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Das Märchen von Albin
Das Märchen von Albin
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eBook471 Seiten7 Stunden

Das Märchen von Albin

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Über dieses E-Book

Weil Andreas Glenbacher in seinem Heimartdorf Kregelbach von niemandem geachtet wird, beschließt er eines Tages, für immer in das Arginreich zu gehen, zu dem er vorher schon einmal Kontakt aufgemnommen hatte.
Das Arginreich ist für die Menschen nicht wahrnehmbar und entsprechend weiß auch niemand von dessen Existenz.
Es bietet für Menschen paradiesische Zustände und Andreas, der im Arginreich den Namen Albin annimmt, hat das Glück, mit der Königstochter zusammen zu kommen und wird Prinzgemahl.
Albin durchlebt während seiner Zeit bei den Argin ein Martyrium bei einer Zauberin, der es beinahe gelingt, ihn von den Argin zu trennen.
Am Ende wendet sich aber alles zum Guten und Albin lebt mit seiner Angebeteten Tola ein glückliches Leben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Jan. 2014
ISBN9783847668244
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    Buchvorschau

    Das Märchen von Albin - Hans Müller-Jüngst

    Kregelbach

    Wenn im Wendlerbachtal Schnee gefallen war, wurde alles ganz still, Menschen, Tiere, alles, denn der Schnee hatte die willkommene Eigenschaft, eine lärmdämmende Decke über die Krachmacher zu legen, die sonst immer laute Geräusche von sich gaben. Besonders in Kregelbach, dem Ort, von dem in unserer Geschichte die Rede sein soll, hallte der Lärm immer durch die Hauptstraße, in der die Häuser eng beieinanderstanden und den Geräuschen eine Resonanzfläche boten, und auch die davor abzweigenden Nebenstraßen waren Schallverstärker.

    Wenn bei Walters am Beginn der Hauptstraße einer vor die Tür trat und in Richtung Dorfzentrum jemanden rief, den er kannte, schallte der Ruf durch die gesamte Gemeinde und konnte von jedem vernommen werden, er pflanzte sich sogar die Berghänge hoch fort, die das Wendlerbachtal säumten.

    Stand man oben auf dem Wolfskopf und schaute auf Kregelbach, so waren dort deutlich die Laute der Stalltiere zu vernehmen, auch das Gebell der kläffenden Hunde wurde dort hinaufgetragen und war gut zu hören. Der Wolfskopf bot einen hervorragenden Blick über das gesamte Wendlerbachtal, angefangen mit dem Durchbruch des Wendlerbaches durch die eiszeitliche Kalkformation, die dem Autofahrer nur eine sehr enge Passage gewährte, und wo die Straße sich nahe an den Berghang schmiegte bis zum ungefähr fünf Kilometer entfernten Talende, an dem der Wendlerbach an Breite zugenommen hatte, die Berge abgeflacht waren und das Tal in die Flussebene des Irm überging. Dort lag Irmstadt und es war alles anders, offener, weltzugewandter, dort spottete man über das Wendlerbachtal und seine hinterwäldlerischen Bewohner. Damit tat man ihnen sicher Unrecht, denn besonders die Kregelbacher zeigten sich der Gegenwart durchaus zugewandt, wenn auch nicht alle, so aber zumindest die Jüngeren, die auch schon einmal nach Irmstadt fuhren, zum Einkaufen oder an den Wochenenden zum Tanzen.

    Früher war das nicht so ohne Weiteres möglich, weil die Straße noch nicht ausgebaut, und man noch nicht motorisiert war, damals spannten die Kregelbacher einen Wagen an, wenn sie nach Irmstadt zum Arzt mussten oder sonst etwas Dringendes in der Stadt zu erledigen hatten. Ein Besuch in der Großstadt war immer ein Tagesausflug, der schon lange im Vorfeld geplant werden musste, und der nur im Sommer zu bewerkstelligen war. Im Winter, wenn die holprige Straße auch noch mit Schnee bedeckt war, war kein Denken an eine Fahrt nach Irmstadt. Das wäre viel zu gefährlich gewesen, man hätte mit dem Wagen von der Fahrbahn abkommen und in den Wendlerbach fallen können oder die Zugtiere hätten sich auf dem unebenen Gelände verletzen können. Man hätte natürlich auf der zwölf Kilometer langen Strecke von Kregelbbach nach Irmstadt in den nächsten Ort laufen können, je nachdem, welchem Ort man sich näher fühlte, aber auch das war in dem tiefen Schnee nicht einfach, denn geräumt wurde nicht. Seit die Straße gebaut war und die Menschen Autos besaßen, war es ein Leichtes, nach Irmstadt zu gelangen, niemand von den jungen Leuten dachte an die Unannehmlichkeiten, denen sich die Menschen früher ausgesetzt sahen. Sie fuhren am Samstagabend in die Disco und gaben sich dem Vergnügen hin. Es gab auf der L 112 zwischen Kregelbach und Irmstadt viele gefährliche Kurven, die man nicht zu schnell nehmen durfte, wenn man nicht vor einem Baum landen wollte, so wie vor sechs Jahren, als Peter Rohrmoser, Daniel Schiffer, Marcel Mergentaler und Bernd Breitmeier von Irmstadt kamen und mit viel zu hoher Geschwindigkeit über die Landstraße nach Hause fuhren.

    Alle vier hatten sie gerade ihren Führerschein gemacht und deshalb kaum Fahrerfahrung. Peter saß am Steuer und nahm die Kurven mit quietschenden Reifen, er und seine Freunde grölten und sangen im Auto. Immer wenn Peter auf eine Kurve zuschoss, bremste er kurz vorher ab und schleuderte praktisch durch sie hindurch, bis sie an die scharfe Kurve beim Holzeinschlag gerieten, wo der Wendlerbach eine kleinen Wasserfall hatte, nachdem er eine 90°-Kehre beschrieben hatte. Dort verlor Peter die Gewalt über seinen Wagen, nachdem er mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf die Kurve zugerast war und das Auto nicht mehr beherrschen konnte, er schoss geradewegs vor einen Baum, der am Straßenrand stand. Die Wucht des Aufpralls war so groß, dass der gesamte Motorblock aus seiner Verankerung gerissen und in die Fahrgastzelle gedrückt worden war. Daniel, Bernd und Marcel waren auf der Stelle tot, Peter überlebte den Unfall, wenn auch querschnittsgelähmt. Er saß im Rollstuhl und man konnte ihn gelegentlich durch Kregelbach fahren sehen, er fuhr schon mal zum Wolfsmüller und stellte sich neben dessen Sägewerk, das direkt neben der Mühle lag. Er schaute in die offene Sägehalle und sah, wie große Bandsägen die Baumstämme zu Brettern schnitten oder er beobachtete, wie schwere LKWs die Baumstämme anlieferten und auf dem Hof des Sägewerkes entladen wurden.

    Peter war fünfundzwanzig Jahre alt und stand eigentlich in der Blüte seines Lebens, der Unfall hatte ihm alles genommen, was eine Perspektive für ihn hätte bedeuten können. Noch immer legten die Mütter der Getöteten frische Blumen an den Unfallort neben das Holzkreuz, das sie dort postiert hatten. Längst gab es Schilder auf der L 112, die auf die Gefährlichkeit der Kurven hinwiesen und die Geschwindigkeit auf der gesamten Strecke durch das Wendlerbachtal auf 60 km/h beschränkten, durch die Kurven durften sogar nur 40 km/h gefahren werden. Der Unfall damals erschütterte alle im Wendlerbachtal, auch die Bewohner von Anzhausen und von Gilsterdorf, Orte, die jeweils oberhalb bzw. unterhalb von Kregelbach lagen, aber noch bedeutend kleiner waren. Inzwischen hatte der Verkehr auf der L 112 doch beträchtlich an Intensität zugenommen, viele nutzten die Verbindung den Wendlerbach entlang, um von Irmstadt nach Waltershausen zu kommen oder umgekehrt. Die Alternative zu dieser fünfundzwanzig Kilometer langen Strecke wäre eine viel weitere Route über die Autobahn gewesen, die das Gebirge bei Kregelbach umging und die breiten Flusstäler nutzte. Für Kegelbach hieß das zunehmende Verkehrsaufkommen, dass die Dorfbewohner erstens unter stärkerem Verkehrslärm und erhöhter Luftverschmutzung zu leiden hatten und sich zweitens beim Überqueren der Hauptstraße vorsehen mussten.

    Besonders die Kinder waren gefährdet, wenn sie auf dem Bürgersteig herumtollten und dabei auch schon einmal auf die Straße liefen, ohne auf den Verkehr zu achten. Es wurden deshalb die Stimmen derjenigen immer lauter, die eine Ortsumgehung eingerichtet wissen wollten, es gab längst Pläne für die Verwirklichung dieses Projektes. Sie sahen vor, dass eine Umgehung kurz vor dem Wolfsmüller nach Süden von der Hauptstraße abzweigte, sie lief über die Felder des Bauern Rohrmoser und träfe hinter dem Ort wieder auf die Hauptstraße. Der Wille beinahe aller Beteiligter war da, auch Rohrmoser würde verkaufen, allein die Genehmigungsbehörden bei Land und Kommune sperrten sich, weil sie erhebliche Kosten auf sich zukommen sahen. So würden die Kregelbacher noch eine ganze Zeit mit der Gefahrenquelle leben müssen. Sie hatten Schilder an der Straße aufgestellt, auf denen die Umgehung gefordert wurde. Wenn die Kregelbacher nicht nach Irmstadt oder Waltersausen zur Arbeit fuhren, betrieben sie Landwirtschaft, sie hielten in erster Linie Milchkühe und Schweine, wobei die Bauern Rohrmoser und Stegmüller die größten Landwirte waren. Neuerdings gab es im Ort eine Pferdezucht, die Familie Disch hatte den Schritt zur Anschaffung von zehn Reitpferden gewagt und viel Land gepachtet, auf dem sie ihre Tiere hielt.

    An der Straße wies ein Schild mit der Aufschrift „Reiterferien bei Disch" darauf hin, dass Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geboten wurde, zwei oder mehr Wochen ihrer Ferien bei Disch zu verbringen und ihre Reitkenntnisse zu vervollkommnen. Die älteste Tochter von Disch war Reitlehrerin und kümmerte sich um die Feriengäste, die die Tiere pflegen und die Ställe ausmisten mussten, aber das taten sie sehr gern. Die Alteingesessenen von Kregelbach sahen den Pferdehof von Disch mit Misstrauen.

    „So etwas hatte es noch nie im Ort gegeben, warum muss denn jetzt ein Pferdehof zum Dorf gehören?", fragten sie sich. Dischs kümmerten sich nicht um die griesgrämigen Alten und waren mit dem Pferdehof auf Anhieb sehr erfolgreich, die Eltern brachten ihre Kinder von weither und gaben sie praktisch nur bei Disch ab. Viele waren schon zum dritten Mal da, manche noch häufiger, man kannte sich, traf sich bei Disch wieder und hatte sich viel zu erzählen. Annette Disch, so der Name der Reitlehrerin, kannte inzwischen ihre jungen Reiterinnen, es waren beinahe ausschließlich Mädchen, die zum Reiten kamen und ritt die verschiedenen Reitwege mit ihnen ab. Meistens ritten sie den Wendlerbach entlang oder zu den Kalkfelsen und wieder zurück. Weniger Geübte nahmen bei Brigitte Disch, der jüngeren Schwester von Annette, Reitstunden auf dem Parcours auf dem Hof, in denen sie ihre Reithaltung festigten, bevor auch sie am Ausreiten teilnehmen konnten.

    Bei Disch konnten zehn Reitkinder in fünf Doppelzimmern unterkommen, sie waren im Regelfall zwölf bis vierzehn, in Ausnahmefällen fünfzehn Jahre alt und machten überhaupt keine Probleme. Frau und Herr Disch kochten für die Kinder, die, was das Essen anbelangte, gar keine großen Ansprüche stellten. Sie bekamen morgens ein Frühstück mit Brötchen, die von der Bäckerei beim Wolfsmüller geliefert wurden, die meisten tranken eine Tasse Kakao dazu, anschließend ging es gleich zu den Pferden. Jedes Kind hatte für die Zeit der Ferien ein Tier, das nur ihm zugeordnet und für das es allein verantwortlich war. Morgens wurde eine Stunde und am Nachmittag noch einmal eine bis eineinhalb Stunden geritten. Vor dem Reiten am Morgen gab es eine ausgiebige Striegelstunde, danach wurde der Stall gemistet. Nach dem Reiten ließen die Kinder die Tiere ausschweißen, bevor sie sie wieder in die Ställe brachten und ihnen frisches Grünfutter und Wasser gaben. Es schloss sich eine zweistündige Mittagspause an, in der sich die Kinder hinlegten, bevor sie den Nachmittagsritt antraten. Nie trieben sie die Pferde, darauf achtete Annette, nur ganz selten kam es vor, dass sie in den Galopp wechselte und dann auch nur für ein kurzes Stück. Galopp durften nur die ganz Geübten reiten, für die anderen war diese Gangart zu gefährlich. Im Ort zweigte die Kirchgasse von der Hauptstraße ab, an der das Restaurant „Zur Sonne und das „Hotel Rösch lagen, das Hotel lag auf dem Kirchplatz, der gleichzeitig der Ortsplatz war, die „Sonne" lag ein Stück davor.

    Am Kirchplatz lag auch der kleine Supermarkt, der von Alfons Disch, dem Bruder der Pferdehofbesitzerin betrieben wurde und kaum noch Gewinne abwarf. Seit Langem fuhren die Kregelbacher nach Irmstadt oder Waltershausen, wenn sie größere Einkäufe tätigen mussten, dort gab es Aldi und andere günstige Discounter. Von der Kirchgasse aus gelangte man nach links zu Bauer Rohrmoser und nach rechts zu Bauer Stegmüller, die beide jeweils ein großes Bauernhaus ihr Eigen nannten. Die Häuser waren in einem sehr gepflegten Zustand und mit roten Bieberschwanzpfannen gedeckt. Die Zeiten, in denen vor der Haustür ein großer Misthaufen lag, waren endgültig vorbei. Hinter der Kirche durchfloss der Wendlerbach den Ort, an ihm entlang verlief die Wehrgasse, in der die winzige Grundschule lag, die von den wenigen Schulkindern besucht wurde, die es in Kregelbach noch gab. Aber die Tage der Schule waren gezählt, bald müssten die Kinder mit dem Bus zur Schule nach Irmstadt gefahren werden, was letztendlich billiger wäre, als der Erhalt des Schulgebäudes in Kregelbach und die Finanzierung der beiden Lehrkräfte, die es noch gab.

    Die Besitzungen des Bauern Rohrmoser waren gigantisch und hatten sie im Laufe der Existenz der Familie in Kregelbach beständig durch Einheirat vermehrt, sie erfassten praktisch das gesamte Gelände südlich des Dorfes bis zum Eulenwald und waren durch eine gerade verlaufende Grenze vom Besitz des Bauern Stegmüller abgetrennt, Rohrmosers Land reichte bis an die Grenze von Anzhausen. Bevor die große Flurbereinigung durchgeführt wurde, hatte Bauer Rohrmoser auf der anderen Seite der Hauptstraße kleine Felder, die er aber verpachtet hatte, weil sie zum Teil mit seinen Maschinen nicht bewirtschaftet werden konnten. Nach der Flurbereinigung hatte er sein Land südöstlich von Kregelbach konzentriert und er trieb dort seine Kühe auf die Weiden. Rohrmoser hatte einen riesigen Milchbetrieb, zweimal täglich kam der LKW von der Molkerei in Waltershausen und holte die Milch ab, die das Vieh gegeben hatte. Täglich wurde mehrmals auf die Weide gefahren und Gras geschnitten, dazu benutzte Bauer Rohrmoser einen Mähbalken, den er an seinen Traktor montiert hatte und einen Selbstlader. Man konnte sich kaum vorstellen wie sich die Menschen früher abgeplagt hatten, als alles mit der Hand erledigt werden musste und die Männer das Gras stundenlang mit der Sense abmähten, bevor es die Frauen zusammenrechten und zu Bündeln aufstellten, anschließend wurde es mit dem Pferdewagen zum Heuschober gebracht. Heute wurde das Gras sofort vom Hänger aus im Stall den Kühen vorgelegt. Für den Winter wurde das Heu mit einem starken Sauger auf den Heuboden hochgeholt und dort mit einer beweglichen Rohrleitung dahin geblasen, wo man es haben wollte.

    Handarbeit war lediglich an dem Sauger erforderlich, wenn man das Heu mit Gabeln vorlegte, wobei man aufpassen musste, dass einem der Sauger nicht das Werkzeug aus der Hand riss. Bauer Rohrmoser besaß auch zweihundert Schweine und hatte ursprünglich einmal vorgehabt, ganz auf Schweinemast umzustellen. Er ließ aber, als die Preise für Schweinefleisch einbrachen, die Finger davon und behielt seinen Milchbetrieb, allerdings brachte auch die Milch nicht mehr so viel, manch ein Milchbauer hatte seinen Hof schon aufgeben müssen.

    Im Haus Rohrmoser lebten die Großeltern väterlicherseits, Frau und Herr Rohrmoser und Peter, der einmal den gesamten Hof übernehmen sollte, nun aber als Schwerpflegefall froh sein konnte, dass er allein mit seinem Rollstuhl ins Dorf fahren konnte. Zu Hause kümmerten sich vor allem seine Oma und seine Mutter um ihn, die ihn aus- und anziehen, waschen und manchmal auch füttern mussten. Peter hatte eine so starke Oberarmmuskulatur entwickelt, dass er sich allein auf die Toilette, ins Bett oder ins Auto heben konnte. Nachdem er lange Zeit auf das Autofahren verzichten musste, hatte ihm sein Vater einen behindertengerechten VW-Golf gekauft, bei dem alle Funktionen von Hand zu bedienen waren, Peter war gerade dabei, den Umgang mit dem Wagen zu lernen. Am Haus waren einige bauliche Veränderungen vorgenommen worden, so war für Peters Rollstuhl eine Rampe vor die Haustür gelegt worden, die er hochfahren konnte, diverse Türdurchlässe waren verbreitert worden, sodass er mit seinem Rollstuhl dort hindurchpasste.

    Die Duschtasse im Badezimmer wurde entfernt und der Abfluss in den Boden versenkt, Peter konnte so mit seinem Rollstuhl in die Dusche fahren und sich dort auf einen Plastikstuhl hieven, auf dem er bequem duschen konnte. Ein Badewannenlift gestattete ihm den mühelosen Einstieg in die Badewanne und ein Treppenlift im Haus ermöglichte Peter das Aufsuchen seines Zimmers im ersten Stock. Bei allem unbeschreiblichen Unglück, das ihm bei seinem Autounfall widerfahren war, konnte er dennoch von Glück sagen, dass er aus begütertem Hause stammte und seine Eltern die finanziellen Belastungen, die mit den Umbauten und dem Autokauf verbunden waren, stemmen konnten. Die Eltern waren nach dem Unfall und dessen Folgen für ihren Sohn natürlich völlig am Boden zerstört und hatten anfangs noch Schwierigkeiten, mit Peters Behinderung fertig zu werden, nach und nach spielte sich aber ein Alltagsablauf ein, mit dem jeder der Rohrmosers leben konnte. Peters Mutter hatte sich einmal dabei ertappt, dass sie dachte, Peter wäre doch besser unter den Getöteten gewesen, mittlerweile war sie aber ganz davon ab und froh, ihr einziges Kind bei sich zu haben, sie liebte ihren Peter.

    Bauer Rohrmoser hatte sich früher stark in die Gemeindepolitik eingemischt und war Mitglied im Gemeinderat, als man ihm einmal das Bürgermeisteramt angetragen hatte, lehnte er aber ab, weil er auf seinem Hof genug Arbeit hatte und sich nicht auch noch um die politischen Geschicke in seinem Ort kümmern konnte und auch nicht wollte. Er engagierte sich aber bei den Befürwortern der Ortsumgehung und mischte da in den vordersten Reihen mit, war aber angesichts leerer Kassen bei Land und Kommune natürlich auch machtlos. Er dachte an Peter, wenn er sich für die Umwelt einsetzte, Peter sollte ungestört und ohne Gefahr mit seinem Rollstuhl durch das Dorf fahren können. Das Verhältnis zu den Stegmüllers, Rohrmosers Nachbarn, war freundschaftlich, wenngleich auch nicht unbelastet. Beide Familien lebten schon seit undenklichen Zeiten in Kregelbach und es hatte einmal in grauer Vorzeit eine Hochzeit zwischen Anna Stegmüller und Alois Rohrmoser gegeben, die unter keinem guten Stern stand, und die Ehe wurde schon nach zwei Jahren wieder geschieden. Stegmüllers sagten, Alois wäre fremdgegangen und hätte Anna betrogen, Rohrmosers behaupteten, Anna hätte sich jedem hergelaufenen Lumpen hingegeben. So entstand ein Familienstreit, der so schnell nicht beigelegt wurde, bis man sich aber vor nicht allzu langer Zeit zusammensetzte und das Kriegsbeil begrub.

    Herr Rohrmoser und Herr Stegmüller setzten sich schon mal in die Sonne und tranken dort zusammen ein Bier, sie sprachen dabei über die Entwicklung der Milchpreise, über die anstehenden Wahlen zum Vorstand im Bauernverband und andere Themen aus der Landwirtschaft, über ihre Familien redeten sie so gut wie nie, für beide war der alte Zwist beigelegt und sie wollten nicht wieder daran rühren. Der Besitz von Stegmüllers umfasste den Südosten bis fast zum Holzeinschlag, auch deren Ländereien reichten bis an den Eulenwald im Süden. Bauer Stegmüller hatte wie Bauer Rohrmoser einen Milchviehbetrieb, er hatte nur unwesentlich weniger Kühe als Bauer Rohrmoser, ungefähr hundertachtzig Stück, und auch er hielt nebenher Schweine, deren Anzahl sich um die sechzig bewegte. Stegmüllers hatten zwei Töchter, Gertrud und Maria, die aber nicht mehr in Kregelbach lebten, sondern nach Irmstadt und Waltershausen geheiratet hatten. Es hatte nie eine Beziehung zwischen Peter und einer der Töchter gegeben, so als wirkte die Scheidung von damals bis in unsere Zeit nach und legte sich wie ein Hindernis auf eine mögliche Annäherung. Der Unfall von Peter hatte den Stegmüllers sehr leid getan und sie boten unmittelbar danach ihre Hilfe an, man beließ es aber dabei, Peter gelegentlich vom Dorf nach Hause zu schieben, wenn man gerade selbst von dort unterwegs war, und man grüßte sich natürlich, wenn man sich begegnete. Auch Stegmüllers waren erklärte Befürworter der Ortsumgehung und die beiden Familienvorstände trafen sich schon einmal auf den anberaumten Sitzungen der Bürgerinitiative in der Sonne.

    Andreas Glenbacher

    Hinter der Kirche, direkt neben der Schule wohnte die Familie Glenbacher mit ihrem Sohn Andreas, der als Sonderling galt, weil Andres kleinwüchsig war und nicht sehr gut aussah, und wenn man ihn auf der Straße traf und ihn grüßte, schaute er mit ernstem Gesicht hoch und gab Grunzlaute von sich, anschließend lief er fort. Niemand hatte eine Erklärung für das Verhalten von Andreas, es interessierte aber auch nicht sonderlich. Andreas Familie lebte zurückgezogen in einem kleinen Häuschen, dessen Garten an den Wendlerbach grenzte. Zu den Glenbachers hatte eigentlich niemand so richtig Kontakt, und das auffällige Verhalten ihres Sohnes führten manche darauf zurück, dass er als Kleinkind einmal beinahe im Wendlerbach ertrunken wäre. Er hatte unbeaufsichtigt im Garten gespielt und war seinem Ball hinterhergelaufen, der in den Bach gefallen war, wobei der Bach eine Wassertiefe von maximal fünfzig Zentimetern hatte, was für Kleinkinder aber schon zu tief war. Andreas Mutter konnte ihn gerade noch rechtzeitig aus dem Wasser ziehen und ihn per Mund-zu-Mund-Beatmung wiederbeleben, bevor er ertrunken wäre. Da sein Gehirn für verhältnismäßig lange Zeit mit Sauerstoff unterversorgt gewesen war, glaubte man, Andreas hätte eine bleibende Behinderung davongetragen, ganz sicher war sich da aber niemand.

    „Da geht der Glen", sagten viele, wenn Andreas durchs Dorf stromerte, so leise, dass sie Andreas nicht hören konnten. Alfons Disch glaubte, auf seine Waren in seinem Geschäft besonders aufpassen zu müssen, wenn Andreas im Laden war, denn der Glen galt als merkwürdiger Typ, dem man alles zutrauen konnte, auch einen Ladendiebstahl. Bis dahin hatte der Glen aber immer sein Eis bezahlt, das er sich gelegentlich bei Disch kaufte. Der Glen war inzwischen einundzwanzig Jahre alt und wohnte noch immer bei seinen Eltern. Eine Schule hatte er zwar besucht, seinen Abschluss aber auf dem untersten Niveau gemacht. Zu einer Berufsausbildung hatte es nicht gereicht, niemand wollte ihn beschäftigen, nicht so sehr wegen seiner schlechten Schulleistungen, sondern wegen seines merkwürdigen Allgemeinverhaltens, man hielt den Glen für unberechenbar. Manchmal war der Glen für Tage nicht zu sehen und alle rätselten, wo er sich während seiner Abwesenheit wohl aufhielt, es ging das Gerücht, er hielt sich auf dem Wolfskopf auf und betrieb dort nachts eine Geisterbeschwörung. Man lachte darüber, ganz wohl war einem bei dem Gedanken daran aber nicht. Der Glen konnte ein ganz lieber Mensch sein, wenn er gut gelaunt war, lächelte er, und man konnte sein schief gewachsenes Gebiss sehen und die Warze, die auf seiner Nase wuchs, kam dabei besonders zur Geltung. Sein Kopf saß praktisch halslos auf dem Rumpf, und wenn der Glen mit seinen für seine Körpergröße viel zu langen Armen gestikulierte, glaubte man manchmal, eine Marionette vor sich zu haben.

    Er hatte kleine flinke Augen, mit denen er ausgezeichnet sehen konnte und große abstehende Ohren, die ihn nicht schöner machten, mit denen er aber hervorragend hören konnte. Direkt am Haus der Glenbachers gab es eine uralte Eisenbrücke über den Wendlerbach, die so verrostet war, dass sie einzustürzen drohte, und wenn man über die Brücke lief, übertrugen sich die Schritte auf die Eisenkonstruktion und brachten sie zum Schwingen. Der Glen machte sich ein Vergnügen daraus, Leuten, die die Brücke überquerten, hinterher zu gehen und die Schwingungen damit zu verstärken, sodass die Leute ihre Schritte aus Angst beschleunigten und beinahe über die Brücke rannten. Der Glen hatte seine helle Freude dabei und musste über die ängstlichen Leute lachen, die wiederum sprachen Flüche über den Glen aus und wünschten ihm sonst was. Früher stand der Glen unter der Brücke und schaute den Mädchen, die über sie liefen, unter den Rock. Das hatte er sich aber abgewöhnt, nachdem der Brückenbelag erneuert und durch eine geschlossene Bretterabdeckung ersetzt worden war. Auf der anderen Seite der Hauptstraße gelangte man, wenn man von der Brücke kam, auf den Weg zum Wolfskopf, der in seinem unteren Teil bis zum Heligenhäuschen noch breit war und nicht sehr steil anstieg.

    Der Glen liebte es, durch das Dorf zu stromern und die Leute zu necken, man sah es ihm nach, schüttelte den Kopf über ihn und ließ ihn gewähren, solange er niemandem ernsthaften Schaden zufügte. Manchmal saß er auf dem Kirchplatz und gaffte die Passanten an, die gelegentlich erschrocken waren über seine Dreistigkeit, was den Glen nur freute. Einmal setzte sich der Pfarrer zu ihm, um mit ihm zu reden und ihn dazu zu bewegen, doch auch einmal die Kirche zu besuchen und zu seinem Schöpfer zu beten. Als der Glen aber daraufhin so laut lachen musste, dass es über den ganzen Kirchplatz schallte, ging der Pfarrer schnell in sein Pfarrhaus und versuchte, sein Treffen mit dem Glen zu vergessen. Das „Hotel Rösch" verfügte über eine eigene Metzgerei und immer, wenn gewurstet wurde, roch es über den gesamten Kirchplatz nach den Gewürzen, die an die Wurst kamen wie zum Beispiel Majoran. Wenn die empfindliche Nase des Glen diese guten Aromen aufnahm, ging er zu Rösch hinter das Haus, wo der Zugang zur Metzgerei lag und stellte sich dorthin. Er wartete dort so lange, bis ihn jemand bemerkte und ihm ein Stück frische und noch warme Fleischwurst gab, erst danach zog er wieder ab. Die Küche bei Rösch war bodenständig und gut, die Zimmer waren einfach, aber sauber und ordentlich, und die Übernachtung in diesem Hotel kostete nicht die Welt.

    Das Haus stand schon seit zweihundert Jahren an seinem Platz und diente ganz früher den Durchreisenden als Unterkunft, schon damals lobten viele die gute Küche, was in alten Briefen schriftlich belegt war, die Briefe lagen im Gastraum hinter Glas und konnten von jedem Gast gelesen werden. Immer nach dem Kirchgang nahmen die Männer einen Frühschoppen bei Rösch, das wurde schon seit ewigen Zeiten so gemacht, und daran würde sich in absehbarer Zeit auch nichts ändern. Die „Sonne kam für den Frühschoppen nicht in Betracht, weil sie nicht wie Rösch direkt am Kirchplatz lag, man setzte sich bei schönem Wetter draußen vor das Hotel und ließ Bier kommen. Die Männer trugen feinsten Sonntagsstaat und waren herausgeputzt, die Frauen kümmerten sich in der Zeit zu Hause um den Sonntagsbraten und hofften, dass ihre Männer rechtzeitig zum Essen nach Hause kämen. Manche der Männer verpassten es, frühzeitig mit dem Biertrinken Schluss zu machen und wurden immer betrunkener, und wenn die anderen sie nicht dazu aufgefordert hätten, das Trinken einzustellen, wären sie irgendwann unter den Tisch gefallen. Man half ihnen nach Hause, wo ihnen eine Schimpfkanonade ihrer Ehefrauen sicher war. Das „Hotel Rösch verfügte über eine Kegelbahn, die auch ausgiebig, vor allem von der Dorfjugend, genutzt wurde. Man traf sich in der Woche für zwei, drei Stunden bei Rösch und kegelte, dabei ließ man sich Essen bringen und lobte regelmäßig den Koch.

    Das Hotel war heute nicht mehr ausgelastet, der Betrieb reichte so gerade aus, um der Familie Rösch über die Runden zu helfen. Die älteste Tochter, Theodora, half im Hotel die Betten zu richten und alles sauber zu halten. Theodora war noch keine zwanzig und würde sicher aus Kregelbach wegziehen, wenn sie jemanden kennen lernte, der sie heiratete, ihr Herz hing nicht an dem elterlichen Hotel. Mitten auf dem Kirchplatz stand ein Kriegerdenkmal, das an die Gefallenen aus den beiden Weltkriegen erinnerte, niemand schenkte ihnen mehr Beachtung, am wenigsten die jungen Leute. Die ein Stück die Kirchgasse entlang gelegene „Sonne war auch schon alt und ein Restaurant für gehobene Ansprüche. Es kamen Gäste von außerhalb, um in der Sonne zu essen, besonders Wildgerichte, frische Forellen aus den umliegenden Gewässern und in der Saison auch frische Pilze waren die favorisierten Gerichte in der „Sonne. Das Lokal hatte in seiner langjährigen Geschichte erst in den letzten Jahren einen radikalen Wandel erfahren, es war von einer Dorfgaststätte mit gutem Essen zu einem Genusstempel geworden. Man hatte aber die Dorfanbindung beibehalten und stellte dem Musikverein und der Bürgerinitiative für die Ortsumgehung Räumlichkeiten zur Verfügung. Überhaupt waren die Wirtsleute auf dem Teppich geblieben und trugen die Nasen nicht höher, nur weil ihr Restaurant jetzt ein Spitzenlokal geworden war. Sie waren beide Mitte dreißig, er war sowohl Mitglied im Musikverein als auch in der Bürgerinitiative, sie engagierte sich im Dorf, besuchte Alte und Hilfsbedürftige und nahm Besorgungen für sie vor.

    Manchmal setzte sie sich einfach zu ihnen und redete mit ihnen über alles Mögliche, sie merkte, dass sie gut bei den Menschen ankam. Einmal im Jahr kamen alle zusammen, die wollten, um auf den Wolfskopf zu laufen und die Kapelle, die oben auf dem Gipfel stand, aufzusuchen und dort zu beten. Früher konnte man die Kapelle vom Tal aus sehen, sie war weiß und ein markanter Blickfang gewesen, heute verhinderten die inzwischen gewachsenen Bäume einen Blick auf das kleine Gotteshaus. Es fand sich immer eine Wandergruppe von fünfzehn bis zwanzig Personen ein, die sich an der Brücke über den Wendlerbach traf, die Hauptstraße überquerte und loslief. Zu der Wandergruppe gehörten regelmäßig die Wirtsleute aus der Sonne, die ihr Lokal für einen halben Tag geschlossen hielten, aber auch Herr Rösch, der Pfarrer, Rohrmosers und Stegmüllers. Glenbachers hatten noch nie teilgenommen, sie waren wohl auch schon zu alt für die Wanderung auf den Berg oder sie waren körperlich dazu nicht in der Lage. Die Wanderer trugen Rucksäcke, in denen sie eine Wegzehrung verstaut hatten, ein paar Hartwürste, gutes Brot, Bier und Wasser. Festes Schuhwerk war zwar nicht unbedingt erforderlich, aber es konnte zumindest im oberen Teil des Weges nicht schaden, jeder trug Wanderschuhe.

    So lief die Gruppe an der Tankstelle und den Tennisplätzen vorbei den sanften Anstieg bis zum Heiligenhäuschen hoch. Dort blieb sie stehen und der Pfarrer sprach ein Gebet, er erflehte Gottes Segen für die Gruppe und dankte ihm für die Kraft, die er allen für den Aufstieg gegeben hatte. Unmittelbar nach dem Heiligenhäuschen begann der Wald und die Gruppe wanderte im Schatten der mächtigen Tannen, die dort standen und den typischen herzhaften Harzgeruch abgaben. Der Weg hatte sich inzwischen von einer gut befahrbaren schmalen Straße zu einem holperigen Steilanstieg gewandelt, in dessen Mitte eine Rinne vom herabstürzenden Regenwasser ausgewaschen war. Die Gruppe war bemüht, immer am Rand des Steilweges zu laufen, weil die Rinne in der Mitte viele Unebenheiten aufwies und man zu fallen drohte, wenn man stolperte. Hin und wieder jagte ein Stück Rehwild über den Weg und verschwand schleunigst im Dickicht des Waldes, das aus niedrigem Buschwerk und Farn bestand. Denn natürlich bewegte sich die Gruppe nicht sehr leise den Wolfskopf hinauf, sodass das Wild aufgeschreckt wurde und die Flucht ergriff, es waren auch viele Eichhörnchen und auch einmal eine Rotte Wildschweine mit Frischlingen zu sehen. Vögel sah man in dem dunklen dichten Tannenwald kaum, wohl aber hörte man sie, sie saßen in den Tannenkronen in der Sonne und zwitscherten ihre Lieder. Auf mehr als halber Höhe gab es eine Art Sattel und die Gruppe machte Halt, jeder setzte sich auf das weiche Moos und holte etwas zu essen und zu trinken aus dem Rucksack.

    Die Wanderer waren eineinhalb Stunden bergan gestiegen und ziemlich müde von der Anstrengung, sie hatten von dort aus noch eine halbe Stunde zu klettern. Niemand sagt ein Wort, jeder kaute oder trank, und alle hörten auf die Stimmen des Waldes, die klar und deutlich zu vernehmen waren, beinahe wie in einem Kirchenschiff ertönten die Waldgeräusche. Nach einer ungefähr zwanzigminütigen Pause ging es weiter, deutlich langsamer als am Anfang, jeder schwitzte und rang nach Luft, die Luft war gut im Wald und erfrischte. Nach weiteren zwanzig Minuten steilen Anstiegs war die Kapelle in Sichtweite, sie lag friedlich auf der Gipfellichtung, still. Nachdem die Gruppe an der Kapelle angekommen war, setzte sich jeder in die Wiese vor der kleinen Kirche und schaute ins Tal oder über die Berge hinweg in die Ferne. Alle waren stolz auf sich, dass sie den Anstieg wieder einmal vollbracht hatten, und es wurde Bier geöffnet und mit Genuss getrunken. Danach betraten alle das Gotteshaus und bekreuzigten sich, jeder kniete vor dem Altar und sprach ein stilles Gebet, bevor man sich in das Kapellenbuch eintrug, man schrieb das Datum, ein, zwei kurze Sätze und seinen Namen. Dort oben war man von allem entrückt, zwischen Dorf und Gipfel lag der finstere Tannenwald wie ein hemmendes Bollwerk, das es zu überwinden galt, danach öffnete sich der Blick in die Weite und man wurde geradezu beflügelt.

    Noch einmal setzte sich die Gruppe in die Wiese, die Stimmung war gelöst und der Pfarrer stimmte „Geh aus mein Herz und suche... an und alle sangen aus Leibeskräften und freuten sich ihres Lebens. Das Lied von Paul Gerhardt hatte im Original zwanzig Strophen, von denen aber nur drei gesungen wurden. Der Einzige, der textsicher war, war der Pfarrer, und der sang auch am lautesten. Danach ging es wieder talwärts und alle liefen frohen Mutes wieder in den Tannenwald, der sie aufnahm und nicht mehr loszulassen drohte, so dicht standen die Bäume, so bedrohlich hingen ihre dicken Äste über dem Weg, als wollten sie die Wanderer ergreifen, die sich unter ihnen hindurch bücken mussten. Der Rückweg dauerte insgesamt nur eine Stunde und als sie wieder an das Heiligenhäuschen kamen, liefen sie an ihm vorbei, überquerten die Hauptstraße und gingen über die Wendlerbachbrücke, die unter den schweren Schritten der Wanderer bedrohlich ins Schwingen geriet, ins Dorf. Sie kreuzten die Wehrgasse und liefen auf dem Kirchplatz am Denkmal vorbei geradewegs zur „Sonne. Das Wirtsehepaar öffnete sein Lokal und wies den Koch, der gerade eintraf, an, das Essen für den Abend vorzubereiten. Anschließend zapfte die Wirtin für jeden, der wollte, ein Bier und schenkte den Frauen ein Glas Weißwein ein, der Wirt holte die Obstlerflasche und gab jedem, der wollte, ein Schnapsglas und goss es voll. Danach tranken alle auf die erfolgreiche Wanderung, die man im nächsten Jahr unbedingt wiederholen wollte.

    Vor der „Sonne" standen in der Kirchgasse einige Tische und Stühle, das Wetter war schön warm und die Wandergruppe saß draußen. Auch der Pfarrer trank einen Schnaps und ein Bier, mehr aber nicht, schließlich wollte der Gottesmann nicht als Säufer dastehen. Nach einer Stunde gemütlichen Erzählens und Trinkens löste sich die Wandergruppe wieder auf, und jeder ging zu sich nach Hause. Rohrmosers und Stegmüllers liefen ein Stück zusammen, bis sich kurz vor Erreichen ihrer Höfe ihre Wege trennten, und die einen nach links und die anderen nach rechts schwenkten. Der Glen machte sich an diesem Abend fertig für seine nächtliche Exkursion zum Wolfskopf, er traf sich in dem Tannenwald immer mit den Waldbewohnern, das machte er schon seit Längerem so, denn unter den Menschen hatte er keine Freunde. Er war auf dem Wolfskopf ein gern gesehener Gast und eine geachtete Persönlichkeit geworden und er hatte ein Auge auf Tola, die Tochter des Waldkönigs geworfen und wenn er sich nicht irrte, war auch Tola in ihn verliebt. Niemand in Kregelbach wusste etwas von den Beziehungen, die der Glen zum Wald am Wolfskopf unterhielt und von seinen Bekanntschaften dort. Seine Eltern wunderten sich nur manchmal, wenn er tagelang nicht zu sehen war und wenn sie ihn nach seiner Rückkehr fragten, sagte er bloß, auf Stellensuche in Waltershausen oder in Irmstadt gewesen zu sein, die Eltern beharrten nicht und ließen es bei seiner Antwort bewenden.

    Was hätten sie auch sonst tun sollen, ihr Sohn war einundzwanzig und volljährig. Der Glen machte seinen Rucksack fertig und legte auch seinen Laptop bereit, denn er würde beim Waldvolk Computerspiele spielen, er hatte sich ein ganz neues Spiel heruntergeladen, die Leute beim Waldvolk waren Computerfreaks. Ohne sich von seinen Eltern zu verabschieden verließ der Glen gegen 19.30 h das Haus und schlich sich an der Tankstelle und den Tennisplätzen vorbei zum Heiligenhäuschen, dort blieb er stehen und drehte sich um, er schaute, ob ihm auch niemand gefolgt war und konnte keinen Menschen sehen. Als der Glen im Wald war, gab er seine gebückte Haltung auf und bewegte sich völlig frei und ungezwungen, der Wald war sein Zuhause, hier fühlte er sich geborgen und er lief strammen Schrittes bis zum Sattel hoch. Dort zweigte, nicht für jeden sichtbar, ein sehr schmaler Pfad ab, der einmal ein Saumpfad gewesen sein mochte, und der an seinem Anfang von Farn überwuchert war, weshalb man ihn nicht bemerken konnte. Nachdem der Glen in den Pfad eingebogen war und auf dem Wege war, das Reich des Waldvolkes zu betreten, stieß er einen Pfiff aus, einen ganz charakteristischen Pfiff, der aus nur acht Tönen bestand und als Erkennungsmelodie galt.

    Unmittelbar danach vollzog sich ein Wandel in der Ausgestaltung der Umgebung, der Glen sah sich mit einem Mal in ein von der Sonne beschienenes Dorf versetzt, das zum Reich von König Joda gehörte, ein Reich, das für den Menschen normalerweise nicht zugänglich war, es entzog sich seiner Wahrnehmung. Es war nur dem zugänglich, dem Joda den Zutritt gestattete, so wie dem Glen, für den der Zutritt eine Art Belohnung war. Denn der Glen hatte vor nicht allzu langer Zeit einmal einem Argin, so der Name des Volkes von König Joda, geholfen, in sein Reich zurückzukehren, nachdem er es aus Versehen verlassen hatte und hinter einem Farn versteckt auf dem Sattel im Wald gestanden hatte. Der Glen war mit seinen Eltern zum Wolfskopf unterwegs, als er den Argin auf dem Sattel bemerkte, seine Eltern hatten davon gar nichts mitbekommen und waren weitergelaufen. Der Glen aber sah ihn hinter dem Farn und sprach ihn an und der Argin, der in etwa die Körpergröße des Glen hatte und auch wie ein Mensch aussah, war sehr verschreckt und schaute den Glen ängstlich an. Der wusste gar nicht, was er mit ihm anfangen sollte, denn sprechen konnte er nicht mit ihm, die Argin hatten eine eigene Sprache. Er war eine ganz besondere Erscheinung, so viel war dem Glen klar, und als der Argin hilflos um sich schaute und der Glen genau hinsah, konnte er den schmalen Pfad entdecken. Er nahm den Argin bei der Hand und lief mit ihm ein Stück den Pfad in den Wald entlang. Als er mit ihm eine Stelle erreichte, an der sich zwei mächtige Äste zweier riesiger Tannen kreuzten, stieß der Argin einen Pfiff aus, der aus acht Tönen bestand, die eine völlig fremd anmutende Melodie ergaben, die keiner Tonalität folgten.

    Die acht Töne standen in Intervallen zueinander, die weder Sekunden noch Terzen oder Quinten waren, sie ergaben ein für Menschen vollkommen ungewohntes Klangbild. Nach der Tonfolge verwandelte sich die Umgebung und der Argin wurde in eine andere Welt aufgenommen, gleich danach änderte sich alles wieder und der Glen stand wieder in seinem Wald. Er rannte schnell seinen Eltern hinterher und sagte auf deren Nachfrage hin, wo er denn so lange geblieben wäre, dass er austreten gemusst hätte. Er hatte sich die Tonfolge gemerkt, die der Argin gepfiffen hatte und ließ sie sich immer wieder durch den Kopf gehen, damit er sie nicht vergaß. Wieder zu Hause, nahm er einen Zettel und notierte die Tonfolge in Notenlinien, nahm seine Blockflöte, die er noch aus seiner Kinderzeit bei sich im Zimmer liegen hatte und spielte die Töne nach, so lange, bis sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren. Wenn er draußen war und durchs Dorf lief, summte oder pfiff er die Melodie nach und die Leute, die ihm begegneten, hörten, was er summte und schauten sich verstört nach ihm um, denn die Melodie musste einfach jedem fremd erscheinen. Der Glen behielt sein großes Geheimnis für sich, er erzählte niemandem von seiner Begegnung mit dem Argin und von dem versteckten Pfad, der auf dem Sattel des Wolfskopfes abzeigte.

    Eines Tages machte sich der Glen wieder zum Sattel auf, teilte den Farn, der den Blick auf den Pfad verdeckte und lief zu den beiden mächtigen sich kreuzenden Tannenästen, stellte sich unter sie und pfiff die fremd anmutende Melodie. Sofort verwandelte sich der ihn umgebende Wald in ein liebliches von der Sonne beschienenes Dorf, in dem die Argin glücklich und zufrieden zusammenlebten und eigentlich keiner zielgerichteten Tätigkeit nachgingen, sondern sich nur zu vergnügen schienen. Als sie den Glen wahrnahmen, kam gleich der Argin auf ihn zu, dem er vorher die Rückkehr in das Jodareich ermöglicht hatte und nahm ihn bei der Hand, um ihn zu seinem Haus zu führen. Dort setzte er sich mit ihm hin und bot ihm etwas zu trinken an, das er nicht kannte. Es war ein grünlicher Saft, der von ihm unbekannten Früchten stammte und so gut und erfrischend schmeckte, wie er selten einen

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