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Kein Ende in Sicht: Ein Soldatenschicksal im Zweiten Weltkrieg
Kein Ende in Sicht: Ein Soldatenschicksal im Zweiten Weltkrieg
Kein Ende in Sicht: Ein Soldatenschicksal im Zweiten Weltkrieg
eBook361 Seiten4 Stunden

Kein Ende in Sicht: Ein Soldatenschicksal im Zweiten Weltkrieg

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Über dieses E-Book

Der Fotograf Otto Eder ist als Funker in Frankreich stationiert, bevor er mit seiner Division nach Jugoslawien geschickt wird. Als der Befehl kommt, an die Ostfront zu ziehen, verlieren viele seiner Kameraden in schweren und zum Teil sehr verlustreichen Kämpfen das Leben. Die Versorgungswege der Truppe werden immer länger, Verpflegung und Munition gehen zu Ende. Über den Kaukasus geht es weiter zum Kuban-Brückenkopf. Otto wird schwer verletzt und nach seinem Genesungsurlaub in Italien eingesetzt. In den letzten Monaten vor Kriegsende marschieren sie den Amerikanern entgegen, kapitulieren und werden in ein Gefangenenlager am Comer See gebracht.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Förg
Erscheinungsdatum24. Juli 2023
ISBN9783475549830

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    Buchvorschau

    Kein Ende in Sicht - Otto Eder

    Meine unbeschwerte Kindheit auf dem Land

    Wenn ich so zurückdenke, dann schenkten uns unsere lieben Eltern eine schöne Kindheit. Uns – das waren vier richtige Lausbuben: mein Bruder Richard, Jahrgang 1913, dann ich, Jahrgang 1916, sozusagen Kriegsware, und mein jüngerer Bruder Adalbert, der Kürze halber Bert genannt. Er kam 1920 auf die Welt und war somit ein Kind der Inflation.

    Als Vierter im Bunde unser Gustav. Er lag jahrgangsmäßig zwischen Richard und mir, kam aus dem Rheinland und war Vollwaise. Sein Vater ließ sein Leben für den Kaiser und das Vaterland, seine Mutter starb bald darauf vor Kummer und Gram. Damit das Haus voll werde, nahmen meine nicht sonderlich begüterten Eltern den kleinen Gustav in der Familie auf. Er war vollkommen gleichberechtigt, eher sogar bevorzugt. Kaum jemand im Dorf wusste, dass Gustav nicht unser richtiger Bruder war – am wenigsten Richard, Bert und ich.

    Unser Vater, ein fescher, sympathischer Mann, war groß, schlank und allgemein beliebt, und kam aus einem kleinen Bauernanwesen, einem »Gütl« aus der Hallertau, in der Nähe von Abens. Als nachgeborener, fünfter Sohn wurde er nicht, wie damals üblich, Bauernknecht, sondern durfte, weil er in der Schule zu den Klügeren gehörte, ein Handwerk erlernen und wurde Schreiner. Als Handwerksgeselle ging er, wie früher der Brauch, auf Wanderschaft, kam aber dabei nicht allzu weit, nur bis Hohenkammer. Aber diese kurze Reise hatte sich gelohnt. Er fand nämlich in diesem Ort Hohenkammer nicht nur ein damals schon großes und schönes Dorf im lieblichen Glonntal mit einem respektablen Wasserschloss, einem großen landwirtschaftlichen Gut, das zum Schloss gehörte wie alles, was von größerem Wert war; die Schlossbrauerei, die weiten Wiesen und Äcker, die riesigen Wälder, die Jagd und das Fischrecht.

    Auch die Kirche, die herrschaftlich über den saftigen Wiesengründen des Glonntales die durchreisenden Handelsleute von der Ingolstädter Straße begrüßte, fuhr nicht schlecht mit seinen Schlossherren, den Grafen und Baronen. Sie waren es, die die Kirche mit wertvollen Gemälden, kunstvollen Schnitzereien und mit Gold reichlich beschenkten. Wohl deshalb auch wurden die Dorfkinder nicht von gewöhnlichen Schulmeisterlein unterrichtet, sondern von gut ausgebildeten Klosterschwestern betreut. Für das Seelenheil der Schlossherren sorgte nicht ein gewöhnlicher Ortspfarrer – es musste schon ein »Geistlicher Rat« oder ein »Herr Dekan« sein.

    Wie schon gesagt, diese Reise hatte sich für unseren Papa gelohnt – wohl weniger des schönen Dorfes wegen gefiel es ihm so an diesem Ort, mehr wohl der großen Liebe wegen. Er fand nämlich in diesem Hohenkammer sein großes Glück – unsere gute, kleine, zarte, nimmermüde Mama.

    Ihre Vorfahren hatten ihr aus der Pfalz immer gute Laune und den sonnigen Humor mitgebracht, der sie überall so beliebt machte. Beliebt, weil sie oft die Helferin spielen musste. Und wer brauchte in der damaligen Zeit nicht Hilfe? Als gelernte Näherin schneiderte sie den ganzen lieben langen Tag, oft bis in die tiefe Nacht für Bekannte und arme Teufel – was meistens aufs Gleiche hinauslief. Der Lohn? Ein paar Eier, drei bis vier Schmalznudeln, und manchmal gab’s einen Gockel, aber noch öfter ein »Vergelt’s Gott«.

    Kaum hatte mein Vater die Meisterprüfung hinter sich gebracht, machte er sich selbstständig und eröffnete in Allershausen die »Schreinerei Joseph Eder« in der heutigen Glonntalstraße. Bald waren die ersten Kunden geworben und der Betrieb angelaufen, verschwand das Firmenschild und wurde eingemottet für spätere Zeiten, denn der Erste Weltkrieg war ausgebrochen.

    Der Erste Weltkrieg

    Wie die meisten jungen, gesunden Männer musste auch unser Papa weg von der Familie, fort in den Krieg, an die französische Front. Von dort wurde er erst kurz vor Kriegsende entlassen. So schön das für jeden Frontsoldaten geklungen haben muss, so traurig war der Grund seiner vorzeitigen Entlassung aus dem Kriegsdienst. Nachdem der letzte seiner vier Brüder den Heldentod erlitten hatte, trat ein Gesetz in Kraft, wonach der letzte Überlebende einer Familie zur Erhaltung des Namens aus dem Wehrdienst entlassen wurde.

    Nach so langer Abwesenheit war daheim die Schreinerei des Vaters eingeschlafen. So entschloss sich mein Vater, bei den »Amperwerken« als Maschinist einzutreten. Das Elektrizitätswerk in Allershausen war damals – wie die Elektrizität überhaupt – ziemlich neu und suchte bevorzugt geprüfte Handwerker als Maschinisten. Der Schichtdienst bei diesem Posten kam ihm sehr gelegen; da konnte er nebenbei schreinern und seinen Lieblingsbeschäftigungen nachgehen – dem Garteln und Schwammerlsuchen. Trotz alledem hatte er noch viel Zeit für die Familie.

    Wir wohnten in einem guten Viertel in Allershausen. Damals noch ein richtiges Bauerndorf mit einem Arzt und einem »Tierheilkundigen« am Ort. Zwei Bäcker, ein Metzger, zwei Wirte, ein Schuster, zwei Sattler, ein Schreiner und »Kistler«, der für die Fabrikation von Särgen zuständig war. Außerdem drei Lebensmittelgeschäfte, Krämer, die praktisch alles zu verkaufen hatten: Zigarren, Zigaretten, Schuhbandl, Stoffe und Fisch. Vom Rollmops bis zum Bismarckhering, Zucker, Schuhcreme, Waffelbruch und Essig, Streichhölzer, Petroleum und Kerzen aller Art – geweihte und ungeweihte –, Käse, Lampendochte, Schokolade, Limonade, Zichorie-Kaffee, Knöpfe und Spiritus, Pfefferminzkugeln – einfach alles war hier am Lager, wie in einem Supermarkt. Nur die Bedienung war exklusiv. Bedient wurde man vom Chef oder meistens von der Chefin höchstpersönlich.

    Das klare Wasser der Glonn betrieb zwei Mühlen, die Heinritzi-Mühle in Allershausen und die größere Reckmühle mit Sägewerk, wo die Bauern ihr Getreide, Weizen, Korn und Gerste mit ihren Pferde- und Ochsenfuhrwerken anfuhren. Seit mehreren Generationen ist die Reckmühle im Besitz der Familie Müller (nomen est omen), der jeweilige Besitzer seit eh und je ein »Benedikt« mit Vornamen.

    Zwei Schmiedemeister, nein, sogar drei, hatten genügend Arbeit mit Pferde beschlagen, Eisenreifen auf die Holzräder aufziehen, landwirtschaftliche Werkzeuge anfertigen oder reparieren. Zwei örtliche Wagner machten nicht nur Räder für Kutschen, Heu- und Mistwagen sowie für die beliebten Heuwagerl für Kinder, sondern auch komplette Wagen für die Landwirtschaft. Auch Pferdeschlitten für flotte Einspänner wie auch für den Holztransport standen auf ihrem Programm. Der Fortschrittlichste ihrer Gilde stellte sogar Eisstöcke und, für damals kaum zu glauben, das Neueste vom Neuen her: richtige Ski. Und das im Jahre 1920.

    Für die Verbindung zur übrigen Welt sorgte die Postagentur. Sie war in dem Posthäusl schräg gegenüber unserem Haus. Noch recht gut entsinne ich mich der Pferde-Postkutsche mit den großen Rädern, gelb, wie die Postkutsche selber. Auf dem Bock der Postillion, wie sich’s für einen ordentlichen Postillion gehört: blauer Frack, weiße Hose, schwarzer Zylinder und Schaftstiefel – alles tipptopp sauber.

    Auf der Rückseite eine dreistufige Treppe. Sie führte zum Innenraum der Kutsche, der spartanisch ausgestattet war und nicht gerade einladend wirkte. Links eine Sitzbank, rechts eine Sitzbank; darüber je ein Gepäcknetz. Auf dem Dach der Kutsche lag die Paketpost. Bei Schlechtwetter wurde sie mit einer Plane abgedeckt. Das stolze Gefährt – das war es wirklich – wurde von zwei mittelschweren Pferden von Freising über Allershausen nach Hohenkammer und zurück bewegt. Übernachtet hat das Gefährt mit Mann und Ross und Wagen beim »Alten Wirt«.

    Kam die Post aus Freising, so gegen 19 Uhr, dann meldete sich der Postillion mit der uns bekannten Melodie aus dem Posthorn – für uns Buben das Zeichen zum Sammeln beim Posthäusl, denn nach unserer Mithilfe beim Abladen der Pakete, des Briefsackes und der Zeitungen kamen wir Buben zum Zug. Wir durften gratis von der Post bis zum »Alten Wirt« Fahrgast spielen. Die Größeren und die Frechsten absolvierten die Tour mit Stolz vom hohen Kutschbock aus. Dieses Glück hatte ich leider nie. Ich gehörte nämlich zu den Kleineren, und die saßen drinnen auf den harten Holzbänken.

    Damals waren die zahlenden Fahrgäste rar und oft war die Postkutsche leer. Wer konnte sich schon sechzig Pfennig leisten? Und das war der Preis für die zwölf Kilometer von Freising nach Allershausen.

    Selbstverständlich, um wieder zu den ortsansässigen Betrieben zu kommen, trieb auch ein Frisör, wie sein Firmenschild anzeigte, sein Unwesen. »Approbierter Bader« war er laut Urkunde. Außer Haareschneiden und Rasieren riss er auch schmerzende Zähne. Kein Mensch ging zum Zähne ziehen. Man ließ sich einen Zahn reißen, das traf den schmerzhaften Vorgang richtiger.

    Außerdem wusste er für oder gegen alle Beschwerden ein Mittel, gegen ein kleines Honorar natürlich. Mit dem Haarschneiden allein war eh nicht viel zu verdienen. Die Frauen schieden als Kunden von vorneherein aus. Die Männer rasierten sich – mit Ausnahme der »Besseren« – selber, und ihre Haare wuchsen so langsam, dass nur einmal, höchstens zweimal im Jahr das Haarschneiden nicht mehr zu vermeiden war. Ausnahmen gab es höchstens aus Anlass der eigenen Hochzeit, eventuell noch einer Beerdigung aus der Verwandtschaft – damals hieß es »bei einer Leich«.

    Regelmäßig machte der Bader per Rad seine Tour und besuchte die »Gwappelten« – die Besseren, die sich wöchentlich einmal rasieren ließen.

    Auch ein Drechsler war am Ort. Er fertigte Spinnräder und Ähnliches, sehr schön, aber viel zu haltbar, denn die Dinger hielten länger als ein Leben. Sein Verdienst muss nicht übermäßig gewesen sein, und wenn möglich war er auf der Jagd. Aber nicht etwa nach Reh und Hase – das war den »Großkopferten« vorbehalten. Er jagte Maulwürfe und bekam dafür ein bisschen Geld von den Bauern.

    Die gerissensten Geschäftsleute und die bauernschlausten waren eindeutig die Viehhändler und die Sauhändler. Ihre Frauen waren meistens ebenfalls »kaufmännisch« tätig. Sie fuhren mit ihren Schubkarren von Bauernhof zu Bauernhof, kauften für den Großhändler in der Stadt Naturalien wie Eier, Butter, Schmalz, Gänse und Enten und fette Suppenhühner auf. Ganz nach dem Motto: Mit einer Handvoll Handel verdienst du immer noch besser als mit einem Karren voll Arbeit. Mit dem Handel wurden sie zwar nicht reich, aber sie waren immer noch besser dran als »Scheermfanger«, die für das Fell eines Maulwurfs nur ein Fünferl, höchstens ein Zehnerl erhielten. Entsprechend der Größe ihrer gehandelten Tiere schauten die Viehhändler auf die Sauhändler mit etwas Verachtung von oben herab.

    Für Bildung und Kultur war die Volksschule zuständig. Das Schulgebäude, ein quadratischer Kasten im Stil des 19. Jahrhunderts mit drei Etagen, beherbergte die Wohnung des Hauptlehrers mit Familie im Erdgeschoss, wo außerdem noch ein kleiner Raum als Gemeindekanzlei diente. Im ersten Stock war ein Schulsaal und eine kleine Wohnung für das Fräulein untergebracht, das die unteren Klassen unterrichtete.

    Im oberen Stockwerk waren zwei Schulräume, in denen das große und kleine Einmaleins eingetrichtert wurde. Das war die katholische Schule. Sie war mit drei Lehrkräften besetzt, dem Hauptlehrer, der die oberen Klassen von sieben aufwärts unterrichtete, einem »Hilfslehrer« – er quälte sich mit der Mittelstufe ab –, und einem »Fräulein«, das die ABC-Schützen und unteren Klassen in die Kunst des Lesens und Schreibens einführte.

    Das Fräulein Fürholzer war eine Seele. Trotz ihrer Ehrfurcht einflößenden Größe und ihres beachtlichen Umfangs war sie die Güte in Person, mit viel Verständnis und Geduld für ihre Kinder. Doch einmal muss sie sich vergessen haben. Bei all meiner Bescheidenheit – ich gehörte zu den Besseren in der Klasse, aber, dass ausgerechnet von den Dummen schon einige pfeifen konnten und ich nicht, wurmte mich schon lange. Die Rechenaufgaben hatte ich längst fertig und hatte Zeit zum Nachdenken und zum Üben mit dem Pfeifen. Ich spitzte den Mund, holte tief Luft und blies sie fest aus – einmal, zweimal und – auf einmal klappte es. Jetzt konnte ich auch pfeifen.

    Alle hörten auf mit der blöden Rechnerei. Im Schulzimmer war’s mucksmäuschenstill und alle schauten zu mir, auch das Fräulein Fürholzer. Während ich stolz war auf meine eben erlernte Pfeifkunst, zeigte das mir sonst so gut gesonnene »Fräulein« gar kein Verständnis für meine musikalischen Fähigkeiten und verpasste mir drei Tatzen – keine zornigen, eher rücksichtsvolle. Das waren meine ersten, aber auch meine letzten. Wahrscheinlich haben sie dem Fräulein Fürholzer, Gott hab sie selig, weher getan als mir.

    Der Hilfslehrer musste sich mit den mittleren Klassen, den Acht- und Zehnjährigen herumärgern. Da konnte und durfte er nicht so zart besaitet sein wie seine Kollegin. Oft musste er grob, manchmal sogar gröber sein; aber nicht deswegen hieß er wirklich Gröber, der Herr Lehrer Gröber.

    Sein Unterricht war, wie sich’s gehört, militärisch streng. Seine Parole: »Das Bäumchen biegt sich, doch der Baum nicht mehr«, auf Deutsch: »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr«.

    Pünktlich um 8 Uhr rief der Posten mit verhaltener Stimme ins Klassenzimmer: »Der Lehrer kommt«, und alle rannten an ihren Platz. Die Tür ging auf, der Herr Lehrer spazierte herein und mit einem lauten »Guten Morgen, Herr Lehrer«, wurde er von der ganzen Meute begrüßt.

    Die Erziehung von uns Kindern war in der Hauptsache in den Händen unserer Mutter. Nicht bigottisch, aber gut katholisch wurde das von ihr praktiziert. Ein Tag ohne Morgengebet, ohne Tischgebet und Abendgebet war nicht denkbar. So wenig wie Bettgehen, ohne dass Mama nicht noch ein Märchen erzählt hätte.

    Das Kirchengehen – nicht nur am Sonntag, sondern jeden Tag – war für uns keine Last, sondern schon mehr eine liebe Gewohnheit Dazu lud uns schon das nahe Geläute der Kirchenglocken ein, das uns beide, Richard und mich, zur Arbeit rief. Richard durfte die Orgel treten und ich war als Ministrant aktiv.

    Am westlichen Dorfende, in Oberallershausen, in respektvoller Entfernung also, standen die Kirche und die Schule der Evangelischen Kirche, damals redete man nur von der »Lutherischen«. Ein Pastor sorgte sich um seine Schäflein im weiten Umkreis, und nur ein Lehrer – er reichte leicht für die wenigen Kinder – betreute die Schuljugend. Nur wenige Kinder hatten eine Fahrgelegenheit, die meisten marschierten zu Fuß, bei Kälte, Regen und Schnee mit schlechtem Schuhwerk und unzureichender Kleidung den weiten Weg. Nach dieser körperlichen Anstrengung in der Schule angekommen, mussten oft erst die Klamotten getrocknet werden – da blieb dann zum Lernen nicht mehr viel Zeit.

    Die katholischen Kinder hatten es da schon ein gutes Stück besser. Trotzdem, der Weg von Aiterbach, Leonhardsbuch, Kienberg und Reckmühle war für einen Knirps von sechs Jahren schon eine Leistung, noch dazu bei der damaligen nicht gerade üppigen Kost. Und vor dem Schulunterricht, um 7 Uhr, war ja eine Messe oder ein Amt. Das zu versäumen war selbst für einen Auswärtigen mindestens eine lässliche Sünde.

    Als schwere Sünden dagegen bekämpften feurige Kooperatoren vom Predigtstuhl herab die kurzen Röcke der verführerischen Jungfrauen. Es waren zwar nicht mehr als die Knöchel zu sehen – aber »wehret den Anfängen«.

    Bestens besucht waren immer die Sonntags-, besonders die Fastenpredigten. Da ist auch keiner eingeschlafen wie bei den vergeistigten Ansprachen des hochwürdigen Herrn Pfarrers, und war er noch so müde von der schweren Bauernarbeit. All das »neuzeitliche Zeug« wie kurze Röcke, Bubikopf-Frisur oder gar »Stöckerlschuh« kam lautstark zur Sprache. Bei den Alten fand das Zustimmung, die Burschen duckten sich und grinsten schadenfroh. »Heut hat er es ihnen aber richtig g’sagt«. In diesen Worten steckte vollste Anerkennung, denn die »Unmoral« war schon aufs Land gekommen und musste bekämpft werden.

    Bei der nächsten Predigt kamen dann die Burschen dran – auch sie blieben nicht ungeschoren. Ihnen warf der Nachfolger von Abraham a Sancta clara unüberhörbar und voll heiligem Zorn ihre schweren Sünden vor.

    Erst »Bierpredigt mit Brezenandacht« – gemeint waren die Wirtshaushocker während des Gottesdienstes –, hernach »liederlichen Umgang mit Frauenzimmern«. Gemeint war das sündige Kammerfensterln.

    Als Zugezogene hatten meine Eltern noch kein eigenes Haus und wohnten beim Schmiedmeister Johann Käser. Unser Hausherr war Witwer. Im Erdgeschoss betrieb er eine Dorfschmiede, die andere Hälfte im Parterre diente ihm als Wohnung. Die Wohnküche mit einem kleinen Herd, einem Leder-Kanapee voller schwarzem Schmiedruß, einem rustikalen Tisch und einem dazu passenden Stuhl, die beide älter gewesen sein dürften als ihr Besitzer, war zeitgemäß, aber ärmlich.

    Der zweite Raum, das Schlafzimmer, war genauso bescheiden. Das Federbett steckte in einem rot-weiß-karierten Überzug und war so weniger schmutzempfindlich. Auf dem Nachtkastl neben dem Bett stand griffbereit, für alle Notfälle, ein Kerzenständer mit Kerze und Streichhölzern an seinem Platz. Das Nachtkastl war wegen seines Inhaltes, dem »Nachthaferl« so wichtig. Das Botschamperl war lebensnotwendig, denn das einzige »Häuschen« für sämtliche Hausbewohner war draußen. Um dort hinzukommen, musste man erst über die Straße. Zehn Meter weiter an einen Gartenzaun gelehnt stand das besagte Örtchen mit verwitterten, breiten Fichtenbrettern und zwei bis drei Zentimeter breiten Ritzen, die einen Rundblick über die ganze Nachbarschaft freigaben. Ein rund ausgeschnittenes Brett quer gelegt und festgenagelt diente als Sitzgelegenheit. Das Türschloss war ein altersschwacher Lederriemen, an einem Nagel eingehängt, und schon war die Bude sturmgesichert. Es war schon sehr nüchtern. Sogar das sonst übliche, in die Tür geschnitzte Herzerl fehlte. Der Wind sorgte zwar für absolute Belüftung, dafür aber waren im Sommer die bei Wärme lästigen Fliegen ungebetene Gäste. Im Winter blieb auf dem Sitzbrett der Schnee liegen und fror fest, und die Kälte machte den Ausflug hierher auch nicht lustiger, weder bei Tag, schon gar nicht bei Nacht. Jedenfalls ging man zum Häuschen nur, wenn es sein musste, und blieb nicht länger als unbedingt notwendig.

    In der Werkstatt unseres Hausherrn, der Schmiede, hielten wir Kinder uns am liebsten auf. Die Wände und die Decke waren total verrußt und der Boden voller Staub. Das offene Kaminfeuer hielt ein Blasebalg, den wir Kinder treten durften, am Brennen. Beim »Käservater«, wie wir ihn liebevoll nannten, durften wir alles. Wir traten den Blasebalg, dass die Funken bis an die Decke sprühten. Je wilder es zuging, desto schöner war’s für uns Buben. Und wenn der Käservater ein Stück glühendes Eisen aus dem Feuer holte, mit der Zange festhielt und mit dem Hammer darauf im Takt herumhämmerte, anschließend in einem Kübel mit kaltem Wasser härtete, dass es nur so zischte und dampfte, dann hatten wir eine ungefähre Vorstellung vom Fegefeuer.

    Um den Amboss lagen in Reichweite griffbereit selbst geschmiedete Hämmer, an der Wand hingen handgefertigte Zangen jeder Größe und lehnten hölzerne Wagenräder, die einen Eisenreifen bekamen. Neue und angerostete Hufeisen lagen in der Ecke neben abgerissenen Kuhketten, die auf ihre Reparatur warteten. Gleich beim Eingangstor war der Stand, wo den schweren Bauernrössern neue Hufe verpasst werden mussten. Nicht selten waren gefährliche Pferde darunter, die kein anderer Hufschmied annahm. Aber unser Käservater wurde mit allen, noch so hinterlistigen Schlägern und Beißern fertig. Dafür gab’s – der Herr verzeih’s – eine ganze Litanei unchristlicher Flüche. Ein ganz wichtiges Utensil in Käservaters Werkstatt darf ich nicht vergessen: seinen Maßkrug. Zu seiner schweren Arbeit war ihm ein kühler Schluck zu vergönnen, aber einen Rausch, auch nicht ein Schwipserl, hätte er sich bei seiner Arbeit nicht leisten können. Wir Buben durften dann beim Fuchswirt eine Maß »Dunkles« holen und trinken. Das hatten wir natürlich schon auf dem Weg getan, weil’s gar so gut war, obwohl der Krug vor lauter Ruß und Fett nur so klebte.

    So grob der Käservater zu seinen Bauern war, so rührend großväterlich war er zu uns Buben. Ohne uns zu fragen, was wir angestellt hatten, er wusste es. Dann durften wir bei ihm in der Schmiede bleiben, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Dann lieferte uns der gute Alte beim Vater oder der Mutter ab mit dem Befehl: »Dass du mir den Buben ja nicht anrührst.«

    Vom Alter und von seiner schweren Arbeit gezeichnet, war er schon gebeugt und die Runzeln in seinem immer noch fröhlichen Gesicht wurden tiefer. Der Bart immer struppiger und grauer. Trotzdem hatte er stets ein Lächeln für uns Buben. Außer unserer Familie hatte er keine Freunde – oder doch, den »Fuchsl«, seinen treuen Hund, der ihm auf Schritt und Tritt folgte.

    Eines Tages lag unser Käservater tot im Bett. Mein erstes trauriges Erlebnis und für uns Buben einfach unverständlich. Meine Mutter wollte ihm in der Frühe den Milchkaffee ans Bett bringen, wie immer, wenn er kränkelte, trotzdem dachte niemand an etwas Ernstes, am wenigsten wir Kinder.

    Er war friedlich eingeschlafen, und wir konnten ihn nicht mehr wecken. Wie sich herausstellte, hatte der Käservater ein Testament gemacht und meine Eltern, die immer für ihn sorgten mit Waschen, Kochen, Putzen und Krankenpflege, als Miterben eingesetzt. Das hatte niemand erwartet – am allerwenigsten meine Eltern. Unsere Familie wohnte bis dahin ziemlich eng im ersten Stock. Für sieben Personen – meine Eltern, uns vier Buben und die Großmutter – gab es jetzt Platz, da wir nun das ganze Haus belegen konnten.

    Noch gut kann ich mich an die Oma erinnern, an ihr verhärmtes Gesicht, über das nie ein Lächeln kam. Wortlos ging sie mit uns Buben jeden Tag den Kirchweg hinunter, schob mit der einen Hand mühselig und langsam den großrädrigen Kinderwagen vor sich her. Der Rock war weit, reichte fast bis zum Boden, das dünne graue Haar war gerade und hatte einen Mittelscheitel. Das glatt nach hinten gekämmte Haar machte ihr Gesicht noch strenger. Die Oma war gut gelitten bei meinen Eltern. Sie hätte keinen Grund gehabt traurig zu sein. Den Grund dafür erfuhr ich erst viel später, selbst mein Vater hat nie davon erzählt.

    Unsere Oma starb bald nach Käservaters Tod. Ein schwarzer, mit zwei Bauernpferden bespannter Totenwagen fuhr eines Morgens bei unserem Haus vor. Zwei schwarzgekleidete Männer trugen einen Sarg aus dem Haus, schoben ihn von hinten in den Wagen und machten die Türen zu. Meine Eltern und wir Kinder standen dabei. Die Eltern weinten. Wir Buben auch, verstanden aber nicht so recht, warum.

    Nie hatte unser Vater über seine Heimat oder sein Elternhaus mit uns Kindern gesprochen, nie von seiner Kinder- und Jugendzeit erzählt. Sechzig Jahre mag ich schon alt gewesen sein, als ich erfuhr, warum unser Vater seine Mutter zu uns nach Allershausen geholt hatte und wie viel Leid unsere Oma in ihrem Leben hatte durchmachen müssen.

    Sie war schon lange Witwe, als sie erleben musste, dass vier ihrer fünf Söhne ihr junges Leben im Frankreichfeldzug, 1914 bis 1918, lassen mussten. Auch der Älteste, der Hoferbe, lag in Frankreichs Erde. Bei ihr im Anwesen geblieben waren ihr kleiner Enkel und die Schwiegertochter, mit der nicht gut Kirschen essen war. Omas Enkel – meinen Cousin – lernte ich erst kurz vor seinem Tod im Jahre 1980 kennen.

    Er hatte in Abens in einen schönen Hof eingeheiratet. Nur durch einen Zufall kam ich auf seinen Namen und seine Adresse, konnte ihn daraufhin besuchen und mit ihm sprechen. Dabei erfuhr ich erst vom großen Leid unserer gemeinsamen Großmutter. Meine Frau und unser Sohn Richard waren dabei und Zeugen des Gespräches, das mir die Verschlossenheit und Zurückgezogenheit meiner Oma erklärte. Mein Cousin erzählte von der Oma und ihrem jüngsten Kind – der Zenzl, seiner und meiner Tante. Am besten, ich lasse meinen Cousin selber erzählen, was sich da in Abens Trauriges, Hartes abgespielt hatte, als er noch ein Bub von knapp sechs Jahren gewesen war:

    »Man schrieb das Jahr 1916, die Zenzl war so ungefähr 18 Jahre alt und bildhübsch. Sie arbeitete daheim auf dem Anwesen, die Männer waren ja alle im Krieg. Die Großmutter war auch nicht mehr die Jüngste. Trotzdem machte sie noch die Hausarbeit, kochte und hielt Haus und Hof in Ordnung, damit die Schwiegertochter und die Zenzl bei der Feldarbeit bleiben konnten. Die Stallarbeit war ja auch noch da. In der Frühe weckte die Oma alle Hausbewohner, ließ die Hühner aus dem Stall und erledigte die sonst noch notwendigen Kleinigkeiten. Mir zog sie das Gewand an, wusch mir das Gesicht und richtete die Suppe her. Tag für Tag ging das seinen gewohnten Gang, bis dann Folgendes passierte:

    Wie immer stand die Großmutter als Erste in der Früh auf, machte ihre gewohnte Runde zum Wecken, klopfte bei der Zenzl an die Tür, bekam aber keine Antwort. Also machte sie die Kammertür auf – das Bett war leer und schon gemacht. Na ja, sie wird halt eher aufgestanden sein, dachte die Großmutter und machte ihre gewohnte Runde weiter. Dann holte sie die Sense, um im Obstgarten ein wenig Gras zu mähen, ging zum Ziehbrunnen, wo sie einen Kübel Wasser mitnehmen wollte. Sie hob den schweren Brunnendeckel hoch, erschrak entsetzlich und ließ den Deckel wieder fallen. Unten im Brunnenwasser lag die Zenzl – tot.

    Jetzt wusste ich, warum ich in der Nacht so viel Angst gehabt habe. Es war also kein Angsttraum – die furchtbaren Schreie, die ich gehört habe, waren Realität gewesen. Ich musste nämlich um Mitternacht ›aufs Haferl‹ und da hörte ich auf einmal furchtbare, verzweifelte Schreie – Hilfeschreie. Gefürchtet habe ich mich natürlich – wie bei einem starken Gewitter. Also nichts wie zurück ins Bett und die Decke über den Kopf, damit ich nichts mehr hören musste. Schließlich konnte ich doch einschlafen, bis in der Frühe die Großmutter weinend und schluchzend zu mir ans Bett kam.

    Sie konnte kein Wort sagen, nahm mich bei der Hand und führte mich und meine Mutter zum Brunnen. Bald erschien die Gendarmerie aus Au. Die eruierte gewissenhaft und stellte fest: ›Im Wagenhaus müssen zwei Personen gewesen sein. Den Spuren nach waren es die Hausschuhe der Zenzl, daneben deutlich die Abdrücke von genagelten, der Größe nach vermutlich Männerschuhen. Daneben Zigarettenstumpen und abgebrannte Zündhölzer. Eindeutige Schleifspuren zogen sich vom Wagenschuppen zum Ziehbrunnen, dessen Deckel geschlossen war.‹ Den Umständen nach vermutete die Polizei ein Verbrechen, denn der schwere Deckel des Brunnens konnte von innen nicht geschlossen werden. Bei einem Selbstmord wäre, nach Feststellung der Polizei, der Deckel offen gewesen.

    Der Verdacht fiel bei den Leuten sofort auf einen Bauernsohn, der gerade auf Fronturlaub zu Hause war. Erschwerend kam hinzu, dass der Verdächtigte am gleichen Tag wieder an die Front abgereist war, obwohl, wie sich später herausstellte, sein Urlaub noch gar nicht zu Ende war. Weiter stellte sich später heraus, dass die Zenzl von ihm ein Kind erwartet hatte. Bekannt war auch, dass dieser Bauernsohn

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