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Die Insel Farewell: Geschichten von draußen
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eBook246 Seiten3 Stunden

Die Insel Farewell: Geschichten von draußen

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Über dieses E-Book

Mit zehn Erzählungen spannt "Die Insel Farewell" den geografischen Bogen von der franzö­sischen Meuse über den Midi, Schottland, die Äußeren Hebriden, die Orkneys, Norwegen, Finnisch-Lappland, Kopenhagen und Kaliningrad zur bretonischen Insel Ouessant vor Finistère: Ein Streifzug durch halb Europa, dessen verbindendes Element darin besteht, dass sich alle Ziele dem leichten Zugriff entziehen. So bleibt ihre Faszination präsent oder sie werden zum Schicksal. Dafür steht auch jene junge Witwe, die einem Fremden begegnet und Hoffnung schöpft ...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum5. Dez. 2018
ISBN9783752874228
Die Insel Farewell: Geschichten von draußen
Autor

Eberhard Neubronner

Eberhard Neubronner, 1942 in Ulm geboren. Nach dem Seemannsberuf war er als Fotograf und Kameramann tätig. Danach Zeitungsredakteur und Radioreporter, seit 1990 freier Autor. Bücher u. a.: »Der Weg« (Literaturpreis des Deutschen Alpenvereins), »Das Schwarze Tal«, »Der Herrgott weiß, was mit uns geschieht«, »Steine im Brot«, »Nägel am Schuh«, »Die Letzten löschen das Feuer«, »Porträts ohne Goldrand«, »Der himmlische Blick«, »Mensch Mayer«.

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    Buchvorschau

    Die Insel Farewell - Eberhard Neubronner

    Menschliche Namen und Charaktere in diesem Buch sind fiktiv, eine eventuelle Übereinstimmung mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wäre durch den Zufall gelenkt und ist nicht beabsichtigt.

    Inhalt

    Der Zigarrenesser

    Mittag in Bugarach

    Nie mehr Lochaber

    Die Insel Farewell

    St. Margaret’s Hope

    Fünf vor zwölf

    Zwei Felle für Nykvist

    Dänisches Intermezzo

    Verschollene Stadt

    Nach Jerusalem

    Der Zigarrenesser

    Was habe ich selbst gesehen? Nicht mehr als einen Ausschnitt. Wenn man hinterherläuft, kommen oft nur Reste zum Vorschein. Doch immerhin: Viele Informationen stammen vom Holländer Jan, der in Amsterdam mit seiner Partnerin Lies am Ufer des breiten, durch Wehre gezähmten Wasserlaufs Amstel lebt. Auf ihrem Schiff »Vriendschap«, dem Symbol für Freundschaft, war ich im Herbst zu Besuch.

    Jan Blok, fast zwei Meter lang, zeigte mir Anfang September die Grachten. Er steuerte sein Boot wie ein Fremdenführer herum, würzte den Rundkurs mit Details, stoppte dann seinen Motor und fragte, ob eine Erfrischung recht sei. Bald saßen wir in Korbsesseln vor dem Café »Van Puffelen«, tranken Cappuccino und genossen den Sonntag: Fahrräder surrten vorbei, der Himmel war blau, das Lindenlaub noch nicht verfärbt, darüber ragten die Giebel alter Kontore und Speicher. Jan hatte sechs strenge Tage im Gericht abgehakt, redete aber trotz aller Müdigkeit schnell. Als ich endlich merkte, dass der Anwalt mir etwas Besonderes mitgeteilt hatte, war es schon erzählt und wurde erst Stunden danach wieder aufgerollt. Da putzte er Bohnen, briet Lachsfilets und fragte: Willst du noch mal hören, was uns in Frankreich begegnet ist?

    Die »Vriendschap«, einen früheren Frachtsegler, hatten Jan Blok und Lies Meulen von einem gewissen Wim de Jong aus Maarssen bei Utrecht gekauft. Wim war der Wechsel vom Ruder zum neuen Domizil schwer geworden, doch als alter Mann hatte er wegen akutem Schwindel nicht mehr den Biesbos queren dürfen, die Mündung des Rheins, von anderen Flussrevieren zu schweigen. Deshalb bot der Skipper seine Tjalk öffentlich an, worauf Jan sich meldete und sie erwarb: sechsundzwanzig Meter lang, fünf Meter breit. Die »Vriendschap« hatte jahrzehntelang Zement oder Schutt transportiert und wurde nun in ein Wohnschiff verwandelt, das während des Sommers überall dort in Europa kreuzen und anlegen sollte, wo Kanäle ein Reisen von Fluss zu Fluss erlauben.

    Wim ist erledigt, sagt Jan und träufelt Zitronensaft auf den Fisch. Der Mann lebt jetzt als Pensionär im Häuschen aus Backstein, schneidet Rosen und döst vor dem Fernseher. Er wird mit Sicherheit depressiv und bringt sich noch um. Unser Kauf war verfehlt, wir sollten ihm seinen Pott zurückgeben.

    Das wär falsch, entgegnet die zierliche Lies.

    Wenn de Jong aus Kummer stirbt, will jedenfalls ich nichts von Schuld wissen, sagt Jan. Er spießt eine Kartoffel, hält sie hoch und dreht die Knolle wie jemand, der den Kopf des enthaupteten Delinquenten vorführt.

    Scharfrichter, sagt Lies. Einspruch, Euer Ehren!

    Jan Blok überhört sie und wendet sich mir zu: Andererseits … unser Kurs von Ort zu Ort hat schon seinen Reiz. Vor allem dann, wenn man die Städte oder Dörfer besucht und von früh bis spät schaut. Nimm eine Karte. Was siehst du? Rote Straßen, schwarz gestrichelte Bahnlinien, dazu das Blau der Ströme und Flüsse. Ohne Wasser geht gar nichts, mein Lieber. An den Ufern steht Tag für Tag lachendes Publikum, lauscht dem Rhythmus des Motors und lädt dich zum Bleiben ein: Bon jour, hallo, dobry den, jó napot, buna zina! Du wirst immer als Mensch wahrgenommen, der winkt und antwortet; die »Vriendschap« weckt Sympathie. Nee, offenes Meer kann mir gestohlen bleiben, ich brauche Grenzen. Wir Flussleute sind alle aus ähnlichem Material zusammengenietet.

    Ende Juni vor ein paar Jahren war Jan Blok mit seinem Schiff von Amsterdam aus in Richtung Süden gestartet. Lies und er befuhren zuerst den Amsterdam-Rhein-Kanal und dann die Waal, drehten vor Nijmegen ab und erreichten schließlich den Maasfluss. Auf der früheren Tjalk flatterte Wäsche. Lies Meulen hockte am Heck und empfand das Rumpeln des Diesels als wohltuend. Den Deutz Zweizylinder hatte man 1912 in der »Vriendschap« versenkt, einer damals achtzehnjährigen Seglerin, in Zwartsluis bei Zwolle vom Stapel gelaufen und bis zur Jahrtausendwende aktiv. Wenn Jan sie nicht gekauft hätte, wäre das Schiff abgewrackt worden. Er träumte oft davon: Schneidbrenner kappten den Bug, Kajüte und Steuerhaus wurden zertrümmert, man warf das Handrad beiseite, zog die Kette vom Spill, ließ Fensterglas splittern und riss den Motor aus der Verankerung. Diesem Krieg setzte Blok, wann immer er konnte, seinen eigenen Frieden entgegen. Zu ihm gehörte die »Vriendschap« unter Vollzeug im Ijsselmeer, zwischen Lemmer und Volendam pflügend oder später als Flussfrachter unterwegs.

    Was hatte er alles für sie investiert, für sich selbst und für Lies, wie viele Monate waren mit Schweißen und Holzarbeit draufgegangen, wie oft hatten sie Rost geklopft, Farbe gekratzt, Kanten geschliffen und Blech grundiert! Pläne wurden entwickelt und wieder verworfen, weil nichts zusammenging, denn die »Vriendschap« schien gegen eine Zukunft zu kämpfen, die Amüsement statt Pflicht bedeutete – Ferien total. Am Kai kein pendelnder Kran mehr, keine Speicher an Land, weder tagsüber Windengekreisch noch die Rufe der Stauer oder das Seufzen des Schiffers de Jong, wenn er nachts in seine Koje fiel.

    Aber sie schafften es doch. Die Tjalk war schwer ins Geld gegangen (kluge Kollegen ließen für weniger ganze Paläste bauen), bis Jan und Lies den ersten Trip wagen konnten. Beide hatten zunächst von Amsterdam nach Dordrecht tuckern und dann die Ooster Schelde bis Bergen op Zoom nehmen wollen, doch in der Maas begann es unter Deck seltsam zu eiern. Man musste Rijkebuurt anlaufen, ein Dorf hinterm Deich, wo Lies Meulen den alten Deutz stundenlang schmierte.

    Fett und ne gute Hand, lobte Jan seine Freundin und hatte recht, denn die »Vriendschap« stotterte seither nie mehr: eine brave Arbeiterin, am Bug wie achtern behäbig wirkend, außenbords war sie unter der Wasserlinie schwarz und darüber braun bemalt. Mahagoni, wandte Lies manchmal ein, wenn jemand nur Beige sah. Dieser Farbton war dem Schiff in Zwartsluis verpasst worden. Hatten ihre Erbauer an Edelholz gedacht und den schönen Schein wahren wollen?

    Als Blok davon spricht, fügt Lies rasch hinzu: A propos Schein … Jan hat im Topp stets die Rote Fahne gehisst. Keine Ironie, sondern purer Blödsinn nach dem Zerfall der Sowjetunion. Dieser verblichene Lappen hing ewig, zuletzt sahen Hammer und Sichel weiß aus statt gelb. Ich erwähne das nur, weil unsere Story sich drum herum schlingt.

    Jan Blok und Lies Meulen fuhren nun bergwärts. Ihr Ziel hieß Reims. Blok berichtet, wie sie Venlo, Roermond und Maastricht streiften, wie aus der niederländischen Maas eine belgische Meuse wurde, dass sie den lebhaften Straßenverkehr beiderseits nicht erwartet und Stille ersehnt hätten. Ab Namur, wo die Sambre von Westen her zur Meuse stößt, wurde es ruhiger. Graue Felsriegel engten den Fluss ein, das Ardennengebirge schob bewaldete Kuppen vor, man musste jetzt viele Schleusen passieren. Die letzte écluse der französischen Doppelstadt Charleville-Mézières lag unter dem Dorf Montcy-Notre-Dame, wo bei einer Betonbrücke angelegt wurde. Es gab dort das »Café d’la Marine« mit kleinen Tischen im Freien, Angler dämmerten hinter reglosen Ruten, und ein dicker Kerl schlurfte her, dessen Unterarme tätowiert waren. Er setzte sich neben die Holländer, bestellte Pastis und nannte sich Jacques. Am Ufer, nahe der Insel Petit Montcy, waren drei leere Lastkähne festgemacht. Sie rosteten vor sich hin.

    Solide péniches, sagte der Dicke, phantastisch. Bestes französisches Eisen und auch sonst picobello. Aber keine wird mehr beladen.

    Lies fragte den Tätowierten, ob er selbst Seemann sei, doch Jacques wehrte ab.

    Um Gotteswillen!, rief er. Wer denkt denn an so was. Das sind nur solche, die man im Wasser der Meuse getauft hat – Bateliers, Leute mit Schwimmhäuten. Ist ja auch wirklich kein Vergnügen, denn du bist jeden Abend woanders und selten daheim. Nein, Messieurs-Dames, ich war mein Leben lang Automechaniker, bin mit Citroën groß geworden und hab die Angeber sich das Hirn einrennen lassen. Hundertfünfzig Sachen waren beim Modell Large Onze drin, wenn man fest aufs Gaspedal stieg. Mann, welche Schlitten heute gekauft werden! Läuft doch alles auf Pump, auf Kredit.

    Und das schlaffe Tuch am Heck der »Vriendschap« taxierend: rotweißblau, quergestreift – Touristen vom Niederland, stimmts? Wenn auch ihr noch wegbleibt, liegt unsere Hübsche demnächst allein im Bett. Vater Staat macht dann den Laden endgültig dicht.

    Hier ein Bordell?, fragte Lies stirnrunzelnd, doch Jacques blieb gelassen.

    La petite Meuse, Madame. Die Schleusen, der Fluss! Das alles kostet unseren Staat ne Menge Geld. Da wird viel in den Sand gesetzt. Geht ruckzuck den Bach runter und bringt nichts ein.

    Vor der Schleuse bei Montcy aus sahen sie ihn später breitbeinig stehen und mit dem Patron des »Café d’la Marine« plaudern. Beide peilten manchmal zu Jan und Lies herüber, die im Becken hochgepumpt worden waren, um nun jenen Kanal zu nutzen, der eine Meuse-Schleife kürzt und östlich von Charleville die Teilstadt Mézières erreicht.

    Es war Sonntag, ein milder Morgen. Jan lauschte dem Bullern der »Vriendschap«, während er das Schiff mit einer Havanna im Mund lenkte, sein Vibrieren auskostend, beide Beine gestreckt, die Zehen auf den Speichen des Handrads und ein Journal neben sich, in dem jedes Detail der Meuse zu finden war: Biegungen, Brücken und Staustufen, Lande- und Rastplätze. Lies Meulen brachte ihm aus einem anderen Heft bei, dass ein Mann namens Gonzague den Ort Charleville im siebzehnten Jahrhundert gegründet habe, dass Mézières wesentlich älter sei und beide Städte seit 1966 zusammengehörten. Der Lyriker Arthur Rimbaud war hier zur Welt gekommen, ein junges Genie, das vom Hanf berauscht war und Verse über Abgründen sang. Die Honorablen seiner Stadt hatten Rimbauds Dichtung nie gemocht und nahmen nach wie vor das ihnen geltende Wort »Karlsärsche« krumm.

    Übrigens, sagte Lies, bei Montcy-Notre-Dame gabs ein Depot. Wir hätten unser altes Öl loswerden sollen und haben es nicht getan, wollen wir wenigstens in Charleville an der Base Nautique festmachen? Ich könnte schon was vertragen: Pool, Restaurant, kleine Erfrischung unter Kastanien … außerdem liegt das Rimbaud-Museum keine fünf Minuten vom Hafen entfernt. »Alte Mühle« schreiben sie hier. Wahrscheinlich ist es ein Muss.

    Lieber nicht, bat Jan Blok. Erst mal Sedan und so weiter.

    Der Anwalt aus Amsterdam wechselte jetzt auf Halbe Fahrt, denn die im Journal erwähnte dritte Eisenbahnbrücke kam in Sicht (backbords vom Mittelpfeiler passieren, las Jan vom Blatt, noch einmal backbords zur Schleuse 42 und dann durch das Öhr des Canal d’Est).

    Nummer 42 war automatisiert. Trotz dieser neuen Technik saß ein Wachmann mit Bürstenfrisur vor seinem Haus und hob schläfrig den Kopf, als Blok im Vorhafen stoppte. Jans hellrotes Tuch am Mast schien den Mann zu beleben, jedenfalls drehte er sich und rief laut:

    Isabelle? Isabelle! Schau mal den Lappen an!

    Man hörte zwar hinter ihm etwas, verstand aber nichts, worauf der Schleusenmeister in eine andere Richtung schrie: Roqueeet? Hallo, Emile! Deine Firma!

    Im Kanal dümpelte das Heim dieses Emile Roquet, ein Lastkahn, etwa gleich breit wie seine niederländische Schwester und rund vierzig Meter lang, also schmal. Jan sah sofort, dass die hoch aus dem Wasser ragende péniche »Rova« seit Monaten nicht mehr bewegt worden war. Algen hatten sie eingehüllt, doch ihr Pelz wirkte zerfressen; jemand war schrubbend aktiv gewesen, um einen baldigen Start zu melden, wie es die Kapitäne der Ozeanliner mit ihrem geflaggten »P« tun. Blok nickte und hatte verstanden. Er bugsierte sein Schiff den schwarzgrünen Rumpf entlang, gab Gegenruder, ließ den Motor kurz zurücklaufen und kurbelte nochmals. Gummi quietschte. Die »Vriendschap« lag vor der »Rova« am Kai.

    Sie machten fest, klarierten das Deck, öffneten alle Bullaugen und kochten Kaffee.

    Warum nur, fragte Lies zwischen zwei Schlucken des heißen Getränks, sitzen wir vor Beton statt unter Bäumen. Ich hätt mehr Lust auf einen Aperitif oder das Dichtermuseum!

    Die Front einiger Hochhäuser stand als nahe Kulisse im grellen Licht. Schlecht frisierte Frauen mit abgetragenem Zeug führten Hunde herum, die wie Ratten aussahen.

    Also, hier bleib ich keinen einzigen Tag, sagte Lies. Von Nächten gar nicht zu reden. Es sei denn, wir nutzen den Stopp zum Großputz und holen in Sedan nach, was hier versäumt wird.

    Wenn du meinst …

    Jan warf eine leere Pütz über Bord, hörte es unter sich gurgeln und hievte sie voll wieder hoch, um die Oberlichter zu waschen. Da traf ihn der Blick des Nachbarn. Blok fing ihn auf. Ziemlich große Gestalt, dachte er, halbe Glatze und kein Gramm Fett. Backenknochen, über die sich braune Haut spannt. Seine verwaschene Hose ist mit einer Kordel gerafft, das offene Hemd lässt den sehnigen Körper erkennen, am Hals treten Adern hervor. »Hallo! Deine Firma!« War das Roquet? Der Mann wies auf Jans sowjetische Kennung und sagte:

    Genosse, aha. Bist wohl schon dort gewesen – in Wolgograd, Moskau, Odessa?

    Nie.

    Was soll dann der Fetzen?

    Nur Spaß.

    Der Mann ging murmelnd davon.

    Ich hab ihn beleidigt, dachte Jan. Wenn Lenin wüsste!

    Man sah sich wieder am Abend zwischen Heck und Bug beider Kähne und besserte Lettern aus; Emile Roquet kratzte an der geschwungenen Schablonenschrift »Rova« herum, Jan Blok gab dem Namen »Vriendschap« ein neues Weiß. Keiner redete, doch als sie zeitgleich ihre Rücken aufrichteten (wobei Roquet stöhnte), sprach der Franzose: Gute Figur, Kompliment. Muss ne alte Seglerin sein.

    Stimmt, erklärte Jan, die ist im niederländischen Zwartsluis vom Stapel gelaufen. Zwartsluis bei Zwolle. Schon mal gehört?

    Nicht dass ich wüsste.

    Aber er hatte zwei oder drei Mal Rotterdam besucht und war in Paris gewesen, eben überall dort, wo es Ladung gab. Wie sein Vater Roland vor dem Krieg.

    Jan fummelte am eigenen Hemd, bis etwas ertastet war.

    Zigarre? Import. Es gibt nichts Besseres.

    Der Schiffer zögerte und griff dann zu. Er drehte sie mehrmals, roch an ihr, biss vorsichtig ab, kaute prüfend und schluckte. Dann kam die Antwort:

    Ah, ça c’est bon …

    Emile zog ein Klappmesser mit hornigem Griff, öffnete es und schnitt die Havanna in dünne Scheiben. Jan Blok bemerkte verwundert, wie er den Tabak Stück für Stück aß.

    Roquet!, rief eine Stimme vom Nachbarboot.

    Das ist Marie. Merci, mon vieux.

    Als sie zwölf Tage später, von Reims her in Nordrichtung unterwegs, vor der Schleuse 42 festmachten, lag die »Rova« noch immer am selben Kai. Ihr Eigner war nirgends zu sehen. Jan ging an Land und fragte zwei Polizisten nach ihm, die sich zwischen den Wohnsilos langweilten. Sie kannten Emile Roquet: Der habe hier seinen Liegeplatz, ja, aber oft sei er fort.

    Warten Sie nur, hieß es, dieser Typ taucht schon wieder auf. Wer wie er mit dem Schiff verheiratet ist, kommt schnell zurück.

    Und die Frau, Madame Marie?

    Im Supermarkt oder beim Arzt. Das kann dauern.

    Jan hätte Emile gern »nächstes Jahr hier« versprochen oder »man sieht sich, wenn wir zurück sind«, doch dieser Wunsch blieb momentan unerfüllt. Auf bald also, dachte der Anwalt. Vielleicht schon in ein paar Monaten.

    Du, sagt Jan Blok auf dem Boot »Vriendschap« in Amsterdam zu Lies Meulen, die ihren roten Kater Prins Claus streichelt. Kriegst du noch halbwegs zusammen, was dann geschehen ist?

    Kein Problem, antwortet Lies.

    Sie fuhren im Sommer des nächsten Jahres erneut auf der Meuse und erkundeten nun, zunächst ohne Stopp in Mézières, den Oberlauf bis Verdun, wo die sorgfältig konservierten Schlacht felder des Ersten Weltkriegs besucht wurden. Pazifistenpflicht, meinte Jan und sollte bald genug davon haben, denn die Söhne der Veteranen von damals predigten Freundschaft im Fort Douaumont, doch weil ihr »Niemehr« wie »Süßundehrenvoll« klang, wurde der Gang zum Fiasko – Jan und Lies kehrten um. Vor Charleville-Mézières, bei den schlecht frisierten Spaziergängerinnen am Kanal, machten sie Halt. Eine grauhaarige Frau mit Pantoffeln saß auf der »Rova« und strickte.

    Wo ist er, Madame, rief Blok von Reling zu Reling. Wo steckt Monsieur Roquet?

    Weiß nicht. Ihr seid wohl die Holländer?

    Hmm.

    Dieu alors, Emile lässt keine Nachricht zurück, wenns ihn wegzieht. Man braucht immer Geduld.

    Emile Roquet kam kurz vor Einbruch der Dunkelheit mit schleppendem Schritt und trug zwei Baguettes unter dem Arm. Eine Schnur hielt die Hose, das verblichene blaue Hemd war mit Farbe bespritzt, er wirkte abwesend und grüßte stumm.

    Havanna, bot Jan an und griff ohne Überlegung zur Brust. Er hielt alsbald die Zigarre zwischen zwei Fingern. Roquet nahm sie entgegen, biss ihre Spitze ab, kaute langsam und sagte dann im Ton des Gourmands: C’est bon ça. Merci, mon vieux.

    Jan Blok nahm wahr, wie sich sein Herz zusammenzog.

    Beide Männer wechselten nun ein paar Worte wie beim ersten Treff, doch der batelier brachte jetzt mehr heraus und fing zu erzählen an. Emile war seit jeher auf französischen und belgischen Flüssen gefahren, erst als Kind mit seinem Vater von Monthermé aus (»nicht weit von hier in den Ardennen«) und dann allein. Er hatte die 1938 erbaute »Rova« nach Roland Roquets frühem Tod modernisieren lassen: dreihundertsechzig Tonnen, neununddreißig Meter lang, fünf Meter breit, zwei Meter Tiefgang. Der DAF-Diesel, Typ Sechszwofünf, setzte einhundertzwanzig Pferdestärken frei und Emile schwor, diese Maschine habe sich noch nie einen Aussetzer oder gar Bruch geleistet. Sie laufe rund, exzellent. Wenn nur nicht die Mafia wäre!

    Sizilien?, fragte Jan.

    Das Kapital, schimpfte Emile Roquet. Immer mehr Ladung wird vom Fluss weg auf überfüllte Straßen geschleust, die Bosse kassieren, ihre Schwerlaster hungern uns aus. Wir Bateliers sind fix und fertig. A bas les camions fluche er jeden Morgen, doch Marie mache Druck. Sie rate, dem Staat endlich nachzugeben. Der wolle unrentable Schiffe verschrotten lassen und biete dafür das Appartement in

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