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Commissario Pavarotti probt die Liebe: Kriminalroman
Commissario Pavarotti probt die Liebe: Kriminalroman
Commissario Pavarotti probt die Liebe: Kriminalroman
eBook465 Seiten5 Stunden

Commissario Pavarotti probt die Liebe: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Nervenkitzel trifft Zeitgeschichte: ein packender Kriminalroman aus der Welt der italienischen Geheimdienste.

Um seine große Liebe Lissie zurückzugewinnen, willigt Commissario Pavarotti ein, ihr bei der Suche nach ihrem Vater zu helfen, der vor dreißig Jahren verschwand. Die Spur führt zurück in das Meran der achtziger Jahre, als Italien die letzte Welle der Terroranschläge in Südtirol mit allen Mitteln niederzwingen wollte. Doch was ist damals wirklich geschehen? Pavarotti und Lissie müssen erfahren, dass es Menschen gibt, die alles dafür tun, die Wahrheit unter Verschluss zu halten.
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum23. Juli 2020
ISBN9783960416388
Commissario Pavarotti probt die Liebe: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Commissario Pavarotti probt die Liebe - Elisabeth Florin

    Elisabeth Florin wuchs in Süddeutschland auf; ihre journalistische Laufbahn begann sie in den 1980er Jahren bei der RAI in Bozen. Von den Menschen in Südtirol und ihrer Geschichte fasziniert, verbringt sie seither viel Zeit in Meran und Umgebung. Sie arbeitet seit fünfundzwanzig Jahren als Finanzjournalistin und Kommunikationsexpertin in Frankfurt am Main und lebt mit ihrem Mann und ihrem kleinen Hund im Taunus.

    www.elisabethflorin.de

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

    Lust auf mehr? Laden Sie sich die »LChoice«-App runter, scannen Sie den QR-Code und bestellen Sie weitere Bücher direkt in Ihrer Buchhandlung.

    © 2020 Emons Verlag GmbH

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagmotiv: mauritius images/Eryns75/Alamy

    Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

    Umsetzung: Tobias Doetsch

    Lektorat: Carlos Westerkamp

    eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-96041-638-8

    Originalausgabe

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    www.emons-verlag.de

    Ein Geheimagent ist menschlichen Empfindungen gegenüber ebenso empfänglich wie der Rest der Menschheit. Doch für ihn zählt, wie gut er in der Lage ist, diese Empfindungen zu unterdrücken, ob nun zum Zeitpunkt des Geschehens oder, wie in meinem Fall, fünfzig Jahre danach.

    John le Carré, »Das Vermächtnis der Spione«

    Vorspiel

    Deutschland, Glashütten im Taunus – August 2018

    Der Mann im dunkelgrauen Zweireiher trug nie Schwarz, schon gar nicht zu Beerdigungen. Schwarz war denen vorbehalten, die trauerten.

    Manchmal dachte er allerdings, dass Menschen wie er den Toten manchmal näherstanden als ihre Angehörigen. Seinesgleichen beschäftigte sich weit intensiver mit den Vorlieben und Gewohnheiten einer Zielperson als die meisten der sogenannten Freunde und Familienmitglieder.

    Die Aussegnungshalle war ein moderner, schnörkelloser Quader, der ihn an die Dienstbaracke im KZ Flossenbürg erinnerte. Er mochte Effizienz. Trotzdem würde er auf diesem Friedhof, in einem Nest voller nichtsnutziger Geldsäcke, nicht tot über dem Zaun hängen wollen, und fast hätte er bei diesem Gedanken laut aufgelacht. Sarkasmus war ihm im Grunde fremd, und da merkte er, dass er das erste Mal seit langer Zeit auf dem besten Wege war, sentimental zu werden.

    Wenn jemand im Laufe einer Operation ums Leben kam, war ihm das weitgehend egal. Warum auch nicht? Es gehörte zum Job. Das war zu seiner Zeit so gewesen und würde sich nie ändern, solange es Geheimdienste gab.

    Doch diesmal war er nicht aus beruflichen Gründen hier. Es war ein eigenartiges Gefühl, als Angehöriger an einer Beerdigung teilzunehmen. Das in dem Sarg war sein eigenes Fleisch und Blut. Dass er die Tote nicht gemocht und das letzte Mal vor ungefähr zwanzig Jahren getroffen hatte, spielte keine Rolle.

    Aus alter Gewohnheit warf er einen kurzen Blick zurück. Natürlich stand diesmal keiner seiner Chefs hinter ihm, der ihm wortlos auf die Schulter klopfte und hinterher in einen Wagen mit bereits laufendem Motor stieg. Er erinnerte sich an das Schulterklopfen bei einer Beerdigung in den Sechzigern, bei der zwanzigtausend Dummköpfe dem Dahingeschiedenen die letzte Ehre erwiesen hatten.

    Es waren viele Chefs gewesen, in den ganzen Jahren. Er seufzte, als er sich an den Gefühlskitsch und die Skrupel seiner Führungsoffiziere erinnerte. An die Lügen, die er ihnen aufgetischt hatte, um tun zu können, was er für richtig hielt.

    Er rückte einen Schritt vor, vorbei an einem großformatigen Foto der Toten, das irgendwer besorgt und auf eine Staffelei gestellt hatte. Hübsch war sie gewesen, ein blonder Engel mit gefährlich blitzenden Augen. Er hatte nicht vergessen, wie heftig sie sich bei ihrer letzten Begegnung gestritten hatten. Sie wollte, dass er sie anwarb. Er hatte nicht lang überlegen müssen. Das Mädel war unberechenbar gewesen, eine Überzeugungstäterin, die machte, was sie wollte. Anna war das Schulbeispiel für den Aktenvermerk »ungeeignet«. Sie hatte sich gebärdet wie eine Furie, als er Nein sagte.

    Er war der Letzte in der kurzen Schlange vor dem Sarg. Von einem Massenandrang konnte wahrlich keine Rede sein. Die Trauergäste, die sich bereits eingetragen hatten, standen unschlüssig vor der Kirchentür herum oder waren vor dem Beginn der Grabprozession geflüchtet.

    In der Halle war es kühl. Er richtete seine Krawatte und zog seinen schwarzen Montblanc hervor. Der Sarg war geschlossen, was ihn angesichts der Umstände des Todes der Verstorbenen nicht überraschte.

    Er schraubte die Kappe des Füllfederhalters auf und war im Begriff, den Namen zu schreiben, den er zurzeit benutzte.

    Da erstarrte er.

    Die letzte Unterschrift im Kondolenzbuch war kein Allerweltsname wie Maier, Müller, Schulze. Eine Verwechslung war ausgeschlossen.

    Es war kein hingekritzelter Name wie bei solchen Gelegenheiten üblich, meistens nicht zu entziffern wegen der zittrigen Hände oder der verlaufenen Kugelschreibertinte. Es waren Buchstaben in Versalien, mit sicherer Hand ins Papier gestanzt, beinahe provokativ in ihrer übertriebenen Deutlichkeit. Als wollte der Schreiber auf Nummer sicher gehen, dass der Name lesbar war.

    Schreiberin. Es war der Name der Frau, die vor ihm in der kurzen Schlange gestanden hatte.

    Ihn beschlich das unangenehme Gefühl, dass dies seine letzte Beerdigung sein würde. Mit Ausnahme seiner eigenen, vielleicht sehr bald. Unwillkürlich fuhr seine Hand zur Krawatte, um den Knoten festzuziehen.

    Er riss sich zusammen. Ein unangenehmer Weckruf aus der Vergangenheit, nun ja. Nichts, was er nicht in den Griff bekommen würde. Er hatte immer gewusst, dass ihn diese Angelegenheit einmal einholen würde.

    Jetzt war es eben so weit.

    Als er seinen Namen in das Buch gesetzt hatte, trat er zurück. Hinter ihm befand sich niemand mehr.

    Die Frau beobachtete ihn. Dass etwas an ihr eigenartig war, hatte er bereits registriert, als sie sich vorhin kurz zugenickt hatten. So wie man das eben macht, wenn man sich nicht kennt, aber aus dem gleichen unerfreulichen Grund am selben Ort aufhält.

    Sie fiel aus dem Rahmen. Beerdigungsgäste stellten für gewöhnlich eine Leichenbittermiene zur Schau, egal wie ihnen zumute war. Die Frau dagegen hatte ihn hocherhobenen Hauptes angestarrt, als sie in die Bankreihe vor ihm einrückte. Ihr Blick war hochmütig, beinahe herausfordernd und passte zu der Art und Weise, wie sie sich ins Kondolenzbuch eingetragen hatte.

    Sie war überschlank, ihr blondes Haar raspelkurz, wie bei Frauen, die gerade eine Chemotherapie hinter sich gebracht haben. Ihr Blick war allerdings nicht der einer Kranken. Forschend. Als könnte sie ihn mühelos durchschauen.

    Er beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen. Auch diese Frau konnte bloß seine Fassade sehen – einen harmlosen alten Herrn, der freundlich mit den Augen zwinkerte.

    Auf dem Weg nach draußen ging er direkt an ihr vorbei. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er lächelnd. »Sie sehen mich an, als würden Sie mich kennen.« Er fasste sich an den Nacken, eine bedauernde Geste, die er seit vielen Jahren perfektioniert hatte. »Stephen Morland, so heiße ich. Ich glaube nicht, dass wir uns schon begegnet sind. Oder doch? Verzeihen Sie bitte. Mein Gedächtnis ist leider nicht mehr so gut wie früher. Vielleicht sind Sie so nett und helfen mir auf die Sprünge?«

    »Ich kenne Sie nicht«, sagte die Frau, die sich als Lissie von Spiegel eingetragen hatte, knapp und mit einer Nüchternheit, die er als unhöflich empfand. »Das ist es ja gerade.«

    »Wie bitte?«

    »Ihr Name. Stephen Morland. Da klingelt nichts bei mir«, sagte sie.

    »Nun …« Er hob die Schultern. Lächelte.

    »Die Tote war nicht gerade beliebt.« Die Frau deutete mit dem Kopf auf das spärliche Häuflein, das auf den Pfarrer und die Ministranten wartete. »Das sind ein paar Leute aus dem Verlag, in dem ihre Bücher erschienen sind. Ich vermute mal, ihr Verleger hat sie verdonnert, hier zu erscheinen«, sagte die Frau. »Und die neben dem Beichtstuhl«, sie zeigte auf ein grobschlächtiges Frauenzimmer in den Sechzigern, das breitbeinig dastand und die Handtasche umklammerte, »war Annas Putzfrau. Der ich Geld gegeben habe, damit sie heute kommt. Also. Wer in aller Welt sind Sie?«

    »Ich vertrete gewissermaßen die Familie«, sagte er.

    »Von den Winterlings lebt keiner mehr«, konterte sie sofort. »Anna war die letzte.«

    »Ich bin ein alter Freund ihres Großvaters. Ich habe Anna gekannt, als sie noch so klein war.« Er beugte den Rücken und ließ seine rechte Hand etwa einen Meter über dem Boden schweben. »Dass sie so jung sterben musste … Es war ein furchtbarer Schock, als ich’s erfahren hab. Erst vor ein paar Tagen, weil ich im Ausland war.« So, nun kommst du, dachte er und zwinkerte imaginäre Tränen weg.

    »Sind Sie Engländer?«

    »In London geboren, aber später hat es mich nach Wien verschlagen. Habe ich nun Ihren Wissensdurst ausreichend gestillt, junge Frau? Darf ich nun meinerseits fragen, woher Sie Anna Santer kannten?«

    Bevor sie antworten konnte, berührte ihn einer der Sargträger am Arm. Es war so weit. Wohl oder übel war er gezwungen, sich der Prozession anzuschließen. Als er sich umsah, war sie verschwunden.

    ***

    Lissie von Spiegel beobachtete den Mann, wie er durchs Friedhofstor trat, stehen blieb und sich die Krawatte richtete. Er ließ sich Zeit dabei. Sie hatte diese Angewohnheit bereits registriert, vorhin, an Annas Sarg.

    Seinetwegen saß sie jetzt im Auto, anstatt nach Hause zu fahren, wie die anderen Trauergäste.

    Was störte sie eigentlich? Er war doch nur ein alter Mann, mit der typischen Geschwätzigkeit, die sich einstellte, wenn die achtzig überschritten waren. Doch hinter seiner leutseligen Miene und den umständlichen Gesten verbarg sich etwas. Ein unangenehmer Geruch nach Gammelfleisch, das schon längst im Müll hätte landen sollen.

    Hinter dem Mann erschien jetzt Annas Putzfrau, die Schirinka. Lissie zog eine Grimasse.

    Wahrscheinlich denkt das Weibsstück gerade darüber nach, dass sie mir viel zu wenig Geld abgeluchst hat für diesen Gang auf den Friedhof, bei dem sie nichts tun musste, als herumzusitzen und sich vom Pfarrer ein paar Worte über Anna anzuhören.

    Nicht dass es viel gewesen wäre, hauptsächlich oberflächliches Zeug über Annas Leben als Schriftstellerin. Ihr Mann, der mit ihr zusammen umgekommen war, war längst beerdigt, in der Nähe von München, wo noch eine Tante lebte. Anna dagegen hatte mehrere Monate in einem Kühlfach der Meraner Gerichtsmedizin zubringen müssen, wegen des Gerangels um Zuständigkeiten zwischen den italienischen und deutschen Behörden. Und weil es keine Tante und keine anderen Angehörigen mehr gab, die Druck gemacht hätten, um die Herausgabe der Leiche zu beschleunigen.

    Die Schirinka trat in den Torbogen, wandte sich dem Mann zu – und einen Augenblick lang sah es aus, als wolle sie etwas sagen. Doch dann stapfte sie wortlos von dannen. Der Alte sah ihr hinterher, wieder dieses halbe Alec-Guinness-Lächeln im Gesicht. Lissie glaubte, etwas in seinem Blick aufzufangen.

    Schluss damit, dachte sie und seufzte. Es war Unsinn, aus jeder Lichtreflexion eine Geschichte zu konstruieren. Die Phantasie spielte ihr andauernd Streiche, bloß um ihrer Neugierde neues Futter zu geben.

    Mittlerweile hatte sich der Mann in Bewegung gesetzt und schritt auf sie zu. Lissie duckte sich. Sein Blick glitt gleichgültig über ihren knallroten Fiat 500 hinweg, was sie ein bisschen wunderte, denn ihr Wagen war gewiss nicht unauffällig, schon gar nicht in Glashütten, der Heimat schwarzer und anthrazitfarbener Mercedes-, Audi- und BMW-SUVs.

    Sie sah, dass der Alte in ein wartendes Taxi stieg.

    Stephen Morland. Anna hatte einen Mann dieses Namens nie erwähnt. Überhaupt keinen »Freund der Familie«. Sie hatte sowieso nie über ihre Familie gesprochen. Leider. Die Winterling-Sippschaft war ein Thema, das Lissie brennend interessierte. Aber sobald sie versuchte, das Gespräch in diese Richtung zu lenken, war Anna ausgewichen.

    Die Geschichte des Alten konnte wahr sein. Lissie glaubte allerdings kein Wort davon.

    Der Wirbel um die Ermordung von Anna. Die publicityträchtigen Ermittlungen. Und der Skandal am Ende, mit Schlagzeilen in der internationalen Presse. Es war praktisch unmöglich gewesen, den Mord an dieser Frau nicht zur Kenntnis zu nehmen. Jemand, der Anna nahestand, hätte sich doch sicher bei der deutschen oder italienischen Polizei gemeldet, um seine Hilfe bei der Aufklärung des Falls anzubieten?

    Das Taxi scherte aus der Parkbucht aus. Lissie überlegte, ob sie dem Wagen folgen sollte, ließ es jedoch bleiben. Es war an der Zeit, mit dem Fall Anna Santer, geborene Winterling, abzuschließen.

    Anna war bis zum Schluss ein Rätsel geblieben. Es hatte ihr Spaß gemacht, die Geheimnisvolle zu spielen. Eines ihrer Geheimnisse hatte ihr den Tod gebracht. Andere hatte sie mit ins Grab genommen.

    Die Akte war geschlossen. Der Fall Anna Santer endete hier und heute.

    Bevor sie den Motor anließ, schaute sie ein letztes Mal zurück zum Friedhofstor. Es war niemand mehr da. Lissie war allein.

    Statt den Schlüssel im Zündschloss zu drehen, ließ sie sich noch einmal in den Sitz zurücksinken.

    Ein weiterer Grund, warum sie dem alten Mann nicht traute, war eine gewisse Versteifung seines Rückens, als er vor dem Kondolenzbuch stand und dabei war, sich einzutragen. Und dieses Erstarren, diese nur wenige Sekunden dauernde Versteinerung seines ganzen Körpers, die hatte sie sich nicht eingebildet.

    Es war in dem Moment geschehen, als er den Stift aufs Papier senkte – und dabei ihren Namen las.

    Der Mann kannte ihn. Er war kein Zweifel möglich. Er war so heftig erschrocken, dass der teure Stift in seiner Hand zitterte.

    Ein Gedanke keimte in ihr. War das möglich? Nach all den Jahren?

    Den ganzen Tag über, während sie am Schreibtisch saß, klopfte ihr Herz wie wild. Die Zeilen auf dem Computerbildschirm verschwammen vor ihren Augen.

    »Hör auf zu grübeln. Mach voran und konzentrier dich«, ermahnte sie sich. Der Roman musste einfach gut werden. »Die letzten zehn Seiten wirst du wohl noch schaffen.«

    Meistens fiel ihr das Schreiben leicht. An jenem Tag konnte sich Lissie nicht auf ihr Manuskript konzentrieren, das sie in der kommenden Woche bei ihrer Lektorin abgeben musste. Ihre Finger weigerten sich, über die Tasten zu fliegen, und ihr Kopf beschäftigte sich unablässig mit dem alten Mann und den Lügen, die er erzählt hatte.

    Wer war dieser Stephen Morland? Warum war er erschrocken, als er ihren Namen las? War es wirklich das, was sie glaubte – fürchtete – hoffte?

    Kopf in der Schlinge

    Königstein im Taunus – zwei Tage später

    Kommissar Klaus Foliari, Leiter der Abteilung Schwerverbrechen bei der Polizei in Bad Homburg, saß in seinem Privatwagen. Er parkte schräg gegenüber dem Eingang eines heruntergekommenen Mehrfamilienhauses in einem Außenbezirk von Königstein. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet.

    Foliari hatte einen Feldstecher auf seinem Schoß liegen, aber er konnte auch ohne technische Hilfsmittel alles erkennen, was nötig war. Die Haustür, auf die es ankam, war keine dreißig Meter entfernt, und eine Straßenlaterne tauchte den Eingang in ein orangefarbenes Licht.

    Seinem Partner, mit dem er normalerweise unterwegs war, hatte er einen freien Abend mit den Kindern spendiert. Heute Nacht würde nichts passieren. Erst für morgen war der Zugriff geplant.

    Er wusste selbst nicht, warum er sich die Nacht um die Ohren schlug. Das Haus war dunkel. Alle schliefen längst. Und doch …

    Das stumm geschaltete Telefon leuchtete auf. Seine Frau Heike.

    »Wann kommst du denn?«, fragte sie.

    »Weiß ich noch nicht. Kann spät werden. Geh ins Bett.«

    »Bitte sei vorsichtig.«

    »Es kann nichts passieren. Ich muss jetzt aufhören.«

    Klaus Foliari legte sich eine Decke um die Schultern, die er für solche Fälle im Auto bereithielt. Es würde eine lange Nacht werden.

    Die Wärme lullte ihn ein. Zehn Minuten später schlief er tief und fest.

    ***

    … eine Stunde später, ein paar Kilometer entfernt

    »Wer sind Sie?«, fragte Helena Schirinka. Durch den schmalen Türspalt konnte man ihren Alkoholatem riechen.

    »Hallo, Helena. Ich darf Sie doch so nennen? Morland schickt mich.«

    Auf einmal war ihre missmutige Miene wie weggewischt, und in ihren Augen erschien ein gieriges Funkeln.

    »Aber natürlich! Einen Moment.« Die Tür ging zu, die Kette rasselte. Die Schirinka machte eine einladende Handbewegung und trat zurück.

    Ein letzter Blick über die Schulter, obwohl es unnötig war. Ein teures Nachtsichtgerät und die eingebaute Wärmebildkamera waren in der letzten Stunde ausgiebig zum Einsatz gekommen.

    Kein Mensch hielt sich hier auf, wie nicht anders zu erwarten. Der alte Wohnwagenpark wurde schon lange nicht mehr betrieben. Funktionierende Toiletten und Duschen, elektrische Anschlüsse – alles hinüber. Wo einmal Wiese gewesen war, gab es nur noch Dreck, Zigarettenstummel und vergammelte Abfälle. Und den alten amerikanischen Trailer der Schirinka, den sie von ihrem Vater, einem Herumtreiber, geerbt hatte.

    Morland hatte die Frau im Vorfeld observiert. Angeblich nicht der Mühe wert. Die Schirinka ging nie aus, und soziale Kontakte besaß sie so gut wie keine. Sie wechselte zwei, drei Sätze beim Bäcker oder im Supermarkt, damit hatte es sich.

    Anstatt in ihrer miefigen Mietwohnung in einer Hochhaussiedlung am Rand von Königstein zu hocken, fuhr die Schirinka hin und wieder hier heraus. Das war der einzige Luxus, den sie sich leistete.

    Morland hatte recht gehabt. Es war ein Kinderspiel.

    »Möchten Sie nicht ablegen …?«

    »Nicht nötig. Ich bleibe nicht lange. Ich soll einen Gruß von Morland ausrichten. Wie geht es Ihnen, Helena?«

    »Gar nicht schlecht«, sagte sie ein wenig kokett. »Sagen Sie ihm, ich arbeite in einer Anwaltskanzlei in Königstein. Da bin ich halbtags, als Tippse. Das Geld ist nicht gerade üppig. Dafür ist es spannend. Die verteidigen Mörder und so.«

    Eine unverblümte Drohung. Eins musste man der Frau lassen, sie hatte Schneid. Das mit der Anwaltskanzlei hatte seine Richtigkeit, aber sie arbeitete dort als Putzfrau. Genau wie bei einem Wirtschaftsprüfer und einer Steuerkanzlei in Bad Homburg. Die Arbeitsstellen klapperte die Schirinka mit ihrem Nissan Micra ab, der bessere Tage gesehen hatte.

    Der Wohnwagen war nicht weniger erbärmlich: Sitzecke mit schmutzigem Plastikbezug. Nikotingelbe Vorhänge an den Fenstern.

    Die Schirinka werkelte mit Gläsern und präsentierte schließlich voller Stolz eine Flasche mit billigem Fusel, als hätte sie damit den Meisterschaftspokal in einem Degustationswettbewerb gewonnen.

    Höfliches Abwinken. »Nein, nein, vielen Dank. Machen Sie sich keine Mühe. Ich muss noch fahren.«

    »Nehmen Sie doch wenigstens Platz.« Die Frau machte eine Handbewegung zur Sitzecke. Die Sitzfläche war staubig, aber halbwegs akzeptabel. Nichts anfassen, aber das war Routine. Darüber brauchte man nicht nachzudenken.

    »Darf ich fragen, woher Sie Herrn Morland kennen?« Mittlerweile verriet die Miene der Frau eine leichte Verunsicherung. Morland hatte davor gewarnt. Die Schirinka war nicht so dumm, wie sie aussah. Ein Glas von dem Schnaps anzunehmen, wäre besser gewesen.

    Ein Griff in die Manteltasche – und schon lag ein dicker brauner Umschlag auf dem Tisch. Sofort klebten die Augen der Schirinka daran. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Herr Morland möchte sich erkenntlich zeigen, dass Sie sein Geheimnis wahren.«

    Die Schirinka streckte ihre Finger nach dem Umschlag aus, aber noch lag eine Hand darauf.

    »Vorher wäre da allerdings eine Kleinigkeit. Der Brief. Geben Sie ihn mir bitte.«

    Das Gesicht der Frau verfinsterte sich, aber dann griff sie nach einer ledergebundenen Mappe mit vielen Fächern. Aus einem der Fächer zog sie einen gefalteten Briefbogen hervor.

    Der Inhalt des Schreibens war so weit in Ordnung. Dann kehrte der Blick zu der dicken Mappe mit den Fächern zurück, die auf dem Tisch lag. Scheiße. Die Mappe war der Grund, warum die Schirinka hier saß und nicht in ihrer Wohnung. Morland war bei Weitem nicht der Einzige. Jetzt war es zu spät, den Plan zu ändern.

    »Ich kenne Sie nicht. Woher weiß ich, dass die Summe stimmt?«, sagte die Schirinka. Wie aufs Stichwort.

    »Zählen Sie ruhig nach. Ich vertrete mir in der Zwischenzeit die Beine.« Es war nicht die Summe, die sie verlangt hatte. Aber um zu protestieren, würde sie keine Gelegenheit mehr haben.

    Die Position war bereits eingenommen, die Handschuhe übergezogen, als sie die Scheine auf dem Tisch ausbreitete. Sie hatte nur noch Augen für das Geld.

    Die Griffe der Drahtschlinge lagen gut in der Hand. Eine fließende Bewegung, ein kurzer Ruck. Der Draht wirbelte nach vorn und zog sich zusammen.

    Die Schirinka gab einen gurgelnden Laut von sich. Ihre Augen traten aus den Höhlen. Sie griff nach dem Draht. Als ihr das nicht gelang, weil er bereits tief in ihren Hals schnitt, schlug sie wild um sich und trat nach hinten aus. Das war immer so.

    Womit niemand rechnen konnte, war ihre Stärke. Beinahe hätten die Ellenbogen von dem Weibsstück ihr Ziel erreicht. Glücklicherweise war sie fast hinüber, und in dem Zustand wehrte man sich bloß noch instinktiv. Eine gezielte Aktion war nicht mehr drin.

    Ein Stuhlbein krachte, der Stuhl knickte um, die Frau fiel nach vorn. Ein letzter fester Zug mit der Schlinge. Die Schirinka bäumte sich auf, dann war es vorbei. Die Leiche sackte auf den Boden.

    Meine Güte, was für eine Plackerei. Warum die Leute nicht stillsaßen und es geschehen ließen, war nicht zu begreifen. Wenn man sich wehrte, dauerte es länger und wurde wesentlich unangenehmer.

    Unter dem Wohnwagen lag die bereits vorbereitete Plane, und innerhalb von fünf Minuten war die Leiche sauber verpackt und verschnürt. Gelernt war gelernt.

    Es war Zeit, nach Hause zu fahren und sich ein gutes Glas Wein zu gönnen. Wenn die verblichene Schirinka entsorgt wäre, hatte der Chablis hoffentlich die richtige Temperatur.

    Schade um den vertanen Abend. Bloß weil man für einen Kerl, der sich Fehler leistete, die Drecksarbeit erledigen musste.

    Eine reizende Verräterin

    Südtirol, Meran – Dezember

    Der Morgen des ersten Dezembertags war schneidend kalt. Eine eisige Brise blies von den Bergen in die Stadt. Der Wind trieb gelbe Wolken heran, am Abend würde es schneien.

    Unter normalen Umständen hätte der Blick in den Himmel Ispettore Emmenegger in Hochstimmung versetzt. Der letzte heiße Sommer hatte viel zu lang gedauert. Heute konnte ihn nicht einmal die Aussicht auf Schnee trösten.

    Der Ispettore lief hin und her, um alle Heizkörper im Kommissariat bis zum Anschlag aufzudrehen.

    Emmenegger fror so gut wie nie, er hatte es am liebsten kühl, weil er davon überzeugt war, dass seine Gedanken durch Kaltluft klarer wurden. Doch heute war ein besonderer Tag.

    Ununterbrochen schielte er auf seine Armbanduhr, was mit seinem Dienstbeginn nichts zu tun hatte.

    In der Nacht war der Schlaf nicht gekommen. Emmenegger hatte dem Heulen des Sturms ein paar Stunden lang gelauscht, bis es Zeit zum Aufstehen war. Er schlief schlecht in letzter Zeit, genauer gesagt seit drei Wochen. Seit er das Kommissariat kommissarisch leitete.

    Der eigentliche Leiter, Commissario Luciano Pavarotti, hatte sich einen längeren Urlaub genommen und war nach Deutschland gefahren, zuerst in einen kleinen Ort im Westfälischen, in dem Pavarottis Großmutter, eine Deutsche, geboren war. Dort lebte noch ein Onkel, den Pavarotti seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte. Mit dem alten Mann wollte er Weihnachten und Silvester verbringen. Im Januar würde Pavarotti in den Taunus weiterreisen, um die Beziehung zu einer Frau zu kitten. Viel Erfolg damit, dachte Emmenegger.

    In Kürze (erneutes Konsultieren der Armbanduhr), genauer gesagt in fünf Minuten, hatte der Ispettore eine Angelegenheit am Bein, die er mehr fürchtete als einen neuen Mordfall ohne den Chef.

    Die Tür ging auf. Auf der Schwelle stand allerdings nicht Polizeichef Alberti, der für Personalfragen zuständig war.

    Die Neue war ganz allein gekommen, dazu noch in Uniform, was Emmenegger über die Maßen ärgerte, auch wenn er nicht sagen konnte, wieso. Das erste Mal während seiner Laufbahn wünschte er sich Alberti herbei, der die Vorstellung übernahm, händereibend dummes Zeug redete und peinliche Gesprächspausen füllte.

    »Ich heiße Eva Marthaler«, sagte die Frau schließlich in die Stille hinein. »Ich soll mich hier melden.«

    »Wo ist der Polizeichef?«, entfuhr es Emmenegger. Was für eine verkorkste Begrüßung.

    Sie hob die Schultern. »Er ließ ausrichten, dass er verhindert ist. Ich würde meine neue Dienststelle wohl auch ohne ihn finden.« Ihre Lippen zuckten ein wenig.

    Emmenegger räusperte sich. Er hätte sich ausrechnen können, dass Alberti »verhindert« war. Die Frau verhieß Ärger, und keiner wollte die Personalie anfassen, schon gar nicht Alberti.

    »Nun«, sagte er steif, »herzlich willkommen bei der Polizia di Stato. Sie können da drüben Platz nehmen.« Er wies auf den freien Schreibtisch am anderen Ende des Bereitschaftsraums, in dem vor Jahren sein Kollege Brunthaler gesessen hatte. Emmenegger hoffte sehr, dass damit die Ähnlichkeit zwischen ihm und der Neuen endete.

    »Danke.« Sie warf ihm einen Blick zu, der schwer zu deuten war. Dann ging sie zu dem Schreibtisch hinüber, setzte sich und wippte ein paarmal auf dem klapprigen Bürostuhl auf und ab. War sie vielleicht Besseres gewohnt?

    Während die Frau Stifte und anderen Krimskrams aus ihrer Aktentasche ausräumte – wer brauchte heutzutage noch so viele Kugelschreiber? –, beobachtete er sie verstohlen.

    Sie sah aus wie Mitte dreißig. Tatsächlich war sie jünger, nämlich vor Kurzem einunddreißig geworden. Am 23. November. Das hatte er ihrer Akte entnommen, die ihm die Sekretärin des Polizeichefs am Freitag auf den Schreibtisch gelegt hatte. Mit diesem Datum und der Tatsache, dass sie aus Dorf Tirol stammte, erschöpften sich allerdings die Informationen. Alberti hatte den Rest schwärzen lassen. Zum Beispiel, bei welcher Carabinieri-Dienststelle die Neue gearbeitet hatte.

    Die kinnlangen dunkelroten Locken rahmten ein herzförmiges Gesicht ein, das ein wenig zu breit geraten war. Die Wangen waren voll, und Emmenegger wusste jetzt schon, dass sich Grübchen zeigen würden, wenn sie lächelte. Die Nase bog sich leicht aufwärts, sodass ihre schmalen Nasenlöcher zu sehen waren. Momentan hatte sie die Augen auf die Schreibtischplatte gerichtet, aber Emmenegger hatte bereits bemerkt, dass sie grün waren und blitzten, wenn sie redete.

    Emmenegger konnte sich lebhaft vorstellen, worin die Schwierigkeiten bestanden hatten, die dieses Mädel bei den Carabinieri bekommen hatte.

    Frauen gab es bei den Carabinieri in Meran und Bozen erst seit acht Jahren. Eva Marthaler musste eine der ersten gewesen sein, die sich verpflichtet hatten. Emmenegger hatte Respekt vor dem Mut der Frau, schüttelte aber innerlich den Kopf vor so viel Naivität. Was hatte sie erwartet? Nach wie vor gab es Dienststellen, deren Gendarmen im Ruf standen, Kolleginnen mit anzüglichen Bemerkungen und Schlimmerem das Leben schwer zu machen.

    So wie es aussah, hatte sich Eva Marthaler nach Jahren der Leidenszeit gewehrt. Bestimmt hatte sie um Versetzung gebeten, was eine Begründung erforderte. Kollegen anzuschwärzen bedeutete in diesem »Karnevalsverein« – so nannte Emmenegger die Truppe bei sich – so viel wie Hochverrat. Eva Marthaler hatte sich nach dem Ehrenkodex der Carabinieri der Nestbeschmutzung schuldig gemacht. Keiner wollte sie mehr haben, ganz egal, wie gut sie in ihrem Job gewesen war.

    Emmenegger hasste militärisches Gehabe und Kadavergehorsam genauso wie die eingeschworene Kumpanei unter Männern, die bei den Carabinieri an der Tagesordnung war. Offiziell hatten Frauen dort die gleichen Chancen wie die Männer. Lachhaft. Und jetzt war diese spezielle Frau bei der Mordkommission am Kornplatz gelandet.

    »Könnten Sie die Heizung ein bisschen herunterdrehen? Ich finde es schrecklich warm hier drin.«

    Emmenegger fuhr hoch. »Was?«

    Seine neue Kollegin war im Begriff, ein Fenster zu öffnen. Gleichzeitig schälte sie sich aus ihrer Uniformjacke. Dabei kam ihre Hand dem Heizkörper unter dem Fenster zu nahe. »Autsch!«

    Sofort eilte Emmenegger herbei. »Oje. Nicht anfassen, das ist Technik von gestern.«

    Als alle Heizungen abgedreht waren, ließ er sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. »Bin ich froh.«

    »Worüber denn?«

    »Dass Sie es auch lieber kühl haben. Das wäre wirklich schwierig geworden. Ich dachte immer, Frauen …«

    »… frieren leicht? Vorausgesetzt, sie sind noch nicht in den Wechseljahren? Wollten Sie das vielleicht sagen?«

    Emmenegger machte ein betretenes Gesicht. Jetzt war er doch in einen Fettnapf getreten. Womit bewiesen war, dass er ebenfalls einer dieser sexistischen Kerle war, nicht viel besser als die Machos vom Verein.

    Eva Marthaler legte den Kopf in den Nacken und lachte. Emmenegger war verblüfft. Dann begann er ebenfalls zu lachen, anfangs etwas gezwungen, doch am Ende liefen ihm Tränen aus den Augen. Plötzlich wollte er raus. »Kommen Sie, wir trinken einen Kaffee. Diese Sauna muss erst mal auslüften.«

    Sie nickte, ihre Locken hüpften, sie griff nach ihrer Uniformjacke. »Die können Sie getrost hierlassen. Eine Verkleidung brauchen wir bei der Mordkommission nicht.«

    Sie schaute ihn groß an, ihre Augen strahlten. Schwungvoll griff Emmenegger nach seinem Jackett, das er erst am Wochenende in einem teuren Geschäft in den Lauben gekauft hatte, und half Eva in ihren Mantel. Gemeinsam traten sie auf den Kornplatz hinaus. Draußen schien die Sonne. Der Sturm hatte sich gelegt.

    Eine fremde Frau

    Königstein – Ende Februar 2019

    Pavarotti setzte sich in die letzte Reihe. Er war zu spät gekommen, das Licht war bis auf einen Spot aufs Rednerpult bereits gedimmt. Er hätte ohnehin nicht vorne sitzen wollen. Beim letzten Mal hatten sich ihre Blicke getroffen. Dabei hatte Lissie kurz gelächelt, und dieses Lächeln war ihm fremd.

    Ohne Zweifel war diese »Liselotte« von Spiegel, wie sie sich neuerdings nannte, aus der Asche auferstanden. Nur manchmal, wenn sie über Ereignisse aus der Vergangenheit sprach, strich ein vertrauter Ausdruck über ihr Gesicht, und ihre Augen wurden dunkel. In diesen Momenten war sie ganz die Alte, und er konnte ihr Herz spüren, wie es sich weitete.

    Hin und wieder, wenn sie sich unbeobachtet wähnte, glaubte er, in dem Zucken ihrer Wimpern und der Haltung ihres Kopfes einen Anflug von Nervosität zu entdecken.

    Aber jetzt, mit diesem maskenhaften Lächeln im Scheinwerferlicht, war sie wie verwandelt. Diese Frau musste Pavarotti erst kennenlernen, und er wusste nicht recht, ob er sie sympathisch fand.

    Er hörte, wie sie die Zuhörer begrüßte, und der Klang ihrer Stimme schwebte klar und mit selbstbewusster Modulation durch den Raum.

    Pavarotti war jetzt seit zwei Monaten im Taunus. Dies war seine dritte Buchvorstellung mit »Liselotte« von Spiegel und gleichzeitig die dritte Lesung in seinem Leben. Natürlich gab es auch in Meran reichlich davon. Er hatte sich nie Zeit für solche Dinge genommen. Seine knapp bemessene Freizeit wollte er nicht in einer Veranstaltung verbringen, von der er Langeweile erwartete. Er brauchte niemanden, der ihm vorlas.

    Aber das tat Lissie nicht. Sie sprach frei, erzählte Geschichten aus ihrem Buch, sprach über handelnde Personen, erforschte Schicksale und sprang dabei mühelos über Jahrzehnte und Ländergrenzen hinweg, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Die Zuhörer hingen an ihren Lippen.

    Auch diesmal war der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt. Liselotte von Spiegels zeitgeschichtlicher Roman über Gold, das die Nazis von Juden während des Krieges geraubt hatten, war ein großer Erfolg. Zumal es Lissie gewesen war, die das Rätsel um einen Teil dieser Beute gelüftet hatte.

    Während er die Frau am Podium betrachtete, wie sie ihre Zuhörer mit gezielten Pausen und sparsam, aber wirkungsvoll eingesetzten Gesten fesselte, erinnerte er sich daran, wie sie früher

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