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Das Kanuhaus: Erlebnisse einer Flüchtlingsfamilie
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eBook314 Seiten3 Stunden

Das Kanuhaus: Erlebnisse einer Flüchtlingsfamilie

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Über dieses E-Book

In einem Bootsschuppen weit außerhalb der Stadt Eberbach am Neckar ist nach dem Krieg eine Familie untergekommen. Sie stammt aus Böhmen und ist mit ihrem Pferdefuhrwerk auf der Flucht von Saaz nach Pforzheim dort gestrandet. Die sechs Vertriebenenkinder fallen bei den pfälzisch sprechenden Eberbachern schon deshalb auf, weil sie anfangs den Dialekt nicht verstehen und sich selbst hochdeutsch ausdrücken. Aber auch sonst gibt es etliche Schwierigkeiten, mit denen die Familie bei ihrer Integration im Neckartal fertig werden muss.
Hatto Zeidler berichtet in den teils heiteren, teils nachdenklichen Geschichten von den Schwierigkeiten, in der ungewohnten Umgebung zurechtzukommen. Seine Geschichten sind in leichtem Ton erzählt, zeigen aber auch deutlich die Probleme einer zugezogenen, mittellosen Großfamilie in einer badischen Kleinstadt. Sie entwerfen ein plastisches Bild der Nachkriegszeit.
Ein Buch zu einem stets aktuellen Thema, auch zum Vorlesen und als Geschenk bestens geeignet.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. März 2017
ISBN9783842517646
Das Kanuhaus: Erlebnisse einer Flüchtlingsfamilie

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    Buchvorschau

    Das Kanuhaus - Hatto Zeidler

    fielen.

    Ladung

    Im Kriegswinter 1943 muss es gewesen sein. Wir haben damals in Saaz an der Eger gewohnt. Die Mutter war mit uns Kindern nach Ladung in den Winterurlaub gefahren. Ich war noch nicht in der Schule.

    Ladung war ein winziges Dorf auf dem Kamm des Erzgebirges. Wir sind mit der Bahn nach Komotau gefahren und weiter nach Görkau und danach mit einem Omnibus immer weiter in den Schnee hinein, denn es gab ungeheuer viel Schnee damals. Sogar in Saaz war schon viel Schnee gewesen, aber je weiter wir ins Erzgebirge kamen, umso mehr Schnee lag überall.

    Der Vater war nicht mitgefahren, denn der war im Krieg. Am Schwarzen Meer war er. In Noworossijsk.

    Was sollte er denn da?

    Die Mutter wusste es nicht.

    Wir wohnten also eine Zeit lang beim Herrn Richter. Der Herr Richter war der Bürgermeister von Ladung. Er hatte einen Bauernhof. Das war ein großes Haus mit einem Kuhstall nebenan. Das Haus war ganz anders als unser Stadthaus in Saaz. Es war ja auch ein Bauernhaus.

    Herr Richter hatte um das Haus herum einen schmalen Weg aus dem Schnee herausgeschaufelt, sodass man ums Haus herumgehen konnte und damit man zum Stall hinüberkonnte, denn der Schnee reichte bis hinauf zur Dachrinne.

    Für den Herrn Richter gab es viel Arbeit, denn die Kühe haben ja auch im Winter Hunger, wenn draußen überall hoher Schnee liegt. Sie haben jeden Tag Hunger und das Kühefüttern macht Arbeit, das Melken und das Ausmisten erst recht. Damals hatten sie noch nicht die heutigen Kurzställe mit Wasserspülung. Da standen die Kühe noch auf Stroh und es sah gemütlich aus, wenn sie sich auf das saubere Stroh legten.

    Im Stall war ein Mann, der half dem Herrn Richter. Wenn er sprach, konnten wir kein Wort verstehen. Der Mann versorgte die Kühe.

    Warum spricht der so komisch, dass wir ihn nicht verstehen können, fragten wir die Mutter.

    Die sagte, das sei ein Gefangener, ein Russe, den die deutschen Soldaten gefangen hätten, und der müsste jetzt beim Herrn Richter im Stall arbeiten, weil der Sohn vom Herrn Richter im Krieg sei.

    Aber wenn der Sohn vom Herrn Richter von den russischen Soldaten gefangen wird, sagten wir, dann muss er vielleicht dort beim Vater von unserem Gefangenen im Stall arbeiten.

    Das kann schon sein, sagte die Mutter, aber so sei das eben im Krieg.

    Hätten denn die beiden Söhne nicht lieber gleich zu Hause bleiben können und jeder bei seinem eigenen Vater im Stall arbeiten, wollten wir wissen, das wäre doch viel einfacher.

    Nein, das geht nicht, sagte die Mutter, das versteht ihr noch nicht, Kinder.

    Und weil so viel Schnee lag, dass man nirgendwo hinkonnte in Ladung, waren wir Kinder jeden Tag im Bauernhaus oder im Stall. Da haben wir uns angefreundet mit dem russischen Gefangenen, denn der war sehr freundlich zu uns Kindern.

    Einmal hatte er gerade den ganzen Stall ausgemistet und überall neues, sauberes Stroh ausgebreitet, da machte eine der Kühe Anstalten, ihren Kuhdreck auf das frische Stroh fallen zu lassen, und da tat der Russe etwas, wofür wir ihn bewunderten, aber worüber wir auch sehr lachten, mein großer Bruder und ich: Er breitete die Hand flach aus, hielt der Kuh den Hintern zu und rief laut etwas in den Stall, das wir nicht verstanden – und wirklich: Das Stroh blieb sauber.

    Fürs Erste.

    Dann aber hat der Russe etwas gemacht, wofür wir ihn ins Herz geschlossen haben, mein Bruder und ich: Er schnitzte uns ein sehr eigentümliches Spielzeug, ein Pferd mit angehängtem Wagen. Das war unser größter Schatz, aber leider haben wir ihn zurücklassen müssen in Saaz, als wir am 8. Mai 1945 als Flüchtlinge Saaz verließen im Pferdewagen Richtung Pforzheim.

    Seitdem habe ich nie wieder dieses russische Kinderspielzeug gesehen, hatte es längst vergessen, bis ich es in Moskau wiedergesehen habe, in einer Vitrine im Volkskundemuseum.

    Da habe ich es sofort als unser Ladunger Spielzeug wiedererkannt, das der gefangene russische Mann für uns Kinder geschnitzt hatte. Das war eben so ein Spielzeug, wie es alle Russen kennen.

    Und so will ich ihm hier einen imaginären Dank abstatten, der ihn bestimmt nie erreichen wird, auch wenn er noch leben sollte, im Kaukasus vielleicht, wo die Menschen so alt werden wie sonst nirgendwo auf der Welt.

    Schlimme Kinder

    Anfänglich war ich kein schlimmes Kind. Das heißt, ich bin nicht von vornherein als schlimmes Kind auf die Welt gekommen. Aber dann, damals im schönen Saaz, ich war noch nicht einmal in der Schule, vollzog sich der Wandel.

    Schuld an der Verwandlung vom guten zum schlimmen Kind war mein älterer Bruder, der schon ein stolzer ABC-Schütze war, während ich noch mit meinem Kinderdreirad um das Haus herumfuhr. Runde für Runde.

    An der Südseite des Hauses standen dicht an der Wand die schönen Spalierbäume des Großvaters, Birnbäume, kunstvoll gezogen und aufs Sorgsamste gepflegt.

    Auf jeder meiner Dreiradrunden kam ich natürlich auch an den Spalierbäumen mit den noch grünen Birnen vorbei, aber niemals wäre ich auf die geniale Idee gekommen, auf die mein Bruder mit Leichtigkeit kam.

    Allzu gerne hätten wir uns eine Birne abgepflückt, aber das war nicht möglich, weil der Großvater den Diebstahl sofort bemerkt hätte auf seiner abendlichen Runde um das Haus, denn er schien jede einzelne von ihnen zu kennen, sprach auch halblaut mit den Bäumen, wie uns schien, aber vielleicht zählte er auch nur die Birnen und wir verstanden das Plattdeutsch nicht, das er dabei gebrauchte.

    »Schlimme Kinder«.

    Dann teilte mir mein Bruder seine Idee mit: Er schlug vor, die Birnen von der Rückseite her abzunagen, sie aber hängen zu lassen, dann würde der Großvater die Untat nicht bemerken, wenn er von der Arbeit im Landratsamt zurückgekehrt war und seine abendliche Runde drehte. Ich war begeistert, und wir machten uns sofort an die Arbeit.

    Die Birnen schmeckten schon ziemlich süß und ließen sich auch gut abnagen mit unseren spitzen Kinderzähnchen. Man musste sie nur gut festhalten während des Nagens, damit sie nicht etwa abrissen. Wenn wir eine Birne bis zum Kernhaus hin hohlgenagt hatten, kam die nächste an die Reihe, und als wir die höher hängenden nicht mehr erreichen konnten, stiegen wir auf mein Kinderdreirad. Mit der Zeit hatten wir auf diese Weise sämtliche Birnen von hinten her abgefressen.

    Der schwarze Tag kam mit der Ernte. Als der Großvater seine Schützlinge abnehmen wollte, um sie in die bereitgestellten und mit feinem Papier ausgelegten Kisten sorgsam einzusortieren, damit sie ja keine Druckstellen bekämen und im Keller ungehindert zu Ende reifen konnten, bis sie goldgelb und butterweich geworden waren, um dann, vor Weihnachten, Stück für Stück auf den sonntäglichen Tisch zu kommen als ganz besondere Leckerbissen in jener kargen Zeit der Lebensmittelkarten – als er sie vorsichtig umfasste, da griff er um die Birnen herum ins Leere.

    Wir hatten uns im oberen Stockwerk des Hauses versteckt, waren unter die Betten gekrochen und verhielten uns mucksmäuschenstill. Da hörten wir von unten herauf das ungeheure Gebrüll, dessen Worte wir nicht verstanden, weil der Großvater auf Plattdeutsch brüllte, dass alles erzitterte. Nachdem er uns unten nicht fand, suchte er uns im Garten und im Gartenhäuschen und dabei verrauchte sein erster Zorn.

    Als es unten wieder ruhig war, trauten wir uns hervor. Der Großvater ergriff uns sofort an den Ohren, er war ja der einzige Mann in der Familie und für unsere Erziehung zuständig, weil der Vater im Krieg war, und brachte uns laut und bedrohlich schimpfend in den Keller, schloss den Lattenverschlag auf, den einzigen verschließbaren Raum im Keller, und sperrte uns ein.

    Es war dunkel im Keller. Nur durch einen kleinen Lichtschacht drang etwas Tageslicht in unser Gefängnis. Aber Angst hatten wir nicht, der Großvater würde uns schon wieder herausholen und freilassen, wenn wir unsere Strafe abgesessen hätten, vielleicht schon vor dem Abendessen, dachten wir.

    In dieser schwierigen Situation kam mein Bruder wiederum mit Leichtigkeit auf eine Idee, auf die ich nie gekommen wäre: Als sich nämlich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er die Gunst der Stunde und entdeckte in den Regalen die Gläser mit dem eingemachten Stachelbeerkompott. In seinem Zorn hatte uns der Großvater in dem sonst immer verschlossenen Vorratskeller eingesperrt.

    Der Bruder zeigte mir, wie man an der herausstehenden Gummilasche des Gummirings der Einmachgläser ziehen musste, um sie aufzubekommen. Ich musste zwar mit aller Kraft ziehen, aber zuletzt zischte dann die Luft in das Glas und es ließ sich ganz leicht öffnen. Jeder von uns aß ein ganzes Glas des köstlichen Stachelbeerkompotts, das es sonst nur zum sonntäglichen Nachtisch in kleinen, genau zugeteilten Portionen gab, und wir fühlten uns wie im Schlaraffenland, von dem unsere Mutter uns vorgelesen hatte. Die leergegessenen Gläser versteckten wir hinter der Kartoffelkiste.

    Als es draußen ganz dunkel war, kam der Großvater herunter und ließ uns frei. Er sagte etwas auf Plattdeutsch von einer »gerechten Strafe« und »nie wieder«, aber da waren wir schon oben im Haus.

    »Warum esst ihr denn nichts zum Abendbrot?«, fragte die Mutter voller Besorgnis.

    »Das ist schon gut so«, sagte der Großvater zufrieden, »denen ist die Strafe auf den Magen geschlagen.«

    Schweigen lernen

    Damals in Saaz ist es gewesen. Damals, im Sommer 1944. Ich war fünf Jahre alt und noch nicht in der Schule, aber ich erinnere mich genau.

    Die Tür zum Zimmer meines Großvaters war nicht fest zugezogen wie sonst immer, sondern stand einen Spalt breit offen. Etwas Seltsames war es, was mich in das Zimmer hineinzog, das wir Kinder sonst nie betraten. Ich steckte den Kopf durch die Tür und erblickte etwas, was mich in größtes Erstaunen versetzte: Der Großvater saß auf dem Stuhl vor seinem Tisch, aber er war nicht zu sehen. Ich sah nur seine Füße mit den Hauspantoffeln. Alles andere war unter einer dicken Wolldecke versteckt, die der Großvater über sich geworfen hatte, und darunter war er verschwunden. Das Seltsamste aber war für mich, dass eine leise, helle Stimme mit dem Großvater sprach, während er kein Wort sagte. Es musste auch eine ganz winzige Person sein, denn man sah ja deutlich die Konturen des Großvaters, aber nicht die des zweiten Menschen, der leise mit dem Großvater sprach.

    Ohne einen Laut von mir zu geben, ging ich wieder aus dem Zimmer hinaus und berichtete meiner Mutter den Vorfall. Sie machte große Augen, wurde sehr ernst und sagte zu mir, ich dürfe auf keinen Fall mit irgendeinem fremden Menschen über meine Beobachtung reden. Wenn ich das täte, sagte sie, dann kämen fremde Männer von der Hitlerpartei und würden den Großvater mitnehmen und wir sähen ihn nie wieder. Das Wort »Partei« kannte ich damals noch nicht, aber es hat für mich seit jener Zeit etwas unangenehm Beängstigendes, weil eben die fremden Männer von der Partei meinen geliebten Großvater bedrohen konnten.

    Sie erklärte mir, dass der Großvater etwas täte, was bei hoher Strafe verboten sei, und die Stimme, die ich gehört hätte, sei kein Mensch, die hätte mit Großvaters Radiobastelei zu tun.

    Das Wort »Feindsender« hat die Mutter nicht gebraucht, denn ich hätte es damals ja auch nicht verstanden.

    Ich bekam einen Riesenschreck, weil ich mir ausmalte, wie fremde Männer von der Hitlerpartei in unser Haus eindrängen und unseren über alles geliebten Großvater abholten und wie sie ihn vielleicht schlagen würden, mit Peitschen, wie die Mutter gesagt hatte, und wie er eingesperrt werden würde bei Wasser und Brot, jahrelang womöglich – oder noch Schlimmeres würde ihm passieren!

    Es war mir auch völlig unverständlich, was Verbotenes dabei sein sollte, dass der Großvater eine fremde Stimme hörte, aber ich habe die Sache nicht weiter hinterfragt, sondern mich an die Verhaltensregeln der Mutter gehalten und bis zum heutigen Tag niemandem davon erzählt.

    Als wir dann aus Saaz wegfuhren mit dem Pferdewagen, am 8. Mai 1945, Richtung Egerland, blieben der Großvater und die Großmutter winkend am Tor zurück. Sie blieben zurück, um auf das Haus in Saaz aufzupassen, denn ein Haus mit allen Sachen darin kann man ja nicht allein zurücklassen. Das leuchtete uns Kindern ein.

    Als wir nach Jahren wieder etwas von unserem geliebten Großvater hörten, da hieß es, dass tschechische Männer gekommen seien und hätten ihn abgeholt und geschlagen und getreten und er hätte mit allen anderen deutschen alten Männern aus Saaz nach Postelberg gehen müssen auf der Landstraße, und wer nicht mehr weitergekonnt hätte, der sei am Straßengraben erschossen worden von den tschechischen Männern. Mit Genickschuss. Und als wir ihn dann endlich auch wiedersahen, den Großvater, da war er für uns kaum wiederzuerkennen. Klapperdürr war er geworden, hatte keine Zähne mehr und er ging ganz krumm.

    Weihnachten 1944. Meistens Fliegeralarm.

    »Weshalb geht der Großvater so krumm?«, fragte ich die Mutter. »Sein Steißbein ist gebrochen«, sagte sie, »die fremden Männer haben es ihm mit ihren Stiefeln abgetreten und sie haben ihm auch die Zähne eingeschlagen. Aber sind wir froh darüber, dass wir ihn wiederhaben und dass er mit dem Leben davongekommen ist. Sprich also nicht davon!«

    Das Päckchen

    In Saaz, damals 1943, als ich noch nicht zur Schule ging, noch längst nicht zur Schule ging, da war immer wieder die Rede von einem Mann, der »Vater« genannt wurde.

    Das sei unser Vater, aber er habe in den Krieg gemusst und irgendwann würde er schon wiederkommen nach Saaz, wenn der Krieg aus sei.

    Wir Kinder kannten diesen Mann nicht, von dem immer wieder als »Vater« die Rede war. Er gehörte nicht zur Familie, denn er war ja auch nie da.

    Der Großvater, der war jeden Tag da, wenn er von der Arbeit kam. Der gehörte zur Familie. Und die Großmutter, die ihm das Essen bereitete, die war auch jeden Tag da. Die gehörte auch zur Familie.

    Aber der »Vater« nicht. Den kannten wir ja nicht. Der spielte keine Rolle bei uns Kindern in Saaz. Der war nicht da.

    Aber dann, 1943 muss es gewesen sein, da bekamen wir ein Päckchen, nicht groß, in grauem Papier verpackt und mit einer Schnur außen herum.

    Wir Kinder hatten noch nie ein Päckchen gesehen, denn die Familie hatte noch nie eines bekommen.

    Die Mutter las, was auf dem Päckchen stand, und sagte dann bedeutungsvoll, das Päckchen sei vom »Vater«, er habe es aus Russland geschickt, aus Russland, wo er im Krieg war als Soldat.

    Vorsichtig knotete sie die Schnur auf, die könne man wieder brauchen, sagte sie, legte sie sorgsam beiseite und entfernte dann die äußere Papierhülle.

    Zum Vorschein kam eine Schachtel aus grauer Pappe und in dieser verbarg sich nun, was uns der Vater aus dem Krieg geschickt hatte.

    Wie gebannt schauten wir alle zu, als die Mutter die Schachtel öffnete.

    Obenauf lagen zwei längliche Rollen aus leichtem Papier, in die etwas eingewickelt war. Auf der einen Rolle war der Name meines älteren Bruders geschrieben, auf der anderen mein Name, den mir die Mutter vorlas, weil ich ja noch nicht lesen konnte.

    Vorsichtig packten wir die Papierrollen aus und zum Vorschein kamen zwei große, tote Heuschrecken, jede aus ihrer Papierrolle.

    Es war eine Riesenüberraschung, denn die Heuschrecken waren viel größer als die kleinen, die wir aus unserem Garten kannten und die so schwer zu fangen waren für uns Kinder, ja, die wir sozusagen überhaupt nicht erwischten. Und da dachte ich, was doch unser Vater im fernen Russland für ein geschickter und flinker Mann sein musste, dass er diese riesengroßen Heuschrecken hatte fangen können. Er hatte sie sogar ausgestopft mit Papierkrümeln und mit Moos und auf unsere Fragen sagte die Mutter, die Soldaten hätten im Krieg manchmal viel Zeit und sie müssten oft auf irgendetwas warten und da könnten sie auch einmal Heuschrecken ausstopfen.

    Und dann dachte ich wieder an diesen fremden Mann, der für uns zwei große Heuschrecken gefangen hatte, und er hatte sie ausgestopft, und dass er sie zu uns nach Saaz geschickt hatte, weil er an uns dachte, sogar in Russland, und was wir vielleicht für eine Freude haben könnten, mein größerer Bruder und ich, an den ausgestopften Heuschrecken.

    Die toten Heuschrecken hatten eine schwärzlich-braune Farbe, die langen Fühler hatte der Vater ihnen an den Körper angelegt, damit sie nicht abbrächen, und ganz deutlich kann ich mich an die kantigen Köpfe der Heuschrecken erinnern, an die großen, toten Glotzaugen, an die gewaltigen Kieferzangen und an die großen Sprungbeine, mit denen sie ihre weiten Sprünge machen konnten, viel weiter als unsere heimischen kleinen Heuschrecken, die ja aber auch schon so weit springen konnten.

    Die russischen Heuschrecken hatten sogar Flügel, aber die waren angelegt und nicht ausgebreitet und die Mutter sagte uns, dass sie damit kilometerweit fliegen könnten. Wir sollten aber die Flügel der toten Heuschrecken nicht aufklappen, sonst brächen sie womöglich ab.

    Nun muss man aber sagen, dass die Heuschrecken ziemlich merkwürdig gerochen haben, unangenehm könnte man fast sagen oder vielleicht auch geheimnisvoll, und die Großmutter sagte: »Die stinken!«

    Aber mochten sie nun riechen, wie sie wollten, die Heuschrecken waren ein Schatz und wir waren stolz, mein großer Bruder und ich, auf unsere ausgestopften Heuschrecken aus Russland.

    So klein ich damals auch noch war, so besaß ich doch schon eine Art Schatztruhe, also, genauer gesagt, es war eine Schublade in einem Nachttischchen, das im Flur stand. Die Mutter hatte mir die Schublade zugedacht und darin sammelte ich meine Schätze: Bunte Kieselsteine, ein Stück Draht, Schneckenhäuser aus dem Garten, ein rotes Glas von einem Fahrradrücklicht, das einen wundervollen roten Schein erzeugte, wenn man es vors Auge hielt, und eine kleine, leere, dunkelblaue Blechdose, auf der etwas mit weißer Schrift stand, was ich damals nicht lesen konnte. Heute weiß ich, dass es das Wort »Nivea« war, und diese Dose, das war ja das Geheimnisvolle und Besondere, roch so seltsam angenehm, wenn man sie öffnete. Jeden Tag habe ich die Schublade immer wieder aufgezogen, die Dose herausgenommen, sie geöffnet und mich an dem Duft erfreut. Es war der letzte Rest einer weißen Creme, die den Duft verströmte, und als ich die Großmutter eines Tages daran riechen ließ, sagte sie: »Pfui, dat riecht ja ranzig!«

    Das Wort »ranzig« kannte ich nicht, aber so, wie es die Großmutter sagte, konnte es nichts Gutes bedeuten. Ich war dennoch weiterhin von dem Duft in meiner Schatzkiste begeistert.

    In diese Schublade legte ich nun als Prunkstück die ausgestopfte russische Heuschrecke. So konnte ich abwechselnd an der ranzigen Creme und an der Heuschrecke riechen, und was das Sonderbare dabei ist: Beide Düfte sind mir bis heute unvergesslich geblieben.

    Bleibt noch zu sagen, dass in dem Päckchen auch noch ein Stück Schokolade war, Blockschokolade, wie die Mutter sagte, aber die war ganz weiß ausgeblüht, weil sie auf dem weiten Weg von Russland nach Saaz ein paar Mal warm geworden sein musste, wie die Großmutter sagte. Aber zum Kochen könne man sie noch gut nehmen, und sie musste es ja wissen, denn als junge Frau hatte sie in der Schokoladenfabrik Feodora in Tangermünde gearbeitet.

    »Bekommt man im Krieg Schokolade?«, fragte ich die Mutter, denn bei uns in Saaz gab es keine, und da sagte sie, die Soldaten bekämen manchmal eine »Ration« und seine Ration, die hätte der Vater zu uns nach Saaz geschickt, anstatt sie selbst zu essen.

    Da war ich wieder voll von Bewunderung und Dankbarkeit für den unbekannten Mann, der uns aus Russland die herrlichen Heuschrecken und die Ration Schokolade geschickt hatte.

    Am 7. Mai 1945 kam der Vater auf völlig rätselhafte Weise aus dem Krieg zu uns nach Saaz zurück. Er besorgte dann sofort einen Pferdewagen mit zwei Pferden. Der wurde noch am gleichen Abend gepackt.

    Am Morgen des 8. Mai, als der Vater die Mutter und uns fünf Kinder zur Flucht aus Saaz auf den Wagen aufsteigen hieß, da blieben auch meine Schätze im Haus zurück, die Kieselsteine, der Draht, die rote Glasscherbe und die

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