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Emilie: Das Mädchen aus Bessarabien
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eBook491 Seiten7 Stunden

Emilie: Das Mädchen aus Bessarabien

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Über dieses E-Book

Diese Biografie meiner Großmutter ist gefühlvoll und packend erzählt, mit Einblicken in das harte Leben der deutschen Siedler in Bessarabien und die Wirren der beiden Weltkriege aus Sicht einer einfachen Frau.
Geboren an der Schwarzmeerküste, muss sie den Tod des Vaters erleben und wird wie ihre Geschwister zur Adoption freigegeben. Nun ist sie das einzige Kind eines reichen Tischlers, später heiratet sie und baut sich mit ihrem Mann ein glückliches Leben auf. Doch zu Beginn des 2. Weltkrieges müssen sie alles zurücklassen und mit ihren Kindern, von denen der Vater der Autorin das Jüngste war, in eine ungewisse Zukunft ziehen - nach Deutschland.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Jan. 2014
ISBN9783847670643
Emilie: Das Mädchen aus Bessarabien

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    Buchvorschau

    Emilie - Angela Rommeiß

    VORWORT

    Kennen Sie Ihre Urgroßmutter?

    Wie war ihr Name und wie viele Kinder hat sie geboren?

    Welchen Beruf hatte Ihr Urgroßvater?

    Diese Sätze las ich in einem Familienalbum, welches mir meine Schwester zur Hauseinweihungsparty schenkte. Man sollte seinen Stammbaum eintragen. Nach einigen Monaten, als der Umzugstrubel vorbei war, machte ich mich etwas halbherzig ans Werk, dieses Album auszufüllen. Nun, es war Winter, im Garten gab es nichts zu tun, da konnte ich ja mal meine Eltern und Schwiegereltern nach ihren Ahnen befragen. Was dabei herauskam, war erstaunlich:

    Ich hatte mütterlicherseits eine italienische Urgroßmutter und den Vornamen meiner Tochter Marie gab es in jeder Linie mindestens einmal. Drei Großväter hießen Friedrich. Wir hatten Verwandtschaft in Brasilien und in Amerika! Mein Opa, von dem ich nur wusste, dass er Bergmann und später Neulehrer gewesen war, hatte eigentlich den Beruf des Damenschneiders erlernt.

    Immer neue Dinge, interessante, spannende und lustige, kamen bei den Erzählungen der älteren Familienmitglieder bei Kaffe und Kuchen ans Tageslicht.

    Aber am meisten faszinierte mich die Geschichte meiner Oma Emilie, der Mutter meines Vaters. Ich kannte sie kaum. In meiner Erinnerung war sie eine knuddelige, rotwangige Omi, die uns nur selten besuchte, denn sie lebte im Westen, wir im Osten. War sie es nicht gewesen, die mir die rote Puppenwagendecke gehäkelt hatte? Vor Jahren schon war sie gestorben.

    Mein Vater kam, als seine Erinnerungen einmal geweckt waren, ins Erzählen und zog mich in seinen Bann. Plötzlich entstand vor meinem inneren Auge ein farbenfrohes Bild:

    Eine Kindheit vor langer Zeit in einem fernen Land, angefüllt mit sonnigen, unbeschwerten Tagen voller Lachen, aber auch bitteren Erfahrungen und harter Arbeit. Das Leben damals war außerordentlich entbehrungsreich, doch die Menschen waren stark. Sie gaben ihre Sehnsüchte und Hoffnungen niemals auf und waren hart im Nehmen.

    Wie war meine Großmutter als Kind? Wie sah sie aus, was hat sie erlebt und wovon hat sie geträumt? Das wollte ich gerne wissen. Ich begab mich auf eine Reise und tauchte in die Vergangenheit ein. Dort besuchte ich meine Vorfahren und nahm an ihrem Alltag teil. Es sind nicht immer die großen Ereignisse, die den Lauf der Geschichte bestimmen. Der ganz alltägliche Tagesablauf, die normalen Geschehnisse im jahreszeitlichen Rhythmus bestimmten das Leben der Menschen, genauso wie es heute bei uns ist. Es hat diese Menschen wirklich gegeben, sie haben gefühlt und geträumt wie du und ich.

    Jetzt sind sie tot. Wenn sie aber den täglichen Kampf ums Überleben damals nicht gewonnen hätten, dann wären meine Eltern und Geschwister, Onkel, Tanten, meine Kinder und ich selbst - nicht da. Deshalb verdienen sie es, in unserer Erinnerung lebendig zu bleiben.

    Man kann sich an einen Menschen erinnern, wenn man an einem moosbewachsenen Grabstein steht. Lebendig wird er, wenn man ihn sich als Kind vorstellt. In Anlehnung an die Biographie meiner Großmutter habe ich diese Geschichte aufgeschrieben, die den Lebensweg eines Mädchens in einer für uns unbekannten Gegend erzählt. Dieses Land war für tausende Deutsche fast einhundertdreißig Jahre lang die Heimat.

    ZUR GESCHICHTE

    Im Jahre 1812 erwarb der russische Kaiser Alexander der Erste das Land Bessarabien. Dieser Landstrich erstreckt sich über das heutige Moldawien und einen Teil der Ukraine, begrenzt von Rumänien und dem Schwarzen Meer. Während Nordbessarabien eine dicht von Eichen- und Buchen bewaldete Hochebene ist, von tiefen Schluchten eines Karpatenausläufers durchzogen, geht das Land in Richtung Süden rasch in ein dünnbesiedeltes, karges Steppenland über, wo in einer baumlosen Landschaft mannshohes Gras auf fruchtbarer schwarzer Erde wächst. Schon zu Beginn der Menschheitsgeschichte war diese Steppe ein Durchzugsgebiet der Urvölker. Von den asiatischen Steppen zogen nomadisierende Volksstämme an den Karpaten entlang nach Europa. Griechen, Daker, Goten, Hunnen und Römer wanderten hier entlang. Von den letzteren stammen die Moldauer ab, welche die Hauptbevölkerung darstellen. Vor der Einwanderung von Siedlern wurde das Land von einem Hirten- und Wandervolk genutzt, den nogaischen Tataren, einem Turkvolk. Viele Ortsnamen erinnerten später noch an dieses Nomadenvolk, das sich später zum größten Teil in die Türkei zurückzog.

    Der russische Kaiser wollte das Gebiet wirtschaftlich nutzen und verschenkte riesige Landflächen an seine Heerführer, die sich im Napoleonfeldzug verdient gemacht hatten. Doch für die Landwirtschaft braucht man Bauern, deshalb warb der Kaiser Siedler. Er fand sie im zersplitterten Deutschland. Durch die fortwährenden napoleonischen Kriege war die Bevölkerung hier verarmt und verbittert. Wie göttliche Verheißung erschienen deshalb den Menschen die Versprechungen des russischen Kaisers, dem sie wegen seiner Gottgläubigkeit großes Vertrauen schenkten. Die russische Regierung gewährte den deutschen Einwanderern verschiedene Privilegien: So war das zu besiedelnde Land zehn Jahre lang von Abgaben und Grundsteuern befreit, arme Familien wurden mit einer Zahlung von zweihundertsiebzig Rubeln unterstützt. Nach der Ansiedlung würde jede Seele pro Tag fünf Kopeken Nahrungsgeld bis zur ersten Getreideernte erhalten. Die Einwanderer und ihre Nachkommen sollten für ewige Zeiten vom Militärdienst befreit sein, auch wurde ihnen das Recht auf freie Ausübung ihrer Religion zugesagt. Erst nach zehn Jahren mussten die Unterstützungsgelder nach und nach zurückgezahlt werden.

    Das klang gut in den Ohren der ausgehungerten, geknechteten Bevölkerung, und so fanden sich viele, die dem Werben des Kaisers Folge leisteten. Im Frühjahr 1814 traten die ersten Siedler die Reise ins ferne Bessarabien, ins Land der Hoffnung, an. Pferde- und Handwagen, Ziegen- Ochsen- und sogar Schubkarren, mit Hausrat und kleinen Kindern beladen – so begaben sich die Menschen auf die mühselige Wanderung. Was für eine Reise! Nach Monaten voller Strapazen, nach Überwindung unzähliger Hindernisse, kamen die Erschöpften endlich im Land ihrer Träume an. Doch die Erfüllung dieser Träume ließ auf sich warten, denn von 1814 bis 1816 wurden die Deutschen zunächst in moldauischen Dörfern untergebracht, wo sie als Tagelöhner ihr Auskommen fanden. Nun galt es, sich in Geduld zu üben, die fremde Sprache zu erlernen und sich in Ungewohntes zu fügen. Selbst die Nahrung war ganz anders als daheim. Anstelle des Brotes, welches die Deutschen gewöhnt waren, mussten sie mit Mamaliga, einem Brei aus Mais, vorliebnehmen. Der Traum vom eigenen Hof schien in weite Ferne gerückt, manch einer sehnte sich schmerzlich nach der alten Heimat.

    Doch die Behörden arbeiteten, wenn auch langsam, an der Aufgliederung des Landes. Sie teilten die südbessarabische Steppe, Budschak genannt, in Areale ein und nummerierten sie. Wie aus einem Gemeindebericht des Jahres 1848 hervorgeht, kamen die ersten Siedler im Juni 1816 an, um ihr Land urbar zu machen. Zur Unterstützung bekamen sie dafür pro Familie eine Kuh und zwei Ochsen, einen Wagen und einen Holzpflug sowie verschiedene Gerätschaften wie Hacke, Spaten, Sichel und Dreschflegel ausgehändigt.

    Es ist für uns kaum vorstellbar, was die Menschen empfunden haben müssen, die hier mit Ochsenkarren standen und ihre neue Heimat betrachteten. So weit das Auge reichte, nur Gras und meterhohe Unkräuter. Die riesige Ebene war von flachen Hügelketten durchzogen, in der Ferne glitzerte ein Flüsschen. Auf dem ihnen zugewiesenen Land gab es weder Baum noch Strauch. Als das erste Gewitter grollte und strömender Regen sie in ihre Wagenzelte trieb, wurden bestimmt einige Tränen vergossen. Doch für Verzagte war hier kein Platz, tapfer besannen sich die Menschen auf ihre Träume und die Möglichkeit, sie in diesem Land zu verwirklichen. Harte Arbeit war freilich nötig, aber wer von ihnen war die nicht gewöhnt?

    Weil in dem hohen Bewuchs Ungeziefer und Schlangen ihr Unwesen trieben, errichteten die Menschen Hütten aus Lehm und Gras. Die Männer spannten mehrere Ochsen vor einen Pflug und bestellten das Land, was sehr große Anstrengungen erforderte. Zum Glück war der Boden fruchtbar. Nach der ersten Ernte von Roggen und Weizen konnten die Deutschen endlich wieder Brot essen. Langsam begannen sie sich heimisch zu fühlen. Mit Fleiß und Ausdauer schritten sie zur Tat. In den folgenden Jahren entstanden an dem Steppenflüsschen Kogälnik Dörfer mit geraden Straßen, Steinhäusern, Schulen, Kirchen und Läden.

    In der Organisation des gesellschaftlichen Lebens, bei der Beschaffung von Saatgut und bei der Gründung von Ämtern erhielten die Menschen, die ja meist nur einfache Bauern waren, Unterstützung von dem sogenannten Fürsorgekomitee, welches sich aus russischen und deutschen Beamten zusammensetzte. Dieses Fürsorgekomitee kümmerte sich um alle Belange des Zusammenlebens, jedoch hauptsächlich um die wirtschaftlichen, und war bis 1871 aktiv.

    Ihre Dörfer nannten die Bauern Paris, Leipzig, Gnadental, Hoffnungstal und Eigenheim. Allein aus diesen Namen kann man die große Hoffnung ablesen, die man auf dieses Land setzte.

    Die Gemeinde meiner Vorfahren war das elfte der neu gegründeten Dörfer und wurde ‚Feré-Champenoise‘ genannt, zur Erinnerung an den Sieg der verbündeten Armeen über die Franzosen am 25. März 1814 bei der Stadt Feré-Champenoise. Da die Leute diesen Namen schwer aussprechen konnten und ihr Dorf das elfte war, nannten sie ihre Gemeinde in schwäbischer Mundart einfach die ‚Elft‘. Später gab es ein ‚Alt-Elft‘ und ein ‚Neu-Elft‘.

    Die Kolonisten hatten ihre Träume wahr gemacht und sich eine neue Heimat geschaffen. Sie betrieben Ackerbau und Viehzucht, bauten Obst und Wein an, gruben Brunnen, fischten im Fluss und holten Steine aus dem Steinbruch. Die Frauen spannen, webten, nähten die Kleidung und bekamen Kinder.

    Es dauerte aber auch nicht lange, da mussten die Siedler einen Friedhof anlegen. Im Jahre 1818 überfiel die Menschen das erste Mal ein seltsames Fieber. Die Bauern, die eben erst ihr Land urbar gemacht hatten, die gerade ihre Häuser errichteten, starben an Malaria. Fast hundert Menschen, zumeist Kinder, fielen der unbekannten Krankheit zum Opfer. Einige Familien starben völlig aus.

    Aber es sollte noch schlimmer kommen. Als im Jahre 1822 heimkehrende Truppenteile vom russisch-türkischen Krieg auf dem Durchmarsch nach Russland waren, brachten sie die Pest mit. Ganze Dörfer verödeten und die Steppe ergriff wieder Besitz von den Feldern. Auch an Cholera, Diphtherie und Pocken starben in den folgenden Jahren viele Menschen.

    Zu den unbekannten Krankheiten kamen unbekannte Naturgewalten hinzu. Erdbeben erschreckten Menschen und Vieh, Überschwemmungen, Dürreperioden und Heuschreckenplagen führten zu Missernten. Schädlinge wie Erdhasen, Hamster und Krähen konnten nur mit viel Mühe von der Ernte ferngehalten werden.

    Trotz dieser Widrigkeiten vermehrten sich die Deutschen in den folgenden einhundert Jahren beträchtlich, vergrößerten ihre Ortschaften und besiedelten bald die ganze südliche Budschaksteppe. Mit ihrem Fleiß und ihrem unvorstellbaren Durchhaltevermögen rechtfertigten sie das vom russischen Kaiser in sie gesetzte Vertrauen, Kulturträger eines wilden, unbewohnten Landes zu sein.

    EMILIES GEBURT

    Emilie wurde am Nikolaustag des Jahres 1894 in Teplitz geboren.

    Dieser 6. Dezember war ein unfreundlicher Tag, draußen stürmte ein eiskalter Wind und trieb schon einzelne Schneeflocken vor sich her. Der Großvater, in Bessarabien ‚Ehne‘ genannt, trug gerade einen Korb voll getrocknetem Dung herein, mit dem hierzulande meistens geheizt wurde. Der kleine, gebeugte Mann wollte dem gemauerten Ofen noch etwas behagliche Wärme abringen, denn bei diesem nasskalten Wetter spürte er seine alten Knochen besonders schmerzhaft. Seit fast sieben Jahrzehnten lebte er nun in diesem kleinen Haus. Zuerst als Kind mit seinen Eltern, Großeltern und den vielen Geschwistern. Später, als die Alten tot und die Geschwister fortgezogen waren, mit seiner Frau und seinen Kindern. Zwei Söhne, Jacob und Viktor, waren ihm geblieben und beide hatten bereits Weib und Kinder. Jacobs Frau bekam heute ihr zweites.

    In der Kammer stöhnte die Wöchnerin. Ihre Schwiegermutter und die Schwägerin standen ihr bei der Geburt bei. Die Mannsleute saßen in der Stube und beschäftigten sich mit dem Ausbessern von Gerätschaften. Jacob Haisch, dessen junge Frau sich gerade mit den Wehen mühte, schnitzte verbissen an einer Rechenzinke. Dabei schnitzte er aber so viel herunter, dass sich das Stück Holz am Ende nur noch als Zahnstocher verwenden ließ.

    „Lass es halt bleiben, Bub!", brummte sein Vater mürrisch und knuffte ihn an die Schulter, was durchaus als Trost gemeint war. Der kleine Jacob, der Erstgeborene des Jacob Haisch, kugelte mit seinem Vetter Ludwig auf dem Boden herum. Die Zwei- und Dreijährigen spürten nichts von der Spannung im Raum.

    Als der Alte sich ächzend auf der Ofenbank neben seinen Söhnen niedergelassen hatte, blickte Viktor, sein ältester, finster hoch. Die ganze Zeit war er schon so brummig. Er wollte etwas loswerden und fand die richtigen Worte nicht. Es half ihm auch niemand, den Anfang zu machen. Jacob war zu nervös, um auf ihn zu achten, und sein Vater beachtete ihn sowieso nie. Der Alte hatte Jacob schon immer lieber gemocht als ihn, Viktor. Ihm wäre es zwar selbst nicht aufgefallen, aber Gertrud, seine Frau, hatte ihn darauf aufmerksam gemacht.

    Viktor war ein eher gutmütiger Mensch, etwas langsam und arglos im Denken. Er würde von allein niemals darauf kommen, dass jemand anders ihm übelwollte. Misstrauen und Arglist waren ihm fremd. Doch dafür hatte er ja Gertrud. Sie verstand es, ihrem Mann mit Sticheleien und Hetzreden nach und nach die Gefühle für seinen Bruder zu vergiften. Gertrud wollte den Hof erben.

    In den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der deutsch-bessarabische Kolonien galt das ‚Minorat‘, nach welchem der jüngste Sohn der Familie das Vorrecht auf das elterliche Erbgut hatte. Die Wirtschaft sollte ungeteilt bleiben. Ältere Söhne mussten ein Handwerk erlernen oder in eine Wirtschaft einheiraten. Nun war zwar Viktor der Ältere, aber Jacob, der Jüngere, hatte ein Handwerk erlernt. Bauer blieb er aber trotzdem. Mit den Jahren kam man von den Bestimmungen des Minorats ab, immer öfter wurde das Wirtschaftsland unter den Söhnen aufgeteilt. Es erleichterte die Arbeit, wenn mehrere Männer sich die Feldarbeit teilen konnten.

    Teilen aber war Gertruds Sache nicht. Deshalb hatte sie viel Zeit und Mühe darauf verwendet, Viktor ihren Willen als seinen eigenen einzuimpfen. Mit der Zeit war nun auch Viktor der Meinung, Jacob müsse ausziehen. Doch wie sollte er das durchsetzen, ohne alle gegen sich aufzubringen? Viktor holte tief Luft.

    „Wird es nun nicht bald ein wenig eng im Haus?", stieß er laut hervor. Die eintretende Stille ließ ihn den Kopf senken. Als er vorsichtig zu seinem Vater schielte, paffte der sich ganz gemächlich eine Pfeife an, als habe er gar nichts gehört. Jacob aber starrte seinen Bruder stirnrunzelnd an.

    „Willst du uns zur Winterzeit aus dem Haus jagen?", brauste er auf und erhob sich. Jacob war nicht groß, hatte aber einen gedrungenen, muskulösen Oberkörper mit langen Armen und kräftigen Händen. Dass er Schmied war, sah man ihm an.

    „Nu, nu, reg dich ab!, beschwichtigte Viktor rasch. „Ich mein ja nur, wo du jetzt auch zwei Kinder hast, sind wir doch schon zehn Leut im Haus. Das ist doch so, oder?, wandte er sich hilfesuchend an seinen Vater. Der paffte an seiner Pfeife, lehnte gemütlich am Ofen und nickte bedächtig.

    „Ja, ja, das ist schon so. Hast richtig gezählt, Bub." Warum nur fühlte sich Viktor von ihm nie so richtig ernst genommen? Jacob hatte sich derweil gefasst.

    „Kannst beruhigt sein, Viktor!, knurrte er unwillig und nahm sein Schnitzmesser wieder auf. „Hab‘s schon mit Wilhelmine besprochen. Im Frühjahr ziehen wir weg. Ins Moldauische oder runter ans Meer. Dort gibt’s noch gute Arbeit für gute Handwerker!

    Der Vater nahm die Pfeife aus dem Mund. Sein langer Schnurrbart, der ihm in zwei gelben Strähnen an den Mundwinkeln nach unten hing, zitterte leicht.

    „Ihr wollt fort?"

    Jacob nickte. „Die Wirtschaft ernährt uns nicht mehr alle, da hat die Gertrud schon recht!" Er schoss einen Blick zu Viktor, der duckte sich wie unter einem Peitschenknall. Doch als er wieder aufblickte, funkelten seine Augen. Ihm war etwas eingefallen.

    „Du wirst Pferd und Wagen brauchen, Hausrat und Vorräte ebenfalls!"

    Jacob sah den Bruder forschend an. Worauf wollte der hinaus? Viktor lehnte sich lächelnd zurück. Gertrud würde ihn loben für seine Schläue, vielleicht sogar mal wieder zärtlich zu ihm sein!

    „Das ist ein guter Batzen, den du da vom Hof tragen willst., begann er langsam. „Eigentlich können wir das nicht entbehren, oder? Aber der Vater, an den er sich wandte, drehte sich nur wortlos zum Ofen und stocherte in der Glut.

    „Es sei denn..., fuhr Viktor fort, „es sei denn, du nimmst es als Erbteil!

    Jacob zuckte zusammen. Darauf also wollte er hinaus! So viel Scharfsinn hatte er Viktor gar nicht zugetraut. Natürlich steckte Gertrud dahinter. Der Ehne fuhr dazwischen:

    „Ihr erbt beide zu gleichen Teilen. Land und Haus sind mehr wert als Pferd und Wagen!"

    „Ein Acker ohne Ernte ist gar nichts wert!", entgegnete Viktor barsch.

    Die Männer verstummten. Mutlos ließ sich der Ehne wieder auf die Bank sinken, Jacobs Schnitzmesser ruhte. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

    Ja, die beiden letzten Jahre waren hart gewesen. Zwei aufeinanderfolgende Missernten ließen die Menschen schier verzweifeln. So eng man den Gürtel auch schnallte, es fehlte am Nötigsten. Die Not war bitter.

    Vor zwei Jahren hatte eine Dürre die Ähren nicht reifen lassen. Die Bauern trieben zähneknirschend das Vieh auf die Felder, das die nutzlosen Halme abweidete. Als es dann endlich regnete, war es zu spät zum Nachsäen. Alles, was im Sommer an Regen gefehlt hatte, prasselte nun auf einmal herunter. Der Fluss schwoll an, die Brunnen liefen über. Bei Haisch’s hatte die Überschwemmung über Nacht den Schuppen erreicht, in dem das Saatgut fürs nächste Jahr lagerte. Es war alles verdorben. Weinend fütterte es die Großmutter den Hühnern. Den ganzen Winter über spannen und webten sie, um Geld für neues Saatgut zu verdienen. Kein Stück Stoff war für den eigenen Haushalt geblieben.

    Die neue Saat kam gut im folgenden Jahr, es regnete ausreichend und die Menschen atmeten auf. Durchreisende erfreuten sich an wogenden, goldenen Weizenfeldern und saftig grünem Mais. Doch dann kamen die Heuschrecken. Die Brutstätten der Heuschrecken lagen im Donaudelta, von dort aus verbreiteten sie sich, der Windrichtung folgend, über das Land. Wer nie die schwarzen Wolken am Himmel sah, die die Sonne verdunkelten, wer nie das Rauschen der sich niederlassenden Insekten gehört hat, kann sich den Schrecken der entsetzten Bauern kaum vorstellen. Schon lange waren sie nicht mehr von Heuschrecken heimgesucht worden. Doch die Menschen erinnerten sich noch gut an den Sommer des Jahres 1875, als Heuschreckenschwärme die gesamte Ernte vernichteten. Ähnlich wie vor achtzehn Jahren, als Viktor und Jacob noch Schulbuben gewesen waren, zog die gesamte erwachsene Bevölkerung aufs Feld. Mit Besen, Harken, Eggen und Dreschflegeln bewaffnet schritten sie zur Vernichtung der Untiere. Wie besessen schlugen sie auf die Schädlinge ein, walzten und traten sie zu Tode. Das Schreckgespenst des Hungers hing über ihnen. Als es dann vorbei war, mussten die Bauern zwei Drittel der Ernte beklagen. Alles, was Viktor und Jacob geerntet hatten, lag als Saatgut wohlverwahrt im Schuppen. Der Ehne hatte Bretter auf Böcke gelegt und die Säcke darauf abgelegt. Aber wenigstens war ihnen das Hochwasser erspart geblieben.

    Nun wollte Jacob fort.

    Es war von jeher so, dass die Handwerker unter den Bauern in Notzeiten das Dorf verließen, um woanders ihr Brot zu verdienen. Aber ganz auf sein Erbe verzichten, Land und Hof seinem Bruder überlassen? Jacob war pfiffiger und gescheiter als sein Bruder, das hatte ihm schon immer Vorteile verschafft. Leider verführte es ihn aber auch zu einer gewissen Überheblichkeit. Ehrgeizig, wie er war, strebte er nach Höherem. Warum sollte er hier unter Not und Enge leiden, wenn er sich woanders Wohlstand verschaffen konnte? Sollten seine Kinder in Armut aufwachsen, sollte sich seine Frau ewig von der eifersüchtigen Schwägerin schikanieren lassen? Nein, das wollte er nicht zulassen, nicht, solange noch Kraft in seinen Armen und Grips in seinem Kopf war. Diese armselige Hütte und das ausgelaugte Stück Land – was war das schon wert?

    „Kannst die Wirtschaft haben, Viktor!", beschied Jacob gönnerhaft seinen Bruder. Der fuhr überrascht hoch. Der Ehne jedoch sank auf der Ofenbank ein bisschen in sich zusammen, sagte aber nichts. Sollte er ein Machtwort sprechen, sollte er seinem Jüngsten das Fortgehen verwehren? Nein, das würde nichts nützen. Seine Söhne waren erwachsene Männer und für ihre Familien selbst verantwortlich.

    Derweil waren Viktor und Jacob am Feilschen.

    „Ich brauche den großen Wagen und den Wallach."

    „Das geht nicht!, widersprach Viktor. „Das gute Zugpferd? Womit soll ich dann pflügen? Den großen Wagen kannst du nehmen, die alte Nella zieht ihn schon. Die Brüder verhandelten noch eine Weile und waren sich schließlich über die Aufteilung des Erbes einig. Den Erblasser, der sehr lebendig auf der Ofenbank saß und dem Gespräch finsteren Blickes gefolgt war, fragten sie nicht.

    Plötzlich ertönte das dünne Geschrei eines Neugeborenen. Die Kinder verharrten in ihrem Spiel mit den Schnitzspänen, der Ehne und Viktor schauten zur Schlafstubentür und Jacob sprang auf. Die Tür öffnete sich und Hanna, die neunjährige Tochter Viktors, kam heraus. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit schloss sie die Tür sorgfältig und leise hinter sich. Sie war für groß genug befunden worden, als weibliches Mitglied der Familie an der Geburt teilzuhaben und platzte fast vor Wichtigkeit. Würdevoll trat sie in den Raum und verkündete:

    „Es ist ein Mädle, sie waschen‘s grad!" Plötzlich war es mit der Würde vorbei. Hanna hopste um ihren Vater herum und quietschte und lachte. Die Buben schlossen sich sogleich dem wilden Getobe an. Sie machten einen Höllenlärm! Als Viktor das Mädchen um die Schultern fasste, um es zu beruhigen, weinte Hanna plötzlich.

    „Hab doch gesagt, sie ist zu jung!", brummte der Ehne und klopfte dem Mädchen besänftigend auf den Rücken. Dann schlurfte er nach draußen, um neues Brennmaterial fürs Feuer zu holen. Jacob blickte kopfschüttelnd auf den vollen Korb, der noch neben dem Ofen stand. Waren denn jetzt alle verrückt geworden, nur weil ein Baby geboren wurde? Das war doch nichts Besonderes. Als aber Gertrud mit dem kleinen, in weißes Linnen gewickelten Bündel herauskam und es ihm in den Arm legte, da wurden ihm doch die Knie weich. Er blickte in das winzige, rote Runzelgesichtchen und war gerührt. Viktor schaute ihm grinsend über die Schulter.

    „Wie geht es Wilhelmine?", fragte Jacob mit einem Blick nach der Schlafstubentür, durch die kein Laut drang. In ihrer mürrischen Art antwortete Gertrud:

    „Der geht’s gut. War leichter diesmal. Gib’s wieder her!" Damit nahm sie ihm das Bündel ab, um es den kleinen Buben zu zeigen, die an ihr hochsprangen. Dann trug sie das Baby zurück in die Kammer. Die Tür ließ sie einen Spalt offen, damit Wärme hereinkam. Sonst war die Schlafstube im Winter so kalt, dass sich der Atem der Schläfer in Eiskristallen auf die Bettdecken legte. Doch heute Morgen hatte die Ahna beizeiten die Türen geöffnet, als es mit den Wehen losging, damit die Wärme von der einzigen Feuerstelle im Hause auch die Kammer erwärmte.

    Wilhelmine lag ermattet, blass und glücklich in den Kissen. Wenn eine Frau Leben schenkte, konnte sie leicht dem Tod begegnen. Doch für dieses Mal war alles gut gegangen. Ihre Schwiegermutter, die Ahna, hantierte mit Laken, brachte das Bett in Ordnung. Als Gertrud das Neugeborene zu seiner Mutter legte, beugte sich die Alte lächelnd über die Beiden und tätschelte dem Baby das rosige Köpfchen.

    „Du musst es an die Brust legen, Mädle! Schau, wie es schon sucht!"

    Wilhelmine winkte müde ab: „Ach Mutter, es ist ja noch fast nichts da!"

    Doch die Ältere blieb hartnäckig. „Na, es braucht ja auch fast nichts, aber es muss saugen, damit morgen die Milch fließt. Glaub’s mir nur, Mädle, ich hab sieben Mal geboren!"

    Sie sagte nicht: ‚Ich habe sieben Kinder‘, denn es lebten nur noch zwei. Außer Viktor und Jacob waren die anderen alle noch vor dem fünften Lebensjahr gestorben. Zwei an Husten, zwei an Fieber (im selben Winter), und eines im Kindbett. Was es genau für Krankheiten waren, wusste niemand zu sagen. Kleine Kinder starben leicht, so war das Leben. Über die Toten wurde nicht gesprochen, damit sie in Frieden ruhen konnten. Man konnte froh sein, wenn einem welche fürs Alter blieben. Aber manchmal im Traum sah die Ahna noch ihre lieben, kleinen Gesichter und rief sie bei den fast vergessenen Namen.

    Wilhelmine nestelte am Hemd, legte die Kleine an. „Emilie soll sie heißen, nach dir!", sagte sie und lächelte ihre Schwiegermutter an.

    „Ach - Kind!", entfuhr es der Alten. Gerührt klopfte sie auf der Bettdecke herum. Gertrud, mit dem Rücken zu den Beiden, klapperte laut mit den Schüsseln. Man sah ihrem Hinterkopf mit dem straff gebundenen Dutt förmlich das finstere Gesicht an. Hatte denn Viktor, der Dummkopf, seinem Bruder immer noch nicht die Tür gewiesen? Die Alten würden am Ende noch dem jüngeren Sohn allein das Gut vermachen! Das sah ja ein Blinder, wie vernarrt die zwei Alten in Wilhelmine waren. Wilhelmine war eine Waise und hing an den Schwiegereltern wie ein leibliches Kind. Gertrud konnte und wollte mit deren liebenswerte Art nicht mithalten. Und jetzt nannte sie das Balg auch noch Emilie!

    Gertrud holte tief Luft und nahm sich zusammen. Sie machte das freundlichste Gesicht, zu dem sie fähig war, denn Jacob stand in der Tür. Zu einem offenen Krach wollte sie es auf keinen Fall kommen lassen. Wilhelmine lächelte ihren Mann an.

    „Du hast doch nichts dagegen, dass es Emilie heißt? Es sieht ihr sogar ähnlich, finde ich!"

    Jacob schaute erstaunt seine dralle Mutter an, die die Arme in die Hüften gestemmt hatte und mit kleinen Tänzelschritten ihre Röcke hin und her schwang. Ihr rotes, rundes Gesicht mit der knolligen Nase strahlte. Da musste Jacob laut lachen, seine Mutter gackerte mit. All die Angst und Anspannung der letzten Stunden machte sich in einem befreienden Gelächter Luft. Der Ehne und Viktor erschienen an der Tür, die Kinder purzelten hinterher, alle lachten mit und wussten gar nicht so genau, weshalb. Nur Gertrud schüttelte verächtlich den Kopf und wandte sich ab. Was war das doch für eine alberne Familie!

    Wilhelmine konnte auch nicht lachen. Ihr Leib zog sich gerade in einer schmerzhaften Nachwehe zusammen, die vom Saugen des Babys ausgelöst worden war. Durch die Geburt geschwächt, wurden ihr plötzlich die vielen Menschen und das stickige Zimmer unerträglich. Die Ahna bemerkte ihre Not und scheuchte alle hinaus. Gertrud sollte sich um das Abendessen kümmern und Hanna die beiden Buben fürs Bett vorbereiten. Jacob musste die verschmutzte Wäsche in die Waschküche hinter dem Haus tragen und Viktor hatte die Stube zu fegen. Der Ehne schlurfte hinaus, Brennzeug holen. Als die Mutter alle beschäftigt hatte, kehrte sie zu Wilhelmine zurück, die ihre Hand ergriff.

    „Mutter, ich muss dir etwas sagen!" Erstaunt ließ sich die Ahna auf der Bettkante nieder.

    „Du bist mir wie eine Tochter, Mädle, kannst mir ruhig alles sagen!"

    Wilhelmine senkte die Augen, holte tief Luft und fragte: „Spürst du nicht den Unfrieden im Haus? Die Gertrud möchte uns weghaben, das hat sie mir neulich ganz offen gesagt. Viktor ist auch ihrer Meinung. Wie soll man so leben? Jacob und ich haben..."

    „Aber Kind!, unterbrach sie die Ahna. Sie nahm einen Kamm zur Hand und begann Wilhelmines zerzaustes Haar zu entwirren. „Es ist immer so, dass es im Winter Unwillen gibt, weil alle so eng zusammenhocken. Wirst sehen, im Frühjahr, wenn‘s Licht und Luft gibt und Arbeit auf dem Feld, sind sie froh über jede Hand, die anpackt. Musst es halt aussitzen. Jetzt hast du erst mal dein Baby, um das du dich kümmern kannst, dann feiern wir schön Weihnachten...

    „Es ist aber schon beschlossen, dass wir wegziehen!", fuhr Wilhelmine dazwischen. Das Baby war bei den lauten Worten zusammengezuckt und greinte. Erschrocken ließ die Ahna die Hand mit dem Kamm sinken. Wilhelmine wiegte das Kind und unterdrückte ein Schluchzen.

    „So eine Unvernunft!, regte sich die Ahna auf. „Mit einem Neugeborenen wegziehen zu wollen. Das sieht dem Jacob ähnlich, nur Flausen im Kopf. Darf ich denn mein Enkelchen nicht aufwachsen sehen? Sie war aufgestanden und ließ sich jetzt verzagt auf einen Stuhl fallen. „Ach, Wilhelmine, wie soll ich’s mit Gertrud nur alleine aushalten? Sie kann einem das Leben sauer machen mit ihrer Art."

    „Sie wird freundlicher sein, wenn wir weg sind!, entgegnete Wilhelmine bitter. Versöhnlich fügte sie hinzu: „Hast ja noch Hanna und Ludwig. Hanna ist ein liebes Ding. Sie braucht dich, damit sie nicht so wird wie ihre Mutter.

    „Trotzdem gefällt es mir nicht, ganz und gar nicht!", beharrte die Alte. Niedergeschlagen nahm sie ihre Tätigkeit wieder auf und flocht Wilhelmines Haar zu zwei festen Zöpfen, die sie ihr auf dem Kopf feststeckte.

    „Vielleicht geht es uns ja woanders wirklich besser", sagte Wilhelmine nach einer Weile leise. Die Ahna seufzte und nickte. Dabei hoffte sie aber von Herzen, dass die Ernten in den folgenden Jahren besser werden würden, damit der Jüngste mit seiner Familie heimkehren konnte.

    Die Stimmung im Hause Haisch hatte sich gebessert, seit der Beschluss für den Umzug allen bekanntgegeben war. Viktor und Gertrud waren erleichtert und zufrieden, bemühten sich aber, dies nicht zu zeigen. Die Großeltern hatten sich schweren Herzens mit dem Trennungsgedanken abgefunden, so wie sie sich in ihrem langen Leben schon mit so vielen Dingen abfinden mussten. An den dunklen Winterabenden, wenn draußen ein kalter Wind heulend ums Haus pfiff und den Schnee in hohen Haufen zusammenwehte, saß man gern am warmen Ofen beisammen. Wenn das Feuer im Ofen knisterte und das Spinnrad surrte, erzählte die Ahna Geschichten und Sagen. Die Kinder lauschten mit leuchtenden Augen, doch auch die Erwachsenen hörten gerne zu. In letzter Zeit aber wurde in dieser Runde viel über den bevorstehenden Umzug geredet. Jacob und Wilhelmine, das Baby an der Brust und den Jungen auf dem Schoß, planten und rechneten. Was würde sie in der Fremde erwarten? Jacob war voller Zuversicht und machte große Pläne. Er verstand es, so überzeugend den künftigen Wohlstand zu preisen, dass auch Wilhelmine langsam in erwartungsfrohe Stimmung kam.

    „Das Geld liegt anderswo auch nicht auf der Straße!", brummte der Ehne nur, wenn sich sein Sohn wieder in Phantastereien erging. Doch Jacob ließ sich davon nicht beirren und träumte weiter von einem besseren Leben.

    Der kleine Jacob war auf dem Schoß seiner Mutter eingeschlafen, mit dem Daumen im Mund. Wilhelmine schickte sich an, ihre Kinder zu Bett zu bringen. Vor einer Stunde hatte sie die Betten angewärmt. Dazu wurden Steine erhitzt und in Tücher gewickelt, die kamen unter die Bettdecke. Vor dem Schlafengehen holte man die Steine heraus und legte sie wieder in das Herdfach, das extra zu diesem Zweck eingebaut war. Nun war es zwischen dem Strohsack und dem Federbett mollig warm.

    Mit dem Waschen wurden keine großen Umstände gemacht, denn das Erhitzen des Wassers war eine mühselige Angelegenheit. Im Winter wusch man sich einmal in der Woche in der Küche im Waschzuber. Erst die Frauen und Kinder, dann die Männer. Zum Schluss kamen noch die schmutzverkrusteten Stallsachen der Männer zum Einweichen ins lauwarme Wasser.

    Wilhelmine legte ihre Kinder in das große Bett, in dem auch sie selbst und ihr Mann schliefen. Ihre Schwiegermutter trat hinzu, gemeinsam schauten sie auf die Kinder hinab. Jacob hatte sich wie ein Kätzchen zusammengerollt und war sofort wieder eingeschlafen, nachdem er beim Ausziehen geweckt worden war. Neben ihm, sicher verpackt in einem großen Kissen, schlummerte satt und zufrieden das Baby.

    „Sie wird leben!, flüsterte die Ahna, und antwortete damit auf die Gedanken, die Wilhelmine gerade durch den Kopf gegangen waren. „Winterkinder sind zäh. Wenn sie die kalte Zeit überlebt, wird sie ein starker Mensch werden!. Dankbar lächelte Wilhelmine die Ahna an. Dann schlossen die Frauen leise die Tür.

    Die Nachbarn waren noch vor der Taufe erschienen, das neue Kind zu betrachten und kleine Gaben zu bringen. Gestrickte Schuhchen aus feiner Wolle, ein gewebtes Stück Leinen, mehrere Kuchen und eine Räucherwurst waren dabei. Wilhelmine freute sich sehr, waren diese Geschenke doch ein Zeichen der Wertschätzung. Bei Jacobs Geburt vor zwei Jahren waren die Leute noch zurückhaltender gewesen, obwohl das Kind ein Junge war. Aber damals hatte Jacob seine junge Frau, die aus einer entfernteren Gemeinde stammte, gerade erst heimgeholt. Die Hochzeit mit dem Kirchgang und dem Hochzeitsessen wurde zwar ganz traditionell abgehalten, dennoch brauchten die Menschen hier eine ganze Weile, ehe sie das neue Gemeindemitglied als eine der Ihren akzeptierten. Üblicherweise heiratete man untereinander, sofern genügend Heiratskandidaten zur Auswahl standen. Auf den schmucken Jacob hatte so manche Dorfschöne ein Auge geworfen und jetzt hatte ihn sich tatsächlich eine Fremde geangelt! Doch in der Zeit, die Wilhelmine derweil hier lebte, hatte sie sich unter den Teplitzern viele Freunde gemacht, weil sie immer freundlich und hilfsbereit war. Sie ahnte nicht, dass ihr die Akzeptanz der Dorfbewohner noch einmal sehr nützlich sein würde.

    Der lange Winter ging vorüber, so wie alle Winter irgendwann vorbei gehen. Das Weihnachtsfest war besinnlich und angenehm verlaufen. Gertrud war wie verwandelt, hatte sogar kleine Geschenke für Wilhelmines Kinder vorbereitet. Die Ahna hatte die letzten Reserven mobilisiert und ein prächtiges Festessen gemacht, das nach alter schwäbischer Art aus Dampfnudeln, groß wie Kinderköpfe, saftigem Schweinebraten, braunen Zwiebelringen und Knoblauchzehen in Fettsoße bestand.

    Die Großeltern wollten Jacob überreden, noch bis zum Osterfest zu bleiben, aber der wollte noch vor der Frühjahrsaussaat fort. Sollte doch Viktor sehen, wie er mit der Arbeit allein fertig wurde, die Ernte wollte er schließlich mit dem Bruder auch nicht teilen.

    Der Wagen wurde mit Hausrat und Vorräten vollgeladen, die Kinder in Decken gewickelt und der alte Gaul vorgespannt – dann war es soweit. Die Ahna küsste ihre Enkelkinder und segnete sie, umarmte den Sohn und die Schwiegertochter. Dabei kullerten unaufhörlich Tränen über ihre runzligen Wangen. Etliche Dorfbewohner hatten sich eingefunden, es wurden Hände geschüttelt, aufmunternde Worte gesprochen, Scherze gemacht und Schultern geklopft. Der Ehne hatte eine rote Nase, als er Jacob letzte Anweisungen im Umgang mit dem Pferdegeschirr gab. Hanna und Gertrud standen an der Hofmauer und winkten mit Tüchern, der kleine Ludwig hopste noch eine ganze Strecke hinter dem Wagen her, als er die Dorfstraße entlang rumpelte.

    Die Sonne stieg gerade auf und tauchte die langgestreckten Hügelketten, die die weite Steppe in der Ferne begrenzten, in ein sanftes rotgoldenes Licht. Die Bäume am Straßenrand hatten schon dicke Knospen. Der Frühling war da.

    „Geht mit Gott!", murmelte die Ahna, als der Wagen in einer Staubwolke verschwand.

    IN DER FREMDE

    Man schrieb das Jahr 1905, es war Sommer.

    Die Hitze flirrte über dem Stoppelacker. Im heißen Sonnenlicht glänzten die Ähren wie Gold, wenn sie unter den kraftvollen Sensenstrichen der Männer zu Boden raschelten.

    Emilie richtete sich auf. Oh, wie der Rücken schmerzte! Aber sie war noch jung, zehn Jahre erst, da reicht es, sich einmal nach hinten zu beugen, die Fäuste ins Kreuz zu drücken – schon war der Schmerz vorbei. Bei den älteren Frauen ging das nicht mehr so schnell. Die ganz Alten hatten das Aufrichten völlig aufgegeben, ihre Rücken blieben gebeugt, wenn sie abends nach Hause gingen.

    Emilie strich sich eine hellblonde Haarsträhne unter das buntgeblümte Kopftuch. Dabei wanderten ihre Blicke über die arbeitenden Menschen. Die Männer mit ihren Sensen, hemdsärmelig die meisten, mit nackten, glänzenden Oberkörpern einige Jüngere. Na, die wollten wohl den Mädchen gefallen. Die Frauen und Mädchen hatten allerdings kaum einen Blick für sie. Emsig rafften sie die gefallenen Halme und banden sie zu Garben, die dann als Puppen zusammengestellt wurden. Für Emilie wurde es Zeit, wieder mitzutun. Seufzend warf sie die blonden Zöpfe nach hinten und bückte sich.

    „Sehen selbst aus wie Ähren, deine Zöpfe!, rief lachend ein halbwüchsiges Mädchen hinter ihr. „Pass nur auf, dass der Mikosch sie dir nicht abmäht!

    Emilie lächelte. Sie war die gutmütigen Scherze über ihr helles Haar schon gewöhnt. Die meisten Menschen hier waren schwarzhaarig, denn sie waren hier in der Ukraine, nahe dem Schwarzen Meer. Wie ihre Mutter sagte, gab es weiter westlich viele Leute mit blonden Haaren, ja sogar ganze Dörfer mit rein deutscher Bevölkerung. Warum sie da nicht wohnten, wollte Emilie von ihrer Mutter wissen. Aber die war einsilbig geblieben und hatte nur gesagt, es ginge eben nicht. Die Wahrheit war einem Kind schwer zu erklären – es war die Sturheit des Vaters. Nachdem Jacob und Wilhelmine mit ihren Kindern von zu Hause weggezogen waren – Reichtum und Wohlstand entgegen – lief nicht alles so wie geplant.

    Es war durchaus üblich, dass Bauern, die keine erwachsenen Söhne oder Töchter hatten um die landwirtschaftlichen Arbeiten zu bewältigen, Knechte aus dem eigenen Dorf einstellten. Doch Jacob war zu stolz, um sich bei seinen Nachbarn zu verdingen. Er hatte sogar darüber nachgedacht, nach Amerika auszuwandern, wie so viele seiner Landsleute es taten. Nachdem nämlich die ‚ewige‘ Militärfreiheit nach nur achtundfünfzig Jahren von der russischen Regierung wieder aufgehoben worden war, setzte eine wahre Auswanderungswelle ein. Aber davon wollte Wilhelmine nichts wissen. Lieber würde sie in den Kaukasus, in die Krim oder nach Sibirien auswandern, wie schon einige deutsche Siedler vor ihnen. Dort waren die Menschen freundlich, sagte sie, nicht so wie in Amerika, wo die Männer Waffen trugen und es wilde Ureinwohner gab. Am Ende waren sie hier gelandet, in dem kleinen ukrainischen Dörfchen bei Cherson. Der mächtige Dnipro mündete nicht weit von hier ins Meer und bestimmte das Leben der Menschen. Es gab eine Werft und große Handelsplätze. Um die Stadt herum lagen fruchtbare Weizenfelder. Hier fand Jacob Arbeit, hier ließen sie sich nieder.

    Aber, ach, wie weit war es bis nach Hause! Immer, wenn sie weitergezogen waren, entfernten sie sich weiter von der Heimat, bald waren es über vierzig Meilen (fast dreihundert Kilometer) bis Teplitz. Die Nachricht vom Tod der Eltern erreichte Jacob erst, als die schon unter der Erde waren. Gertrud, die derweil noch zwei Kinder bekommen hatte, machte in ihrem Brief unmissverständlich klar, dass sie eine Heimkehr des Schwagers nicht gutheißen würde. Es ginge ihnen ja auch viel besser in der Fremde als hier in Teplitz, schrieb sie scheinheilig. Jacob verfiel nach dieser Nachricht in ein dumpfes Brüten. Wilhelmine steckte den Brief ins Herdfeuer und bemühte sich, ihren Mann auf andere Gedanken zu bringen.

    Die Kinderschar war mittlerweile auf fünf angewachsen, was in der damaligen Zeit, anders als heute, als Gottes Segen empfunden wurde. Sie erzogen ihre Kinder im evangelischen Glauben und sprachen mit ihnen deutsch. Natürlich konnten sich die Kinder auch

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