Hier endet der Himmel: 55 Geschichten
Von Brigitta Römer
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Über dieses E-Book
Mit leiser Empörung - ab und zu auch mit einem frechen Augenzwinkern - wird Vergessenes und Verdrängtes, Menschliches und Mitmenschliches unter die Lupe genommen. Dabei sind 55 ebenso subtile wie unverblümt-eindringliche Prosatexte entstanden.
Brigitta Römer
Brigitta Römer lebt und schreibt in der Nähe von Zürich. 2012 erschien ihr Erstling »Hier endet der Himmel« (55 Geschichten). Dafür erhielt sie 2014 den Förderpreis der Gemeinde Fehraltorf und der Walter Bachhofner-Stiftung. 2018 erschien in der Collection Montagnola ihr erster Roman »Damit der Tag nicht gleich mit einem Schatten beginnt«. 2020 folgte mit »Ich trinke das Wasser am liebsten ganz frisch vom Himmel« die Fortsetzung. 2021 erschien die Erzählung »Weil Stare unsere Träume unter ihren Flügeln tragen«.
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Buchvorschau
Hier endet der Himmel - Brigitta Römer
Die Personen in diesem Buch sind nicht identisch mit lebenden oder toten Menschen. alle Geschichten sind erfunden.
Inhalt
einmal gross sein I
soirée
jagoda
heimat
auswandern
ein kleiner fisch
welt
lino
vermischte meldungen I
kind I
himmelreich
von haien und goldfischchen
lkw
im stiefmütterchenhain
gottfried
der tod und das mädchen
meine urgrossmutter
fragen
unter fremden sonnen
nachgefragt
paula
das andere blatt
2028
lichterloh
einmal gross sein II
die tapfere schneiderin
ingo
ungebremst
vermischte meldungen II
warten
zum trost
rückkehr
klara und heinrich, zwei wirklichkeiten
wetten, dass …
vielleicht ist irgendwo ein kind geboren
vermischte meldungen III
kind II
hinz und kunz
kein kind nicht
eva und adam
steine
das beflügelte renatlein
einmal gross sein III
fräulein julie
sprache
lied in zwei sätzen
magd gottes
mein dorf
ausgeschafft
grosse liebe
in kürze
engel
haschisch
haft
linda
schreiben
erster satz
einer geschichte
ein kahn
in einem meer
von erinnerungen
den ich an land ziehe
letztes wort
einer geschichte
ein kleiner tropfen
der in einem meer
von erinnerungen
verloren geht
dazwischen ich
widmung
für lino, flora, roberta, viktor, jagoda, linda und frieda und für eine nachtigall und einen spurlos veschwundenen fremden. für einen porschefahrer, für xaver, nelli, hulda, tomek, gottfried und lydia. für zwei bettlerinnen und deren hunde und für eine seherin. für tosca und horst, kevin und für renate, meine tante. für ingo und seine schwester sarah, für jakob und einen igel. für xenia und theo, fräulein julie, malwina und ignaz stark. für klara und heinrich, alba, nadia und ihren weissen esel. für ein schwarzes schaf und drei kamele. für emilie, laura, sophie, für heiliger ernst, für einen tramführer und für den tod und das leben. für eine sängerin, für marie, meine urgrossmutter, für ihren mann und ihre mitschwestern und miranda. für eine löwin, einen kleinen fisch, für drei banker und für ilona, leo, paula, iris, lilli, herbert und für farida. für eva und für adam.
einmal gross sein I
eines tages wagte ich linda, einem nachbarskind, zu sagen, dass ich manchmal gedichte schreibe.
»dann bist du also nur eine gedichterin«, sagte linda und schaute mich mit ihren hellen augen überrascht, ja wie mir schien, mitleidig an. sie legte ihren zeigefinger an die lippen und sass einen augenblick ganz still mit geschlossenen augen auf dem stuhl.
»ich, wenn ich einmal gross bin«, rief linda plötzlich ganz wild mit ihren kleinen händen in der luft herumfuchtelnd, als müsste sie damit böse geister vertreiben, und sprang dabei von ihrem stuhl auf, »ich, will, wenn ich einmal gross bin, engel werden, damit ich allen armen auf der welt helfen kann.«
dann setzte sich das mädchen auf den stuhl zurück. mit niedergeschlagenen augenlidern legte linda ihre händchen, die eben noch wie kleine vögel herumgeflattert waren, in den schoss, faltete und entfaltete ihre finger ein paar mal hintereinander und seufzte dazu tief. das schöne kind sah jetzt auf einmal erschöpft und irgendwie alt aus – oder einfach nur vernünftig wie ein erwachsener mensch?
wann werde ich wohl endlich einmal gross sein, fragte ich mich, denn ich kam mir jetzt mit meinen gedichten recht unnütz und sehr kindisch vor.
soirée
an einer abendgesellschaft trug sie stolz und aufgeregt einige lieder von schubert vor. doch in ihrer nervosität sang sie in den höchsten tönen schrecklich falsch. sie selbst merkte nicht, wie falsch sie sang. nur die anderen hörten ihre schrägen töne, und alle hätten sich am liebsten die ohren zugehalten. doch das war ihnen peinlich, und so unterliessen sie es – auch aus höflichkeit.
schön, sagten sie, als das konzert zu ende war, wirklich reizend, hübsch, und sie lächelten ihr unter verhaltenem beifall nachsichtig zu. dann wechselten sie sofort das thema. plötzlich sprachen alle sehr schnell und sehr viel. davon, wie man von argentinien nach brasilien kommt und vom grossen fahrplanwechsel im nächsten jahr.
während die anderen sich schliesslich in ein gespräch über missstände im bildungswesen vertieften, zog sie sich schmollend in eine ecke zurück. seltsam, dachte sie traurig, ob ihnen meine lieder gar nicht gefallen haben, dass sie bloss »schön« und »wirklich reizend« und »hübsch« gesagt und freundlich gelächelt haben? und, dachte sie verzagt: ich werde nicht mehr singen … obwohl? … nein, nie mehr! schön, wirklich reizend und hübsch, das ist mir nun doch zu wenig!
mit zittrigen händen nahm sie das volle glas – es war bereits das dritte mal, dass sie es leerte – und trank es wieder in einem zuge leer. dann stand sie zögernd auf. sie öffnete den reissverschluss ihres kleides und zog langsam ein kleidungsstück nach dem andern aus. mit einem geheimnisvollen lächeln und rosigen wangen trat sie, nur noch die goldenen ballerinas an den füssen, aus ihrer ecke hervor und stellte sich, so wie gott oder sonst irgendeine hoheit sie geschaffen hatte, vor die konsternierte abendgesellschaft.
insbesondere die damen waren jetzt sehr entsetzt. während die herren sich möglicherweise im geheimen fast ein bisschen die hände rieben und freuten.
jagoda
der knabe kam zu spät zur schule, und er kam zu spät nach hause. jeden tag. und jeden tag wurde er von seiner lehrerin dafür getadelt, und daheim schimpfte die mutter mit ihm, wenn alle auf den jungen warten mussten und das mittagessen kalt wurde. doch das hüpfen und hopsen auf seinem weg zur schule und von der schule nach hause bereitete ihm solches vergnügen, dass er allen ermahnungen zum trotz seine wege weiterhin tanzend zurücklegte. tanzend aber brauchte der junge viel mehr zeit für seine wege.
viktor war ein heiteres, glückliches und leichtfüssiges kind. seine jungen füsse und seine starken beine mochten es lustig und froh. er wollte einmal tänzer werden, wenn er gross war.
eines nachts wurde seine mutter krank. ihre schreie waren durchs ganze haus zu hören. und als zwei weiss gekleidete männer die wehklagende mutter wegtrugen, hingen ihr kopf und ihre arme wie leblos an ihrem mageren körper. das sah der junge, und er dachte erschrocken: die stehlen mir meine mama. er wimmerte leise, so dass es niemand hören konnte.
am anderen morgen erklärte eine haushälterin