. Er wirkte schmaler, als sie ihn in Erinnerung hatte, und auffallend blass. Sein lockiges, dunkelbraunes Haar, durchzogen von einigen wenigen dünnen silbrigen Strähnchen, war zerzaust und hatte heute mit Sicherheit noch keinen Kamm gesehen. Er sah aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Als er Kathrin erblickte, ging ein Strahlen über sein müdes Gesicht, und er trat rasch auf sie zu.

    »Habt ihr ihn schon verhaftet?«

    »Ja, ich freue mich auch, dass wir uns wiedersehen.«

    »Es tut mir leid«, stammelte Kathrin bestürzt, als sie Konstantins Enttäuschung wahrnahm. Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss und konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen kamen. »Bitte sei mir nicht böse, aber ich bin so durcheinander«, schluchzte sie.

    »Schon gut«, erwiderte Konstantin, der sie nun in die Arme nahm und ihr zärtlich über den Rücken streichelte. Wie einem Kind, das Trost braucht, dachte Kathrin, die ansonsten für romantische Klischees wenig anfällig war. Doch in diesem Moment war sie glücklich über diese Geste. Und froh darüber, dass er offensichtlich wegen ihrer lieblosen Begrüßung nicht sauer war. Dankbar schmiegte sie sich an ihn.

    »Ich weiß doch, wie eng du mit Mira befreundet …« Konstantin zögerte, als wollte er die Worte nicht aussprechen, die dem Schrecken Endgültigkeit verliehen. Dann tat er es doch. »… wie eng du mit ihr befreundet warst.«

    Er fasste sie an den Schultern und schaute Kathrin mit seinen unglaublich dunklen Augen fest an.

    »Aber was deine Frage betrifft: Nein, wir haben ihn nicht verhaftet. Witte hat nämlich ein absolut wasserdichtes Alibi.«

    »Das gibt’s doch nicht«, brauste Kathrin auf. »Er hat Mira monatelang verfolgt und ihr das Leben zur Hölle gemacht. Er muss einfach der Täter sein.«

    Sie verstummte. Schließlich wusste sie aus Erfahrung, wie gründlich Konstantin und seine Kollegen ermittelten. Und da es sich um ihre Freundin handelte, hatten sie Wittes Alibi mit Sicherheit besonders sorgfältig unter die Lupe genommen.

    »Und wenn der Todeszeitpunkt nicht stimmt?«

    Konstantin starrte sie verblüfft an. Kathrin schreckte nicht einmal davor zurück, die Kompetenz ihrer eigenen Kollegen in Zweifel zu ziehen. So fest war sie davon überzeugt, dass Witte ihre Freundin umgebracht hatte.

    »Wer hat sie denn obduziert?«

    »Wächter«, sagte Marks trocken und machte mit dem einen Wort auch diese Hoffnung zunichte.

    Mit 62 Jahren war Wächter der älteste Kollege in Kathrins Team und der Einzige, auf dessen Urteilsvermögen sie wirklich blind vertraute. Von ihm hatte sie in den letzten Jahren mehr gelernt als während des ganzen Studiums, und sie hoffte, noch möglichst lange von seinem Wissen profitieren zu können.

    Die Fahrt vom Echterdinger Flughafen in die Stuttgarter Innenstadt war zäh und kam auf der Weinsteige immer wieder gänzlich zum Erliegen. Was nicht nur am Berufsverkehr lag.

    »Montagsdemo«, sagte Konstantin und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Und seit dem schwarzen Donnerstag werden es jede Woche mehr.«

    »Entschuldige«, sagte er, als er sah, dass Kathrin unvermittelt wieder in Tränen ausbrach. »Ich habe ganz vergessen, wie aktiv sie war.«

    Mira Bellon hatte in den vergangenen Wochen keine der Montagsdemonstrationen versäumt. Sie war neben einigen anderen Promis aus der Kulturszene das Gesicht des Widerstands gegen Stuttgart 21. War es gewesen, denn jetzt war sie tot.

    Wieder musste Marks anhalten. Plötzlich machte er etwas, was er noch nie getan hatte – zumindest nicht, wenn Katharina neben ihm saß: Er setzte das Blaulicht aufs Dach und schaltete das Signalhorn ein. Dann zog er nach rechts und fuhr halb auf dem Gehweg weiter. Wütende Reaktionen der anderen Fahrer, die mit ihnen im Stau standen, blieben nicht aus. Gesten, mit denen man ihnen den Vogel zeigte, waren noch längst nicht die unflätigsten.

    Trotz Blaulicht brauchten sie eine Dreiviertelstunde, bis sie endlich auf dem Pragsattel im Robert-Bosch-Krankenhaus ankamen. Es war jetzt fast 18 Uhr.

    Die Universität Tübingen hatte erst vor kurzem den Forschungs- und Lehrbereich ihres rechtsmedizinischen Instituts, an dem Professor Katharina Zimmermann ihren Lehrstuhl hatte, nach Stuttgart an das Robert-Bosch-Krankenhaus verlegt. Seither musste Kathrin seltener als zuvor nach Tübingen fahren, was ihr sehr entgegenkam, weil sie in Stuttgart wohnte.

    Sie empfand es als eine nette Geste des Schicksals, dass sie nun beide in einem Gebäude arbeiteten, das mit Robert Bosch untrennbar verbunden war. Denn das Polizeipräsidium, in dem Marks seinen Arbeitsplatz hatte, war das ehemalige Robert-Bosch-Krankenhaus. Es lag nur wenige Minuten von dem Krankenhaus-Neubau aus den 70er Jahren entfernt, den sie nun ansteuerten.

    Seit das Rechtsmedizinische Institut der Stadt Stuttgart in den 90er Jahren geschlossen worden war, führten Rechtsmediziner der Uni Tübingen am Robert-Bosch-Krankenhaus Obduktionen durch. Auch für toxikologische Untersuchungen und Tat-Rekonstruktionen war das Krankenhaus bestens gerüstet, und so war es naheliegend, dass man Mira Bellon in Stuttgart obduzierte.

    Kathrin war froh darüber. Die Vorstellung, dass ihre Freundin in Tübingen auf einem ihrer »Tische« liegen würde, war unerträglich.

    »Soll ich mitkommen?«, fragte Konstantin, als sie endlich in die Tiefgarage einfuhren. »Bist du sicher?«, setzte er nach, als Kathrin traurig den Kopf schüttelte.

    »Ja. Ich glaube, ich brauche eine Weile.«

    »Okay, dann fahre ich zurück ins Präsidium. Ruf mich einfach an, wenn ich dich abholen soll.«

    Sie wollte gerade aussteigen, da beugte sich Konstantin zu ihr herüber und drückte ihr einen MP3-Player mit einem Kopfhörer in die Hand. »Dust in the wind«, sagte er leise und küsste sie zart auf die Wange.

    »Dass du daran gedacht hast. Danke«, antwortete Kathrin gerührt, dann stieg sie aus.

    2

    Herbert Wächter war ein großgewachsener kräftiger Mann, der wenig auf sein Äußeres hielt. Wenn er nicht in seinen OP-Klamotten steckte, was selten genug vorkam, lief er am liebsten in verwaschenen schlabbrigen braunen Cordhosen herum. Ein durchaus passendes Outfit, denn die wenige Freizeit, die der alleinstehende Wächter hatte, verbrachte er ausschließlich in seinem verwilderten Garten, wo er das Aufund Verblühen der Pflanzen studierte. Vor allem das Verblühen – für ihn gab es nichts Schöneres als eine verwelkende Rose. Das, sagte er, sei seine Art, mit dem gewaltsamen Tod fertig zu werden, der ihn an seinem Arbeitsplatz umgab.

    Wächter empfing sie mit hängenden Schultern in seinem Büro. Sein weißer Haarkranz stand wild von seinem Schädel ab und gab ihm etwas Verwegenes. Einstein. Obwohl Wächter eine viel massigere Figur hatte, musste Kathrin bei seinem Anblick immer an Einstein denken.

    »Es tut mir so leid, Kathrin«, sagte Wächter, als er sie in den neuen Obduktionsraum führte. Er öffnete eine der Leichenboxen und zog den Rollwagen heraus, auf dem zugedeckt die sterblichen Überreste von Mira Bellon lagen. Vorsichtig schob er ihn in die Mitte des Raumes.

    Wächter zögerte kurz und sah Kathrin an. Als sie nickte, zog er das weiße Tuch vorsichtig so weit herunter, dass es lediglich den Kopf der Toten freigab.

    Wie oft hatte sie selbst diese Geste schon gemacht, wenn Angehörige zu ihr ins Institut kamen, um ihre Lieben zu identifizieren. Jetzt stand sie genauso hilflos da und fühlte, wie ihre Beine schwach wurden. Wächter, der sie besorgt beobachtete, schob ihr einen Hocker hin.

    »Soll ich dir unsere Ergebnisse mitteilen, oder …?« Er brach ab.

    »Wenn es dir nichts ausmacht, wäre ich zuerst gerne eine Weile mit ihr allein. Keine Angst, ich bin okay«, sagte Kathrin, als sie Wächters zweifelnden Blick sah. »Nur ein bisschen groggy. Der Jetlag«, schwindelte sie, ließ sich aber dankbar auf den Hocker sinken.

    »Hast du mir einen Schluck Wasser?«, bat sie.

    Wächter brachte ein Glas mit Wasser und reichte es ihr.

    »Danke.« Kathrin nahm einen Schluck. Der dicke Kloß im Hals ließ sich nicht hinunterschlucken.

    »Also gut. Dann gehe ich mal.« Wächter zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich habe noch jede Menge Schreibkram zu erledigen. Ich bin in meinem Büro. Du rufst einfach, wenn du so weit bist.«

    Sie nickte und sah ihm nach, bis er den Raum verlassen hatte.

    Dann erst zwang sie sich hinzuschauen. Mira, flüsterte sie unhörbar und berührte vorsichtig die Wange ihrer Freundin, die sie so oft geküsst hatte. Sie war eiskalt. Obwohl Kathrin nichts anderes erwartet hatte, war es ein Schock. Es war, als würde die Kälte auf Kathrin übergreifen, und sie begann zu frösteln.

    Eigentlich sah Mira aus, als würde sie schlafen. Doch als Kathrin das Tuch, das ihren Leib bedeckte, ein wenig nach unten zog, sah sie die großen dunkelblauen Male am Hals, und der friedliche Eindruck wurde jäh zerstört. Kathrin konnte die Gewalt fast körperlich spüren. Sie wusste, wenn sie die Lider heben würde, könnte sie die Einblutungen in den Augäpfeln sehen. Ein weiteres untrügliches Zeichen dafür, dass Mira erwürgt worden war.

    Je länger sie ihre Freundin betrachtete, umso fremder kam sie ihr vor.

    Das schöne Antlitz mit den hohen Backenknochen wirkte irgendwie unnatürlich. Die Haut spannte und machte die Konturen schärfer. Ihre roten Haare, die unbändige Löwenmähne, auf die Mira immer so stolz gewesen war, hatte an Volumen verloren und lag dicht an der Kopfhaut an. Am Ansatz erkannte Kathrin erstaunt, dass einige Haare silbrig grau nachschoben. Ihre Freundin hatte nie erzählt, dass sie sich die Haare tönte. Aus Eitelkeit? Seltsam. Mehr noch als das makellose, nahezu faltenlose Antlitz ihrer Freundin empfand Kathrin diese ersten Altersanzeichen als unendlich schmerzlich. Symbol eines gewaltsam unterbrochenen Prozesses, eines gewaltsam beendeten Lebens. Wie gerne hätte sie Mira einmal mit grauen Haaren gesehen.

    Die porzellanfarbene Haut der Toten schimmerte durchsichtig und gab ihr etwas Puppenhaftes. Nichts war von dem Energiebündel spürbar, das Mira zu Lebzeiten gewesen war.

    Keine drei Wochen war es her, dass Kathrin ihre Freundin zuletzt gesehen hatte. Sie hatte ihr in ihrem Atelier ihr neuestes Werk gezeigt. Sie zeigte ihre Arbeiten immer erst, wenn sie fertig waren. Das großformatige Bild war so unheimlich kraftvoll, dass es Kathrin die Sprache verschlagen hatte. Noch nie zuvor war Miras Kunst so ausdrucksstark gewesen. Sie hatte offensichtlich gerade eine neue Schaffensperiode begonnen. Rote Schlieren zogen sich wie ein Theatervorhang über das ganze Gemälde, darunter war schemenhaft eine für Mira ungewöhnlich realistische Darstellung zu erkennen. Der blutrote Schleier, der sie bedeckte und verhüllte, erschien ihr jetzt wie eine böse Vorahnung.

    Mira, die eine Professur an der Kunstakademie hatte, hatte sich in den vergangenen Jahren wieder verstärkt ihren eigenen Werken zugewandt. Ihre Bilder erzielten mittlerweile auf dem Kunstmarkt enorme Preise. In der deutschen Kunstszene war sie eine der wenigen Frauen, die gut von ihrer künstlerischen Arbeit leben konnten. Dennoch widmete sie sich weiterhin mit Leidenschaft der Ausbildung des Nachwuchses.

    Die Bellon, wie sie in Kunstkreisen nur genannt wurde, sah sich selbst in der Tradition von Francis Bacon und Lucien Freud. In ihren frühen Werken war deren Einfluss noch deutlich erkennbar, doch im Lauf der Zeit hatte sie eine ganz eigenständige Bildsprache entwickelt. Auch sie arbeitete stets figürlich, wenngleich ihre Porträt- und Aktmalereien – denn es waren immer Menschen-, meist Männerbilder, die sie schuf – im Laufe der Zeit immer abstrakter überlagert wurden. Bis schließlich nur noch ein kleines Guckloch übrigblieb, durch das bruchstückhaft ein charakteristisches Merkmal des Porträtierten zu erkennen war. Das konnte ein Körperteil sein oder ein Wesenszug. Das Erstaunliche war: Ganz gleich, wie winzig und vermeintlich unbedeutend der Ausschnitt war, den sie in den Fokus rückte, die Person war immer so präzise getroffen, dass man sie auf Anhieb erkannte.

    »Zur Kenntlichkeit entstellt«, hatte sie einmal in einem Interview gesagt.

    Unter Politikern und Wirtschaftsbossen waren ihre Porträts deshalb gefürchtet. Doch noch mehr traf es die Mächtigen und solche, die es gerne wären, nicht von der Bellon porträtiert zu werden. Von ihr als bedeutungslos ignoriert zu werden. Mira hatte sich in ihrem Atelier einen eigenen Nockherberg geschaffen.

    Doch es waren längst nicht nur Promis, die sie porträtierte. Häufiger noch ließ sie sich von einfachen Menschen inspirieren, die sie in ganz alltäglichen Situationen darstellte. Immer waren es Einzelpersonen und egal, was sie machten, Mira zeigte sie so, dass ihre Einsamkeit mit Händen greifbar war.

    Die vielschichtige Arbeit, die Mira Kathrin kurz vor ihrem Tod gezeigt hatte, fiel völlig aus dem Rahmen ihres bisherigen Œuvres, nicht nur, weil erstmals eine ganze Personengruppe abgebildet war. Auf den ersten Blick war es ein Blick hinter die Kulissen einer Bühne. Tänzer, Schauspieler oder Schausteller hatten Künstler schon immer fasziniert. Man denke nur an die Arbeiten von Degas oder Picasso. Doch bei Mira war es mehr als das: Es war das Seelenporträt einer ganzen Gesellschaft.

    An ihrem letzten gemeinsamen Abend hatten sie zusammen gekocht und nach dem Essen bis tief in die Nacht geredet. Am Ende hatte Mira, wie immer, wenn sie etwas zu viel getrunken hatte, ihren Melancholischen bekommen. Sogar übers Sterben hatten sie geredet. Mira hatte Kathrin gestanden, dass sie oft über ihre eigene Beerdigung nachdachte.

    »Weißt du«, hatte sie irgendwann gesagt, »du wirst es vielleicht kitschig finden, und es ist auch nicht besonders originell, aber am liebsten würde ich ›Dust in the wind‹ hören. Das Original von Kansas.«

    Schließlich hatte Mira Kathrin gebeten, über Nacht zu bleiben. Doch Kathrin hatte abgelehnt, weil sie am nächsten Morgen als sachverständige Gutachterin in einem Prozess aussagen musste und dafür noch Unterlagen aus ihrer Wohnung benötigte. Nun würde sie es sich ewig vorwerfen, nicht bei Mira übernachtet zu haben.

    Dieses letzte Gespräch war Kathrin im ersten Schock eingefallen, als Konstantin am Telefon von Miras Tod berichtete, und sie hatte ihm von dem Musikwunsch erzählt. Er hatte es nicht vergessen.

    Kathrin holte den kleinen Mp3-Player aus ihrer Tasche. Sie schaltete ihn ein und rief die Songtitel auf. Auf dem Display erschien ein einziger Titel. Sie setzte die Ohrhörer ein und klickte den Song an. Dann schloss sie die Augen und gab sich ganz der Musik hin. Die melancholische Stimme Steve Walshs drang leicht scheppernd in ihre Ohren. »All we are is dust in the wind«. Als die charakteristische Geigenmelodie erklang, konnte sie sich endlich gehen lassen. Tränen liefen ihr über die Wangen.

    Nach und nach trat die Tote, die vor ihr lag, in den Hintergrund, und die lebendige Mira nahm ihren Platz ein.

    Kathrin hatte Mira vor zehn Jahren bei einer Vernissage kennengelernt. Es kam ihr viel länger vor, als hätten sie sich ein ganzes Leben gekannt, so vertraut waren sie. Sie hatten viel gemeinsam unternommen, Ausstellungen in ganz Europa besucht. In all der Zeit konnte sie sich an keinen einzigen richtigen Streit erinnern. Während mit ihrer Schwester Laura, die sie liebte, wie man nur eine Schwester lieben konnte, immer wieder die Fetzen flogen, war sie mit Mira meist einer Meinung.

    Lediglich Miras unbändigen Drang, alles auszuprobieren, auch Rausch- und Suchtmittel in allen Varianten, konnte Kathrin nicht nachvollziehen. Mira war wie eine Kerze, die an beiden Enden brannte. Sie konnte schlecht nein sagen, und wenn ihr etwas gefiel, konnte sie nie genug bekommen. Jetzt kam es ihr vor, als sei es Mira bewusst gewesen, dass sie im Zeitraffer leben musste.

    Auch Miras unstillbarer Hang nach immer jüngeren Liebhabern hatte bei Kathrin ein gewisses Unverständnis ausgelöst. Doch Mira hatte nur gelacht und behauptet, sie sei spießig.

    Meist schleppte Mira ihre »Typen« auf Vernissagen ab oder sie meldeten sich auf eine ihrer Annoncen »Männliches Aktmodell gesucht«. Auf diese Weise hatte die 45-Jährige auch den zwanzig Jahre jüngeren Elmar Witte kennengelernt. Erst hatte er ihr Modell gestanden, dann war er in ihrem Bett gelandet, und schließlich war sie ihn nicht mehr losgeworden.

    Kathrin war er vom ersten Moment an unsympathisch. »Er könnte dein Sohn sein, Mira«, war ihr damals herausgerutscht, und für einen Moment hatte sie gedacht, Mira sei sauer.

    Doch dann hatte sie mit ihrer unvergleichlichen Art schallend losgelacht. »Vielleicht ist er das ja, der Sohn, den ich nie hatte.«

    Trotz all ihrer Gemeinsamkeiten hatte Kathrin bisweilen das unbestimmte Gefühl, dass Mira etwas vor ihr verbarg. Manchmal kam es ihr vor, als wollte die Freundin ihr etwas anvertrauen und schreckte im letzten Moment zurück. Kathrin hatte sie nicht gedrängt. Sie war überzeugt, irgendwann würde ihr die Freundin erzählen, was sie bedrückte. Und jetzt war es zu spät.

    3

    Kathrin wusste nicht, wie oft sie die Wiederholungstaste gedrückt hatte, als sie plötzlich einen sanften Händedruck auf der Schulter spürte. Sie zuckte zusammen und öffnete die Augen. Wächter stand direkt vor ihr. Sie nahm den Kopfhörer ab und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

    »Ich habe dich gar nicht kommen hören.«

    »Entschuldige, aber du hast wohl dein Handy ausgeschaltet. Marks ist am Telefon.«

    Wächter reichte ihr sein Mobiltelefon.

    »Kathrin, tut mir leid, dass ich dich störe«, sagte Marks in dem Routineton, den er immer anschlug, wenn er vom Präsidium aus mit ihr telefonierte. »Die Kollegen von der Spurensicherung sind immer noch dabei, die privaten Unterlagen von Mira durchzusehen. Dabei sind sie auf einen Schließfachschlüssel gestoßen. In dem Schließfach lag ihr Testament und ein dicker Brief, der an dich adressiert ist. Natürlich müssen wir ihn ermittlungstechnisch auswerten. Aber sie war das letzte Mal im Sommer an dem Schließfach, und ich glaube kaum, dass der Brief einen Hinweis auf ihren Mörder enthält. Ich konnte durchsetzen, dass du ihn zuerst anschauen darfst. Meinst du, du schaffst das heute Abend noch?«

    »Natürlich«, sagte Kathrin, »du kannst mich in einer Stunde abholen. Ich möchte nur noch mit Wächter die Obduktionsergebnisse durchsprechen.«

    Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Wand. »Mein Gott, es ist ja schon zwanzig nach sieben. Das heißt, wenn Herbert überhaupt noch so lange Zeit hat?« Sie warf einen fragenden Blick auf Wächter, der sofort zustimmend nickte.

    Sie vereinbarten, dass Konstantin gegen 20.30 Uhr kommen würde, um sie mit ihrem Gepäck, das immer noch in seinem Wagen lag, nach Hause zu fahren. Den Brief wollte sie am Abend in Ruhe lesen. Schlafen konnte sie ohnehin nicht, aufgewühlt wie sie war. Und dann war da noch der Jetlag. In New York und in ihrem Kopf war es gerade erst früher Nachmittag. Kathrin verabschiedete sich von Marks und reichte Wächter das Telefon. Der steckte es in seine Tasche und ging ins Büro.

    Als er wenig später mit dem Obduktionsbericht zurückkam, hatte Kathrin bereits ebenfalls Arbeitskleidung und Handschuhe angezogen. Die Obduktion war zwar längst abgeschlossen, dennoch wollte sie vermeiden, falsche Spuren an der Toten zu hinterlassen.

    »Mirabelle Bichler«, sagte Wächter, als er mit routinierten Handgriffen die Röntgenbilder in die Halterung der Lichtkästen steckte. »Ich hatte keine Ahnung, dass Mira Bellon ein Künstlername ist.«

    »Doch, den hat sie schon sehr früh angenommen, wohl auch, um sich abzugrenzen«, entgegnete Kathrin. »Sie hatte kein sehr gutes Verhältnis zu ihrer Familie.«

    »Wusstest du, dass sie vor langen Jahren einmal ein Kind geboren hat?«, fragte Wächter.

    »Nnn…ein, bist du sicher?«, stotterte Kathrin, die wie vor den Kopf gestoßen war.

    »Sie muss damals selbst fast noch ein Kind gewesen sein. Wer weiß, ob der Säugling überhaupt überlebt hat.«

    »Das war es also, was sie mir immer sagen wollte«, murmelte Kathrin.

    »Sollen wir weitermachen?«, hörte sie Wächter von weit weg fragen.

    »Ja natürlich, entschuldige«. Mühsam gelang es Kathrin, sich zusammenzureißen.

    Wächter breitete auf einer Arbeitsfläche die Fotos aus, die am Tatort aufgenommen worden waren. Dann begann er mit seiner Erläuterung. Vieles von dem, was er Kathrin erklärte, hatte sie bereits von Konstantin erfahren. Dennoch erschrak sie, als sie die Bilder sah, die beim Auffinden der Leiche gemacht worden waren.

    Mira lag, nur mit einem dünnen Seidennachthemd bekleidet, auf ihrer Terrasse in einer bis zum Rand mit Rosenblüten gefüllten grünen Plastikwanne. Einige der Rosen waren zudem auf dem Boden rund um die Wanne verstreut. Raureif hatte auf Miras Haaren und den Rosenblüten zarte Gespinste gebildet, die der Szene eine morbide Schönheit verliehen. Mira war eine leidenschaftliche Gärtnerin und gartentechnisch bestens ausgerüstet. Die Wanne, in der sie lag, hatte Kathrin bei ihr noch nie gesehen. Sie hatte Räder und konnte wie ein Schubkarren zum Transport von Lasten verwendet werden. Der Täter musste sie eigens für diesen Zweck mitgebracht haben.

    »Er hat sie wie Abfall weggeworfen«, murmelte Kathrin.

    »Und gleichzeitig auf Rosen gebettet«, ergänzte Wächter.

    »Du hast recht«, pflichtete Kathrin ihm erstaunt bei. Ihr war das ambivalente Verhalten des Täters noch gar nicht aufgefallen.

    Als sich Kathrin nun abermals der Toten zuwandte, zwang sie sich, in ihr nicht mehr die Freundin zu sehen, sondern ein Opfer, das ihre professionelle Hilfe brauchte.

    »Der Fundort ist nicht der Tatort«, hörte sie Wächter sagen. »Er ist ins Haus eingedrungen, sie muss bereits geschlafen haben. Er hat sie im Schlafzimmer mühelos überwältigt. Es gibt kaum Spuren von Gegenwehr. Er muss einen Schlüssel gehabt haben. Haus- und Terrassentür sind jedenfalls unbeschädigt«, sagte er mit einem Seitenblick auf Kathrin, die die Augenbrauen hochzog.

    »Das hat leider nichts zu bedeuten«, widersprach Kathrin. »Mira hat ständig vergessen, die Terrassentür abzuschließen. In letzter Zeit war sie allerdings etwas vorsichtiger, wegen der Übergriffe von Witte.« Sie schaute Wächter fragend an.

    »Sie wurde nicht vergewaltigt«, kam er ihrer Frage zuvor. »Wir gehen davon aus, dass er sie im Haus getötet hat. Unmittelbar danach brachte er sie nach draußen und legte sie in die mit getrockneten Rosen gefüllte Wanne«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort.

    Kathrin, die schweigend zugehört hatte, betrachtete die Fotos, die man von der Leiche am Fundort gemacht hatte. »Was ist das?«, fragte sie und zeigte auf zwei dunkle Streifen auf dem Schotterweg.

    »Das sind Spuren von der Wanne. Er scheint die Leiche in der Wanne durch den ganzen Garten gezogen zu haben. Wir wissen nicht, weshalb. Vielleicht auf der Suche nach einem für seinen Zweck optimaleren Standort. Irgendwann muss er die Wanne dann auf der Terrasse platziert haben. Sicher ist, dass sich Mira sofort nach Eintritt des Todes im Freien befand. Als ihre Studenten am Samstag früh um zehn Uhr zum wöchentlichen Jour fixe kamen und Mira auf ihr Klingeln nicht öffnete, sind sie in den Garten gegangen. Dort haben sie die Tote dann gefunden. Die Leiche war regelrecht schockgefrostet. Es gab keinerlei Verwesungsanzeichen. Du kannst es dir selbst ausrechnen, sie muss dort abgelegt worden sein, als die Temperatur bereits deutlich unter dem Gefrierpunkt war. Ich habe bei der Wetterstation nachgefragt. Der Frost setzte in der fraglichen Nacht kurz nach drei Uhr ein. Dann wurde es rasch sehr kalt. Gegen Morgen hatte es minus acht Grad. Das ist übrigens die Temperatur, bei der sich in Kombination mit leichtem Wind Raureif bildet. Erst gegen elf Uhr stieg die Temperatur am Samstag wieder an.«

    »Um drei Uhr morgens«, wiederholte Kathrin nachdenklich, »da hat Witte längst die bedauernswerte junge Frau in dem Flatrate-Bordell malträtiert. Von Miras Haus bis nach Fellbach braucht man mit dem Auto mindestens eine halbe Stunde. Verdammt, das passt einfach nicht zusammen. Und ich war mir so sicher, dass er es war.«

    »Tut mir leid.« Wächter zuckte mit den Schultern. »Aber das Zeitfenster ist eindeutig. Mira Bellon wurde spätestens um vier Uhr getötet und dann sofort in der Kälte abgelegt.«

    Mühsam gelang es Kathrin, ihre Erregung zu unterdrücken. Sie wollte und musste sachlich bleiben. Das war sie Mira schuldig.

    »Habt ihr irgendwelche Spuren gefunden?«

    »Nichts Verwertbares. Der Täter muss eine Art Schutzanzug getragen haben. Wir haben auf ihrem Körper Fasern eines Gewebes gefunden, wie es von Technikern in Reinräumen verwendet wird. Allerdings werden die Anzüge mittlerweile von zahlreichen Firmen verwendet, wir dürfen uns also keine allzu großen Hoffnungen machen, über das Fabrikat an den Träger zu kommen.«

    »Und die Rosen? Du kennst dich da doch aus. Meinst du, die geben einen Anhaltspunkt?«

    »Wohl kaum.« Wächter schüttelte den Kopf. »Es waren verschiedene Sorten und ausschließlich getrocknete Blüten. Die bekommt man mittlerweile in jedem Bastelladen zu Dekozwecken. Es kann aber auch sein, dass er die Rosensträuße selbst getrocknet und die Köpfe dann abgeschnitten hat. Aber das bringt uns momentan auch nicht weiter.«

    Fast eine Stunde lang ging Kathrin mit Wächter noch einmal alle Obduktionsergebnisse durch. Danach musste sie ihm widerstrebend recht geben: Wenn Wittes Alibi stimmte, konnte er Mira nicht ermordet haben.

    4

    Noch bevor Kathrin die Tür des Zweifamilienhauses aufschloss, das sie gemeinsam mit ihrer Schwester Laura und deren Familie im Stuttgarter Westen bewohnte, hörten sie schon das Geschrei. Laura stritt sich offensichtlich wieder einmal lautstark mit ihrem Mann Franz. Seit einem halben Jahr hatten sie regelmäßig Zoff. Angefangen hatte es damit, dass Laura, die wie ihr Mann Pharmazie studiert hatte, wieder in ihren Beruf einsteigen wollte. Franz versuchte, das mit allen möglichen und unmöglichen Argumenten zu verhindern.

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