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Taubenjahre: Eine amour fou zur Zeit des Nationalsozialismus. Eine Liebe, die nicht sein darf.
Taubenjahre: Eine amour fou zur Zeit des Nationalsozialismus. Eine Liebe, die nicht sein darf.
Taubenjahre: Eine amour fou zur Zeit des Nationalsozialismus. Eine Liebe, die nicht sein darf.
eBook550 Seiten7 Stunden

Taubenjahre: Eine amour fou zur Zeit des Nationalsozialismus. Eine Liebe, die nicht sein darf.

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Über dieses E-Book

Eine amour fou zur Zeit des Nationalsozialismus. Eine Liebe, die nicht sein darf.
Zum Lachen.
Zum Schreien.
Zum Weinen.
Anfang der dreißiger Jahre verliebt sich der junge Rom Rafael in die blutjunge Hanna und sticht damit in ein Hornissennest, das außer Kontrolle gerät. Denn in Zeiten des zunehmenden Rassenwahns und -hasses kann eine Beziehung zwischen einem Zigeuner und einer Arierin nicht toleriert werden. Hinzu kommt, dass der sich um seine Liebe zu seiner Schwester betrogen sehende Karl auf tödliche Rache sinnt. Eine Hatz ohnegleichen beginnt, sodass am Ende jeder den Preis für das, was er liebt, bezahlen muss.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum24. Okt. 2018
ISBN9783742718358
Taubenjahre: Eine amour fou zur Zeit des Nationalsozialismus. Eine Liebe, die nicht sein darf.

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    Buchvorschau

    Taubenjahre - Franziska C. Dahmen

    Januar 1944

    »Thai mukhleom len othé kai avileom

    Thai mothodeom tumaré raimaske.

    Bachta tel del o Del!«

    »Und dort habe ich sie zurückgelassen,  

    woher ich gekommen bin,  

    um euch dies zu erzählen. Gebe Gott Glück!« ¹

    (Aichele/Block; S.354)

    Die ersten Schneeflocken rieselten vom nachtschwarzen Himmel herab und streichelten beiläufig sein ausgemergeltes, pergamentenes Gesicht. Als eine sich im dichten Gespinst seiner langen schwarzen Wimpern verfing, musste er unwillkürlich an Hanna denken und ein leichtes Lächeln durchbrach die schmerzhafte Starre seiner taub gewordenen Lippen.

    »Es ist einfach unfair! Wie kann ein Mann nur solche Wimpern besitzen?! Und wenn du einen dann auch noch so anschaust, dann ..., dann …, ach, du weist schon, was ich meine ...«, hatte sie anfangs einmal zu ihm gesagt und ihn dabei derart verlegen angelächelt, dass er nicht anders konnte, als sie damit aufzuziehen.

    »Ich weiß überhaupt nicht, was du meinst …«

    »Oh, du ...! Wer’s glaubt, wird selig!«

    »Mhm, … lass mich überlegen, … meinst du etwa das hier?« Lachend hatte er sie in die Arme genommen und geküsst und um sich herum die Welt vergessen, wie er stets alles vergaß, wenn er mit ihr zusammen war.

    Rafael schloss die Augen und sog tief die eiskalte Luft in seine Bronchien hinein, während zugleich das Bild einer jungen, schlanken Frau vor seinem inneren Auge erschien, deren weizenblondes Haar in der Sonne golden glänzte. Schon meinte er förmlich ihren fein-würzigen Körpergeruch in der Nase zu verspüren, aber tief in seinem Innersten wusste er, dass er nur träumte. Er träumte einen schönen Traum. Einen Traum von Liebe, der in seinem realen Leben selten unter einem guten Stern gestanden hatte. Und trotzdem, oder sollte er sagen gerade deswegen, genoss er ihn!

    Zufrieden öffnete er für einen kurzen Moment die Augen und blinzelte, sodass die mittlerweile um ein Vielfaches angewachsene Schneeflocke langsam ins Wanken geriet und auf seine Wange herabrollte, wo sie unbemerkt liegenblieb.

    Rafael zitterte; ob letztlich vor Kälte, Angst oder Schmerz, er wusste es nicht! Einzig dass das Atmen ihm zunehmend immer schwerer fiel, stellte sich für ihn als eine unumstößliche Gewissheit dar. Die eiskalte Nachtluft drang kaum noch bis in die tiefsten Tiefen seiner Lungen vor. Wie auch?!, dachte er verbittert. Immerhin lastete das Gewicht Balos wie Blei auf seiner Brust und presste ihn gegen etwas unbestimmt Weiches, das sich schräg in seinen Rücken bohrte.

    Auf wem er wohl lag? Auf Stappo? Auf Nuri? Oder war es Baku, der sich da so rücksichtslos in seinen Rücken bohrte?

    Angestrengt versuchte er sich zu erinnern, aber ihm wollte beim besten Willen nicht mehr einfallen, wen sie zuerst erschossen hatten. Die Gesichter seiner Freunde und Bekannten waren so schattenhaft, so grau, so konturlos, so leer.

    »Links neben mir hat Baku gestanden.«, murmelte er kaum hörbar. »Neben ihm befand sich Kalios. Aber wer zum Teufel hat auf der rechten Seite gestanden? … Verdammt! Ich kann mich nicht erinnern! … Es könnte Stappo gewesen sein. Obwohl Nuri …? Nein, doch nicht. Der stand ganz woanders. Dann wohl eher Josef. Der Kerl war schon immer ein brutaler Draufgänger. Zuzutrauen wäre es ihm.«

    Auf jeden Fall musste es einer von den Dreien gewesen sein. Er war sich in dieser Hinsicht sicher. Nur wer genau? Wer bohrte sich da so rücksichtslos in seinen Rücken? – Wider eigenem Willen stahl sich ein Lächeln auf seine blau angelaufenen Lippen. Seine Welt war im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückt geworden: Eine zum Rücken mutierte Gerade, die sich dank eines einzigen Schusses ihrer Vertikalität beraubt sieht und in der Horizontalen unversehens von einer rücksichtslosen Schräge bedrängt wird. Aufstand der Geometrie! Krieg der Körperteile! Leib gegen Leib. Bein gegen Rücken. Rücken gegen Arm. Kopf gegen … nein, an die Köpfe konnte er sich nicht mehr erinnern! Die waren konturlos, hatten sich längst zu Schatten ihrer selbst aufgelöst und blieben deformierte Kreise, deren Name für immer in der Versenkung verschwunden war.

    Rafael schnaubte unwillig auf, um im gleichen Moment in einem Anflug von Galgenhumor kurz aufzulachen. Zumindest einem einzigen Kopf würde er konkret einen Namen geben können und damit aus seiner schattenhaften Existenz erlösen. – Ein jämmerlicher Erfolg, gewiss, aber immerhin ein Erfolg! Und das war es, worauf es ankam! Zumindest hier und jetzt.

    Der bläulich-schwarz schimmernde Schädel, der sich mit seiner pausbäckigen Rundheit so unangenehm in seine Brust bohrte, war Balos’. Obwohl als pausbäckig konnte man sein Gesicht nicht mehr bezeichnen! Das war es einmal vor langer, langer Zeit gewesen. Genauer gesagt, bevor sich die Tore von Auschwitz hinter ihm geschlossen hatten. Jetzt war es nur rund und hohlwangig. Die Pausbäckigkeit hatten sie ihm ausgeschwitzt. Geradeso wie bei ihm. Doch das war nicht wichtig. Auf die Pausbäckigkeit konnte er verzichten. Auf die Wärme, die sein toter Körper ausstrahlte, nicht. Doch wie lange würde Balo ihn noch wärmen können? Wie lange mochte es dauern, bis der Körper eines Menschen gänzlich ausgekühlt war? Vielleicht eine Stunde oder bestenfalls zwei; vielleicht aber auch nur noch wenige Minuten? – Er wusste es nicht, wie so vieles in letzter Zeit.

    Ein heiseres Krächzen, das eigentlich ein Lachen sein sollte, entrang sich seiner Brust. Dann kehrte wieder Stille ein. Nichts durchbrach sie: Weder das Säuseln des Windes, das sich weigerte das restliche Laub aufzuwirbeln, noch ein Knacken der Äste in einer der Tannen, die die Lichtung umsäumten, auf der sich das Massengrab befand.

    Hier ist es wirklich totenstill, schoss es ihm durch den Kopf. Und das im wahrsten Sinne des Wortes!

    Mit leicht angewinkeltem Kopf versuchte er der Stille zu lauschen. Aber schon nach ein paar Sekunden sank sein Kopf kraftlos auf einen der unter ihm liegenden Körper zurück.

    Das Stille so dröhnen konnte, wunderte er sich. Sie war lauter als alles, was er kannte. Ob sie in der Lage war, einer Tretmine gleich Trommelfelle oder gar Köpfe zu zerplatzen? – Nein! Das war Wahnsinn! Seine Gedanken waren Wahnsinn. Das hier war Wahnsinn! – Galt in diesem verdammten Loch denn überhaupt nichts mehr? – Wenn er wenigstens seine Arme losbekäme, um sich die Ohren zuzuhalten … Diese verdammte Stille hielt doch keiner aus!

    Als unvermutet ein: »Los Fritz, steig endlich ein, mir frieren gleich die Eier ab!«, bis zu ihm hinabdrang, hätte er vor Freude weinen können. Gierig sog er jeden weiteren Wortfetzen auf.

    »… Rest erledigen wir morgen!«

    »Ja, gleich! Will nur noch sehen, ob eins von den Schweinen überlebt hat.«

    »Kannst du vergessen! Den Rest erledigt heute Nacht eh der Scheiß Frost. Und jetzt schwinge endlich deinen gottverdammten Arsch hier rein, mir ist kalt!«

    Die Schreier waren also noch da! – Hätte ihm jemals jemand prophezeit, dass er sich eines Tages über ihre Stimmen freuen würde, er hätte ihn für verrückt erklärt. Über die Anwesenheit eines Schreiers freute man sich nicht. Jeder halbwegs vernünftige Mensch betete darum, ihnen aus dem Weg gehen zu können. Zumindest hatte auch er das die letzten Jahre über getan. Nur jetzt nicht! Jetzt kamen ihm ihre Stimmen wie Glockengeläut vor. Die Erkenntnis ließ ihn ein missglücktes Krächzen aus seiner Brust hervorbringen.

    Immerhin blieben die Schreier sich bis zuletzt treu. Selbst in dieser Totenstille taten sie das, was sie am Besten konnten: Schreien und Brüllen.

    Nachdenklich biss er sich auf die Unterlippe. Vielleicht war das eine Berufskrankheit? Geradeso wie man es von den Köchen her kannte? Die aßen permanent und konnten letztlich nicht mehr damit aufhören, weil sie es gewohnt waren. Genau das musste der Grund sein, warum die Schreier nicht mit ihrem Gebrüll aufhören konnten! Wer den ganzen Tag über schreit, kann irgendwann nicht mehr anders, als nur noch zu schreien. Er hat vergessen, dass es moderate, geschweige denn leise Töne gibt. Sie fallen nicht in sein Lautstärkerepertoire.

    Würde ihn jemand bitten, einen von ihnen näher zu beschreiben, so hätte er sofort eine zweibeinige, amorphe Gestalt vor Augen, die von einem großen, aufgerissenen, schwarzen Mund beherrscht wird. Aus ihm werden ohne Unterbrechung tödliche Laute katapultiert, die da, wo sie auftreffen, nur Schutt und Asche hinterlassen.

    Schreier eben! Schreier in Uniform, die ihn die letzten Jahre über tagtäglich gequält und fast an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten. Aber letztlich – so musste Rafael sich zu seinem eigenen Erstaunen eingestehen – waren sie ihm vollkommen egal!

    Noch während Rafael sein Gesicht dem Himmel entgegenstreckte, wurde seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Zuerst hörte er ein leises Fiepen, dann ein Rascheln. Gierig schaute er sich um und entdeckte eine kleine, braunen Maus, die behände über zwei Leichen kletterte und geradewegs auf den Grubenabhang zusteuerte.

    Ich, dachte Rafael sehnsüchtig, würde an deiner Stelle auch die Beine in die Hand nehmen und zuschauen, dass ich so schnell wie möglich von hier fortkomme.

    Gerade als die Maus den Grubenabhang hinaufkletterte, nahm Rafael aus den Augenwinkeln eine weitere Bewegung wahr. Es war ein Waldkauz, der im Sturzflug zielgerichtet auf die kleine Maus zusegelte. Schon wollte Rafael das Mäuschen warnen und ihm zurufen: »Mach, dass du wegkommst, der Tod hat seine Schwingen nach dir ausgebreitet!«, als der Waldkauz sich, aufgeschreckt durch das laute Aufheulen schwerer Motoren, von seinem Opfer abwandte und geradewegs auf eine Tanne zusteuerte, von wo aus er gewillt war, das weitere Geschehen aus hungrig blickenden Augen zu betrachten.

    Erschöpft ließ Rafael seinen Kopf auf den Boden sinken.

    Der stechende Geruch von Diesel breitete sich aus und legte sich schwer über den allgegenwärtigen, metallischen Geruch des Todes.

    Noch während er nach frischer Luft röchelte, hörte er, wie ein Fahrzeug nach dem andern polternd die Lichtung verließ und ihn allein in der Stille des Waldes zurückließ.

    Er war allein! Jetzt war er wirklich mutterseelenallein.

    Angst schnürte ihm die Kehle zu.

    Nein, schoss es ihm durch den Kopf, ich bin nicht allein! Irgendwo da draußen sitzt der Kauz und hält Ausschau nach seinem Opfer. Immerhin wären wir damit sogar schon zu dritt: Ein krepierender Rom, ein im wahrsten Sinne des Wortes mordshungriger Kauz sowie eine ahnungslose Waldmaus, die nicht weiß, was ihr blüht. Wahrlich eine feine Gesellschaft, in der ich mich hier befinde!

    Lachend hustete er etwas Blut heraus und versuchte einen Blick über den Rand der Grube zu werfen. Mit etwas Glück würde er die kleine Maus sehen können. Von Mördern, egal, ob potentiellen oder nicht, hatte er im Moment mehr als genug. Er solidarisierte sich lieber mit dem Opfer. Vielleicht würde er sie warnen können und mit etwas Glück in die Annalen ihrer Geschichte eingehen: Ich, Mäuserich Fibo, wurde im tiefsten Winter seit Mäusegedenken nächtens von Rafael Zlobek gerettet. Er ist ein homo sapiens, der offiziell der rassisch als minder zu bewertenden Unterart der Zigeuner zuzurechnen ist, würde dort schwarz auf weiß zu lesen sein.

    Rafaels Kopf sank ermattet auf den unter ihm liegenden Leichnam.

    Er schaffte es nicht. Er lag zu weit unten. Es mochten vielleicht gerade einmal zehn Zentimeter sein, die ihm fehlten. Zehn läppische Zentimeter, um nicht zu sagen eine Handbreit fehlten ihm, um sich mit einer Maus auf Augenhöhe zu befinden. Zehn läppische Zentimeter, die ihm schwarz auf weiß hätten bestätigen können, das er ein Mensch war.

    Verbittert schloss Rafael die Augen, während er zugleich versuchte, seine rechte Hand zu bewegen. Aber es gelang ihm nicht. Kalios, der direkt neben ihm lag, hielt sie eisern umklammert. Doch während in seiner noch das warme Leben pulsierte, war Kalios Hand eiskalt und starr.

    Ein Schauder durchfuhr Rafaels Körper.

    Wie lange es wohl dauern mochte, bis auch sein Körper zu Eis erstarrt sein würde?, fragte er sich.

    Egal! – Innerlich war er schon längst zu einem Eiszapfen mutiert. Und dabei war in seinem Leben einmal alles so hell, so warm, so voller Liebe, so voller Hanna gewesen. – Hanna! Seine wunderschöne, heißgeliebte Hanna. Sein Augenstern, seine Liebe.

    Etwas weiter abseits stand ein Mann in SS-Uniform an einen Baum gelehnt und schaute voller Hass und Abscheu auf Rafael. Er wollte ihn Leiden sehen, so, wie er all die Jahre über gelitten hatte. Doch statt Schmerz und Leid entdeckte er ein Lächeln auf den Lippen des Sterbenden. Verbittert zog der Fremde an seiner Zigarette, während ihn seine Gedanken auf verborgenen Pfaden zu eben jener Hanna führten, der Rafaels letzte Atemzüge galten.

    Mai 1930

    Von den nahegelegenen Streuobstwiesen wehte ihm der süße Duft sich öffnender Apfelblüten entgegen. Tief sog er ihn ein und schloss dabei für ein paar Sekunden die Augen, während die ersten Sonnenstrahlen des Tages sein Gesicht wärmten. Das Brummen einer Hummel, die dicht an ihm vorbeiflog, gesellte sich zum rhythmischen Geklapper der Pferdehufe. Zusammen mit dem wohlvertrauten Rollen der Räder seines Wohnwagens bildeten sie eine höchst eigenwillige Melodie, die immer dann, wenn er auf dem holprigen Feldweg in ein Schlagloch eintauchte, einen Kontrapunkt erhielt. Rafael hätte vor Freude laut jauchzen können. Er war glücklich. Er liebte es, unterwegs zu sein. Die Räder seines Wagens waren seine Flügel der Fortbewegung. Schon drei Mal hatte er ein Flugzeug gesehen: Das erste Mal, da war er gerade in Frankreich unterwegs gewesen, einen Doppeldecker. Dann im letzten Jahr, genauer gesagt am 20. Oktober 1929, hatte er durch Zufall dem Jungfernflug des ersten Flugbootes der Dornierwerke beigewohnt. Dass er ein paar Wochen später den neuen Star der Zeppelinflotte zu sehen bekommen sollte, grenzte förmlich an ein Wunder. In seinen kühnsten Träumen hätte er das nicht erwartet. Aber direkt über seinen Kopf hinweg war die riesengroße, brummende Zigarrenhummel geflogen. Noch am gleichen Tag hatte er sich in Friedrichshafen eine Zehnerpostkarte mit echt Fotografien gekauft, die er seitdem wie einen Schatz hütete.

    »Baunummer: LZ 127 (das 117. Zeppelin-Luftschiff). Eigentümer: Luftschiffbau Zeppelin GmbH, Friedrichshafen a. B. Hauptabmessungen: Nenn-Gasinhalt des Tragkörpers 105 000 cbm. Länge 236,6 m. Größter Durchmesser 30,5 m. Größte Höhe 33,7 m. Stromlinienkörper (Querschnitt: regelmäßiges 28-Eck)«, rezitierte er leise den umseitigen Text, ehe er lautstark singend mit seiner Lieblingsstelle fortfuhr: »530pferdige direkt gesteuerte Maybach-Motoren für Betrieb mit gasförmigen oder flüssigem Brennstoff.«

    Seitdem stellte er sich jedes Mal 530 geflügelte Schimmel vor, die ihn in rasendem Galopp durch die Luft zogen. Was für ein Spaß! Natürlich war diese Vorstellung vollkommen abstrus, und er würde sich hüten, sie jemanden zu erzählen, aber hin und wieder der eigenen Phantasie freien Lauf zu lassen, schadete schließlich niemanden. Allein die Vorstellung, dass sein eigener Rappe hier auf Erden von 530 imaginären weißen Bundesgenossen begleitet wurde, beflügelte ihn und ließ ihn in Gedanken zu ungeahnten Höhenflügen aufsteigen. Höher und höher ging es, bis zu den Sternen, ja, bis zur Sonne hinauf.

    Ganz kurz meinte er Popo zu hören, der ihm hinterherrief: »Denk an das Märchen vom fliegenden Prinzen, Rafael. Er flog zu hoch hinaus. Seine Flügel fingen Feuer, sodass er abstürzte!«

    Aber im Gegensatz zu ihm, beruhigte Rafael sich, hatte dieser auch keine 531 galoppierenden Helfer gehabt, die mit einem als Zigarre getarnten Schiff durch die Luft segelten. Was zum Teufel sollte einem da schon passieren?

    Rafael lachte aus vollem Herzen, bis ihn urplötzlich ein recht irdischer Stolperstein unsanft auf den harten Boden der Tatsachen zurück katapultierte.

    Doch ein Absturz!, dachte er erstaunt. Was musste er auch an diesen griesgrämigen alten Kerl denken, der an allem und jedem etwas auszusetzen hatte und mit den schicksalsträchtigen Mule² auf Du und Du stand? Natürlich mussten die ihm prompt einen Stolperstein in den Weg legen, über den er fuhr! Hatten die denn nichts Besseres zu tun? Immer mussten sie ihn ärgern!

    »Dio!«, schimpfte er. »Setz mich in der Wüste aus. Fülle sie bis zum Rand mit feinstem Sand. Verstecke darin einen einzigen Stein, dessen Spitze herausschaut. Anschließend lass hundert Männer sie durchqueren. Garantiert werde ich der Einzige sein, der darüber stolpert.«

    Verärgert sprang er vom Wagen und lief einmal um ihn herum, um sämtliche Räder zu kontrollieren. Verflixt und zugenäht! Er konnte froh sein, dass ihm dabei kein Rad oder gar die Deichsel zu Bruch gegangen war. Wütend über sich selber schüttelte er den Kopf und dachte mit leisem Bedauern daran, wie das Zigarrenschiff mitsamt seinen 530 Schimmeln die Wolkendecke durchbrach, während er sich hier auf Erden mit den Tücken des Alltags herumschlagen musste. Und was für Tücken! Rafaels Gesicht verdüsterte sich zusehends erneut, während er wieder auf den Bock kletterte. Vor knapp zwei Tagen war er Popo zum letzten Mal begegnet. Die ganze Familie hatte gerade am nahe gelegenen Fluss ihr Lager aufgeschlagen, als ein kleiner Trupp Landjäger sie dort aufspürte.

    Ein Terrier in Uniform

    Müde von der langen Reise und über und über mit Staub bedeckt, waren sie gerade im Begriff, ihr Nachtlager am Waldrand aufzuschlagen, als sie unvermittelt von einem rothaarigen Landjäger angebellt wurden: »He, ihr da … macht, dass ihr weiterkommt! Ihr dürft hier nicht kampieren!«

    Rafaels Vater warf dem kleinwüchsigen Landjäger einen kurzen taxierenden Blick zu, widmete sich dann aber wieder in aller Ruhe seiner braunen Stute. Erst nachdem er zu guter Letzt das Zaumzeug an einem extra dafür am Wagen angebrachten Nagel aufgehangen hatte, schenkte er dem anfangs fassungslos, mittlerweile jedoch wütend dreinblickenden Landjäger seine Aufmerksamkeit.

    »Guter Mann«, erklärte Rafaels Vater ihm derweil bedächtig, »wir haben kleine Kinder. Die sind müde. Der nächste Ort ist weit weg. Das dort befindliche Amt hat zu. Der Mann, der da arbeitet, ist nach Hause gegangen. Er ist bei seiner Familie. Seine Kinder liegen in ihren weichen Betten. Er aber hat sich in seinen Sessel gesetzt. Er raucht eine Zigarette. Er ist sehr Müde von all der Arbeit, die er heute hat machen müssen. Er will vergessen.«

    »Ich werde mich auch gleich vergessen, wenn ihr nicht bald von hier abhaut!«, fiel ihm der Rothaarige brüllend ins Wort, und schleuderte im gleichen Atemzug sein Fahrrad in einen nahen Brombeerbusch, um sich, hochrot im Gesicht geworden, in einer drohenden Pose vor seinem Gegenüber aufbauen zu können.

    Aber Rafaels Vater ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Gleichbleibend freundlich fuhr er fort: »Morgen Herr Landjäger …, morgen gehe ich aufs Amt. Jetzt hingegen werde ich dem für heute müde gewordenen Herrn Amtsvorsteher seine wohlverdiente Ruhe lassen. Morgen ist er frisch und munter, und dann werde ich ihn – so wahr ich Anton Zlobek heiße – um eine Aufenthaltsgenehmigung bitten, die er mir gütigst überreichen wird.«

    »Du hast mich wohl nicht verstanden, du Dreckszigeuner!? Ihr sollt verschwinden! Lumpenpack wie euch, wollen wir hier nicht haben!«

    Popo, der bis dahin das Ganze aus nächster Nähe beobachtet und zunehmend mit Sorge registriert hatte, wie sehr der rothaarige Landjäger sich in seine Wut hineinsteigerte, entschloss sich in das Geschehen einzugreifen und beförderte nach wenigen Sekunden ein weißes Papier aus seiner Brusttasche, das er der aufgebracht tänzelnden Terriernatur wortlos entgegenhielt.

    »Was ist das?«, bellte diese ihn an.

    »Genehmigung von unserem letzten Aufenthaltsort.«, antwortete Popo ihm in seiner tiefsten Erzählerstimme, die normalerweise jeden in der Lage war, zu besänftigen, nur in diesem Fall augenscheinlich kläglich versagte. Denn statt, dass die Terriernatur sich beruhigte, steigerte sie sich nur um so mehr in ihre Wut hinein und schlug Popo die Bescheinigung aus der Hand.

    »Interessiert mich nicht!«, tobte sie indessen, schäumend vor Wut. »Von mir aus könnt ihr direkt wieder umkehren und dahin zurückfahren, oder noch besser: Schert euch dahin, wo der Pfeffer wächst!«

    Rafaels Vater nickte verständnisvoll, was den Rotschopf, der insgeheim mit allem nur nicht mit Zustimmung gerechnet hatte, allmählich ins Stocken geraten ließ. Die Anzahl seiner hektischen Schritte, die sich auf ein Areal von wenigen Zentimetern beschränkte, verringerte sich zusehends. Schon meinte Rafael aufatmen zu können – wie es schien, war es seinem Vater gelungen, den Zündmechanismus dieser menschlichen Granate zu entschärfen –, als ausgerechnet Popo das hauchfein austarierte Gleichgewicht der Streitkräfte wieder ins Wanken brachte.

    Besorgt, dass die auf dem Boden liegende Friedensfahne in Form von einer abgelaufenen Aufenthaltsgenehmigung davon geweht werden könnte, bückte Popo sich nach ihr und brachte damit die menschliche Granate zur Explosion.

    »Ich habe dir«, brüllte der jähzornige Landjäger zwischen einzelnen Schlägen in Popos Ohr, »… nicht erlaubt, … dass du … den Wisch … aufheben darfst …«.

    Viel weiter kam er nicht. Denn schon im nächsten Augenblick versuchte Rafael sich mit einem Hechtsprung auf ihn zu stürzen, landete aber dank einer unvorhergesehenen Drehung der beiden Männer auf Popo und begrub ihn stöhnend unter sich.

    Dem Rotschopf war es gleich. Er war nicht wählerisch. Statt auf Popo drosch er jetzt blindlings vor Wut auf Rafael ein.

    Schlag auf Schlag folgte bis einer der beiden Landjäger, die bis dahin eine Statistenrolle übernommen hatten, aus eben dieser erwachte und sich seiner erbarmte.

    »Geh Franz … hör auf! Lass das arme Schwein in Ruh!«

    Noch während er versuchte, den Arm des Tobenden festzuhalten, meinte er an Zlobek gewandt: »Und ihr schaut zu, dass ihr schleunigst von hier wegkommt, und zwar auf der Stelle, sonst kann ich für nichts mehr garantieren!«

    Zlobek nickte nur und half dem immer noch benommenen 74jährigen Popo auf die Beine.

    Gerade als Rafael sich selber mühsam aufzurichten versuchte, brüllte die eine Oktave im Ton höher gewordene Terriernatur lauthals: »Der da kommt mit!«, und wies dabei mit seinem Zeigefinger auf Rafael. »Der ist gemeingefährlich!«

    »Franz, komm schon …!«, versuchte dieses Mal der andere Landjäger ihn zu beruhigen.

    »Hast du gesehen, was der Schweinehund gemacht hat? Tätlich angegriffen hat er mich!«, dabei ruhte sein Blick hasserfüllt auf Rafael.

    »Lass es gut sein Franz!«

    »Der kommt mit, habe ich gesagt!«

    Und so wurde Rafael an diesem Abend, begleitet von drei Landjägern, mit auf das nächste Polizeirevier geführt, wo man ihn fürs Erste in eine Zelle einsperrte, um ihn am nächsten Morgen verhören zu können.

    Der Wagen ruckelte und riss Rafael für einen kurzen Moment aus seinen düsteren Erinnerungen heraus, ehe er wieder in sie abtauchte.

    In ein kahles Zimmer hatten sie ihn geführt, wo alles seinen generalstabsmäßigen Verlauf nahm.

    Ein hageres Wieselgesicht von Gendarm beschäftigte sich zunächst mit den Eckdaten seines statistischen Daseins und trug sie gewissenhaft in ein Formular ein, das von einem Reichsadler gekrönt wurde. Anschließend folgte das obligatorische Abnehmen der Fingerabdrücke in zweifacher Ausführung. Schöne, kleine, fein gezeichnete Fingerlabyrinthe auf weißem Papier, die jedes für sich genommen, von einem ebenso feinen, kleinen, schwarzen Kästchen umrahmt wurden.

    Kaum hatte er auf dem Papier sein letztes Fingerlabyrinth hinterlassen, empfing es auch schon seine nächst höhere Weihe: Zunächst wurde ihm ein offizielles Aktenzeichen verliehen, welches auf einer wohlkalkulierten Mischung aus arabischen und römischen Zahlen basierte. Kaum vollbracht, folgte die amtliche Bestätigung einer amtlichen Bestätigung in Form von zwei zusätzlichen Stempeln. Fasziniert schaute Rafael zu, wie sich der rund gerahmte Reichsadler einerseits sowie der in Lettern gebannte Name des horizontal unterstrichenen zuständigen Polizeireviers andererseits zu seinen separiert kasernierten Fingerlabyrinthen gesellte. Aber erst mit der Unterschrift des Beamten wurde das Papier zu einem staatlich sanktionierten, papiernen Beleg seiner physischen Existenz. Akkurat in einer Akte abgeheftet, verschwand es in den tiefen Tiefen der bürokratischen Verwaltung, wo es seiner weiteren ominösen Bestimmung harrte.

    Rafael runzelte die Stirn. Auch in seinem Wagen befand sich ein solches Papier. Zumindest ein recht ähnliches. Zusammen mit seinem Ausweis hatte sein Vater es einen Tag später dem Wieselgesicht überreicht, sodass er das Revier hatte verlassen können. Auf jeden Fall nannte sich dieses Dokument Bescheinigung. Geschmückt wurde es – wie sollte es anders sein – von seinen Fingerlabyrinthen, die mittlerweile inflationär auftauchten. Zusammen mit einem Lichtbild sowie einer exakten Beschreibung besonderer Kennzeichen – er besaß einzig und allein am rechten Fuß einen kleinen Zeh, der sich dank eines Pferdetritts zu weit nach außen wölbte, was wiederum seinerzeit einen Amtsarzt dazu bewogen hatte, selbige Krümmung in den Status einer dokumentarischer Relevanz zu erheben – sollte so in Kombination mit seinem Personalausweis von jedem Außenstehenden jederzeit seine physische Existenz objektiv überprüft werden können.

    Rafael biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Ein abstehender kleiner Zeh, der sich bei einer verbrieften Länge von 4,3 Zentimeter um 7,2 Grad zu weit nach außen wölbte sowie 10 Fingerlabyrinthe wurden als Garanten seiner Existenz angesehen – einfach lächerlich!

    Rafael schüttelte den Kopf. Den Zeh durfte er unreproduziert weiter mit sich herumtragen. Die 10 Fingerlabyrinthe wurden hingegen – sofern er richtig informiert war – in Zweitanfertigung an eine in München sitzende arme Kreatur geschickt, die förmlich unter einem Berg an Fingerabdrücken ertrinken musste. Armes Schwein!, dachte er. Aber vielleicht schwamm der arme Kerl sich frei, indem er Abdruck für Abdruck aus seiner schwarz umrandeten Rahmung herausschnitt und auf eine Tapete klebte. In München hatte er einmal in einem Geschäft so eine Tapete gesehen. Gut, die goldfarbenen Kringel auf blass-blauem Grund hatten etwas anders ausgesehen, aber eine gewisse Ähnlichkeit mit seinen Fingerlabyrinthen war durchaus vorhanden gewesen. Vielleicht hatte der Mann sich davon inspirieren lassen und verkaufte sie jetzt an irgendwelche höheren Beamten, die ihre Amtsstuben damit schmückten? Andererseits hatte er noch nie eine tapezierte Amtsstube zu Gesicht bekommen. Sie waren immer in diesem abscheulichen Amtsstubenkalkweiß gestrichen und dünsteten eine derart nüchterne Kälte aus, dass ihm allein bei dem Gedanken daran schauderte.

    Vielleicht durften Amtstuben gar nicht tapeziert werden? Die Gefahr, dass sich die Gedanken ihrer Bewohner in den schmalen Gängen winziger Fingerlabyrinthe verirrten, war mit Sicherheit viel zu groß! Nicht umsonst war jeder einzelne Abdruck in einem eigens für ihn vorgesehenem Kästchen kaserniert worden. Doch was zum Kuckuck stellten sie mit den ganzen Bögen an, die tagtäglich München erreichten?

    Ein heftiger Ruck brachte die Töpfe im Innern seines Wagens zum Scheppern und katapultierte ihn aus dem fernen München ins Hier und Jetzt zurück. Die gedankliche Schieflage erreichte durch Kosaks scheppernden Fehltritt wieder eine Waagerechte und ließ Rafael einen Blick auf seine Umgebung werfen.

    Ohne es zu bemerken, hatte er fast schon sein Ziel erreicht. Denn unmittelbar vor ihm breitete sich das Panorama einer im Tal gelegenen Kleinstadt aus, deren rote Satteldächer das karge Grün der in Reih und Glied stehenden Baumkronen auflockerten. Da, wo die Baumkronen am akkuratesten standen, musste es sich um die Hauptstraße handeln. Sie wurde ihrerseits in der Mitte vom Rathausplatz unterbrochen, dem Rafael ein eigenes, großflächig angeordnetes Karree aus Baumkronen zuordnen konnte. Verlies man diesen Platz und folgte dem weiteren Verlauf der Straße, so wurde man auf den architektonischen Höhepunkt des Ortes geführt: Der auf einer leichten Anhöhe stehenden Kirche, die mit ihrem Glockenturm alle anderen senkrechten Bestrebungen überragte.

    Halb geblendet von den sich in den Dachfenstern spiegelnden Sonnenstrahlen, betrachtete er sie: Schwarz und selbstbewusst stieß sie ihr spitzes Dach in den blauen Himmel. Zusammen mit dem Markt bildete sie das Zentrum kleinstädtischen Lebens. Wie sollte es auch anders sein? Alles hatte eben seine Ordnung!

    Ein verschmitztes Lächeln stahl sich in Rafaels Gesicht.

    Und was für eine Ordnung!, dachte er breit grinsend. Denn genau gegenüber der Kirche würde man auch hier ein Haus finden, in dem sich das Bordell befand, das obligatorisch zu einer Kleinstadt gehörte, wie Hammer und Amboss in eine Schmiede. So war es immer: Himmel und Hölle lagen nun einmal dicht nebeneinander. Dem einem stand der Himmel näher, dem anderen die Hölle, beziehungsweise der Genuss irdischer Güter. Daran konnten auch nichts die Kirchenglocken ändern, die laut und vernehmlich anfingen zu läuten.

    Wer jetzt noch schlafen will, hat schlechte Karten, dachte Rafael. – Wie heißt es so schön? Carpe diem, nutze den Tag! Die Frauen würden beim ersten Glockenschlag in die Kirche hasten, während die Männer ganz andere Pfade gewillt waren einzuschlagen. Gemütlich würden sie das nächstbeste Wirtshaus ansteuern, um hier ihren sonntäglichen Frühschoppen zu genießen, ehe es sie Punkt 12 Uhr zu Schweinebraten und Kartoffeln wieder heimwärts führte. Alles hatte eben seine Ordnung. Nur heute nicht! Denn heute war Markttag.

    Markttag

    Jedes Jahr wurde in der Stadt am ersten Maiwochenende ein großer Jahr- und Viehmarkt abgehalten, und wie jedes Jahr waren auch er und seine Familie dabei. Mit etwas Glück würde er seinen Vater auf dem außerhalb der Stadtmauern angelegten Viehmarkt treffen. Ganz im Gegensatz zu seinen Schwestern: Die zogen den im Stadtkern abgehaltenen Jahrmarkt vor, um dort den gutgläubigen Backfischen aus der Hand zu lesen.

    Ein breites Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Die Wahrsagerei der Frauen war ein einträgliches Geschäft, das übers Jahr gerechnet, oft mehr einbrachte als der gesamte Pferdehandel. Seine kleine Schwester Lara konnte ein Lied davon zu singen. Sie wusste ganz genau, wie man den Gadje³ das Geld aus der Tasche zog. Das richtige Minenspiel zur richtigen Zeit gepaart mit einigen gezielt eingesetzten Ahs und Ohs und schon füllten sich bei ihr die Taschen mit Geld. Mit Leichtigkeit würde sie eines schönen Tages eine ganze Familie ernähren können. Der Mann, der sie bekam, konnte stolz auf sie sein. Er würde sich wie fast alle Männer seiner Familie deshalb fast ausschließlich dem Pferdehandel widmen können.

    »Was ich jetzt langsam aber sicher auch endlich tun sollte!«, ermahnte Rafael sich selber. »Wenn ich weiter so trödele, komme ich nie an!«

    Rafael schnalzte laut mit der Zunge und lenkte seinen Rappen in Richtung Viehmarkt.

    Je näher er kam, desto lauter wurden die Geräusche. Gänse schnatterten, Schafe blökten und Schweine grunzten. Und wie es aussah, waren auch schon die ersten Tiere verkauft worden. Von weitem hörte Rafael die neuen Besitzer Rufen und Schreien, während ihr neu erworbenes Vieh lauthals gegen seinen Abtransport protestierte. Ein Pferd wehrte sich derart vehement mit Püffen und Bissen gegen die unsanfte Untersuchung seines Gebisses, sodass sein potentieller Käufer laut fluchend von einer weiteren Betrachtung absah und trotz etlicher Beschwichtigungsversuche seitens des Händlers lieber das Weite suchte. Zum Ausgleich dazu wurden sich ein paar Meter weiter Verkäufer und Käufer über den Preis zweier Mastferkel einig. Beide spuckten gezielt in die eigene Hand und besiegelten den Handel lauthals mit einem Handschlag.

    Ja, es war Viehmarkt, und Rafael genoss es.

    »Rafael!«, hörte er plötzlich eine helle Knabenstimme rufen. Es war sein kleiner Bruder Kore, der sich durch die lauthals schimpfende Menge wand und aufgeregt auf ihn zugerannt kam. »Wir sind hier. Papa hat schon vor ner Stunde deinen Schimmel verkauft.«

    Rafael winkte ihm lächelnd zu und lenkte seinen Wagen auf einen etwas abseits stehenden Platz, wo sich zwei weitere Wagen befanden.

    »Warum hat das so lange gedauert?«, fragte Kore, der mittlerweile zu ihm auf den Bock geklettert war, um sich die letzten paar Meter bis zum Stellplatz fahren zu lassen. »Wir haben dich schon gestern Abend erwartet. Dahinten im Bach gibt es Forellen. Ich habe zwei gefangen. Die eine war soooo groß.« Kore breitete die Arme weit auseinander und strahlte ihn mit seinen nussbraunen Augen an.

    »Muss ja 'nen mächtiger Kampf gewesen sein!«

    »Wenn du mir nicht glauben willst, kannst du ja Popo fragen!«, gab er frech zurück und sprang im nächsten Augenblick vom Bock herunter. »Bis später Raf!«, dabei hob er lässig die Hand zum Gruß. »Hab 'nen Friesen entdeckt, den ich mir genauer anschauen muss.« Und schon war er im dichten Gedränge der Menge verschwunden. 

    Nachdem Rafael Kosak ausgespannt und mit Futter versorgt hatte, steuerte er den Markt an. Mit etwas Glück würde er heute ein paar Pferde finden, die er im Herbst wieder mit Gewinn verkaufen konnte.

    Interessiert warf er einer kleinen, braunen Stute einen Blick zu. Unscheinbar stand sie neben einem schwarzen Hengst, der bei einigen Gadje Aufsehen erregte.

    Dass bisher niemand bemerkt hat, dass der Händler seine Blässe mit schwarzer Schuhwichse eingefärbt hat, grenzt an ein Wunder!, staunte Rafael. Dabei war das nun wirklich nicht zu übersehen! Und die stumpfe Stelle dort auf der Kuppe verriet eindeutig, dass das Tier zuvor mit Bier abgerieben worden sein musste. Wie sonst hätte es in der Sonne so glänzen können? Also wirklich, wie dumm die Gadje doch waren?! Kopfschüttelnd wandte er sich ab und machte sich auf den Weg in Richtung Innenstadt.

    Im Gegensatz zum lautstarken Treiben auf dem Viehmarkt herrschte auf dem Jahrmarkt kaum Betrieb. Die Händler warteten darauf, dass die ersten Kirchgänger endlich die Messe verließen, nutzten aber gleichzeitig die ihnen verbliebene Zeit, um ihre Waren noch ein letztes Mal umzustellen. So drapierte der eine ein Stück Stoff neu, während ein anderer in aller Ruhe die letzten frisch gebrannten Mandeln in eine rot-weiß-gestreifte Tüte füllte.

    Amüsiert beobachtete Rafael das gemächliche Treiben und schlenderte von einem Stand zum nächsten. Alles, was das menschliche Herz begehren konnte, war vorhanden: Stoffe, Seifen, Keramik, die ganze Palette der Handwerkskunst. Und auch für das leibliche Wohl war gesorgt. Der Duft von frisch gebackenem Brot vereinte sich mit dem von geräuchertem Speck und über offenen Feuerstellen brutzelndem Fleisch. Überall, wo man nur hinschaute, bogen sich die Stände unter der Last der Backwaren, Süßigkeiten und Fleischwaren. Einmach- und Marmeladengläser, in denen die Obstfülle des vorangegangenen Jahres eingefangen war, stapelten sich zu gefährlichen Höhen, während die dunkelrot und golden schimmernden Likörflaschen von den Sonnenstrahlen zum Funkeln gebracht wurden.

    Gerade als er an einem Würstchenstand vorbeiging, fing sein Magen an, laut und vernehmlich zu knurren.

    »Ei, a hübsch Zigeuner …Auf Freiersfüßen, was? Wenn's Geld hast, kannst eins haben. Is a gute Stärkung …«, rief ihm eine helle Frauenstimme zu, nicht ohne ihm ein zweideutiges Lächeln hinterherzuschicken.

    Rafael drehte sich nicht um. Er konnte Gadjeweiber nicht ausstehen, die meinten, dass jeder Zigeuner ein geiler Bock sei. »Und wenn ich verhungere, die kann sich ihre Würste sonst wohin stecken.«, brummte er missmutig vor sich hin.

    Seine Stimmung änderte sich erst, als sein Blick auf einen gegenüberliegenden Stand fiel, dessen Tische sich unter der Last frischer Semmeln und Teilchen bogen.

    Demonstrativ lenkte er seine Schritte dorthin und erstand mit laut klingender Münze zwei Milchsemmeln, was von der aller Illusionen beraubten Marktfrau mit einem verächtlichen Schnauben und einem: »Wohl was Besseres der Herr Zigeuner …«, kommentiert wurde.

    Jetzt erst recht!, dachte Rafael, und steuerte gezielt einen weiteren Stand an, an dem sich sein Besitzer auf luftgetrocknete Schinken und Jagdwurst spezialisiert hatte.

    Bestens ausgerüstet mit Fleisch in der einen und zwei Milchsemmeln in der anderen Hand, kehrte er zurück und schlenderte erneut an ihrem Stand vorbei, um zum nonverbalen Gegenschlag auszuholen, indem er direkt vor ihrer enttäuschten Nase genüsslich in seine Jagdwurst hinein biss.

    Die um ihren merkantilen Erfolg gebrachte Budenbesitzerin ließ einen kleinen empörten Aufschrei hören, ehe sie zum vernichtenden Schlag ausholte und ihm ein: »Dreckiger Hundsfot! Hast eh das Geld geklaut. Dei Sippschaft kann das gut!«, hinterher schoss .

    Schon wollte Rafael das Ganze mit einem: »Und du hast das über-den-Tisch-ziehen mit der Muttermilch aufgesogen …«, parieren, als sich mit einem weit über den Markt schallendem AMEN die Kirchentore weit öffneten, sodass die ersten ungeduldigen Kirchgänger die Messe verlassen konnten, um sich in den Niederungen des irdischen Lebens zu verlustieren.

    Amüsiert beobachtete Rafael, wie der gläubige Rest um einen Schlussakkord verzögert, das Tor zur Freiheit durchschritt, was die am Fuß der Kirche stehenden Händler endgültig aus ihrer Lethargie holte und in rege Betriebsamkeit versetzte.

    »Bänder, seidene Bänder und Spitzen«, konkurrierten mit einem Mal lautstark mit: »Würstchen«, »Essigmuttern«, »Spinatsamen« und »Besen« um die Wette. Doch ein Teil der so Beworbenen hatte anderes im Sinn. Statt in das Jahrmarkttreiben einzutauchen, strebte ein Großteil der Männer, die doch den Weg in die Kirche gefunden hatten, strammen Schrittes dem sonntäglichen Frühschoppen entgegen. Himmlisches Manna wollte trotz missmutig hinterher geworfener Blicke von Seiten der so verlassenen Ehefrauen gegen irdisch gebrautes Bier oder gar hochprozentigen Schnaps eingetauscht werden.

    Rafael musste unwillkürlich laut Auflachen, als er sah, wie selbst der Pfarrer, der mittlerweile seinen Talar gegen eine einfache, schwarze Soutane ausgetauscht hatte, geschickt einigen geschwätzeshungrigen Witwen auswich und treppab Richtung Grüner Bock eilte. Schon wollte er sich diesem irdischen Vertreter einer himmlischen Instanz anschließen, als er aus den Augenwinkeln ein junges Mädchen bemerkte, das auf das Markttreiben herabschaute. Ihr zu einem Kranz geflochtenes, weizenblondes Haar leuchtete golden im Sonnenschein und verlieh ihr einen unfreiwilligen Heiligenstatus, der allerdings durch die Lebensfreude, die sie ausstrahlte, zerstört wurde.

    Wie alt sie wohl sein mochte, fragte Rafael sich. Achtzehn? Neunzehn? Älter auf keinen Fall!

    Plötzlich wurde das Mädchen von einer alten Matrone fest am Arm gepackt. Beide wechselten kurz ein paar Worte miteinander. Die Mine des Mädchens verdunkelte sich dabei zusehends, während die alte Matrone zeitgleich ein paar grimmige Blicke auf das Marktgetümmel herabschoß.

    Aha, dachte Rafael, da wo Licht ist, ist auch Schatten; und was für ein Schatten! Wer mit einer derart grimmigen Miene herumläuft, darf sich nicht wundern, wenn ihm die Milch vor Schreck sauer wird. Schade! Das war es dann wohl.

    Mit einem letzten bedauernden Blick auf die helle Lichtgestalt, wollte Rafael sich abwenden, als er sah, wie sie die Stufen herabzutänzeln begann.

    Was für ein Gang! Rafael schüttelte ungläubig den Kopf und geriet ins Schwärmen: Da ist Musik …, da ist Harmonie …, da ist Grazie drin! Wie sie schwebt, wie sie tanzt … Oh, dio! Ein Gang zum Niederknien. Das Mädchen hat Musik im Blut. Diese Harmonie, diese Lebensfreude … Selbst mit dem schweren stereotypen Grundschlag der Matrone, der in einem immer gleichen, stapfendem Tam, Tam, Tam bestand, schien sie zu spielen, indem sie ihn in jeder dritten Stufe aufnahm, nur um ihn direkt wieder aufzubrechen und in ein beschwingtes Tamtam umzuwandeln. Das Mädchen war wirklich fleischgewordene Musik, war Rhythmus pur. Es war einfach unbeschreiblich!

    Ungewollt summte er mit. Niemals in seinem Leben hätte er es für Möglich gehalten, dass eine Gadje sich derart bewegen konnte. Doch halt! Ihr Gang hatte sich verändert. Etwas Zögerndes, Schweres, Erdiges hatte sich eingeschlichen und sie aus dem beschwingten Takt ihrer leichtfüßigen Schritte geraten lassen. Immer schwerer und langsamer war ihr Gang geworden, bis sie endgültig auf einer der noch wenigen, ihr verbliebenen Stufen stehen blieb.

    Rafael runzelte die Stirn, als er ihrem Blick

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