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Die gestohlene Erinnerung
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eBook216 Seiten2 Stunden

Die gestohlene Erinnerung

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Über dieses E-Book

Eine Frau und ihre Mutter brechen in die ehemaligen Siedlungsgebiete der Donauschwaben nach Nordserbien auf, um die Wurzeln ihrer Familie zu suchen. Am Telefon mit dabei: die alte Großmutter. Vor der Abreise hat sie ihrer Enkelin vom Alltag in ihrer Heimat, vom 2. Weltkrieg und der Deportation in ein sowjetisches Arbeitslager erzählt. Im Auto hören sie sich diese Aufnahme an. Nach anfänglichem Widerstand beginnt auch die Mutter über den Krieg und die Flucht zu sprechen. Ihre Tochter reiht Stück für Stück aneinander und findet allmählich eine Spur in die Vergangenheit.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Atelier
Erscheinungsdatum16. März 2015
ISBN9783903005679
Die gestohlene Erinnerung

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    Buchvorschau

    Die gestohlene Erinnerung - Ulrike Schmitzer

    LITERATUR

    DIE REISE

    Mit Mitte dreißig beschloss ich, mal da runterzufahren. Dorthin, wo alle her waren. Als Kind war ich in Jugoslawien gewesen, in dem Haus, in dem sie gelebt haben, aber ich hab alles vergessen. Vergessen war in unserer Familie nichts Ungewöhnliches. So vergaß ich zu sagen, wenn ich ein Problem hatte oder wenn ich eine besonders gute Note bekommen hatte. Ich vergaß es nicht, weil ich es nicht sagen wollte, ich vergaß es wirklich. Kaum war etwas in meinem Kopf drinnen, war es auch schon wieder draußen. In meinem Kopf war also genug Platz für die Erinnerungen der anderen. Ich beschloss, eine Reise zu machen. Nicht in meine eigene Kindheit, sondern in die Vergangenheit der anderen. Nach Serbien. In die Vojvodina.

    »Ich komme mit!«, schrie meine Mutter hellauf begeistert.

    »Ich auch!«, schrie meine Oma hellauf begeistert. Nur, davon war ich weniger begeistert.

    »Ich muss mit«, sagte meine Mutter aufopfernd. »Das findest du sonst nie!«

    Das war ein Argument. Wie sollte ich einen Ort finden, den es nicht mehr gab?

    »Du wirst doch wissen, wie Filipowa jetzt heißt«, sagte meine Mutter vorwurfsvoll.

    »Ja, sicher«, sagte ich. »Prigrevica!«

    »Nein, das ist doch Papas Heimatort!«, schrie sie entrüstet.

    »Irgendwas mit Batschka. Ich komm gleich drauf …«

    »Bački Gračac!«, rief sie. »Ohne mich findest du das nie!«

    Meine Oma war schon 86 Jahre alt. Sie konnte noch ganz gut gehen, aber eine lange Autofahrt wäre zu viel für sie gewesen.

    »Weißt du noch, wo wir gewohnt haben?«, fragte meine Oma meine Mutter.

    »Ja, sicher«, sagte sie. »In der Nähe der Kirche, und den Teich weiß ich auch noch, die wievielte Gasse war das noch mal? Wie heißt denn die jetzt?«

    »So findest du das Haus nie!«, rief meine Oma entsetzt, um aufopfernd anzufügen: »Ich fahre mit!«

    Sie blieb aber trotzdem daheim.

    »Ihr müsst alles fotografieren und mich jeden Tag anrufen, sonst!«, sagte meine Großmutter und hoffte, dass sie vielleicht doch noch mitfahren konnte. Meine Mutter sah mich fragend an.

    »Machen wir«, versprach sie hoch und heilig.

    Wir bekamen ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet und die genaue Adresse auf einen kleinen Zettel notiert. Sie gab meiner Mutter noch einen Crashkurs in Erinnerung: Sie ging mit ihr im Kopf die Straßen durch, zeigte ihr, wo die Kirche stand und wo man in die Gasse abbiegen musste, welches das richtige Haus war.

    Meine Oma war nicht wie andere. Sie war der Boss. Alle taten immer, was sie wollte. Immer schon.

    DIE KATHI

    Gleich neben der Tür hing ein Bord mit den Schlüsseln. Schlüssel mit roten, gelben, blauen Plastikanhängern. Schlüssel mit einem dicken bunten Wollfaden, einer Schnur, an der ein Karton mit einer Zahl befestigt war. Schlüssel mit Heiligenfiguren aus Medjugorje oder aus Lourdes oder von Maria Plain. Wenn sie einen Schlüssel nahm, griff sie blind zum Brett, erst wenn sie den Schlüssel in der Hand hielt, führte sie ihn nah vors Auge, um sich zu vergewissern, dass zwar ihr Augenlicht nachließ, aber nicht ihr Verstand. Dann schob sie den Schlüssel in die rechte Tasche der Kittelschürze.

    Manchmal geschah es, während sie Kaffee trank. Manchmal, während sie das Geschirr in der kleinen Spüle mit kreisrunden Bewegungen reinigte. Manchmal aber auch, während sie in der Wohnung herumwirbelte. Dann blieb sie plötzlich stehen oder hielt ihre Bewegung an, spitzte ihre Ohren.

    Ich konnte kein Geräusch hören.

    Doch sie hatte ihr Opfer ausgemacht – in einer Mischung aus übersinnlichen Fähigkeiten und purem Jagdinstinkt. Sie verharrte einige Sekunden, mir kamen sie vor wie Minuten. Gleich einem Täuschungsmanöver setzte sie ihre Arbeit fort – spülte Geschirr, trank ihren Kaffee oder wischte mit einem feuchten, grauen Putzfetzen über den Boden. Dabei ließ sie plötzlich eine Unruhe und Fahrigkeit erkennen, die ihre sonst so strammen Bewegungen zufällig erscheinen ließen.

    Leise öffnete sie die Tür zum Stiegenhaus, ging hinaus und ließ sie angelehnt – der Fluchtweg musste offen bleiben.

    Ihre Patschen¹ schwebten geräuschlos durch das Stiegenhaus zu einer der vermieteten Wohnungen. Die Hand in der Kittelschürze, den Schlüssel ins Schloss, hinein in das Reich des anderen. Eine Wolke aus Alkohol, abgestandenem Rauch und Essensresten. Der erste Weg führte zum Fenster. Sie riss es auf, die dunkelgraue Gardine zog sie mit einer Handbewegung zur Seite. Sie drehte sich um und begann zu suchen. Manchmal suchte sie das Geld für die Miete, die er ihr noch schuldig war. Manchmal suchte sie nach einem Kontoauszug, um zu sehen, ob er noch Arbeit hatte. Manchmal sah sie einfach nur den Stapel ungeöffneter Briefe durch, die er auf dem Tisch ablegt hatte, und nahm ihn mit. Er saß dann in ihrer Küche und sah zu, wie sie einen Brief nach dem anderen öffnete. Während sie Erlagscheine und Mahnungen sortierte, trank er mit großen Schlucken ihr Bier. Er war sehr gesprächig und nahm alle Vorschläge an. Denn er wusste, solange das Gespräch andauerte, würde das Bier fließen. Sie verhalf ihm so zu Notstandshilfe, Wohnbeihilfe und zu Umschulungsmaßnahmen. Er konnte mit seinen fünfzig Jahren wieder als Tischler arbeiten. Sie fand eine Firma, die ihn nehmen wollte. Bis dahin musste allerdings sein Alkoholproblem gelöst werden. Sie schimpfte ihn wie einen kleinen Buben aus, wenn er betrunken nach Hause kam. Am nächsten Tag kam er zu ihr und entschuldigte sich. Doch das war noch nicht genug. Sie wusste, dass er Hilfe brauchte, und meldete ihn zum Alkoholentzug an. Danach war er trocken. Meistens zumindest. Und er war Tischler.

    Er lebte unten. Unten bedeutete, dass er eine Kellerwohnung hatte, eine Wohnung mit Fenstern, durch die man von unten direkt in den Himmel schauen konnte. Rein theoretisch zumindest. Denn meist rankten sich Rosen vor den Fenstern. Rosen, die sie in mühevoller Arbeit gezüchtet hatte und die ihr ganzer Stolz waren.

    Die jungen Mieter, die Schüler der nahegelegenen HTL – der Höheren Technischen Lehranstalt – und die Studenten hatten keine Augen für ihre Rosenzucht. Sie lernten alle bis spät in die Nacht und gingen in der Früh zeitig los. Das Geld von den Eltern reichte gerade für das kleine Zimmer mit Klo am Gang. Die Studenten blieben meist nicht lange. Denn sie erachtete es als ihre Pflicht, die Kinder auf den rechten Weg zu bringen. So kam es schon vor, dass sie ins Zimmer stürzte, das Fenster auf- und die Buben aus dem Schlaf riss, weil es ihrer Meinung nach längst Zeit war, aufzustehen. Wenn gerade niemand da war, hinterließ sie Zettel mit knappen Anweisungen, »Putzen!« oder »Mist wegbringen!«. Nicht allen gefiel das.

    Auch als alle anderen Mieter gingen, blieb er im Keller. Er schlich sich von Zeit zu Zeit unbemerkt in eines der oberen Stockwerke und ließ sich eine Badewanne auf dem Etagenbad ein. Fast jeden Sonntag saß er in der Früh auf dem Bett, das Badetuch in der Hand, die Seife in der anderen, und wartete. Und lauschte. Sobald die Tür ins Schloss fiel, hatte er eine Messe lang und zwei mal 15 Minuten Gehweg Zeit zu baden. Auf den Pfarrer war im Grunde Verlass, denn der Pfarrer sprach nie frei. Er hatte Angst vor Menschen. Diese Angst wurde immer schlimmer, je älter er wurde. Aber er fand eine einfache Lösung. Er ließ andere die Fürbitten oder aus dem Evangelium lesen. Singen wollte er schon lange nicht mehr. Eine alte Frau mit einer schrillen Stimme übernahm alle Gesangspartien. Meine Großmutter betete eifrig mit, sie ging auch zum Rosenkranzbeten am Nachmittag und zum Kirchenflohmarkt.

    Am Monatsende kam er meist, um Geld auszuleihen, das er nach dem Ersten sofort zurückzahlte. Er verschlang bei dieser Gelegenheit ihre selbst gemachten Kipferl. Die Kipferl waren eines der vielen Dingen, die sie an daheim erinnerten. Wenn der Backofen heiß war und der Kipferlduft sich durch die Küche, das Vorzimmer und schließlich durch das ganze Haus zog, wurde ihr warm ums Herz.

    Sie gewöhnte es sich an, wieder zwei Portionen zu kochen. Eigentlich hatte sie nie aufgehört, für zwei zu kochen. Man kann nicht sechzig Jahre lang für zwei kochen, und dann geht der eine einfach, sagte sie vorwurfsvoll. Er war nicht gegangen, sondern gestorben. Sie weigerte sich, das in der Küche zur Kenntnis zu nehmen und kochte weiterhin für zwei. So hatte sie immer eine Portion übrig, und die brachte sie in den Keller. Wenn sie den Teller wieder holte, war er abgewaschen. Seine Zigaretten warf sie in den Müll.

    Der nunmehr einzige Mieter brachte mal einen schweren Kartoffelsack, mal eine Packung Mehl oder ein paar Flaschen Mineralwasser. Er sprach mit ihr über das, was sie am Vorabend im Fernsehen gesehen hatte. Sie wusste über alles Bescheid. Sie verfolgte alle Konsumentensendungen und informierte ihn über die neue Pensionsalterregelung oder über Rückholaktionen für Autos. Die interessierten ihn besonders, obwohl er sich nie ein Auto hatte leisten können. Sie regte sich über die Gauner in der Regierung auf, und vor allem regte sie sich über die Fernsehserie »Reich und Schön« auf. »Reich und Schön« war ihr Zeitmesser. Wenn »Reich und Schön« lief, gab es keine Außenwelt mehr. Das Telefon läutete so lange, bis der Anrufer aufgab. Sie hörte es nicht einmal. Der Besuch wurde um Punkt zwei in der Küche sich selbst überlassen, sie verschwand im Wohnzimmer. Für Arzttermine war sie zur Sendezeit nicht verfügbar, auch wenn sich wichtige Labor- oder Röntgentermine dadurch um eine Woche verschoben. Da war nichts zu machen. Wenn »Reich und schön« vorbei war, kam sie kopfschüttelnd und mit einem glückseligen Blick aus dem Wohnzimmer und sagte: »Was denen alles einfällt.« Wenn ich fragte: »War es nicht schön?«, fragte sie: »Warum?«

    Die Serie in Zweifel zu stellen, war nicht angebracht. Und am nächsten Tag saß sie wieder davor. Der Mieter teilte ihre Leidenschaft für die Reichen und Schönen nicht. Er starb vor ihr. Raucherlunge, Trinkerleber, Herzinfarkt. Das also war meine Oma. Für andere hieß sie Kathi.

    1 Patschen: Hausschuhe

    DER BASTL

    Bastl war der Mann, der »Rock« zu seinem Sakko und »Augengläser« zu seiner Brille sagte. Der immer von daheim sprach, und damit erst Jugoslawien und dann Serbien meinte. Der eine Schraubensammlung, eine Schnüresammlung und eine Nagelsammlung in seiner Werkstatt auf dem Dachboden hatte und dort Stunden verbringen konnte, bis ihn meine Großmutter holte. Sie holte ihn nicht, sondern sie rief ihn. Sie schrie von ganz unten nach ganz oben, und es war, als ob sie neben ihm stehen würde, so ein lautes Organ hatte sie. Opa tat nicht immer, was sie wollte, schon aus Prinzip nicht. So kam es, dass seine Sturheit eines Tages für beide gefährlich wurde. Lebensgefährlich. Sie schickte ihn in den Keller, er sollte die schweren Blumenkübel vors Haus stellen. Die Pelargonien und Oleander in dunkelblauen Baustellenkübeln wurden jedes Jahr schwerer. Opa hätte ihr natürlich aufs Wort gehorcht, wäre ihm auf der ersten Kellerstufe nicht eingefallen, dass er auf dem Dachboden bei seiner Schnursammlung einen Spagat hatte, mit dem er die Blumen gleich binden könnte, und als er die Schachtel mit den vielen Schnüren aufmachte, fiel ihm ein Nagel entgegen, der dort gar nichts zu suchen hatte, und so musste er die Nagelsammlung durchsuchen, und dabei fiel ihm ein, dass er eine Schraube für den Klodeckel brauchte, und so verlor er sich in seiner Kramurisammlung. Das wäre unbedeutend gewesen, wenn nicht zeitgleich im Keller ein Einbrecher eingestiegen wäre und die leerstehenden unteren Mietwohnungen durchstöbert hätte. Meine Oma schimpfte »Opa« von der Küche aus, wo ihre Hände den Strudelteig kneteten, was er wieder zerschlage, und dass sie ihm dann schon helfen kommen werde. Als mein Opa aus der Kramurisammlung endlich wieder auftauchte und in den Keller ging, war der Einbrecher weg, und mit ihm das Geld des Mieters. Die Blumen standen jedenfalls noch da.

    Opa war der Mann, der eine silberne Vespa in der Garage stehen hatte, auf der er früher Oma mit ihrem Kopftuch und schräg sitzend und einem Anhänger voller Baumaterialien durch die halbe Stadt zur Baustelle gefahren hatte.

    Opa war aber auch der Mann, der Hendln im Akkord den Kopf abschlagen konnte und sie kopflos durch den Hof rennen ließ, bis er sie mühelos wieder einsammeln konnte.

    Er hatte ein kleines Loch über der Lippe. Selbst die Bartstoppeln konnten das Loch nicht verdecken. Ich habe auch so ein Loch, aber auf der Handfläche. Das ist nicht genetisch bedingt, sondern kommt daher, dass mir mein Bruder erklären wollte, dass eine dicke Nadel wie ein Degen funktioniert. Stimmt. Die Nadel steckte tief in meiner Handfläche, es blutete aber gar nicht. Jedenfalls hatte mein Opa ein ähnliches winziges Loch im Gesicht. Er hatte eine spitze Nase und große lang gestreckte Nasenlöcher. Er sprach schon immer wenig, und am Schluss sprach er gar nicht mehr. Das war dann die Zeit, als er Almdudler in die Kaffeetasse goss und mit der Gabel umrührte.

    Opa war ein Feigling und ein Held. Das muss man mal schaffen, und zwar mit einer einzigen Tat. Opa war in der NS-Zeit Wehrdienstverweigerer. Er versteckte sich vor den Nazis auf einem Bauernhof in Ungarn. Meine Großmutter wurde verhört und verhört, aber sie wusste nicht, wo mein Großvater geblieben war. »Weg ist er«, sagte sie zu den Offizieren. »Und ich bin mit den zwei Kindern allein!« Opa, der Schuft. Die Brüder waren bei der Waffen-SS und fanden das gar nicht mutig. Doch sie hatte ein Machtwort gesprochen. »Niemals Waffen-SS!« lautete die ausgegebene Parole. Nur über meine Leiche, sagte sie. Opa gehorchte. Besser sie als Befehlshaber als jemand anderen. Als die Nazis weg waren, kam er wieder. Zu früh. Die Russen kamen und nahmen ihn mit. Gefragt haben sie nicht, ob er auf Hitlers Seite war, sagt sie. Wehrkraftzersetzung, Wehrdienstverweigerung. Ein Kämpfer für die Menschlichkeit. Opa, der Held! Vielleicht auch nur ein Kämpfer

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