Ein Romantiker in nüchterner Zeit: Erzählungen
Von Konrad Pauli
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Über dieses E-Book
Konrad Pauli
Konrad Pauli, geboren 1944 in Aarberg (Schweiz), Lehrerausbildung, wiederholte Arbeit bei Zeitungsredaktionen, lebt heute in Bern. Er veröffentlichte zahlreiche Prosabände, zuletzt »Ein Heldenleben«, »Seit jeher unterwegs«, »Marcos Blicke ins Seeland«, »Weitergehen«, »Ein Romantiker in nüchterner Zeit« und »Atempause«.
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Rezensionen für Ein Romantiker in nüchterner Zeit
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Buchvorschau
Ein Romantiker in nüchterner Zeit - Konrad Pauli
INHALT
Johannes Brahms
Herbstsonne
Die falsche Richtung
Lebensgefahr
Im Tief
Wunschträume
Ein Romantiker in nüchterner Zeit
Gut versorgt
Eine kleine Nachtmusik
Geldregen
Johannes Brahms
Dort drüben, in der Sonnenecke eines Cafés der Bieler Altstadt, sitzt Johannes Brahms. Gedrungen die Gestalt, das dichte, weisse Haar zurückgekämmt, der weisse Vollbart kinnverlängernd zugespitzt. Ohne Müh, mit leicht zugekniffenem Auge, gelingt’s dem Betrachter aus einigem Abstand, dort den Komponisten sitzen zu sehen beim Glas Wein in der Spätnachmittagssonne. Wenig braucht’s, und ich ginge hin, ihn zu grüssen und ihm zu sagen, wie sehr ich seine Werke liebe. Hundert Jahre nach seinem Tod.
So unverbraucht seine Musik heute noch klingt, so leibhaftig sitzt er dort, womöglich nach geglückter Arbeit, zur Erholung, zum andern Genuss. Das Trugbild hält aller Nachprüfung stand. Kein Blinzeln, kein kurzes Wegschauen vermag es zu vertreiben. Und so gesellen sich in Gedanken noch Brahms’ Zeitgenossen dazu – Bruckner, Wagner – , sofern sie sich aus vertretbaren Gründen nicht gemieden haben.
Ich ziehe, um meinem Wunschbild nicht ganz zu erliegen, ein paar Runden um die Altstadthäuser und komme, wie verhext, wieder zurück: Er sitzt immer noch da. Neben ihm jetzt eine Frau – aber nicht Clara Schumann. Eine Gönnerin? Gewiss eine Verehrerin. Leicht lässt man sich von der Vorstellung verführen, die letzten Sonnenstrahlen strengten sich an, um die Berühmtheit in eine Aura zu hüllen, die andern Café-Gästen vielleicht auch gut angestanden hätte. Er aber ist Johannes Brahms.
Unwillkürlich fangen in mir Melodien zu summen an, Harmonien, die sich in willkommener Weise zu halben Sinfoniesätzen weiten. Von der Szene will ich, bevor naturgemäss die Ernüchterung kommt, nicht lassen – also trete ich wie beiläufig näher, zufrieden, dem Meister einige Atemzüge lang so nahe zu sein. Johannes Brahms hebt den Blick und schaut mich an; wir kennen uns (wiewohl wir uns manches Jahr nicht mehr gesehen haben) – es ist Heini Stucki, ein weit über die Region hinaus bekannter Fotograf. Dass er mir als Johannes Brahms begegnet ist, verrate ich ihm nicht, staune bloss darüber, wie das Ferne oft näher heranrückt als das Nahe. Überaus gerne nehme ich die Verwechslung mit auf meinen weiteren Weg durch den Tag.
Herbstsonne
In hilfloser Entschlossenheit ging Aldo Ferrari im Atelier umher, trat wiederholt vor die bereitstehende Leinwand, wich dann aber zum farbrestübersäten Tisch mit Tuben und Pinseln aus. Er müsste – welch seltsamer Anflug – hier mal wieder Ordnung schaffen und die Gläser und Büchsen auswaschen.
Ihm schien es, das Chaos wachse ihm über den Kopf, und die Farben und verkrusteten Hinterlassenschaften gerieten auf unerwünschte, ja bedrohliche Weise durcheinander. Er zwang sich zur Bereitschaft, wandte sich der Leinwand zu und scheute sich doch vor dem Anfang. Gleich mit dem ersten Pinselstrich würde er sich festlegen. Wofür? Fürs neue Bild, fürs Werk. Misslänge dieser Ansatz (nach welchen Kriterien?), fiele er weiter zurück als an den Anfang.
Jedes Anfangen barg das Verheissungsvolle in sich. Käme er erst einmal in Schwung, so wäre er nicht mehr aufzuhalten. Doch in letzter Zeit überwucherten Zweifel die Zuversicht ins Gelingen. Voll vermeintlicher Sicherheit wandte sich Aldo der Malfläche zu, um kurzum zu erlahmen. Rasch schlich sich Müdigkeit in Arme und Beine und ins Gemüt. Kopfschmerzen und ständiges leichtes Fieber waren seine treuesten Begleiter. Der nächste Arzttermin stand bereits in der Agenda.
Ihm war, kein Strich passe mehr zum andern – er schien etwas angefangen zu haben, das keine Fortsetzung erfuhr. Aldo Ferrari starrte die Malfläche an. Auf ihr musste doch, wie zuvor, etwas möglich sein und Gestalt annehmen. Doch ihn dünkte, er widerspreche sich selbst und zerstöre, was womöglich richtig gewesen wäre. Also wich er aus und suchte Ablenkung und schwachen Trost in einer Zigarette, die er hastig rauchte. Dabei schielte er auf die Leinwand, erntete von ihr aber bloss Gleichgültigkeit. Anders als in früherer Zeit half auch die Musik von Gustav Mahler und Jean Sibelius nicht weiter. Nach der dritten Zigarette griff er direkt nach der Weinflasche, verzichtete gar auf ein Glas. Dann setzte er seine Runden im Atelier fort, ein wenig schwankend schon, aber wie besessen von der Grimasse, vom Rätsel der leeren Leinwand.
Aldo hustete und griff sich an die heisse Stirn. Leichtes Fieber hatte er schon seit vielen Tagen. Er bildete sich ein, er habe sich daran gewöhnt. Die Hitze war wohl die Folge seiner Anstrengung, das nächste Bild zu schaffen. Der Ausstellungstermin war festgesetzt. Ein paar Werke mussten noch gelingen. Für sie hatte er, weil sie aus einer Art Zyklus herauswachsen sollten, ziemlich klare Vorstellungen. Aber der Pinsel schien ihm auf einmal zu schwer zu sein. Er lachte auf. Vielleicht gelänge die Arbeit mit einem kleineren Pinsel – dann wäre aber die Malfläche zu gross.
Mit einer weiteren Zigarette – oh Gott, wie rasch sie verglimmten – trat Aldo Ferrari vors grosse Atelierfenster mit Blick in einen Hinterhof. Ganz in Aldos Sinn war er überwuchert von allerhand Pflanzlichem. In diesem Wildwuchs rumorten das Sonnenlicht und der Wind. Nie genug konnte er davon bekommen. Indes war der Genuss erst da, wenn ihm die Arbeit gelungen war; wenn Anstrengung, Ausdauer und Müdigkeit ein Glück bedeuteten. Im Augenblick sah er, ohne hinzuschauen, hinter sich bloss die Leinwand. Ihm war, sie verhöhne ihn, lache ihn ob seines Zögerns, seiner Unfähigkeit aus.
Die Herbstsonne im Hinterhof schmerzte. Sie erinnerte ihn an Vieles und wollte nichts mehr versprechen. Dieses Wetterleuchten der Farben selbst in den kleinsten Blättern! Oft hatte er versucht, dieses Aufflammen mit dem Pinsel einzufangen, das Dahinterliegende zu beschwören. Ein paarmal mochte es ihm geglückt sein. Seinerzeit fand er viele Käufer, auch Anerkennung in der Presse. Von Misserfolg konnte nicht die Rede sein. Aber die Kritik anlässlich seiner letzten Ausstellung sass wie ein Stachel in ihm. Messerscharf suchte sie zu unterscheiden zwischen seinen anfänglich überraschenden, also vielversprechenden Arbeiten und den Werken der grossen Meister. Was er, Aldo Ferrari, zustande bringe, sei zwar bemerkenswert – ihm fehle aber doch das gewisse Etwas, jene Besonderheit und gestalterische Vision, die ihn über das Gängige, übers Mittelmass emporhebe. Ein talentierter Epigone.
Man brauchte ihm nicht vorhalten, dass er kein Genie sei. Das wusste er längst. Nicht vom Echo hatte er die Antwort erhalten. In den Bergen hatte einer gegen die Felswand geschrien: Bin ich ein Genie? – Naturgemäss antwortete das Echo: Nie …!
Das Genie war die Ausnahme. Aldo Ferrari gehörte zu jenen fünfundneunzig Prozent Talentierter, die den Unterbau, den Humus bilden für das Genie, das an der Spitze der Pyramide lebte und wirkte. Glückte Aldo Ferrari