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Charismania
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eBook684 Seiten9 Stunden

Charismania

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Über dieses E-Book

Die dunkle Seite des Glaubens.

Was passiert, wenn christlicher Fundamentalismus und ein erotischer Provokateur aufeinandertreffen? Wir glauben es zu wissen, unterschätzen damit aber den Einfallsreichtum der Religion und MARNIE SKANDER. Er ist der Star des Berliner Clubs GENDERETTE. Seine Show verwandelt die Bühne in ein Laboratorium der Exzesse und dafür lieben ihn seine Fans. Doch für seine Feinde macht ihn das zu SATAN SKANDER. Während sie noch glauben, ihn zu jagen, entkommt er ihnen schon in seine nächste Identität. Er häutet sich Schritt für Schritt. Das macht ihn zwar ungreifbar aber auch verletzlicher, als gut für ihn ist. Damit ist der Verführer Skander bald reif, selbst verführt zu werden – durch die dunkle Seite des Glaubens.

The dark side of faith. What happens when Christian fundamentalism and an erotic provocateur clash? We think we know, but we underestimate the ingenuity of religion and MARNIE SKANDER. He is the star of the Berlin club GENDERETTE. His show transforms the stage into a laboratory of excesses and that is why his fans love him. But for his enemies this makes him SATAN SKANDER. While they still think they are chasing him, he already escapes them into his next identity. He skins himself step by step. This makes him intangible but also more vulnerable than is good for him. Thus the seducer Skander is soon ripe to be seduced himself – by the dark side of faith.

Roman einer Verschwörung, Van Wangger, E – B O O K , 726 Seiten, Thin Tank Books 2016
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum10. Juli 2014
ISBN9783986468798
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    Buchvorschau

    Charismania - Van Wangger

    Prolog

    Ein sanfter Stoss nur und sie kippten ins dunkle Nichts wie Fallschirmspringer. Manchmal reichte es, sie anzutippen.

    Den letzten Schritt machten sie dann allein. Er gab ihnen das Zeichen und sie gingen.

    Unter den Rotoren, über dem schwarzen Nichts verstand auch der Letzte, dass er seinen Platz in der Welt verloren hatte; den Stolzen verliess der Mut und den Starken die Kraft.

    Im kalten Glanz der Sterne verriet der Gefangene alles, was er wusste - man brauchte es nur aufzuschreiben. Name für Name, Verrat für Verrat, Schande für Schande.

    Einer versuchte mal, ihn mitzureissen, aber er schickte ihn mit einem Fusstritt nach unten und der Pilot schaltete den Rotor ab, damit sie den Schrei bis zum Aufprall hörten.

    Dann lachten sie alle und als sie damit fertig waren, liess der Pilot die Turbine wieder aufheulen. Sie waren selbst gefallen, ein paar Meter nur und im Hubschrauber, aber sie waren gefallen.

    Vor langer Zeit auf einem anderen Kontinent hatte er das getan. Er wusste wie man vorgehen musste. Das Ziel der Folter war nicht der Tod, es waren die Informationen. Man gewann sie dem Opfer ab wie Daten von einer hakenden Festplatte. Das Passwort hiess Gewalt und der Code war der Schmerz. Mehr brauchte man nicht. Mehr gab es auch nicht.

    Am Ende war die Festplatte kaputt, der Wille gebrochen.

    Wenn die Informationen erst gesichert waren, hing es nur von seiner Laune ab, ob er den Tod noch kommen liess.

    Aber diesmal ging es um seinen Tod. Sie hatten seinen Körper mit Natodraht an den Tisch gefesselt. Scharfe Klingen ritzen bei jedem Stromschlag, bei jedem Aufbäumen seine Haut.

    Er hatte die Informationsbeschaffung immer für einen Vorwand aller Folter gehalten.

    In Wahrheit ging es um den Terror, der sich wie ein Virus ausbreiten und andere infizieren sollte. Der Terror schuf die Angst, die alle gefügig machte. Er hätte ihnen ohnehin nichts geben können, er hatte keine Informationen für sie.

    Er war hierher gekommen, um als Söldner Geld zu verdienen. Er kämpfte nicht mehr gut, hatte aber nur diesen Beruf und auch darin hatte er seine Rekruten ausgebildet. Erst ganz zum Schluss, als sie schon hart waren, hatte er ihnen das Foltern beigebracht.

    Jetzt war er ihr erstes Opfer - ein Opfer, das wusste, was nach der Folter kam. In bergigen Gegenden, an Flüssen und am Meer, in Felsspalten und Stromschnellen konnte man Leichen loswerden oder die Flut nahm sie mit. Auch das hatte er sie gelehrt.

    In einer Klamm zwischen den ausgewaschenen Hügeln am Rande der Hochebene, da hätte er einen Körper deponiert. Ohne anstrengende Grabarbeiten, ohne Feuer oder Säure.

    Er hasste seinen eigenen Schweiss, der in den Wunden brannte. Der Klingendraht hatte sich in seine Haut gefressen. Er hatte die Spur eines Parasiten hinterlassen, der sich in Spiralen von den Knöcheln zum Hals hoch arbeitet, quer durch eine Tätowierung mit gekreuzten Säbeln über einem geborstenen Stahlhelm.

    Aber das sah er nicht. Er sah auch die Schnitte nicht. Er spürte nur die Route des Schmerzes, während er in das trostlose Weiss des Neonlichts starrte.

    Angst und Schmerz - mehr brauchte es nicht. Nie brauchte es mehr.

    Die Kraft zum Schreien hatte ihn längst verlassen, da verstand er endlich, dass er ein Menschenopfer war. Das Verstehen befreite ihn. Es beendete die Suche nach Gründen.

    Es war nie um ihn gegangen. Sie brauchten bloss das Ritual.

    Ein Mensch musste zerstört werden.

    Die Organisation hatte in letzter Zeit ihre Ziele nicht erreichen können. Die Kontrolle über die wichtigen Landesteile war brüchig geworden. Selbst die Versammlungen für die Gläubigen waren nicht mehr gut besucht. Darum brauchten sie ein Menschenopfer.

    Sein Blut sollte die Wende bringen.

    Wie die Alten glaubten sie an das Blut und an die Wunde.

    Ihren Herrn wollten sie damit gnädig stimmen und die Truppe gefügig machen.

    Er hätte ihnen sagen können, dass sie so nichts erreichen würden. Aber warum hätten sie auf Worte hören sollen,

    die aus einem wunden Stück Fleisch kamen? Es war viel leichter, den Blick am Blut zu laben. Und nicht nur den Blick.

    Einer tauchte seinen schmutzigen Finger hinein und leckte daran.

    Er war jung und seine Augen glänzten. Er war einer der Gelehrigsten unter den Rekruten. Sein Blick wich nie aus.

    Erst jetzt verstand der Mann den Grund für diese Wissbegier.

    Der Junge genoss die Folter. Er war so gierig darauf, dass er sie schmecken musste. Er hätte das gleich sehen müssen, er hätte es wissen können.

    Erst jetzt sah er klar. Sie hatten ein Ding aus ihm gemacht.

    Und er würde ein Ding bleiben. Als er das verstand, kam die Gelassenheit. Er konnte nichts mehr tun, sein Los war längst gezogen und er gab sich verloren.

    Die Leiche warfen sie auf die Strasse. Nicht wie sonst immer in den Strassengraben, sondern quer über die Fahrbahn. Autoreifen würden den Mann noch weiter entstellen.

    Alles, was eine Identifizierung erschwerte, war ihnen recht.

    Dass sie den Toten mit den Wundmalen aber auf die Strasse warfen und nicht in eine Felsspalte, zeigte wie sicher sie sich fühlten.

    Die Drahtfolter war ihre Signatur. Sie wollten ihn in der Zeitung sehen. Als unbekanntes Opfer zwar, aber eindeutig als ihr Opfer.

    Sein zerstörter Körper war eine Botschaft an alle Mitglieder der Organisation und an die anderen. So würde es jedem gehen,

    ob er sich ihnen entgegenstellte oder nicht. Jeder, den die Daumenlosung dazu bestimmte, würde so enden.

    I. Epidermis

    Es war ihr Fest und sie wussten beide, was sie von ihm wollte. Sie ging über die Tanzfläche zur offenen Flügeltür und liess ihn im Wintergarten stehen. Sie sah sich nicht nach ihm um und auch er wollte das nicht – er würde in jedem Fall nach kommen. Einige tanzende Paare mussten ihr ausweichen, manche flüsterten miteinander, andere lachten oder riefen ihren Namen und sie lächelte.

    Er warf einen letzten Blick zum See auf die roten und grünen Positionslampen der Segelboote. Dann folgte er ihr. Manche Gäste bemerkten ihn, aber niemand sprach ihn an und so wollte er es.

    In der Eingangshalle nahm er die Freitreppe. Den Weg kannte er. Im letzten Sommer war er dem Mann nach oben gefolgt,

    von dem seine Kundin jetzt schon geschieden war. Auch damals hatten die Gäste ihn registriert und auch damals hatte er ihnen nicht in die Augen blicken müssen, um ihre Gedanken zu kennen. Für sie war er nicht mehr als ein erotisches Symbol. Was seine Kunden von ihm erwarteten, sollte vor allem in der Phantasie der anderen geschehen.

    Die Tür war nur angelehnt. Er drückte sie auf und trat ins graue Licht des Schlafzimmers. Die Frau wartete mitten im Raum.

    Sie bat ihn, die Tür zu schliessen. Ihr schlichtes Seidenkleid lag auf dem Bett und sie war jetzt nackt, trug aber eine schwarze Handtasche, die matt glänzte wie ihr Haar. Ihre Haut war weiss, ihr Busen klein mit sehr dunklen Brustwarzen - die Hüften schmal, der Bauch ganz flach. Sie nahm das Geld aus der Tasche und gab es ihm.

    So war es meistens. Reiche gaben ihm Geld, damit sie über ihn verfügen durften. Selten sprach er mit ihnen. Sprechen lag ihm nicht. Manchmal legte er ihnen nur den Arm um die Schultern, die männlich breit sein konnten oder schmal wie bei der Frau.

    Frauen liessen sich mit verschlossenem Mund von ihm küssen, manche öffneten später die Lippen, nur selten wollten sie mit ihm schlafen. Selbst nackt begnügten sie sich damit, ihm ihren Körper zu zeigen. Oder sie wollten seinen sehen,

    seine Besonderheiten.

    Die Männer schoben oft seinen Arm zur Seite. Er lag dann neben ihnen und starrte in die Dunkelheit. Ihm machte das nichts aus.

    Er wusste, dass sie Angst vor ihm hatten, und er kannte genug andere, die nicht so waren.

    Die Frau wollte ihn ganz und so bekam sie ihn. Schon nach dreißig Minuten gab sie ihm den letzten, trockenen Kuss und flüsterte Danke. Sie steckte ihre Haare hoch, zog ihr graues Seidenkleid an und ging zu ihren Gästen zurück. Er sagte nicht Danke. Er bedankte sich nie bei seinen Kunden. Wenn es nach ihm ginge, gäbe es dafür kein Bitte und Danke.

    Er wartete noch einige Minuten, dann verliess er den Raum und bestellte mit dem Handy ein Taxi.

    Durch den kalten Hall des Partylärms lief er ins Licht der Eingangshalle. Draussen empfing ihn kühle Dunkelheit, Kies knirschte unter seinen Füssen und feuchte Blüten dufteten schwach. Er dachte an das geschundene Parkett im Tanzsaal - abgewetzt in einer Nacht.

    Die Frau würde ihm vielleicht in den nächsten Wochen auf einer der Parties in der Stadt begegnen. Sie hatten jetzt eine Geschichte wie er sie schon mit vielen gehabt hatte. Sie würde sich flüchtig zu ihm beugen, seine Wange mit ihren Lippen streifen und lachend weiter ziehen in einer Wolke von Guerlain oder Chanel. Oder aber sie würde ihn nicht mal beachten.

    Viele machten es so.

    Das Taxi kam. Er stieg hinten ein, nannte dem Fahrer das Ziel und lehnte sich zurück.

    In der Wohnung hörte er den Anrufbeantworter ab.

    Keine Nachricht von Sophia Bolund. Er wusste nicht genau,

    ob er wirklich mit ihr zusammen war, ob es so etwas überhaupt noch gab. Wollte Sophia wie die anderen nur mit ihm gesehen werden oder hatte etwa auch sie Angst vor ihm? Er hätte es nicht sagen können und es schien ihm auch nicht wichtig zu sein.

    Er ging in die Küche und setzte Kaffee auf. Kaffee machte ihn selten wach, war nur heiß und bitter und holte ihn auf den Boden zurück. Aus dem Kühlschrank nahm er sich einen Joghurt und löffelte ihn aus. Er warf den leeren Becher weg, goss sich eine Tasse Kaffee ein und ging ins Schlafzimmer, wo er sich auf die Bettkante setzte. Sein Bett stand gegenüber dem kleinen Dachfenster. Im Fensterausschnitt blinkte der Turm mit der Kugel, die tagsüber silbrig glänzte. Dieser Anblick hätte ihn mit Vielem versöhnt, wenn er ein versöhnlicher Mensch gewesen wäre.

    Nachts klingelte das Telefon. Er warf die Decke zur Seite und tastete im Dunkeln. Als er den Hörer endlich gefunden hatte, war die Leitung tot. Dann kam doch noch Etwas. Ein lang gezogenes Seufzen, dachte er, aber es war nur irgendein Störgeräusch, eine Art Sphärenklang in der Leitung, und er legte auf.

    Um viertel vor acht wachte er auf. Die Sonne schien durch das Dachfenster auf den großen Spiegel im Flur, einzelne Strahlen strichen über sein Gesicht. Er wälzte sich aus dem Licht und vergrub sich im Kissen. Sein Haar schimmerte schwarz auf dem hellen Bezug. Nach einigen Minuten begann der Wecker zu klingeln. Erst sanft, dann schrill. Er stellte ihn ab und blieb auf dem Bauch liegen. Fünf Minuten später schepperte der Reservewecker. Mit einem Schlag der flachen Hand brachte er ihn zum Schweigen und schlief wieder ein.

    Später kam er doch noch hoch. Er schwenkte die Beine über die Bettkante und trottete ins Bad, wo er sich auf die wacklige Toilettenschüssel setzte. Schon seit er eingezogen war, störte ihn das Kippeln , aber er unternahm nichts dagegen.

    In der Küche legte er den Kaffeefilter ein und füllte die Maschine mit Wasser und Kaffee. Röchelnd nahm sie ihre Arbeit auf und stiess bald Dampfwolken aus.

    Er hörte den Anrufbeantworter ab. Eine Nachricht von Sophia, im Hintergrund Partylärm. Hi Manie, ich bin im Wedding in dieser neuen Produzentengalerie, alle sind total gut drauf, komm doch auch noch vorbei, würde mich echt freuen. Chiaoi.

    Würde mich echt freuen, seine Imitation von Sophia Bolund war nicht schmeichelhaft. Er zog eine katzenhafte Fratze und presste mit verstellter Stimme ein Alle-sind-total-gut-drauf hervor, das er mit einem grellen Chiaoi abschloss.

    Sie war gar nicht so. Sie verstellte sich nur, wenn sie mit ihm sprach. Lag das etwa an ihm, an seiner Wortkargheit? Sprechen lag ihm zwar nicht, aber Imitieren liebte er. Besonders wenn er allein war. Anders wäre es auch nicht gegangen. Er kannte jedenfalls keinen, der sich gern nachäffen liess.

    Skander goss sich einen Kaffee ein, setzte sich mit dem Becher ins Bett und starrte durch das Dachfenster den Himmel an.

    Wann hatte er Sophia gesagt, dass er Manie hiess? Gleich beim ersten Mal? Manie - der Name ließ sich nicht so leicht einordnen. Hitchcock-Fans kannten ihn natürlich. Allerdings mir dem R, das er mittlerweile gestrichen hatte – seine Huldigung an psychisch abnorme Zustände.

    Marnie, die traumatisierte Diebin mit dem schrecklichen Geheimnis, das alle Traumatisierten hatten. Oder dachten sie das nur und waren in Wirklichkeit Hunderttausende,

    die isoliert voneinander Ähnliches erlebt hatten? Ihr Geheimnis wäre dann gar kein Geheimnis. Vielleicht war das Trauma am Ende nur, zu denken, man sei mit dem Schrecklichen allein.

    Er strich sich das Haar aus dem Gesicht. Denken verbesserte nichts. Man sollte einfach damit aufhören oder es wenigstens dämpfen.

    Von Kokain bis Mescalin hatte er alles ausprobiert, aber seine Gedanken machten trotzdem noch immer, was sie wollten.

    Er hatte keine Lust mehr auf unausgeschlafene Gedanken und stand auf.

    Im Badezimmer zwängte er sich in die enge Duschkabine unter der Dachschräge und verfiel sofort dem heissen Wasserstrahl.

    Als er die Augen öffnete, sah er den schwarzen Schimmel am Wannenrand. Er wischte mit dem Fuss darüber und spülte die Schlieren weg. Beim Abtrocknen sparte er den Fuss aus und warf das Handtuch in die Ecke auf den Haufen mit der Schmutzwäsche. Dann zog er sein tarngrünes T-Shirt und Jeans an. Zum Schluss schlüpfte er in die ausgeleierten Bastschuhe. Bald würde er sich wieder in Winterschuhe zwängen müssen. Sie machten Klötze aus seinen Füssen – hölzerne Marionettenfüsse. Er stopfte fünfzig Euro von seinem Honorar in die Hosentasche und stieg die sechs Etagen zur Straße hinunter.

    Sechste Etage ohne Fahrstuhl - solche Dachgeschosse kosteten nicht ganz so viel. Wenig genug jedenfalls für einen ohne festes Einkommen.

    Er kam durch den halb verwilderten Park und dann über das Gelände der alten Brauerei. Die Reste der grossen Brauereien lagen am Geländebogen der Abbruchkante. Hier hatte es im letzten Jahrhundert genügend Platz für dreistöckige Kellergewölbe und in der Tiefe darunter sauberes Wasser zum Brauen gegeben. Ausser seinem Vater kannte er niemanden,

    der so etwas wusste. Und den hatte er seit fünf Jahren nicht mehr gesehen.

    Die Brauereien waren längst still gelegt. Sie waren in der DDR zerfallen. Nachdem die DDR selbst zerfallen war, hatte der Ausbau zu Kulturzentren oder Büroflächen begonnen.

    Tief unter der Erde in den Kellergewölben gab es noch Parties. Er mied sie inzwischen.

    Zu viel Hoffnung in der schwitzenden Menge, zu viel Hoffnung, die nie in Erfüllung gehen würde.

    Er nahm die U 8 Richtung Süden. Am Hermannplatz stieg er im Trott der Masse die Treppe hoch, ging dann über den Platz, sah wieder die Dealer in den Hauseingängen. Er wich ihnen aus und steuerte die Hermannstraße an. Vor einer zerbeulten Stahltür blieb er stehen. Quer darüber an der rau verputzen Wand prangte in Neon der Name Genderette.

    Der Schriftzug sah aus wie das Schild eines Waschsalons aus den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts.

    Skander klopfte und wartete. Zu lange, wie er fand. Er war hier schliesslich die Attraktion. Carlito, der Manager, liess ihn trotzdem erst nach fünf Minuten rein. Skander begrüßte ihn routiniert mit einer knappen Umarmung und folgte der schmächtigen Gestalt mit dem schwarzen Pilzkopf durch den engen Flur voll kaltem Rauch und Schweißgeruch.

    Der Zuschauerraum fasste 120 Sitze, die Bühne war nicht mal sechs Meter breit. Du weisst ja, wo Du mich findest, sagte Carlito. Skander nickte stumm und stieg auf die Bühne. Carlito verschwand hinter einer Tür mit der Aufschrift Bureau.

    Skander ging in die Garderobe, zog sich einen muffigen, schwarzen Jogginganzug an und drehte die Anlage mit dem Soundtrack auf.

    Von David Bowie bis zu den Einstürzenden Neubauten war alles vertreten, was nach dem Berlin der großen, vergangenen Freiheiten klang. Skander verliess sich darauf, dass sich kein Mitarbeiter der Gema ins Genderette verirren und Nutzungsbeiträge eintreiben würde. Hier kannten sich alle. Schon immer.

    Er hatte das Thema der Nutzungsrechte mit Sophia Bolund anschneiden wollen, war aber immer zu faul gewesen.

    Im Bett hatte die Gema nun wirklich nichts zu suchen.

    Er stellte sich breitbeinig auf die Bühne. Nimm Dir die Bühne, sein alter Lehrer vom Friedrichstadt-Palast hatte ihm das eingebläut, dann gibt sie dir alles, was Du haben willst:

    Weiber, Geld, Ruhm. Darauf konnte er verzichten. Ihm reichte eine perfekte Show.

    Er ging Choreographie und Playback-Passagen Takt für Takt durch. Bei Fehlern spulte er den Soundtrack zurück und wiederholte die Stelle so lange, bis sie sass. Versteckt hinter einem Betonpfeiler sah Carlito ihm dabei zu.

    Skander hasste es, beim Proben bespitzelt zu werden.

    So nannte er offene Bewunderung und zwang damit selbst Carlito zur Heimlichkeit. Mit dem gesichtslosen Publikum kam er klar. Aber einzelne Beobachter brachten ihn raus. Sie liessen ihn sogar mitten in der Show den Faden verlieren. Und das hasste er am meisten.

    Manche in der Szene betrachteten ihn als Control Freak und fanden seine Shows zu perfekt. Skander tanze nur für sich selbst, für sein inneres Bild von Perfektion.

    Kalt, hatte ein Kritiker seinen Stil darum mal genannt.

    Aber wer wurde schon Kritiker?

    *

    Zwei Tischgestelle mit Milchglasplatten und an den geweissten Wänden Reihen weisser Regale voll mit weissen Ordnern, von denen viele noch auf die Akten warteten. Das war ihre Kanzlei.

    Durch die Baulücke auf der anderen Strassenseite reichten die Sonnenstrahlen selbst im Winter mitten in den Raum. Heute brachten sie sogar die rückwärtige Wand zum Leuchten. Darauf hatte Sophia Bolund Wert gelegt. Zu lange hatte sie in dunklen Einzimmerwohnungen gelebt, in die auch an Hochsommertagen nie die Sonne schien.

    Sie hatte sich selbst dafür entschieden, aber auch das Selbstgewählte kann man hassen lernen. Beim Gedanken an feuchtkalte Altbauten wurde ihr Mund noch eine Spur kleiner.

    Sie dachte an Makler, die ihr vor der Kanzleigründung Zeit gestohlen und Geld dafür verlangt hatten. Sie wollte nicht immer auf andere angewiesen sein. Besonders wenn die ihre Wertvorstellungen nicht teilten. Auch den Raum hatte sie am Ende selbst gefunden. Ein Stoffhandel hatte aufgegeben.

    Im Schaufenster das handgemalte Schild mit der Aufschrift

    Zu Vermieten.

    Sophia Bolund hatte die Kanzlei vor zwei Jahren mit ihrer Kommilitonin Almut Bassendorf gegründet. Die meisten Mandanten kamen aus der Nachbarschaft am Südstern. Gehobenes, alternatives Milieu. Lehrer, Senatsangestellte, Architekten und als Neuzugang zwei Werberinnen aus einer Agentur, die nicht weit entfernt einen Büroblock hatte hochziehen lassen. Die dazugehörigen Lofts hatten schon in der Bauphase einige Brandbomben abbekommen. Flammen hatten die Styropor-Isolation der Aussenwände abgeschmolzen.

    Solche Anschläge brachte das Viertel beiläufig hervor wie Hundehaufen auf dem Gehweg.

    Waren die Agenturinhaber wirklich an dem Bauprojekt beteiligt? Sie wußte es nicht.

    Für sie war das Hörensagen. Ihre Sympathie war zwar auf der Seite der Brandstifter. Als Anwältin würde sie das aber nicht offen aussprechen.

    Vor drei Wochen hatte Sophia die erste türkische Mandantin bekommen – Aishe Yldirmaz. Es ging nicht um die Frau selbst, sondern um ihre Mutter. Sie wollte die Scheidung von einem Mann durchsetzen, der angeblich in Spanien untergetaucht war.

    Sie wußte noch nicht so recht wie sie der Frau helfen sollte.

    Am Nachmittag hatte sie einen Telefontermin mit dem spanischen Konsulat. Bis dahin musste sie ihren Kater loswerden.

    Sie setzte sich an den Schreibtisch und zog die Schublade auf. Zwischen Büroklammern, Tampons und eingetrockneten Kugelschreibern kramte sie zwei Aspirin hervor. Sie ging zur Spüle, liess Wasser in ein Glas laufen und warf die Tabletten hinein. Sie fand, das sprudelnde Zischen dauere länger als nötig.

    Würde sie heute Abend zu müde sein für Skanders Premiere im Genderette? Manie hatte einen anderen Rhythmus als sie.

    Auch deshalb war sie so lange in der Produzentengalerie geblieben. Sie hatte geglaubt, er würde auf jeden Fall kommen. So spät, dass es schon früh war - sie hielt das für seine Zeit.

    Er war aber nicht mal ans Telefon gegangen. Ihre Enttäuschung hatte sie mit einem Glas Fischblut herunter gespült. Das Zeug schien immer noch kalt und zäh durch ihre Adern zu strömen.

    Acht Wochen kannte sie Skander nun und hatte keine Ahnung, wer er war und was daraus werden würde.

    Sie kam aus einer reichen Anwaltsfamilie. Die Wochenenden verbrachte sie gelegentlich auf dem gepflegten Grundstück ihres Vaters am Wannsee in der Bolund-Villa. Sie kam sich dabei spiessig vor. Das würde sie aber nur zugeben, wenn sie dazu wohlwollend und vom richtigen Gegenüber aufgefordert wäre - einem Gegenüber das ihre Wertvorstellungen teilte.

    Frühere Klassenkameraden aus der Oberstufe trafen sich heute noch regelmässig in der Eierschale. Zehn Jahre nach dem Abitur sassen sie bei Gin and Tonic. Fischblut wäre in dieser Runde nicht gut angekommen. Sie galt als Aussteigerin. Allein die Kanzlei im Ladengeschäft - Dein Kinderladen sagte Konstantin, für den sie vor über zehn Jahren Gefühle entwickelt hatte,

    deren Reste sie pflegte.

    Er hatte sich verändert. In die vorgeschriebene Richtung. Längst war er in einer amerikanischen Kanzlei am Gendarmenmarkt.

    Operettenwelt hatte sie das mal genannt, worauf Konstantin sich abrupt Flavia Cartagen zugewandt hatte. Einer dunklen Schönheit, die zwar ganz nett, aber wiederum auch nur nett war, wie Sophia fand.

    Sie wusste nicht, womit Flavia ihr Geld verdiente. Vermutlich fütterte ihr Vater sie durch. Ein südamerikanischer Oligarch mit Zugang zur dunklen Schönheit nie versiegender Geldströme. Ganz so war es in Sophias Familie nicht.

    Sie ruderte zwar im Club unten am See. Und lief die Kanzlei erst, würde sie im Tennisclub Rotweiss spielen. Noch aber ruhte ihre Mitgliedschaft. Auch dem Golfclub Wannsee würde sie beitreten, auf Empfehlung und Wunsch ihres Vaters,

    Dr. Siegfried Bolund.

    Sie zögerte damit aber noch. Auch wenn sie es schliesslich irgendwann täte, würde all das kaum etwas an ihrer systemkritischen Einstellung ändern, dachte sie.

    Geselligkeit mit diesen Leuten musste keine Verbrüderung sein, war aber hilfreich wenn man das Establishment in seine Schranken weisen wollte. Das war ihr Ziel, vielleicht sogar ihr Lebensziel. Sie wollte dabei innerlich unabhängig bleiben.

    Die erste Kanzlei hatte sie darum ohne Unterstützung ihres Vaters gegründet.

    Im ehemaligen Stoffladen, neben einem Döner Imbiss. Manchmal zog der verschwitzte Bratgeruch unter der Tür durch. Das störte sie, aber sie gestand es sich nicht ein.

    Ihrer systemkritischen Einstellung traute Sophia Bolund viel zu. Ein Professor für Zivilrecht hatte sie einmal gefragt, was das Wort systemkritisch für sie bedeute. Ob sie da einen bestimmten Ansatz verfolge? Marxistisch? Strukturalistisch? Oder das jeweilige Post? Verwirrende Formulierung, aber es war ihr gelungen. Sie hatte ihre Überzeugung spontan in einen Satz fassen können: Man darf den Leuten, die ihre eigenen Lügen glauben, ihre Lügen nicht glauben.

    Sie wußte dennoch, wie wichtig das Milieu und seine Lügen waren, wenn man eine halbwegs einflussreiche Rolle spielen wollte. Auf ganz andere Weise wichtig wurde es in einer Zweierbeziehung.

    Sophia sah Skander vor sich. Sehr attraktiv, sehr androgyn.

    Voll kalkulierter Undurchschaubarkeit. Boshaft wie eine Femme fatale, ungeschickt wie ein Mann. Oder kalkulierte er das alles gar nicht? Er wirkte zerbrechlich. Das ließ sie zweifeln, ob er hart sein konnte. Zeigte seine Härte sich etwa als Gleichgültigkeit - der unerbittliche Hedonist ignoriert alles, worauf er keine Lust hat?

    Welches Milieu hatte ihn überhaupt geprägt? Ignorierte er das auch? Sie kannte nur flüchtig, was er die Gender-Szene nannte. Die scharte sich angeblich um den Club Genderette. Aber woher kam Skander?

    Bei ihr war das ganz klar. Selbst ihre Kritik am System war noch ein bürgerlicher Reflex. Aber welchen Reflexen gehorchte Manie? Was war seine Biographie? Nach dem wenigen – fast nichts - was sie über ihn wußte, stand er allein da.

    Allein dastehen, das wollte er. Sie bewunderte das. Einerseits. Andererseits beunruhigte es sie. Er liess sich nicht einordnen. In erotischer Hinsicht fand sie das aufregend.

    Auch sie wollte sich im Bett nicht mehr auf ein Geschlecht beschränken, alles ausschöpfen, alles erkunden. Und Manie war zweifellos das sexuell umfassendste Geschöpf, dem sie so nahe gekommen war.

    Aber seine hartnäckige Schweigsamkeit, seine peinliche Angewohnheit, fast unbewusst Leute zu imitieren und sein völliger Mangel an Herzlichkeit passten nicht zu ihrer Lust auf gesellschaftliche Geltung.

    Schon lange suchte sie nach einer Gelegenheit, Skander ihrem Vater vorzustellen und wich ihr doch aus. Sie dachte an das jährliche Eisfest auf dem Seegrundstück der Bolunds und verwarf es gleich wieder, weil sie die Lästermäuler schon jetzt hörte. Dieser Freak, typisch Sophia, sie will uns wieder was beweisen. Beim Gedanken daran und an die Möglichkeit, dass sie damit sogar recht hatten, zog sich ihr Mund zum zweiten Mal an diesem Morgen zusammen.

    Das Telefon klingelte. Sie hob ab und meldete sich mit dem vollen Kanzleinamen und ihrem eigenen Nachnamen,

    was überkorrekt klang.

    Eine leise Männerstimme wollte wissen, ob die Ex-Freundin ihm den Umgang mit dem Sohn verbieten könne, nur weil er versehentlich mal den Unterhalt nicht gezahlt habe.

    Der Anrufer hatte sich nicht vorgestellt. Sie fragte also nach seinem Namen und notierte ihn auf der Schreibunterlage.

    Dann beruhigte sie ihn, verwies auf die Gesetzeslage, ohne ihm gleich alle Details zu verraten. Dafür vereinbarte sie einen Termin in der kommenden Woche und notierte Tag und Uhrzeit neben seinem Namen. Wenn man sie gleich am Telefon beriet, wurden nie Mandanten aus ihnen. So viel hatte sie in den ersten zwei Jahren ihrer Selbstständigkeit gelernt. Oder soweit hatte sie sich in den ersten zwei Jahren schon dem wirtschaftlichen System angepasst, dachte sie, während sie den Hörer noch in der Hand hielt.

    Gewinn ist gut, das war die Wahrheit des Systems. Aber eigentlich war es seine Lüge, die sie übernommen hatte, und die sie jetzt aktiv aufrecht erhielt. Wenn das System vor Gericht stünde und sie vorm Staatsanwalt ihr Verhalten beschreiben müsste, wäre es das einer Komplizin, die Anrufern honorarpflichtige Termine aufdrückte. Sie verbog sich in diesem Punkt, weil das die Rolle als Rechtsanwältin verlangte. Was nichts kostete, war eben nichts wert. Als Anwältin musste sie also Geld verdienen oder kostenlose Rechtsberatung am Telefon anbieten. Aber das war etwas für realitätsblinde Idealisten oder Studienabbrecher, die nicht wirklich eine Rolle spielen wollten. Damit hätte sie ihrem Vater und auch ihrem Bruder Maximilian nicht kommen dürfen.

    Keine Marotten, bitte hätte ihr Vater gesagt.

    Egal. Mit einem Kater liess sich das jedenfalls nicht aushalten. Sie kippte den restlichen Aspirinsprudel in einem Zug runter, setzte frischen Kaffee auf und stellte zwei Tassen auf den Schreibtisch. Dann bemerkte sie ihren Fehler und brachte eine Tasse in die Küche zurück.

    Sie musste sich Manie in dieser Situation vorstellen. Erstens hätte er keine zwei Tassen geholt und wäre es ihm zweitens doch passiert, hätte er bestimmt die überflüssige Tasse nicht wieder zurück gebracht.

    Almut Bassendorf, die zweite Tasse, hatte vor drei Tagen ihren Schreibtisch leer geräumt. Sie hatte bei einer internationalen Kanzlei unterschrieben, wo sie das Fünffache verdienen würde. Sophia wollte ihr das nicht übel nehmen. Almuts Familie war nicht wohlhabend und die Gelegenheit zu einer echten Karriere würde sich so bald nicht wieder bieten. Sie hatte ihre Partnerin aber anders eingeschätzt. Hätte sie den Rückzug vorhergesehen, wäre es nie zu einer gemeinsamen Kanzleigründung gekommen.

    Almuts trockene Kommentare fehlten ihr allerdings schon jetzt. Aber dafür konnte sie konzentriert durcharbeiten.

    Sie schaltete den Computer ein und recherchierte über internationales Eherecht. Die Scheidung musste nach türkischem Recht vollzogen werden, wenn der untergetauchte Mann türkischer Staatsbürger war. Und das würde die Angelegenheit in die Länge ziehen.

    *

    Die Vorstellung war ausverkauft. Ihn wunderte es jedes Mal,

    dass so viele Zuschauer sich für eine Sache interessierten, die er nur für sich selbst tat. Das konnte nicht an ihm liegen, es musste das Genderette sein. Die Leute hatten keine bessere Anlaufstelle in der Stadt. Sie waren wie Hungernde, die hinterm Versorgungslasters zusammen strömten. Und er war der Blauhelm, der ihnen die Reissäcke zuwarf. Er musste es also gut machen, zielsicher und schwungvoll. Jeder sollte seine Ration Identität abbekommen. Dafür waren sie schliesslich hier. Tagsüber, in der normalen Welt, war für sie keine Identität vorgesehen. Da gab es Männer und Frauen und nichts dazwischen. Alles dazwischen wurde still und verbissen bekämpft. Keine Behörde würde sie damit durchkommen lassen, im Anmeldeformular weder männlich noch weiblich oder aber beides anzukreuzen. Und selbst das Genderette hätte nicht gewagt, sich offen Das dritte Geschlecht zu nennen. Dafür war die Zeit noch nicht reif und würde es so bald auch nicht sein.

    Wer Erfolg hatte, durfte sich vieles erlauben, wer unten war musste kuschen, das war für Skander die Kurzfassung des Zeitgeists. Aber selbst wer sich viel erlauben durfte, musste doch sehr vorsichtig damit sein, sich als Trans- oder Intersexueller zu outen. Als trenne in den Augen der anständigen Bürger eine undurchlässige Grenze die Homosexuellen von den Intersexuellen oder Inters wie manche sich selbst nannten.

    Für die schweigende Mehrheit war das noch immer eine körperliche Missbildung.

    Homosexualität liess sich als abweichendes Verhalten erklären. Aber bei Inters musste der Körper anders gewachsen sein.

    Das machte den meisten Normalen Angst. Menschen schrecken vor körperlicher Abweichung zurück. Erst recht wenn sie etwas so Wesentliches wie die sexuelle Identität betrifft.

    Ein Buckel, ein Klumpfuss oder eine Hasenscharte sind mehr oder weniger sichtbar. Daran gewöhnen sie sich oder setzen ihre Chirurgen darauf an. Aber dieses ständige Herumrätseln über das, was ein Inter wirklich zwischen den Beinen hatte oder nicht, macht sie wahnsinnig. Es lässt grässliche Phantasien wuchern und bedroht ihre mühsam konstruierten Identitäten. Homosexuelle sind immerhin Männer oder Frauen. Aber was sind Inters? Eine andere Spezies?

    Etwas, von dem man nicht weiß, was es ist, sollte besser gar nicht sein. Und wenn es das schon geben musste, dann durfte man es jedenfalls nicht heran kommen lassen. Hatten Generationen von Bürokraten nicht vor allem dafür die Normalität erfunden? Es hatte schon bessere Zeiten für die Besucher des Genderette gegeben, darin waren sich alle einig, so zerstritten sie auch sonst oft wirkten. Heute jedenfalls würde er ihnen ihre lebenswichtige Ration Identität zuwerfen, angereichert mit Selbstsicherheit und Durchhaltewillen.

    Er gibt Carlito das vereinbarte Zeichen. Carlito dreht die Anlage auf, krachender Hard Rock füllt den Raum und Skander springt auf die Bühne. Er hat sein schwarzes Haar zurück gegeelt.

    Mit rotem Lippenstift, Eyeliner und Cayal hat er sein Gesicht geschärft. Er trägt einen schwarzen, eng anliegenden Frack, darunter ist sein Oberkörper nackt - die Aufmachung eines weiblichen Transvestiten. Bei ihm dient sie der Irreführung. Transvestiten geben nur vor, ein anderes Geschlecht zu haben. Er aber ist das Andere.

    In seiner weit ausgestellten Lederhose aus Stierhaut und den derben Stiefel mit Büffelhufen - Luzifers Pferdefüsse.

    Über einen flexiblen Glasfaserstrang hat er einen schwarzen Bullenschweif ziehen lassen, der in einer riesigen Quaste endet. Das Teil hat er noch blutig aus dem Abfallcontainer einer Fleischfabrik in Oranienburg gezogen. Der Schweif ist in einen breiten Ledergürtel eingehakt und lässt sich um den ganzen Körper drehen.

    Skander bringt ihn mit einer theatralischen Drehung zum Vorschein, die Menge johlt auf und stachelt ihn mit Pfiffen an.

    Er peitscht das Ding vor und zurück, wirbelt es im Kreis und schlingt es sich um Hals und Schenkel, lässt es wie ein Lasso kreisen und schleudert es schliesslich ins Dunkle hinter der Bühne. Uralte Stimmen krächzen ein Kinderlied. Er schleudert seinen Frack weg und steigt endlich auch aus der Stierhose.

    Immer mehr Zuschauer springen auf und toben vor seinem nackten weissen Körper. Er stösst rhythmisch das Becken vor, Wellen durchzucken seine schweissnassen Glieder, er paart sich mit der rauchgeschwängerten Luft, mit dem harten Lichtstrahl, mit der aufgepeitschten Menge. Keiner sieht den hautfarbenen Slip. Alle werden ihn nackt in Erinnerung behalten und die Leerstelle mit ihren Träumen füllen. Nach drei Sekunden verschluckt ihn die Dunkelheit. Die Menge heult enttäuscht auf. Carlito lässt den Scheinwerfer wieder aufflammen. Für einen Moment nur, in dem Skander sich ein letztes Mal in ihre Netzhäute brennt.

    Der Bullenschweif kreist über seinem Gesicht mit den riesigen Augen, den weiss leuchtenden Zähnen im roten Mund,

    This is the end von den Doors, das Wummern von Hubschrauberrotoren aus Apocalypse now – ein Wahnsinniger im Sog seines Untergangs.

    Plötzlich flammt Blitzlicht auf, danach ist es noch dunkler,

    bis die Türen aufschwingen und kühle Luft in die feuchtheiße Höhle des Satyrs ström. Die Fans beruhigen sich. Betäubt von Hitze, Sauerstoffmangel und der Show verharrt die Menge in den Sitzreihen. Nur zwei blonde Frauen in schwarz, eine mit Nikon um den Hals, kämpfen sich zwischen der ersten und zweiten Reihe zum Ausgang. Niemand hat sie hier jemals gesehen. Sie sind mit einem Auftrag gekommen und haben ihn ausgeführt. Bevor das den ersten Fans klar wird, sind sie schon verschwunden.

    *

    Sophia Bolund hatte schlecht geschlafen. Das Telefonat mit der spanischen Botschaft hatte sie geärgert. In altmodischem Deutsch hatte der Attaché sie wissen lassen, dass Herr Yldirmaz ja durchaus in Spanien seinen Aufenthalt genommen haben mochte. Um das herauszufinden, bedürfe es lediglich – er hatte das Wort genüsslich gedehnt - einer Einsichtnahme in das spanische Melderegister. Er könne ihr die Telefonnummer der dortigen Anwaltskammer geben. Dort sei man ihr sicher gern behilflich, einen Anwalt zu finden, der diese Recherche für ihre Mandantin übernehmen würde. Wenn Herr Yldirmaz jedoch als Tourist unterwegs sei und eventuell deutscher Staatsbürger, dann müsse sie ihn zur Fahndung ausschreiben lassen, um ihn zu finden. Das sei dann ein europaweiter Vorgang. Ob er denn dringend verdächtig sei, ein Verbrechen wie Raub, schweren Betrug, Totschlag oder Mord begangen zu haben? Sonst sei das nämlich sehr schwierig mit der Fahndung. Das wusste sie selbst.

    Sie glaubte, Genugtuung in seiner Stimme gehört zu haben.

    Die Genugtuung eines spanischen Traditionalisten, der einer Deutschen Frauenrechtsanwältin Hindernisse beim Aufspüren eines türkischen Traditionalisten auf der iberischen Halbinsel aufzählte.

    Sie hatte sich knapp bedankt und über die spanische Anwaltskammer Kontakt zu einem Notar bekommen. Allein für die Einsichtnahme ins Melderegister hatte der einen vierstelligen Betrag veranschlagt. Auch bei ihm hatte sich Sophia Bolund bedankt und versichert, sie werde sich mit ihrer Mandantin absprechen.

    Der anschließende Anruf bei Aishe Yldirmaz hatte erst nur verblüfftes Schweigen ausgelöst. Dann einen Wutausbruch:

    Ein ganzes Monatsbruttogehalt, nur damit sie höchstwahrscheinlich erfahre, dass ihr Vater nicht ins spanische Melderegister eingetragen sei. Ausgeschlossen. Sie hatte von Sophia verlangt, andere Wege zu suchen Internet oder so.

    Dafür sei sie keine Spezialistin hatte Sophia geantwortet.

    Wofür sie denn überhaupt Spezialistin sei? hatte Aishe Yldirmaz geschrieen und Sophia war kurz davor gewesen, stumm den Hörer aufzulegen. Aishe Yldirmaz hatte sich dann aber entschuldigt und erklärt, ihrer Mutter gehe es zur Zeit sehr schlecht. Sie wolle mit einem anderen Mann zusammen leben, den sie schon seit Längerem heimlich treffe. Das sei nun heraus gekommen und die islamische Gemeinde vom Gemüsehändler bis zur Bäckerin schneide sie seitdem. Der Imam hatte sie zu einem erhellenden Gespräch gebeten. Das zehre auch an ihren, Aishes, Nerven.

    Sophia hielt sich an die Tradition der Bolunds, als sie aufsteigende Gefühle unterdrückte und Aishe Yldirmaz versprach, sich nach einem Spezialisten umzusehen.

    Ein Mandantengespräch durfte nie im Streit enden, mit dieser nüchternen Regel ihres Vaters hatte sie Aishe Yldirmaz gehalten. In der väterlichen Kanzlei Bolund & Berger waren Türkisch stämmige allerdings höchstens willkommen, wenn Sie zweistellige Millionenumsätze machten. Über den Betrag für die Einsichtnahme ins spanische Melderegister hätten dort allenfalls die Sekretariate korrespondiert.

    Sie war erschöpft gewesen und hatte das Büro abgeschlossen, um beim Französischen Crepebäcker in der Grimmstrasse eine Galette mit Käse und Schinken zu essen. Ihr üblicher schneller Mittagsimbiss.

    Sophia sass in einem Sperrmüllsessel auf dem Gehsteig und wartete auf das Essen. Ohne ihre Brille sah sie die Passanten nur als Schemen an sich vorüber ziehen - endlich mal keine Details. Sie genoss diese Verschwommenheit, bis plötzlich eine bläuliche Silhouette sie ansprach. Zögernd setzte sie ihre Brille auf und erkannte eine Frau in ihrem Alter, schulterlanges blondes Haar und geübtes Lächeln im gebräunten Gesicht. Die Frau schien sie zu kennen. Sophia aber erinnerte sich nicht gleich, dass sie ihr vor Jahren an der juristischen Fakultät über den Weg gelaufen war.

    Einführung ins Presse- und Medienrecht bei Professor Rander.

    Und Du musst die Sophia sein.

    Die Frau war sehr laut. Sophia Bolund deutete ein Lächeln an. Ärgerlich, dass sie nun ihre Galette nicht ungestört würde essen können. Dominic hatte sie eben auf ihr wackliges Tischchen gestellt. Dominic war Inhaber, Crepe-Bäcker und Kellner in einer Person. So wie neuerdings Sophia in ihrer Kanzlei war er sein eigenes Faktotum. Sie fühlte sich dadurch irgendwie mit ihm verbunden.

    Er wünschte ihr guten Appetit und verschwand wieder im Souterrain.

    Hatte diese Frau nicht einen tschechisch klingenden Vornamen?

    Und war sie nicht bloss als Gasthörerin an der juristischen Fakultät gewesen? Für eine Juristin war sie jedenfalls viel zu exaltiert.

    Die Frau streckte schwungvoll ihre Hand aus und rief Ich bin Jana! Es ist ja auch schon ein bisschen her. Weisst Du noch, Jana? Jana Brands?! Was machst Du denn so, inzwischen?

    Ein Organ wie ein Matrose an der Reling eines vorbei fahrenden Schiffes, fand Sophia. Jana hieß sie also und Sophia hatte vor Jahren einige Male mit ihr in der Uni-Cafeteria gesessen und belangloses Zeug geplaudert. Sie stand auf und schüttelte die hingestreckte Hand – mehr ein Reflex als eine Entscheidung

    Hallo Jana, war ganz in Gedanken. Entschuldige bitte.

    Aber setz Dich doch, Dein Crepe wird sonst kalt.

    Galette, verbesserte Sophia und setzte sich wieder.

    Jana lachte und setzte sich auf die abgescheuerte Armlehne von Sophias Sessel.

    Ja, die genauen Juristen, sagte sie halb zu sich selbst, Iss ruhig,

    ich löchere Dich solange mit meinen Fragen, Du brauchst bloß zu nicken oder den Kopf zu schütteln.

    Sophia Bolund musste jetzt doch lächeln Warst Du nicht in der Kommunikationsbranche?

    Journalistik, genau gesagt und jetzt mach´ ich PR und hier ist meine erste Frage: Bist Du in Daddies Kanzlei eingestiegen, wie er es damals für Dich geplant hatte?

    Sophia schüttelte den Kopf und biss endlich ein Stückchen von ihrer Galette ab.

    Du hast also eine eigene Kanzlei und Daddy hat Dir erstmal ein bisschen Startkapital spendiert.

    Sophia nickte und schüttelte den Kopf.

    Du hast also und er hat nicht?

    Immer noch mit vollem Mund nickte Sophia wieder. Sie genoss das alberne Spiel und wunderte sich darüber. Es war schon immer eine ihrer Schwächen gewesen, alles sofort und endgültig ernst nehmen zu müssen und Jana, das fiel ihr jetzt wieder ein, war schon damals in der Mensa nicht darauf eingegangen. Plötzlich mochte sie Jana dafür, dass sie sich von ihr nicht gängeln liess.

    Bei mir war es keine ganz so klare Sache. Ich hab mich von einem Ersatzdaddy anwerben lassen und nach drei Jahren lässt er mir endlich freie Hand. Aber eins sag ich dir gleich: No Sex with daddies. Alles hart erarbeitet.

    Jana fragte sich, warum sie so offen war. Vielleicht weil ihr Sophias schräg stehende Augen gefielen, die ihrem gravitätischen Getue etwas Ironisches gaben. Manchmal liessen sie auch ahnen, was hinter ihrem Wohlverhalten noch alles lauern mochte.

    Ausserdem hatte sie eben mit einem Mandanten im Sternerestaurant Cordon Bourgeoise eine Flasche 1982er Chateau Lafitte auf eine gelungene Gegendarstellung im Generalblatt geleert.

    Sophia hatte inzwischen ihre Galette aufgegessen, lehnte sich im Sessel zurück und nahm einen Schluck Cidre. No sex with daddies, dachte sie, das klingt wie ein Motto-T-Shirt für intellektuell Minderbemittelte, sagte aber höflich

    Bestell´ Dir doch auch was, der Cidre ist nicht schlecht, sie stellte ihr leeres Glas ab. Ihre Zunge war stumpf wie von Rhabarber.

    Jederzeit nur nicht jetzt, ich bin schon ziemlich beschwipst, sagte Jana und wedelte mit der Hand schlapp vor ihrem Gesicht herum.

    Sophia rückte ihre Brille zurecht. Der Cidre machte sie benommen Also, Du wolltest ja wissen, was ich mache, ich habe eine Kanzlei gleich hier um die Ecke in einem ehemaligen Stoffladen. Frauen- und Familienrecht.

    Jana nickte ernst, die Stimmungen schienen bei ihr schnell zu wechseln Eigene Kanzlei. Freigestrampelt, also.

    Frei schon, gestrampelt nicht.

    Sophia Bolund hasste das Reden in Klischees. Es spiegelte meist das Denken wider.

    Na, da hat der blonde Engel es dem alten Herrn ja mal gezeigt.

    Diese dumme Bemerkung schrieb Sophia Janas Alkoholpegel zu, ärgerte sich aber trotzdem und hielt dagegen

    Nicht ganz, ich hatte ja schon immer diesen Hang zur Exotik und Bolund & Berger steht nun mal eher für Wirtschaftsrecht.

    War Frauenrecht überhaupt exotisch? Widersprach das nicht dem, was es sein sollte: Eine Selbstverständlichkeit. Jedenfalls war es kein klar abgegrenzter juristischer Bereich. Aber so was gab es ja am Ende das Tages ohnehin nicht. Am Ende des Tages, sie dachte schon wie ihr Vater. Exotisch war ihr Leben nun wirklich nicht. Bis auf eine Ausnahme:

    Manie Skander.

    Sie hatte ihn gestern versetzt, während er sie am Abend vorher versetzt hatte und sie darum jetzt ja wohl quitt waren, was gar nicht der Grund für die versäumte Premiere gewesen war.

    Das hatte wirklich nur und ausschliesslich an der lähmenden Aussichtslosigkeit im Fall Yldirmaz gelegen.

    Jana nickte versonnen. Sie hatte ihren Patzer bemerkt und sagte Blonder Engel, das war eher als Kompliment gemeint, Du bist ja beinahe noch schöner als damals.

    Sophia nahm ihre Brille ab und polierte verlegen die Gläser mit einem Tischdeckenzipfel. Offene Bewunderung - erstens konnte sie damit nicht umgehen und zweitens wollte sie Jana Brands nicht unterm erotischen Gesichtspunkt betrachten. Und im Moment war das auch völlig unpassend. Skander erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Er war eben einer dieser merkwürdigen Fälle, die sie schon immer angezogen hatten. Der andere aktuelle Fall war die Familie Yldirmaz. Vielleicht konnte ihr Jana dabei sogar helfen. Journalisten recherchierten doch praktisch nur noch im Internet. Sie hatte sicher irgendeinen Freak an der Hand, der für sie verschlossene Quellen öffnete.

    Sophia setzte ihre Brille wieder auf und sagte

    Danke für das Kompliment. Was mich im Augenblick aber viel mehr beschäftigt als mein umwerfendes Aussehen, ist das Verschwinden eines 41jährigen Mannes türkischer Herkunft. Ich habe nicht die Mittel, ihm auf die Spur zu kommen. Ich brauche jemanden, der ein bisschen mehr als das Übliche im Internet zustande bringt.

    Hast Du nicht einen zweckdienlichen Hinweis?

    Jana Brands unterdrückte ein Lachen, weil Sophia Bolund sie in diesem Moment mit ihrem bebrillten Ernst an den längst ausgemusterten Eduard Zimmermann aus Aktenzeichen XY erinnert hatte. Ein trockener Melancholiker mit Geheimratsecken und Brille, der seine Zuschauer mit abgebrochenen Küchenmessern, geringelten Kindersocken voller Blutflecken und verbogenen Schaufelblättern vom Tatort geängstigt hatte – immer mit der Bitte um zweckdienliche Hinweise auf gemeingefährliche Verbrecher. Oder hatte er sachdienlich gesagt?

    Sie zog wortlos ihr Handy hervor und bat Sophia um ihre Nummer. Wirkt wie eine berufsbedingte Pose, die sie am Tag mindestens drei Dutzend Mal bringt, dachte Sophia und sagte elf Ziffern auf, die Jana umgehend eingab und speicherte.

    Ich werde mich mal erkundigen. Wenn ich fündig werde, ruft Dich jemand an. Sie steckte ihr Handy weg und sagte, als sei damit irgendeine Arbeit für sie erledigt Ich glaub, ich hab jetzt doch noch Lust auf einen Cidre. Fünf Minuten später klingelte ihr Telefon und sie meldete sich mit einem knappen Ja? Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, sagte sie Das war mein Büro, ich muss jetzt. Sie legte zehn Euro auf den wackligen Tisch, gab Sophia zwei warme Küsschen auf die Wangen und ging zum nahen Taxistand vorm Urban-Krankenhaus.

    Chateau Lafitte, Cidre und High Heels ergänzen sich zu anmutigem Schwanken, dem ein gelegentlicher, entzückender Hüftschwung die Kanten nimmt. Diese Formulierung entstand wie von selbst in Sophias linker Hemisphere und kam ihr ein bisschen zu manieriert vor, jedenfalls für eine Anwältin.

    Sie blieb noch eine Weile sitzen, bevor sie bezahlte und langsam zur Kanzlei zurück schlenderte. Sie wunderte sich noch, was für eine fremdartige Lebensform gerade ihren Weg gekreuzt hatte und griff nach ihrer Brille, um sie wieder ins Etui zu stecken, da sah sie den Zeitungs-Aufsteller vorm Kiosk:

    GEILER ZWITTER ZEIGT, WAS ER NICHT HAT.

    Darunter prangte das Bild. Es zeigte Skander in seinen Stierstiefeln. Er schien nackt zu sein und schwang einen Tierschwanz. Ein schwarzer Balken verdeckte den Schritt.

    Dem Leser blieb überlassen, sich vorzustellen, was er verbarg.

    Da hab ich gestern ja wirklich was verpasst, das war ihr erster Gedanke. Mit seinen zurück gegeelten Haaren, den schwarz geränderten Augen und dem schlanken Körper war Skander zwar jungenhaft, aber auch verrucht und das anstrengende Schwingen des Bullenschweifs ließ Bauch – Arm- und Beinmuskeln hervor treten.

    Er braucht jetzt sofort einen Anwalt, dachte sie und wählte seine Nummer. Ihre Brille hatte sie ganz vergessen und würde sie erst abends wieder abnehmen, kurz bevor sie sich zu ihm ins Bett legte.

    *

    Der Flurspiegel warf Lichtreflexe auf ihren Hinterkopf.

    Sie lag allein im Bett, in der Küche klapperte Geschirr. Manie machte das, was er Frühstück nannte. Es würde aus einer Kanne voll starkem Kaffee bestehen – er nannte das Gebräu Käfersaft - und aus ein paar vertrockneten Keksen mit verblasstem Schokoladenüberzug. Sophia schlug die Augen auf.

    Zusammen mit dem warmen Bett und den Küchengeräuschen gab ihr selbst die Aussicht auf das karge Frühstück ein heimeliges Gefühl, wie früher, wenn sie ihre Mutter Frühstück hatte machen hören, während sie noch faul im Bett gelegen hatte. Nach der Scheidung hatte die Haushälterin ihres Vaters die Küche übernommen und das Gefühl von Geborgenheit war verloren gegangen.

    Sie schloss die Augen und liess sich in die Tiefe der durchgelegenen Matratze sinken, in eine Trägheit, die sie noch immer einhüllte, als Manie mit einem alten Korbtablett ins Schlafzimmer kam. Er stellte das Tablett auf die Bettkante.

    Sophia sah die fleckige Kaffeekanne, vier Kekse auf einer angestossenen Untertasse, zwei alte Kaffeebecher und darüber gebeugt Manie – das Haar zerzaust, die gerade, feine Nase unter seine linke Achsel geschoben. Solche komischen Sachen machte er immer, auch in der Öffentlichkeit. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass er vor anderen so war und wußte auch nicht, ob sie das jemals schaffen würde. Er rümpfte seine Nase, sagte Bocksgestank und sah dabei aus wie eine griechische Statue. Der Gegensatz zwischen klassischer Schönheit und derber Sprache ließ Sophia zweifeln, ob sie das richtige Bild von der Antike hatte.

    Aber vielleicht war da auch gar kein Gegensatz, sondern Skander war wie ein jungen Apoll; äusserlich umwerfend schön, aber im Herzen ein derber Bauernjunge, der jeder Laune nachgab. Dass er überhaupt Frühstück für sie machte, wenn auch nach Skander-Art, war schon ein echtes Zugeständnis – soviel Kram, soviel Organisation. Einige Male hatte sie ihn den Kaffee direkt aus der Kanne trinken sehen.

    Er schien da nicht besonders empfindlich zu sein.

    Sie stützte sich auf ihre Ellenbogen, schob ihr Gesicht an seine Schulter und schnüffelte herum. Dann sagte sie Da riecht nichts und setzte sich auf.

    Geruchsblindheit ist zwar keine anerkannte Behinderung, aber das wird noch kommen. Das klang abschätzig, aber sie wusste inzwischen, dass er manches nicht so meinte, wie sie gelernt hatte, dass Dinge gemeint zu haben seien.

    Er ließ sich auf die Matratze fallen, das Tablett bekam Schlagseite und er beobachtete ungerührt den Kaffee, der aus der Glaskanne auf das Tablett schwappte und durch dessen Flechtreling aufs Laken sickerte - als gäbe es nichts Schöneres als Kaffeeflecken auf weißen Laken.

    Die Kaffeeoberfläche beruhigte sich und er füllte die Tassen, nahm sich eine, gab Sophia aber keine. Das hatte bei ihm nichts zu bedeuten, machte sie zwar nicht gereizt, aber doch ein bisschen wacher.

    Sie sagte Kuss? Er beugte sich ächzend vor und drückte ihr einen trockenen Kuss auf den Mund. Kurz und stempelig.

    Sie wusste, wie viel Kraft ihn das kostete und das lag nicht an ihr, sondern an ihm. Jedenfalls hatte er ihr das mal so erklärt.

    Sophia stopfte das Kopfkissen hinter ihren Rücken und lehnte sich an die Wand. Dann nahm sie einen grossen Schluck Käfersaft. Der Kaffee war so stark, dass sich ihre Mandeln zusammen zogen. Für Skander war das Labberbrühe, noch eines seiner eigenartigen Wörter. Er hätte seinen Kaffee auch doppelt so stark trinken können.

    Bei Manie war tatsächlich nichts so wie bei anderen Menschen, mit denen sie gegessen, getrunken oder geschlafen hatte.

    Zwar frühstückte sie mit ihrem Liebhaber im Bett, aber mehr als die dürren Worte hatte das nicht mit der romantischen Vorstellung eines Frühstücks im Bett zu tun. Und war er überhaupt ein Liebhaber oder doch eine Liebhaberin?

    Oder keins von beidem?

    Sie hob die Zeitung vom Boden auf. Geiler Zwitter, diese Idioten. Natürlich musste sich irgendwann irgendein Vollidiot auf ihn einschiessen. Warum dann nicht gleich der Grösste von allen. Schliesslich war er auch der grösste Sonderling, den sie kannte. Manie war eindeutig für eine andere Zeit entworfen, für eine andere Atmosphäre, für eine andere Art von Schwerkraft.

    Wenn sie das ernst nahm, konnte es für sie nur eines bedeuten: sie musste dafür sorgen, dass das Generalblatt ihn nicht in die Enge trieb. Er selbst würde sich nämlich nicht wehren.

    Der Angriff der Zeitung interessierte ihn etwa so sehr wie der siebzehnte Kaffeefleck auf seinem Bettlaken. Und gegen etwas, das einen nicht interessierte, konnte man sich auch nicht wehren. Sie hatte schon gestern alles festlegen wollen. Aber der erste Blick in Skanders Gesicht und der zweite auf seinen Körper mit den langen, sanften Muskeln hatte ihre Prioritäten völlig verschoben.

    Seit gestern nachmittag quälte sie das Gefühl, der Artikel im Generalblatt sei nur ein kleines Mosaiksteinchen von etwas viel Grösserem, das sich in den Medien zusammen braute. Lag es an der Schamlosigkeit des Artikels? So rücksichtslos war schon lange keine Minderheit mehr angegriffen worden. Selbst vom Generalblatt nicht, das für seinen Vernichtungswillen verrufen war. Das sich aber in den letzten zehn Jahren immer mehr gezügelt hatte und jetzt die Früchte dieser Strategie erntete. Nicht nur die Abgehängten, sondern auch die Mächtigen durften es inzwischen schamlos und unwidersprochen als ihr Medium feiern.

    Die Schroffheit des Angriffs war das eine. Die Person und die Gruppe gegen die er sich richtete das andere. Trans- und Intersexuelle waren eine der letzten Gruppen in Deutschland, die nicht mal Ansätze einer Lobby hatte. Homosexuelle, Türken, Muslime, Sinti und Roma, die Alten, die Kranken, die Behinderten – alle hatten ihre Vertreter, die zurück schlugen, wenn jemand ihre Interessen verletzte. Mehr oder weniger angemessene Vertreter, die mehr oder weniger angemessen zurück schlagen konnten. Und sie sollte Türken, Homos, Muslime, Sinti und Roma nicht in einem Atemzug nennen mit Kranken und Behinderten. Nicht mal denken durfte sie das, fand Sophia, für eine Anwältin waren solche Schnitzer nicht zulässig.

    Das dritte Geschlecht aber – Sophia hatte sich in den letzten Wochen entschlossen, diesen Begriff für Manies Leute zu verwenden - Das dritte Geschlecht konnte sich nicht wehren.

    Wer ihm angehörte, vermied die Öffentlichkeit. Suchte vielleicht Schutz in der Gender-Szene – falls es die überhaupt gab - oder bot ihr eine grelle Selbstinszenierung wie Skander. Aber das alles war nur für die Augen dieser eingeschworenen Gemeinschaft bestimmt.

    Warum wurde Manie plötzlich vom Generalblatt so wütend und grundlos an den Pranger gestellt? Gab es überhaupt eine Verbindung zwischen dem Sprachrohr der Heuchler und dem Helden der Hermaphroditen?

    Die einfachste Erklärung war, dass er und seine Leute sich nicht wehren konnten. Die beste Erklärung aber war, dass irgendjemand einen Sündenbock suchte, ein beliebiges Opfer, um die Stimmung anzuheizen für einen Zweck, der noch im Dunkeln lag.

    Sophia wusste, dass sie sich das auch alles nur einbilden konnte. Sie wusste, dass sie manchmal zu viel nachdachte. Und trotzdem war sie überzeugt, dass sich noch viel mehr gegen Skander zusammen braute. Darauf musste sie ihn vorbereiten.

    Sie würde eine Strategie mit ihm festlegen,

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