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Die Schweinedärme kullerten platschend auf den glitschigen Boden
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eBook263 Seiten3 Stunden

Die Schweinedärme kullerten platschend auf den glitschigen Boden

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Über dieses E-Book

Rudolf Nährigs Geschichten aus dem altehrwürdigen Hamburger "Hotel Vier Jahreszeiten", in dem er als Oberkellner 35 Jahre lang die Gäste aufs Höflichste umsorgt hat, sind legendär - "Gern hab ich Sie bedient" wurde zum Bestseller. Jetzt zeigt der Kultkellner, dass er auch anders kann. Böse, brutal, bissig. Schonungslos blickt er zurück auf seine Kindheit in einem Hundert-Seelen-Kaff im niederösterreichischen Weinviertel.Mit ungestümer Direktheit und einer gehörigen Portion vom besten schwarzen Wiener Humor beschreibt er eine Hölle – frei nach dem Motto "In jedem Dörfler steckt ein Teufel". Schamlos aufgetischt werden unerhörte Beobachtungen und schaurige Tatsachen: Alles "Nein! Nein!" nutzt der Ursula gar nichts, wenn der Leopold zu viel Wein intus hat. Der alte Schickler liegt beinlos in seiner Siechkammer und brüllt. Emma zieht auf dem Dachboden ihre Bluse aus, der Pfarrer will alle Sünden ganz genau wissen. Adi möchte der Rosl sein neues Fahrrad zeigen, doch die Dorfbuben haben ganz andere Pläne mit ihm. Wenn die Sali mit einem Geliebten allein ist, schminkt sie sich sogar die Lippen rot...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum18. Juni 2015
ISBN9788711448540
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    Buchvorschau

    Die Schweinedärme kullerten platschend auf den glitschigen Boden - Rudolf Nährig

    Dankbarkeit

    Glasscherben, kobaltblau oder weiß marmoriert

    Am liebsten waren mir in meiner Kindheit die lauen Spätsommer-Samstagabende im Dorf. Da wurde das lehmig-erdige Trottoir vor dem Haus von den jungen Bauernmädchen und Bauernmägden, die sich für diese Arbeit blaue Kopftücher und ebenso blaue Schürzen umgebunden hatten, mit ihren aus Reisig zu Buschen zusammengebundenen Riadlbesen fein säuberlich gekehrt, indem sie in schnellem Tempo Schritt für Schritt und von links nach rechts vor sich her fegten. Die großen und die kleinen Steinchen, die sich die Woche über dort angehäuft hatten, flogen nun auf die angrenzende Straße oder unten an die Hausmauer. Der braune Erdboden war dann ganz glatt und frei von Steinchen, Zweiglein und anderem Kleinmist. Das Trottoir sah wie frisch gewaschen aus.

    Wir Kinder nahmen jetzt ein Holzsteckerl und zeichneten die Vorlage zum Tempelhüpfen auf. Nicht wie den üblichen Spielregeln entsprechend, ein Rechteck unterteilt in links und rechts jeweils drei gleich große Quadrate, die oben und unten noch zwei Rundbögen erhielten, oben für den Himmel und unten für die Hölle, während die Quadrate dazwischen das Fegefeuer waren. Nein, wir machten, dem katholischen Glauben hörig, ein Kreuz aus sechs Quadraten: vier von oben nach unten und, am zweiten Quadrat von oben ansetzend, links und rechts jeweils eines seitlich, dazu oben und unten wieder die Rundbögen für Hölle und Himmel.

    Jedes von uns Kindern hielt einen Fundus von bunten Glasscherben bereit. Meine Lieblingsfarbe war Kobaltblau. Meine kobaltblauen Scherben stammten von einem alten Lampenschirm, den mein Großvater, der Vater meines Stiefvaters, zerbrochen hatte, als er in angetrunkenem Zustand in der Küche mit einem Holzprügel nach mir warf, sein Ziel aber verfehlte, so dass der heftige Schlag stattdessen den esstellergroßen, flachen Lampenschirm über dem Küchentisch traf, der sodann, in verschiedene kleinere und größere kobaltblaue Teile zersprengt, auf unseren mit einer grün gesprenkelten Resopalplatte beklebten Küchentisch herabregnete. Diese prächtigen blauen Scherben hatte ich gleich gehortet – sobald dies gefahrlos möglich war. Sie waren nicht nur wunderschön, sondern auch sehr nützlich: Mit den größeren konnte man die Sonnenfinsternis gut beobachten, die sich schon zwei Wochen später ereignete, und die kleinen waren bestens fürs Tempelhüpfen geeignet.

    Während ich meine kobaltblauen Lampenschirmbruchstücke hatte, war mein Schulkamerad und Freund Franz Huberka mit weißen Milchglasscherben gekommen, die mit schwarzen Fäden durchzogen waren, was ihnen ein marmorähnliches Aussehen gab. Die Mädchen Gerti und Mitzi wollten auch mitspielen, sie hatten kleine ellipsenförmige Steine, die sie selbst kunstvoll bunt bemalt hatten. Es galt, einen Kampf zu bestehen. Die Mädchen, die andauernd vor sich hin kicherten und sich unentwegt gegenseitig etwas ins Ohr flüsterten, um daraufhin prompt erneut zu kichern, durften beginnen. Normalerweise losten wir aus, wer anfangen durfte. Doch heute, an diesem milden Samstagabend, an dem die Bauernmädchen mit ihren Riadlbesen das Trottoir vor dem Haus so fein säuberlich gekehrt hatten, waren wir Kavaliere und gaben den Mädchen großzügig den Vortritt – in der Hoffnung auf gelegentliche Vergeltung dieser „Gnade" in irgendeiner Form.

    Es war enorme Geschicklichkeit vonnöten, wollte man keine Fehler machen und die Steine oder Scherben ohne Übertreten oder andere Verstöße gegen die Spielregeln von der Hölle durch das Fegefeuer oder Purgatorium bis in den Himmel, das Elysium, befördern. Man konnte sie auf dem Handrücken, auf dem Fußrist, auf dem Kopf oder auch blind mit dem Kopf im Genick, auf einem Bein hüpfend, in den Himmel bringen. Einbeinig zu hüpfen und zweibeinige Kehrtum-Grätschen zu machen bedurfte mit den jeweiligen Scherben oder Steinen auf dem Kopf oder dem Handrücken – kobaltblau, weiß marmoriert oder kunstvoll bunt bemalt – einer großen Konzentration und geschickter Körperbeherrschung.

    Nach einer Weile jedoch meinte die fünfjährige Gerti, es sei heute irgendwie langweilig, und wollte nicht mehr mitspielen. Ihre Mutter, Fanny Schickler, die Frau vom Schickler-Ferdl, fing gerade damit an, für den morgigen Sonntag einen Gugelhupf zu backen, und das war lockender als das Spiel mit uns Buben. Für Gerti war es der höchste Genuss, Zucker zu schlecken, die Gugelhupfform aus feuerfester Tonerde mit Butter auszuschmieren und dann, am Ende, wenn der Gugelhupf gebacken war, die überstehenden Krusten abzuknabbern, und dieses Vergnügen wollte sie sich nicht entgehen lassen.

    Ihre drei Brüder waren schon zur Stelle. Sie wollten dasselbe – auch naschen und schlecken. Gerti musste sich beeilen, noch etwas abzubekommen. Ohne die Gerti wollte nun auch die Mitzi nicht mehr mitspielen, nur zu zweit machte es keinen richtigen Spaß mehr, und so schlenderten Franz und ich allein über das frisch gekehrte, lehmig-erdige Trottoir, unsere kobaltblauen oder weiß marmorierten Scherben in den Händen oder Hosentaschen, und machten eine abendliche Runde durch unser Hundertseelendorf.

    Die Schicklerkinder – Gerti, Josef, Johann und der kleine, geistig behinderte Emmerich mit dem flachrunden Gesicht – wohnten im Haus schräg gegenüber von unserem und waren genauso arm wie wir. Wenn meine Schwester und ich wussten, dass Mutter einen Kuchen backen wollte, gingen wir, um uns ja nicht auch nur einen einzigen Krümel entgehen zu lassen, schon Stunden vorher nicht mehr aus unserer kleinen Küche mit dem Resopalplattentisch und dem Blick in den Hof, in dessen Mitte der Misthaufen thronte. An besonderen Feiertagen goss Mutter über den Kuchen noch eine weiße Zuckerglasur. Der süß-säuerliche Geschmack dieser Glasur erinnerte mich schon an die weiß und rosa glasierten Weihnachtskekse am Christbaum – selbst wenn es noch Sommer war.

    Der sechs Wochen alte Gottlieb schläft in der Abendsonne

    Am Samstagabend gegen sechs Uhr legte sich ein leicht erregtes feierliches Wohlgefühl auf meine Seele. Diese Abende in unserem Dorf genoss ich in meiner oftmals unglücklichen Kinderzeit in vollen, für Augenblicke befreienden Zügen. Die Burschen hatten ihre abgetragene und verschmutzte Feldkleidung abgelegt und gegen andere, nicht festliche, aber bessere Kleidung getauscht. Oft war es nur das karierte Hemd, das einem blauen oder weißen einfarbigen Hemd Platz machte. Manche hatten sich rasiert und die Haare mit Pomade eingefettet. Die reifen Mädchen wuschen sich die Haare, erneuerten ihre Frisuren, hatten modische Faltenröcke angezogen und die Schuhe frisch geputzt. Wenn sie auf der Straße gingen, bewegten sie die Hüften kokett hin und her – was sie unter der Woche bei der Arbeit auf dem Feld nie taten – und ihre braungebrannten Gesichter lächelten neckisch.

    Die Alten saßen auf den knorrig-gemütlichen Holzbänken vorm Haus, auf denen schon ihre Väter und ihre Großväter gesessen hatten, schauten mit leerem Blick aus ihren tiefliegenden hohlen Augen auf die ihnen gegenüber für den Winter aufgeschichteten Klafter Brennholzscheite und über den dahinterliegenden, mit verwitterten Holzbrettern eingezäunten Garten, der mit bunten Blumenbeeten von Astern, hochstieligen Sonnenblumen, weißen und roten Dahlien und langen, schmalen Rabatten von stark riechendem Dillkraut sowie dunkelgrüner großblättriger Petersilie und silbrig matt glänzendem Salbei bepflanzt war. Dabei erzählten sie sich die Neuigkeiten, die fast jeder schon kannte. Neuigkeiten, die wieder und wieder neu erzählt und verdreht wurden, bis sie ganz andere Geschichten waren. Lediglich der wahre Kern blieb der gleiche, alles rundherum hatte sich am Ende völlig verändert und verkehrt.

    Die Mirkan-Ursl hatte ein Kind von einem verheirateten Mann bekommen. Diese Tatsache war zu bereden. So was passiert nicht alle Tage in dem kleinen, langgestreckten Hundertseelendorf. Jede und jeder zerriss sich das Maul. Die betrogene Ehefrau ertrug es mit Qual. Sie sagte, es sei auch nicht ihre Schuld, dass er zu der um fünfundzwanzig Jahre jüngeren Ursl gegangen sei; sie habe sich ihrem Poildl immer hingegeben, wo er wollte und wann er wollte. Die verachtenden Blicke der übrigen Dorfbewohner seien Schmach und Schande genug für sie, scheiden aber lasse sie sich nicht. Was solle sie auch tun? Wo sollte sie hingehen? Seit er mit der Ursl das außereheliche Verhältnis habe, sage er ihr nur Grobheiten, schlage sie immer wieder und wolle, dass sie aus dem gemeinsamen Haus ausziehe.

    Freitag Nachmittag stand ich mit meiner Mutter in der Küche, ich hielt soeben den grausilbrigen Aluminiumtopf mit der heißen Milch fest in beiden Händen und meine Mutter rührte mit einem hölzernen Kochlöffel Grieß ein, um für das Abendessen Grießkoch mit Zucker zu machen, da kam die betrogene Ehefrau weinend und mit schmerzverzerrtem Gesicht, die Hände auf die Schulter gepresst, und zeigte uns den großen Fettfleck, der ihre Kleidung, und den blau unterlaufenen Fleck, der ihre Haut verunstaltete, nachdem ihr Mann eine heiße Bratpfanne mit siedendem Fett nach ihr geworfen hatte. Sie war nicht die Einzige im Dorf mit einem derartigen Schicksal, nur gab es im Fall der anderen Schicksale kein solches lebendiges, strampelndes und brüllendes Corpus Delicti in Windeln, wie es die Mirkan-Ursl vorzuweisen hatte. Wenn ihr Sohn sie nicht zurückgehalten hätte und sie zudem nicht so feige gewesen wäre, so sagte die betrogene Ehefrau, dann hätte sie sich schon umgebracht.

    Im Weingarten, droben auf dem Berg, wusste sie weiter zu berichten, da hätten sie sich immer getroffen. Drinnen in der kleinen, behelfsmäßig aus Holz gezimmerten Schutzhütte hätten sie zusammen Wein getrunken und Zärtlichkeiten ausgetauscht. Der Schickler-Ferdl habe einmal gesehen, wie sie zusammen hineingegangen seien, und da hat er sein rechtes Ohr an die groben alten Bretter der Holztür gepresst und gelauscht, was sie redeten, und dabei dem Leopold sein Stöhnen, Ächzen und Prusten und der Ursl ihr „Nein, Nein!"-Gewimmer gehört. Doch alles Nein hat nichts genützt, es ist passiert. Das hat der Ferdl dann alles halblaut im Dorf herumerzählt, wobei er allen mit wichtiger Miene die Pflicht zu schweigen aufgetragen hat.

    Auch das hat nichts genützt, die Leute haben es auf den Bänken vorm Haus, auf denen schon ihre Väter und deren Väter saßen, weitergeflüstert und weiterberichtet, bald mit völlig anderen Worten, unter vorgehaltener Hand. Dumm stehe sie nun da, die betrogene Ehefrau. Sie erzählte meiner Mutter, sie wolle sich den Lauf des Schrotgewehrs in den Mund stecken und abdrücken, aber dann würde es ihr womöglich nur den Gaumen, die Zunge und die Kiefer zerfetzen, tot aber wäre sie nicht, nur ein Maulkrüppel auf Lebenszeit.

    Nachdem sie meiner Mutter ihr Herz ausgeschüttet hatte, während meine Mutter und ich unterdessen Grießkoch mit Zucker bereiteten, verabschiedete sie sich mit feuchten Augen und ging, einen Fettfleck auf dem Kleid und einen blauen Fleck auf der Haut, zurück in ihr Haus, in dem ihr Mann, der Poildl, sie nicht mehr haben wollte. Voll Qual ertrug sie ihr schlimmes Los weiter, bis sie in auswegloser Verzweiflung eines Tages schließlich ihre paar Sachen packte und mit ihrem Sohn drei Ortschaften weiter zog, um bei einem Bauern als Tagelöhnerin mit Kost und Quartier zu arbeiten.

    Unterdessen wurde die Ursl zum zweiten Mal schwanger. Eines Sonntagvormittags lieh sich ihr verheirateter Liebhaber Leopold, dessen Frau nun drei Ortschaften weiter gezogen war, das Moped vom alten Mirkan, dem Vater von der Ursl, um nach Ziersdorf zum Feuerwehrfest zu fahren. An der Kreuzung beim Friedhof in Gettsdorf – eine sehr gefährliche, unfallträchtige Kreuzung – war er beim Linksabbiegen unachtsam. Der Fahrer eines entgegenkommenden, mit Kies beladenen Lastkraftwagens sah ihn zu spät und überfuhr ihn frontal. Er war sofort tot. Als die an der Straße wohnende alte Frau die Rettung verständigte, sagte sie belustigt dazu: „In der Woche kracht’s schon zum dritten Mal." Der Krankenwagen ist auch schnell gekommen, doch konnten die Sanitäter nur noch den zerdrückten Körper bergen, dessen aus der geplatzten Bauchdecke quellenden Därme lediglich durch die feste Jacke zusammengehalten wurden. Der Schädel war bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert und das rot-weiß lackierte Puch-Moped MS 50 völlig verbogen.

    Heute, an dem wunderschönen Samstag, an dem ich mit meinen kobaltblauen Scherben zusammen mit Franz, Mitzi und der Schickler-Gerti Tempelhüpfen gespielt habe und auf einem Bein von der Hölle über das Fegefeuer in den Himmel gesprungen bin, sitzen auch der alte Mirkan, der nun kein Moped mehr hat, und seine Frau vorm Haus. Ihre Tochter, die Ursl, dazwischen. Der sechs Wochen alte Gottlieb schläft im Kinderwagen in der goldenen Abendsonne.

    Nach dem Kirchgang leerte er den Toilettenkübel

    Dem alten Schickler, dem Vater vom Schickler-Ferdl, der den Leopold und die Ursl in der Schutzhütte droben auf dem Berg im Weingarten belauscht hatte, waren wegen eines unheilbaren Wundbrandes beide Beine im unteren Drittel des Oberschenkels abgetrennt worden. Mit fünfundsechzig Jahren war er ein Pflegefall. Man hatte ihn in die „Ausnahme" ausquartiert, die Unterkunft für sieche, alte Menschen. Seine Frau und ihr im Haus gebliebener Sohn, der dumpfe Ferdl, Vater von Gerti, wollten ihn im Haus nicht länger ertragen.

    In seiner winzig kleinen Ausnahmekammer, vom Hof aus gegenüber dem Misthaufen gelegen, hatte der alte Schickler alles, was er in den Augen seiner Frau und seines Sohnes als Krüppel brauchte. Ein Bett aus braunem Eichenholz, in dem ein durchgelegener Strohsack eine tiefe Grube bildete, über die ein gelb-graues durchgewetztes Leintuch gebreitet war. Die Federn in der Tuchent, dem Federbett, waren schon so klumpig, dass sie auf beiden Seiten wie schwerer Ballast herunterhingen und in der Mitte, die doch den Körper vor Kälte schützen sollte, nur noch das schmutzige, zerschlissene Leinen blieb. Im Winter war der Körper des Alten nicht nur vom Wundliegen im rauen und feuchten Strohsack rot, sondern auch blau und violett vor Kälte und Erfrierungen. Ein Sessel stand neben dem Bett, damit der alte Schickler vom Bett auf den Sessel und vom Sessel weiter auf seinen verzinkten Blech-Toilettenkübel rutschen konnte, der ein- oder zweimal pro Woche auf den Misthaufen im Hof geleert wurde.

    Oftmals kam es vor, dass der alte Schickler in seiner Siechkammer zwischen Bett und Sessel auf den Boden fiel und nicht mehr aus eigener Kraft in sein Bett zurückkonnte. Seine Hilferufe wurden nicht gehört, niemand war im Haus. Er versuchte dann immer wieder, den am Boden liegenden Rumpf an den Armen in die Strohgrube seines Bettes zu ziehen. Die Kraftanstrengung ließ die dicken, aufgequollenen Adern auf dem erhitzten roten Gesicht an Stirn und Schläfen dunkelblau bis schwarz anlaufen. Die beinahe blinden Augen waren weit aufgerissen, und aus den Winkeln des zahnlosen Mundes lief rinnsalartig schäumender Speichel. Dicke Schweißperlen rannen über Wangen und Hals. Das schmutzig graue, unter den Achselhöhlen löchrige Nachthemd, dessen kragenloser Saum rundherum ausgefranst war, klebte triefend nass am verschwitzten Leib.

    Als er einmal so zwischen Bett und Sessel lag, kamen zufällig die beiden Millingertöchter vorbei, Vroni und Else. Das war seine Rettung, jedenfalls für diesen Tag. Die beiden jungen Schwestern versuchten mit aller und letzter Kraft, den in sein zerfetztes Nachtkleid gehüllten, am Boden liegenden und röchelnd nach Luft ringenden Mann wieder in sein Bett aus feuchtem Stroh und einem zerschlissenen Jutesack zurückzuhieven. Immer wieder glitschte den schwachen Mädchen der schweißnasse, plumpsackartig schwere Körper aus den Händen. Unter größter Anstrengung gelang es ihnen schließlich, den Beinlosen, mit dem Gesicht nach unten, in sein Bettloch zu rollen. Schwer atmend blieb er dort für einige Zeit auf dem Bauch liegen, bis er wieder genug Kraft gesammelt hatte, um sich auf den Rücken zu drehen. Da war er auch schon wieder allein in seiner winzig kleinen Ausnahmekammer. Der beißend strenge Fäkaliengeruch des Mannes und seiner Behausung hatte die Millingermädchen mit Ekel erfüllt und gezwungen, fluchtartig die Kammer zu verlassen.

    Am Kopfende des Bettes stand ein Nachtkastel mit einer Kerze drauf, die aber jeden Abend nur zwei Stunden brennen durfte, und zum Anzünden gab es pro Tag nur ein Streichholz. Zu den Mahlzeiten wurde dem Beinlosen das Essen von seiner strengen Frau auf einem emaillierten braunen, verbeulten Blechteller mit stilisierten, teilweise abgeriebenen roten Rosen darauf grußlos durch die Tür geschoben und auf das am Eingang stehende Stockerl, einen kleinen Schemel, gestellt. Die tägliche Weinration von einem halben Liter Haustrunk bekam er am Mittag. Sie musste bis zum Einschlafen ausreichen. Zigaretten gab es keine mehr, was für den zeitlebens starken Raucher – deswegen hatte er auch beide Beine verloren – ein tagtägliches Martyrium war. Doch da half kein Bitten und kein Betteln. Die Frau blieb hart. Obwohl es jetzt doch eigentlich schon egal war, ob er noch rauchte oder nicht, er hatte ja eh keine Beine mehr zum Amputieren.

    Ab fünf Uhr früh ging im Schicklerhaus, schräg gegenüber von dem unseren, das Geschrei und Geplärre seiner Frau los, der Mutter der beiden Söhne des alten Schickler, Ferdinand und Gustav. Gustav allerdings hatte sich schon frühzeitig aus dem Staub gemacht. Er war der Sensiblere und besaß zumindest ein gewisses Potenzial an Intelligenz, das er aber nicht zu nutzen vermochte. Nun führte der dumpfe und leicht beschränkte Ferdinand, meist Ferdl genannt, zusammen mit seiner Mutter und später seiner Frau ihre verwahrloste Klitsche von Hof. Die einzige Kommunikation von Mutter und Sohn bestand darin, sich gegenseitig mit niederträchtigen Gemeinheiten und den wüstesten Beschimpfungen anzuschreien. Der etwa fünfunddreißigjährige abgemagerte Ferdl – debiler Gesichtsausdruck, schmale Lippen, spitze, kurzrückige Nase, blasse, tote Haut, ein larvenähnliches Gesicht – war in dieser Disziplin der einzige Sparringspartner der Alten; zumindest so lange, bis er seine Frau Fanny heiratete, mit der die alte Schickler nun jemand Neues zum Anschreien und Beschimpfen gefunden hatte.

    Ferdls Gehabe hatte etwas von einem Neandertaler. Beim Gang zur Sonntagsmesse endete sein krummer, immer nach vorn gebeugter Körper schließlich stets im Wirtshaus. Dort war der Narr des Dorfes gern willkommen. Die wieder und wieder hin und her verdrehten, uralten Neuigkeiten, wie sie sich die Alten in der Abendsonne auf den Bänken erzählten, lieferten ihm und den anderen willkommenen, gut verdaulichen Redestoff. Wirtshaustischgespräche. Sonntags war der Tag, an dem er sich rasierte und umzog. Dann wechselte er seine graubraune, nach Schweinestall und Mist stinkende Alltagshose, die er eng um die Unterschenkel wickelte, um sie dann in die Gummistiefel hineinzustecken, gegen seinen einzigen Anzug. Der war grau gestreift und abgeschabt und die Hose war zu kurz, so dass zwischen den schwarzen, bis über die Knöchel reichenden und an den Absätzen schief abgetretenen Schnürschuhen die dünnen, kalkweißen Schienbeine etwa fünf Zentimeter weit hervortraten. Dazu zog er ein ungebügeltes Hemd an und band sich seine Krawatte wie einen Strick um den Hals. Statt der alten Tellerkappe, die er jahrein, jahraus trug, ob Sommer oder Winter, setzte er sonntags einen grauen Hut auf, der an der vorderen Krempe speckig war, und an den „Hutaugen" – den Stellen, wo er zufasste, wenn er den Hut zog, um einen des Weges kommenden Bauern zu grüßen – waren links und rechts fingergroße dunkle Verfärbungen und Löcher. Das um den Hut geschlungene Ripsband war rundherum zerstochen von den vielen Abzeichen, die er mit den daran befindlichen Nadeln am Hut befestigte. So stapfte und stackelte er, unentwegt laut oder leise irgendetwas Sinnloses vor sich hinmurmelnd, mit ungelenken, auf dem Rückweg dann oft leicht torkelnden Schritten die Dorfstraße entlang.

    Die Mutter hingegen, die Frau vom alten Schickler, Martha hieß sie, machte zwischen Wochentag und Sonntag keinen

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