Der Absturz
Von Dietrich Heider
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Buchvorschau
Der Absturz - Dietrich Heider
Aufs Ganze betrachtet, — wenn denn in ihrem zarten Alter von Betrachtung überhaupt die Rede sein konnte — nach Anzeige aller ihr bereits zu Gebote stehenden Sinne also, stellte sich Isabell ihr Dasein als durchaus befriedigend dar. Ihre Umgebung war hell und trocken und, wenn sie Unwillen kundtat, was sich bei fortgesetztem Alleinsein schon hin und wieder als nötig erwies, ließen ihre Bezugspersonen selten lange auf sich warten. Am liebsten trippelte sie barfuß über den neuen Bodenbelag aus terrazzoartig gesprenkeltem Kunststoff, dessen schaumiges Unterfutter dem Druck ihrer Füße sanft nachgab, und dabei liebte sie das Gefühl, wenn sie mit Ballen und Zehen Dellen in die weiche Fläche grub. Dass es mit dieser Auslegware so seine Bewandtnis hatte, dass sie etwa auf nagelneues Eichenparkett geklebt war, und vollends aus welchem Grunde, dafür fehlte ihr allerdings noch jegliche Vorstellung. War denn nicht für Essen, Kleiderwechsel, selbst für Zerstreuung gesorgt, und sogar in mehr als wünschenswerter Weise? Wie hätte sie da zur Kenntnis nehmen sollen, dass der Bauch ihrer Mutter in den letzten Monaten etwas angewachsen war, da er doch bis dahin mit ihrem Wohlbefinden in keinem erkennbaren Zusammenhang gestanden hatte? Überdies floss die für sie bestimmte Milch seit Neuestem weiterab von ihrer Mutter aus einem glatten, bissfesten Gummizapfen und schmeckte süßlich, manchmal auch nach Haferflocken, Bananenmus oder Karamell, was bei allem zunächst Ungewohnten doch eine Verbesserung bedeutete. Vielleicht, wenn sie ein bisschen schlauer gewesen wäre, — aber eigentlich war sie für ihre drei Jahre ziemlich schlau — vielleicht hätte sie dann das ihr drohende Unheil daran ersehen können, wie hingebungsvoll sich ihr Vater dieser neu entstandnen Schwellung zuwandte, denn Zuwendung gebührte doch eigentlich ihr, dem herzigen Fratz. So taumelte sie wie Flitter in einer Schneekugel, willenlos und unwissend, im Strudel des Geschehens bis zu jenem Tage, der ihr schlagartig zwar keine Selbsterkenntnis bescherte, aber doch die Erkenntnis dessen, was sie nicht mehr war oder nie sein würde, blond, blauäugig und ein niedliches Bettscheißerchen.
Für die Fahrt zu ihrer seit Tagen abwesenden Mutter hatte man ihr ein hellblaues Kleid mit Puffärmeln und eine weiße Strumpfhose angezogen. Ihr langes kastanienbraunes Haar war in der Mitte gescheitelt und mit Hilfe zweier Schleifen straff zur Seite gespannt, von wo es jedoch wie zwei Dochte kraus und unbezähmbar um ihre Ohren baumelte. Weit nach hinten in die Holzbank gerückt, streckte sie ihre Beine, da sie sie nicht abwinkeln konnte, gerade von sich zwischen die gespreizten, leicht zittrigen Knie ihres Großvaters, der ihr in der Straßenbahn greisenhaft lächelnd gegenübersaß. In seinem viel zu weiten Anzug wirkte er gebrechlich und krank. Isabell zur Seite wachte ihre Großmutter, die Pfauenwirtin aus Degerloch, in Kostüm und Rüschenbluse über diesen Ausflug ihrer Enkelin.
Langsam fuhren sie über die kurvenreiche Strecke in Stuttgarts Innenstadt hinunter und eigenartigerweise hat sich später für Isabell mit dieser Fahrt die Vorstellung verbunden, sich mit jeder Haltestelle weiter dem Herd einer schrecklichen Verwüstung zu nähern. Nie zuvor waren ihr die von Gestrüpp überwucherten Grundmauern einstiger Villen in den Gärten hoch über dem Straßenrand aufgefallen. Nie hatten die Baulücken, die entlang der Hauptverkehrsachse klafften, ihr Interesse erregt, nie die auch noch in ihren Trümmern beeindruckende Fassade der Landesbibliothek, die den vorbeifließenden Verkehr hohl und bedrohlich überragte. Inzwischen längst in einen Bus umgestiegen, bewegten sie sich über die Talsohle, als Isabell ein überwältigendes Ahnen von Zerstörung überkam, genau in diesem Augenblick, wie sie später immer wieder festgestellt und sich selbst gegenüber versichert hat. Es ergriff sie, durchdrang sie, berauschte sie. Jedoch, ohne hinzuschauen, unterhielten sich ihre Großeltern über die Vorbereitung eines bevorstehenden Festes, indes das Flickenbild von Ruinen und Neubauten, Lücken und Baustellen an ihnen vorbeizog, und eben das Bewusstsein der Teilnahmslosigkeit angesichts der Eindrücke, die sie so tief bewegten, hat ihr später alle Zweifel zerstreut, sooft sie darüber nachgrübelte, ob denn ein so junges Mädchen zu solchem Empfinden überhaupt in der Lage sei. — Vielleicht aber war sie doch durch eine Bemerkung ihrer Begleiter auf das Feld des Verstörenden gelenkt worden, denn, während sie vor dem Hauptbahnhof auf die Abfahrt des Busses warteten, hatte sich ihr Großvater nicht laut, aber nachdrücklich über eine Gruppe Betrunkener ereifert. Da hatte Isabell geschwind aus dem Schiebefenster gespäht, hinüber auf den Rasenplatz im Schlossgarten, auf dem sie lungerten, eine Flasche von Hand zu Hand reichend, einige Frauen mit verklebten Haaren und zerrissner Kleidung sowie ein Mann, der sich ihr durch sein feuerrotes Hemd tief einprägte.
Zu beiden Seiten der Freitreppe, über die man in die Eingangshalle der Klinik gelangte, standen Baubaracken. Rohre, Kabel, Fliesen waren zwischen den Kellerfenstern des Sockelgeschosses aufgeschichtet und allerorten herrschte geräuschvolle Betriebsamkeit. Während ein Betonmischer knirschend kreiste, schaufelte ein Arbeiter im blauen Kittel Sand und Zement in dessen runde Öffnung. Auch im Innern des Gebäudes trafen die drei Besucher auf Handwerker, die damit beschäftigt waren, das Leitungssystem sowie die sanitären Einrichtungen vollständig zu erneuern. — Elf Jahre waren seit der bedingungslosen Kapitulation vergangen, acht seit der Währungsreform und seit fünf Jahren gab es im Südwesten Deutschlands ein einziges, großes Bundesland mit Stuttgart als Hauptstadt. Wer, selbst wenn er noch so hinfällig gewesen wäre, hätte da an Baulärm Anstoß genommen, galt er doch als die Begleitmusik eines sachten Wiederauflebens?
Isabell stürzte auf das Bett ihrer Mutter zu. Nur am Rande bemerkte sie ihren Vater und ihre andre Großmutter, wie diese sich in eigenartigem Widerspruch zu ihrem sonstigen Verhalten, ja, wie ihr schien, in fast lächerlicher Missachtung ihrer Erwachsenenrolle mit einem unordentlichen Wäschepacken abgaben. Irgendwo am Rande ihrer Wahrnehmung, in den hintern Bereichen des Raumes, befanden sich wohl noch weitere Betten, in denen ebenfalls Frauen lagen, auch diese von Besuchern umstellt. Nachdem sie mit ihrer Mutter, wie gewohnt, Küsschen gewechselt hatte, überließ sie sich zaghaft der in ihr aufkeimenden Hoffnung, ihre Lebensumstände könnten wieder annähernd so werden wie früher, zumal da ihre Mutter nicht müde wurde, ihr zu versichern, dass alles gut verlaufen sei. Alles habe sich ganz wunderbar gefügt und nichts stehe weiter zu befürchten. Sie richtete sich auf, um ihren Oberkörper wie erschöpft gegen das Kopfende zu lehnen, und Isabell folgte dem Gesicht ihrer Mutter mit ihren Blicken, hinauf zu einem Handgriff, der an einem Galgen über dem Bett baumelte, und noch etwas höher, zu dem Gekreuzigten, der vom braunen Lackfarbenanstrich der Zimmerwand auf sie beide herniederblickte. Mittlerweile hatten sich auch die Eltern ihres Vaters zu dem Stoffklumpen begeben und, während sich nun alle mit gleicher Betulichkeit unterhielten, — auch die beiden alten Frauen, was sonst eher selten vorkam — falteten sie andächtig die Fetzen auseinander. Ja, alles sei nun überstanden, fuhr ihre Mutter gleichfalls mit süßlich gedämpfter Stimme fort, und sie werde wohl bald wieder nach Hause kommen, zu ihrem tapfern Mädchen, wobei sie ihr Wangen und Scheitel streichelte. Aber nun dürfe auch sie den kleinen Goldschatz anschauen. So viel befremdliches Gehabe hatte Isabell in der Tat auf Außerordentliches eingestimmt und ein Goldschatz, wenn auch ein kleiner, vermochte da schon einiges zu erklären. Ihr Vater führte sie zu den andern, um ihr mit dem Bekunden äußerster Verzückung etwas zu zeigen, wofür ihr Begriffsvorrat keine Benennung und ihre Erinnerung keinen Vergleich bereithielten. Erst Monate später, als ihre Mutter ihr auseinandersetzte, ein so großes Kind wie sie könne nun wirklich nicht mehr an der Schoppenflasche nuckeln, und Isabell, die wild schreiend um sich schlug, dazu zwingen wollte, eine aufgeplatzte Brühwurst von der Gabel zu essen, erwachten in ihr Erinnerungen an dieses Erlebnis und weihten sie von Stund an zur Fleischverächterin.
Bei Familie Grundmann war Taufe. Der große Saal des Goldnen Pfauen, ganz neu mit Zirbelpanelen vertäfelt und parkettiert, da die Wirtin auf die heimelige Wirkung von Holz schwur, bot kaum genug Raum für die unzähligen Gäste. Weder an der Ausstattung noch an leiblichen Genüssen war gespart worden und die heitere Stimmung bestärkte die alte Dame in der Überzeugung, sich bei der Auswahl der Speisen gegenüber ihrer Schwiegertochter mit Recht unnachgiebig gezeigt zu haben. Schließlich konnte sie am ehesten ermessen, welche Gerichte eines solchen Anlasses würdig waren, und, dass es dabei nicht so sehr auf den eignen Geschmack ankam, durchschaute niemand besser als sie selbst. Wer wollte denn schon — darin war sie mit Hilde durchaus einer Meinung — sonntags, etwa im Familienkreis, Briessuppe oder Kalbsnierenbraten essen?
Da die frisch Niedergekommene sich noch etwas schwach fühlte, ging die alte Frau Grundmann immer wieder durch die Reihen, um von den Köstlichkeiten anzubieten. Außerdem benötigten die beiden Mädchen, Anna, der Täufling, und ihre nun schon große Schwester immer wieder die Mutter. Isabell, die seit einiger Zeit in Trotz verfallen war, liebte es, sich kindischer zu geben, als ihr von Alters wegen zukam. Babbeln ohne Sinn, affige Bewegungen, aber auch absichtliches Sabbern und Bettnässen gehörten zu diesen abgelegt geglaubten und zur Unzeit wiedergekehrten Verhaltensmustern. Allein, ihre Großmutter hatte auch in dieser