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Susanna: Wege am Abgrund
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eBook298 Seiten4 Stunden

Susanna: Wege am Abgrund

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Über dieses E-Book

Nach einem Lottogewinn macht ein Ehepaar aus Weimar eine Urlaubsreise ins Öztal, die sich schnell zum Horrortrip für die junge Frau entwickelt. Schließlich muss sie aus eigener Kraft und zudem heimlich versuchen, wieder nach Hause zu gelangen. Sie stellt ihre bisherige Lebensstrategie in Frage und sieht ihr Umfeld und die Menschen, die ihr bisher nahe waren, allmählich mit anderen Augen. Schließlich ändert sie ihr Leben radikal - trotz Verlusten - und wird endlich glücklich.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Jan. 2014
ISBN9783847670636
Susanna: Wege am Abgrund

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    Buchvorschau

    Susanna - Angela Rommeiß

    1

    „Guten Morgen, mein Liebling!"

    Strahlend vor guter Laune schob Rolf den Servierwagen mit dem Frühstück in das geräumige Hotelzimmer, wo sich Susanna gerade aus den Federn räkelte. Warm schien die aufgehende Herbstsonne durch die hellgelben Vorhänge und tauchte den Raum in ein goldenes Licht. Draußen erglühten die alpinen Berggipfel orangerot unter einem blassblauen Himmel. Es würde wieder ein wundervoller Tag werden.

    „Danke, Schatz!"

    Susanna lächelte ihren Mann liebevoll an und nahm ihm das Tablett ab. Hmm, Rühreier und frische Brötchen, dazu Butter und Marmelade. Der Kaffee wurde in einer kleinen Metallkanne warm gehalten, auch Sahne war da. Alles genau nach Wunsch. Es hatte sich doch gelohnt, das teurere Hotel zu nehmen!

    Hotels gab es viele hier in der hochalpinen Gletscherwelt des Ötztals. Das Tal war fast sechzig Kilometer lang und erstreckte sich von den tiefliegenden Auen bis hin zu den eisschimmernden Gipfeln des Hochgebirges. Obwohl die Touristen über die gut ausgebauten Straßen bis in den letzten Winkel vorgedrungen waren und es mehr Fremdenzimmer als Einheimische gab, hatte Susanna immer ein überwältigendes Gefühl der eigenen Winzigkeit, wenn sie die schroffen Bergmassive betrachtete, die unbeeindruckt von menschlichem Tun riesig und gewaltig vor ihr lagen. Rolf war ein begeisterter Kletterer, sie selbst dagegen fürchtete sich leider vor allem, was steil war. Deshalb war sie auch nur zum Wandern hierhergekommen, und um die herrliche Natur zu genießen. Während Rolf kletterte, wollte sie mit dem Fernglas die beeindruckende Landschaft betrachten. Sie freute sich auch schon auf Ausflüge mit dem Auto, denn hinter jeder Kurve bekam man neue, atemberaubende Ausblicke auf Wiesen, Bauernhöfe, Felsmassive, schäumende Wasserfälle und hochgelegene Wiesen zu sehen. Die sonnenbeschienenen Almwiesen waren manchmal so steil, dass sich Steine von ihnen lösten und ins Tal kullerten. Trotzdem standen kleine Heuschober da, man fragte sich, wie die Leute das machten. Trauliche alte Kirchen und Kapellen saßen an Felsvorsprüngen, manche ganz winzig, aber alle mit wunderschönen Bildern bemalt, selbst wenn die weiß getünchten Wände noch so schief und buckelig waren. Überall in den Hängen waren Seilbahnen oder Sessellifte zu erkennen, kein Gipfel und kein Gletscher war heutzutage vor den Menschen sicher. Fuhr man die gewundene Straße immer weiter, gelangte man bis nach Italien.

    Ja, es war schön hier im Ötztal und Susanna war froh, dass sie hierhergekommen waren, obwohl sie ursprünglich lieber ans Meer gewollt hatte. Aber wo sollte Rolf da klettern? Etwa in einer Halle, zusammen mit einem halben Dutzend verwöhnter, plärrender Kinder? Das war natürlich undenkbar, zumal dieser Urlaub etwas ganz Besonderes war.

    Susanna setzte sich bequemer zurecht und gähnte. Rolf schenkte ihnen beiden Kaffee ein, tat Zucker in die Tassen und rührte sogar für sie um, schnitt anschließend Brötchen auf. Seine Frau betrachtete ihn verstohlen von der Seite.

    Wie lieb er war! Susanna konnte sich gar nicht daran erinnern, dass Rolf in den letzten zehn Ehejahren auch nur halb so zuvorkommend gewesen wäre. Nun ja, sie waren schließlich im Urlaub, da war er immer besser gelaunt als im stressigen Alltag, wem ging das nicht so? Er arbeitete einfach zu viel und war oft abgespannt und müde. Kein Wunder, dass er mürrisch wurde, wenn er heimkam und sich dann auch noch ihre kleinen Sorgen und Nöte anhören sollte. Sie hatte sich schon oft vorgenommen, ihn einfach mehr in Ruhe zu lassen, wenn er sich nach einem anstrengenden Bürotag auf dem Sofa ausstreckte, aber meistens plapperte sie ihn doch voll. Erzählte von den Nachbarn, vom Garten, von ihren Wehwehchen und vom Wetter, redete sich einfach mal alles von der Seele, was sie tagsüber für sich behalten musste, obwohl sie eigentlich wusste, dass es ihn nervte. Sie redete eben gern. Still wurde sie erst, wenn er prompt nach dem Abendessen wortlos zu seinen Stammtischbrüdern oder ins Fitnessstudio verschwand, sie allein zu Hause sitzen blieb und sich ärgerte, dass sie ihn schon wieder vertrieben hatte.

    Auch ihre Mutter hatte ihr, als sie sich einmal bei ihr ausgesprochen hatte, geraten, nicht zu viel Aufmerksamkeit von ihrem Mann zu fordern.

    „Was willst du eigentlich, es geht dir doch gut? Immer diese ewige Nörgelei! Du solltest dich glücklich schätzen, so einen gutaussehenden und fleißigen Ehemann zu haben. Schleppt er denn nicht genug Geld nach Hause? Du brauchst bloß ein bisschen putzen, weiter nichts."

    Ja, da hatte sie schon recht. Trotzdem Rolf aus einer früheren, recht kurzen Ehe mit einer gewissen Katrin ein fünfzehnjähriges Kind hatte, für das er Alimente zahlen musste, ging es ihnen finanziell ganz gut. Rolf arbeitete als Autohändler, Susanna putzte vormittags abwechselnd bei vier älteren Leuten und bei einem alleinstehenden Professor. Am Nachmittag machte sie die Wäsche, kümmerte sich um die Wohnung und den kleinen Garten, ging einkaufen, telefonierte mit ihrer Mutter oder ging mit ihrer Freundin Annabell Kaffee trinken. Ihren Mann sah sie am späten Abend und an den Wochenenden. Die Ehe lief gut, Kinder hatten sie keine. Warum sollte sie also mit ihrem Leben unzufrieden sein?

    War es diese seltsame Leere, die sie manchmal spürte, dieses Unausgefülltsein? Diese Sehnsucht, etwas zu erleben - keine Abenteuer, das nicht, eher etwas... Gefühlsmäßiges, etwas wie verliebt sein. Oder eben ein Ziel, einen Plan, eine schöne Zukunftsaussicht. Etwas, wofür man arbeiten und kämpfen und denken musste. Sicher, Wäschewaschen war auch wichtig, aber...

    Rolf trank einen Schluck Kaffee. Jungenhaft zwinkerte er ihr zu.

    Wann hatte diese Verwandlung stattgefunden? Als sie im Flieger saßen und in den langersehnten Urlaub in die Berge gestartet sind? Oder schon vorher, als sie von dem Lottogewinn erfuhren? Wahrscheinlich war es das. Natürlich waren 1,5 Millionen Euro eine Menge Geld. Eine sehr, sehr große Menge Geld!

    Tolle Urlaube und schöne Kleider erträumte sich Susanna, wenn sie die Tippscheine ausfüllte. Rolf war immer dagegen gewesen, dass sie Lotto spielte.

    „Mensch, das ist doch reine Geldverschwendung! Denkst du etwa, es ist so leicht, reich zu werden? Mit Glücksspielen werden die Leute nur verdummt. Um schnell an Geld zu kommen, muss man sich schon was Besseres einfallen lassen."

    Sie gab ihm grundsätzlich recht, spielte auch nur selten und dann heimlich. Sie schämte sich ja auch, ihn zu hintergehen und das Haushaltsgeld zu verschwenden, das war sonst nicht ihre Art, aber irgendwie musste sie im tiefsten Inneren geahnt haben, dass es sich eines Tages lohnen würde. Und tatsächlich - es lohnte sich! Und wie es sich lohnte!

    Mit ihrem Überraschungsgewinn hatte sie sämtliche Argumente auf ihrer Seite. Rolf war jetzt stolz auf sie und ihre Beharrlichkeit. Er war entspannt, freundlich, liebevoll, zuvorkommend. Wie jungverliebt!

    Sie frühstückten in Ruhe, unterhielten sich. Er wartete geduldig, bis sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, dann stellte er das Tablett zur Seite und kroch noch einmal zu ihr unter die Decke.

    „Meine Marylin!", flüsterte er erregt und kam zu ihr.

    Susanna beschwerte sich schon lange nicht mehr darüber, dass sie beim Liebesakt Marylin Monroe darzustellen hatte. Das war halt so eine Marotte von ihm.

    Susannas Freundin Annabell hatte sich die Seiten gehalten vor Lachen, als sie davon erfuhr.

    „Er steht auf die Monroe!? Na Mensch, jetzt weiß ich auch, warum du diese Frisur trägst und immer Kleider anhast!"

    Dann aber hatte sie ihr ganz ernsthaft zugeredet, doch ein bisschen selbstbewusster zu sein.

    „Meine Güte, Susi, dein Mann sollte stolz darauf sein, dass er mit DIR schlafen darf! Wenn du dich wie ein blondes Dummchen benimmst, musst du dich auch nicht wundern, wenn er dich so behandelt. Wie wäre es denn, wenn du ihn im Bett mal mit einem anderen Namen anreden würdest? Ausrasten würde der!"

    Das glaubte Susanna allerdings auch, deshalb vermied sie es tunlichst, ihn auf diese Weise zu ärgern. Es war nicht so schlimm, dass sie wie Marylin sein musste, solange er nur glücklich war. Denn wenn Rolf glücklich war, dann war sie es auch. Das sagte sie Annabell aber nicht so direkt, denn die Freundin war für solche Ansichten viel zu emanzipiert und würde das nicht verstehen. Susanna ärgerte sich später, dass sie ihr die Sache mit Marylin anvertraut hatte, sie hätte sich denken können, dass Annabell das nicht verstand.

    Rolf hatte ihr auch Pornofilme gezeigt, damit sie wusste, wie sie sich im Bett zu verhalten hatte. Sie fand, das bisschen Stöhnen war nicht so schwer und sie tat ihm den Gefallen. Die körperliche Liebe war für Susanna noch nie so wichtig gewesen wie für Rolf, obwohl sie ihn von Herzen liebte. Natürlich lag es an ihr selbst. Er meinte, sie sei vielleicht frigide. Als Susanna herausgefunden hatte, was das Wort bedeutete, war sie sehr verletzt. Nein, frigide war sie nicht, nur eben nicht so schnell erregbar. Rolf ließ sich nie besonders viel Zeit, deshalb vielleicht.

    Annabell meinte, sie hätte mehr Erfahrungen sammeln sollen, als sie noch unverheiratet war. Aber wie hätte das gehen sollen? Sie war ja erst fünfzehn gewesen, als sie den um zehn Jahre älteren Rolf kennenlernte. Seitdem war sie mit ihm zusammen und bekam von ihm alles beigebracht, was sie wissen musste, um ihm eine liebevolle und vorzeigbare Gefährtin zu sein. Eine Berufsausbildung hatte nicht dazugehört.

    Mit siebzehn trug sie freudestrahlend ihr Hochzeitskleid.

    Susannas Eltern Brigitte und Karl-Heinz Siebert waren froh, ihre einzige Tochter gut untergebracht zu wissen und stolz auf den erfolgreichen Schwiegersohn. Sie waren fleißige, ehrbare Leute. Die Mutter, eine freundliche und einfache Frau, die als Verkäuferin bei der HO arbeitete, hatte damals mit achtunddreißig Jahren schon ihren Traum vom eigenen Kind begraben, als sie das Wunder der Natur doch noch einholte. Sie hegte und hätschelte die Tochter, wo sie nur konnte und genoss die späte Mutterschaft. Gut sollte es die Kleine haben, besser als sie damals. Alles sollte sie bekommen, ohne es sich mit vier rauflustigen Brüdern teilen zu müssen, lieb und brav sollte sie sein, hübsch und vorzeigbar. Das war Susi auch. Frau Siebert konnte mit dem süßen, blondgelockten Engel bei allen Nachbarn und Verwandten angeben, ließ die Kleine Liedchen vorsingen und Knickse machen. Aber leider gingen diese Jahre schnell vorbei, und mit Susanna als Teenager war sie dann heillos überfordert. Dabei war das Mädchen nicht einmal besonders aufsässig gewesen, aber doch so anders als das kleine, süße Ding aus ihren Kindertagen, dass die Mutter die Erziehung fortan weitestgehend dem Vater überließ.

    Karl-Heinz Siebert hatte zeitlebens einen pflichtbewussten, ordnungsliebenden Postbeamten dargestellt. Nun, vielleicht nicht zeitlebens, aber doch sein ganzes Erwachsenenleben hindurch und nicht einmal die Wende hatte seinem Patriotismus etwas anhaben können. Was davor war, hatte er vergessen. Von seiner Tochter erwartete er keine Heldentaten. Eine treue, sittsame junge Frau sollte sie werden, das war das Einzige, was zählte. In der Wahl seiner Erziehungsmethoden griff Karl-Heinz Siebert auf die Erfahrungen seiner kurzen Militärzeit zurück, da man einer fast erwachsenen Tochter ja nicht mehr den Hosenboden stramm ziehen konnte. Mit knappen, eindeutigen Befehlen machte er ihr klar, wann sie zu Hause zu sein hatte, welche Kleidung er für unangemessen hielt und wo sie den Mund halten sollte. Bei Befehlsverweigerung folgten Stubenarrest und Sonderaufgaben. Das klappte ganz wunderbar und Karl-Heinz war sehr zufrieden mit sich.

    Susanna war damals erleichtert gewesen, dem kleinbürgerlichen, stickigen Mief ihrer Kindheit entronnen zu sein, denn mit Rolf fühlte sie sich so viel freier und erwachsener! Er nannte sie ‚Sunny‘, das klang wie aus einem amerikanischen Film. Sie fuhren Motorrad, trugen Lederjacken und Sunny ließ das lange Haar im Fahrtwind flattern. Dass sie es nachher stundenlang kämmen und entwirren musste, war zwar nicht so schön, aber er mochte es halt so gerne, wenn sie seine coole Rockerbraut war. Später stieg Rolf dann auf Autos um, die seine neue Leidenschaft wurden, und mit der Rockerzeit war es vorbei. Susanna war es recht. Ihr war alles recht, was Rolf anbelangte, denn sie war sehr glücklich, ihn gefunden zu haben. Er war jemand, der im direkten Anschluss an ihre Eltern für sie sorgte und ihr sagte, was sie zu tun und zu lassen hatte im Leben, und das war doch sehr bequem.

    Eigentlich war es nicht schwer, es Rolf recht zu machen, denn anders als andere Männer, die sich (laut Annabell), niemals eindeutig äußerten, sagte Rolf immer klipp und klar, was er erwartete. Das war Susanna von zu Hause gewöhnt und bereitete ihr keine Schwierigkeiten. Man brauchte bloß zu tun, was er wollte, dann lief das Leben reibungslos.

    Susanna war mollig, weil Rolf weiche Formen liebte. Sie trug ihr brünettes Haar blond gefärbt und gelockt wie Marylin Monroe, die ihr Mann anschwärmte. Sie stöhnte, wie sie es im Film gesehen hatte und kochte ihm immer seine Lieblingsessen.

    Ja, Susanna konnte zufrieden sein. Sie hatte keine Kinder und keine Schwiegereltern, mit denen sie sich herumärgern musste und führte eine gute Ehe. Ihre Eltern wohnten ausreichend weit entfernt, dass man sie nicht ständig besuchen musste. Selbst Annabell, die als Arzthelferin arbeitete und sich von Beziehung zu Beziehung hangelte, sagte ihr oft, dass sie eigentlich Glück hatte. Und jetzt noch dieser riesige Lottogewinn!

    Susanna blieb im Bett liegen, als Rolf ins Bad ging.

    Und plötzlich war es wieder da. Dieses Stechen, von der linken Schläfe hinüber in die rechte, wie von einem Messer durchbohrt. Sie stöhnte und drückte die Handballen auf die Augen. Schon wieder! Was würde Rolf sagen? Den dritten Tag hintereinander konnte sie nicht mit auf die Bergtouren gehen, die er so sorgsam geplant hatte. Diese verdammte Migräne!

    Rolf trat pfeifend und gutgelaunt aus der Dusche, ein Handtuch um die Hüften geschlungen und mit feuchtem, strubbligem Haar. Er griff zur Zigarettenschachtel, die auf dem Tisch lag, und zündete sich eine an.

    Susanna fiel auf, dass er schlanker geworden war. Sehnig und braungebrannt, der kleine Bauchansatz fiel kaum noch auf. Seine siebenunddreißig Jahre sah man ihm gar nicht an, obwohl das dunkelbraune Haar schon vereinzelte graue Strähnen aufwies. Forschend blickte Rolf zu seiner Frau hinunter.

    „Wie geht es dir heute, Sunny?"

    Kläglich schaute sie zu ihm hoch und antwortete beinahe entschuldigend:

    „Ich hab schon wieder Kopfschmerzen! Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber..."

    „Ich glaub es dir ja!" beeilte sich Rolf zu versichern. Und fürsorglich fügte er hinzu: „Nimm eine Schmerztablette, dann leg dich nochmal hin. Wir können ja mal einen Tag hierbleiben... also, ich kann mal einen Tag hierbleiben. Ich hätte die Tour zwar gerne gemacht, aber wenn es dir schlecht geht..."

    „Nein, nein, wehrte Susanna ab. „Mach du nur deine Bergtour! Ich weiß ja, wie gerne du da rumkraxelst, für mich ist das eh nichts. Geh ruhig alleine!

    „Ach nein! Das kann ich doch nicht machen. Aber nur wenn du unbedingt willst. Bist du sicher, dass ich nicht doch bei dir bleiben soll?" Rolf sträubte sich noch eine Weile, genau wie die beiden Tage zuvor. Dabei suchte er aber schon seinen Wanderrucksack hervor und sah sich nach den Schnürschuhen um.

    Susanna lächelte. Sie gönnte ihm wirklich seine Touren. Schon, weil er so rücksichtsvoll reagierte, das war nämlich sonst gar nicht seine Art. Wenn sie zu Hause über Kopfschmerzen oder irgendetwas anderes klagte, verzog er nur den Mund, hob die Augenbrauen und machte den Fernseher an. Er tat immer so, als wolle sie ihn mit ihren Wehwehchen ärgern. Er selber war kerngesund und litt niemals unter Kopfschmerzen oder anderen Zipperlein. Hatte er Zahnweh, ging er zum Zahnarzt und ließ die Sache in Ordnung bringen. Verletzte er sich, klebte er ein Pflaster drauf und verlor kein Wort darüber. Er sagte gern, sein Körper arbeite wie ein Auto - war etwas kaputt, musste es nur repariert werden, dann funktioniere es wieder. Wahrscheinlich war es deshalb so schwer für ihn, sich in jemanden hineinzufühlen, den etwas plagte. Nein, diese fürsorgliche Art von ihm war neu.

    Als ein weiterer Schmerz ihren Kopf durchfuhr, presste sie die Hand an die Schläfe und zog die Nachttischschublade auf, in der ihre Schmerztabletten lagen. Als sie gerade eine mit lauwarmem Kaffe hinunterspülte, hörte sie nur noch ein: „Tschüss, Schatz!" und das Zufallen der Tür.

    2

    Der nächste Morgen begann ähnlich wie der gestrige und die beiden davor.

    Rolf holte das Frühstück und sie aßen im Bett.

    An diesem Tag schien leider nicht die Sonne, es war neblig geworden. Man spürte den Herbst nahen. Susanna war heute entschlossen, den Vormittag nicht im Bett zu verbringen. Gleich nach dem Frühstück stand sie auf und ging unter die Dusche.

    Rolf nahm das Ausbleiben des Liebesspiels wortlos hin. Überhaupt war er heute stiller als sonst, wirkte irgendwie abwesend. Susanna schob es auf ihre Unpässlichkeiten, dass er so brummig war, schließlich verdarb sie ihm den ganzen Urlaub damit.

    Als sie aus der Dusche kam und ihn da so im zerwühlten Bett sitzen sah, halb angezogen, zerzaust und schmollend, schwoll ihr das Herz vor Liebe an. Ihr kleiner Brummbär! Er gab sich solche Mühe mit diesem Urlaub! Sie nahm sich fest vor, heute mit ihm einen schönen Tag zu verbringen, egal, ob sie Kopfschmerzen bekam oder nicht.

    Gestern hatte sie den Vormittag verschlafen, hatte dann im Restaurant ein einsames Mittagessen zu sich genommen und war danach ein bisschen ums Hotel herum spazieren gegangen. Kurz hatte sie überlegt, ihre Mutter anzurufen, es sich dann aber nicht getraut. Wahrscheinlich käme sie nicht mit dem Apparat zurecht, sie würde lieber warten, bis Rolf dabei war.

    Draußen schien die Sonne. Mütter und Väter spielten mit ihren Kindern auf dem Spielplatz. Auf dem Trampolin hüpfte eine Frau, die sicher schon über vierzig war, mit einem blonden kleinen Jungen herum. Einen sehnsuchtsvollen Moment lang beneidete Susanna diese Frau von Herzen, denn sie wirkte sportlich und jung. Sie selbst kam sich dagegen mit ihrer blondierten Lockenfrisur und gekleidet in Rock und Bluse ziemlich altbacken vor, obwohl sie doch erst siebenundzwanzig war. Sie fühlte sich dick und unattraktiv. Schnell scheuchte Susanna diese unerfreulichen Gedanken beiseite. Dann hatte sie sich den Rest des Tages ausgemalt, wie es wohl wäre, Mutter zu werden.

    Vor ein paar Jahren hatte sie mit Rolf deswegen einen handfesten Krach gehabt. Sie wollte gern ein Kind, aber er stellte sich strikt dagegen. Für ihn war das Thema Kinder aus und erledigt. Der Sohn, den er mit seiner Exfrau hatte, reichte ihm vollkommen. Kinder sind nutzlos, teuer und anstrengend, behauptete er und machte ihr unmissverständlich klar, dass sie sich das aus dem Kopf schlagen solle. Susanna war eine Zeitlang sehr unglücklich gewesen, hatte sich dann aber gefügt. Wahrscheinlich hatte er ja recht, wie immer. In den nächsten Jahren wagte sie es nicht, ihn erneut darauf anzusprechen, schaute nur ab und zu mit einem Gefühl des Bedauerns in einen Kinderwagen. Selbst ihre Eltern, die nach einer vorsichtigen Anfrage in Richtung Enkelkinder von Rolf barsch angefahren worden waren, vermieden daraufhin jegliche Anspielung beflissen.

    Aber jetzt, wo Rolf so verändert und freundlich war...? Susanna beschloss, das Thema behutsam noch einmal anzuschneiden. Eventuell am Abend, bei einem guten Glas Wein und einem leckeren Essen. Aber dann hatte sie sich doch nicht getraut und den Abend mit ihm bei unverbindlicher Plauderei verbracht.

    Nach dem Duschen ging es Susanna blendend. Sie fühlte sich wie neugeboren. Als Rolf seine übliche Frage stellte, wie es ihr heute ginge, konnte sie ihm fröhlich antworten:

    „Gut! Keinerlei Kopfschmerzen! Wo wollen wir heute hin?"

    „Überraschung!", meinte Rolf nur und schnürte seine Stiefel zu.

    Es war neblig.

    Der Wagen holperte über die unbefestigte Piste. Susanna, die sich so auf den ersten Ausflug in ihrem Urlaub gefreut hatte, hielt sich krampfhaft am Sitz fest und wunderte sich, dass ihr nicht schon vor Stunden von dem Geruckel übel geworden war. Scheu blickte sie ab und zu auf ihren Mann, der mit verbissener Miene übers Lenkrad gebeugt saß. Vorhin, als sie zu fragen gewagt hatte, ob er sich vielleicht verfahren habe, wurde sie von ihm so rüde angefaucht, dass sie bis jetzt beleidigt geschwiegen hatte.

    Rolf mochte Autos, kannte sich auch gut mit ihnen aus. Er hatte für ihren Ausflug einen Audi Quattro mit Allradantrieb gemietet, und das war auch gut so. Alle vier Räder hatten zu tun, das Gefährt auf der Fahrbahn zu halten. Die Farbe des Wagens war ein dezentes Perlgrau, sodass sie nahezu mit der feuchtweißen Umgebung verschmolzen.

    Draußen sah man rein gar nichts von der Landschaft, so dicht stand der Nebel. Dabei mussten sie schon recht weit oben sein, denn die Fahrt war die ganze Zeit in halsbrecherischen Serpentinen steil bergauf gegangen. Ab und zu sah man kleine Tannenbäumchen am Steilhang aus den Nebelschwaden auftauchen, die wie Gespenster aussahen und sie zu warnen schienen, während sich auf der anderen Seite Steinbrocken unter ihren Rädern lösten und zu Tal polterten. Es war kreuzgefährlich und unvernünftig, so zu fahren. Aber Rolf wollte ihr unbedingt einen wunderschönen Platz zeigen, wo man herrlich picknicken konnte.

    Susanna dachte an den Picknickkorb hinten im Kofferraum. Sie wusste nicht, was drin war, denn er war von den freundlichen Küchenfrauen gepackt worden. Ein großer, schöner Korb, recht altmodisch mit rotkariertem Tuch ausgeschlagen, welches unter dem Deckel hervor lugte. Rolf hatte sein stattliches Gewicht anerkennend an einer Hand gewogen, bevor er ihn hinten in den eigens gemieteten Wagen stellte. Mittlerweile war der Korb sicher umgekippt und hatte seine Köstlichkeiten im Kofferraum verstreut.

    Susanna schaute wieder zu

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