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Tiefpunkt - Thriller
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eBook301 Seiten3 Stunden

Tiefpunkt - Thriller

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Über dieses E-Book

Die packende Fortsetzung von "Schreckensgletscher"!Nelli Prenz ist den Fängen des Massenmörders Andi Cernowski entkommen, aber trotzdem will sich ein Gefühl der Erlösung einfach nicht einstellen. Ihre Finanzen stehen schlecht, und daher nimmt sie das Angebot an, ihre Geschichte an eine Klatsch-Illustrierte zu verkaufen. Es dauert nicht lange, bis sie einen Erpresserbrief erhält und darin glaubt, ihren Peiniger zu erkennen. Da sie mit dieser Unsicherheit nicht zu Ruhe kommen kann, entschließt sie sich zu dem Ort ihres Leidens zurückzukehren und die Wahrheit herauszufinden.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum11. Nov. 2019
ISBN9788726323276
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    Buchvorschau

    Tiefpunkt - Thriller - Manfred Köhler

    beabsichtigt.

    1. Teil

    1

    »Was, wie? Seine Leiche ist nicht mehr da?«

    Nelli räusperte sich und wechselte den Telefonhörer von der linken in die rechte Hand.

    »Nicht mehr da?«, wiederholte sie. »Das heißt dann wohl, er wurde verbrannt statt beerdigt?«

    »Nein, das heißt ganz offen gestanden, dass wir nicht wissen, was mit der Leiche passiert ist.«

    Die Stimme des Polizisten klang schuldbewusst. Woran hörte sie das? Sie hörte auch heraus, dass er sich bemühte, die Stimme fest klingen zu lassen, beruhigend und überlegen und keinesfalls bereit, sich auf irgendwelche Vorwürfe einzulassen. Aber nach Vorwürfen stand Nelli auch gar nicht der Sinn. Sie wollte nur Klarheit. Und keinesfalls wollte sie in den Würgegriff der Angst geraten, der sich schleichend und kriechend wieder um ihre Seele zu legen begann.

    »Dann ...« Nun musste sie sich bemühen, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Sie räusperte sich abermals und fragte so emotionslos wie möglich: »Dann lebt er womöglich noch?«

    Die Antwort kam augenblicklich, kam hart, klar und völlig überzeugt:

    »Nein, natürlich nicht. Das auf keinen Fall. Sie haben doch, glaube ich, seine Leiche sogar berührt?«

    Nelli schüttelte sich bei dem Gedanken daran, wie sie den Finger an Andis harte, kalte Wange gedrückt hatte. Gott sei Dank, hatte sie damals gedacht, Gott sei Dank, der steht nie mehr auf.

    »Sollte ich deshalb bei Ihnen anrufen? Weil Sie denken, ich wüßte, was passiert ist?«

    »Sie sollten mich anrufen, um uns Ihren Aufenthaltsort mitzuteilen. Auch wenn die Leiche nicht verschwunden wäre, müssten wir wissen ...«

    »Wie kann denn eine Leiche überhaupt verschwinden?«, fiel ihm Nelli ins Wort.

    »... müssten wir wissen, wie wir Sie erreichen können, wenn noch Fragen auftreten«, redete er gegen ihre Frage an, ohne die Stimme zu heben. »Immerhin handelt es sich um einen der ungewöhnlichsten Serienmordfälle der Polizeigeschichte. Die Ermittlungen werden sich noch Monate hinziehen, und Sie sind das einzig überlebende ..., äh, unsere einzige lebende Zeugin.«

    »Ich habe nach wie vor keinen festen Aufenthaltsort«, sagte Nelli leise und ahnte, dass sie bei der Polizei ohnehin längst als Herumtreiberin eingestuft worden war.

    »Und wo sind Sie zur Zeit?«

    »In Oberfranken, ein paar Kilometer südlich von meiner Heimatstadt Hof. Der Ort heißt Oberkotzau. Aber hier bleibe ich nicht ...«

    »Wo wollen Sie denn hin?«

    »Ich weiß es nicht, wirklich, keine Ahnung. Würden Sie mir jetzt bitte erklären ...?«

    »Ich weiß es auch nicht. Wir haben ihn nach der Bergung im Gletscher bei den anderen Toten abgelegt, und am nächsten Tag, äh ... beziehungsweise am übernächsten Tag ...«

    »Warum das denn?«, fragte Nelli entsetzt dazwischen. Sie hatten ihn abgelegt! Ihn unbeobachtet liegen und das Monstrum einfach so entkommen lassen!

    »Beruhigen Sie sich. Es war, wie Sie wissen, ein Samstagabend, als die Bergwacht ihn aus der Gletscherspalte zog. Wir hatten weder einen Krankennoch einen Leichenwagen vor Ort.«

    »Warum eigentlich nicht?«

    »Weil am Montag darauf ohnehin die Bergung der Opfer begonnen hätte, ob wir ihn bis dahin gefunden gehabt hätten oder nicht. Die Ermittlungen am Tatort waren beendet, es hätte sich alles schön in einem Abwasch erledigen lassen.«

    »In einem Abwasch, ja? Und Sie haben ihn und die anderen bis dahin unbewacht im Gletscher zurückgelassen?«

    »Das Gelände war hinreichend abgesperrt. Und Tote muss man in der Regel nicht bewachen, Nelli.«

    »Offensichtlich doch!«

    »Ein Zwischenfall wie dieser ...«

    »Zwischenfall?!«

    »Es ist nun mal passiert.«

    »Und wie soll das jetzt weitergehen?«

    »Wir ermitteln natürlich in alle Richtungen, aber ...«

    »In alle Richtungen, na toll! Tun Sie das sonst etwa nicht?«

    »Hören Sie, Nelli!«

    »Und mir gefällt auch nicht, dass Sie mich dauernd Nelli nennen. Das ist seine Art zu sprechen.«

    »Was? Wessen Art?«

    Die direkte Anrede mit ihrem Vornamen hatte eine Welle von Ekel in Nelli ausgelöst. Andis Stimme war wieder in ihren Ohren, seine an ihr festgemachten Selbstgespräche, seine Art, mit ihr umzugehen wie mit etwas, das ihm gehörte und womit er machen konnte, was er wollte.

    »Ahnst du schon, worauf es hinausläuft, Nelli? Was soll denn das, warum krümmst du dich so zusammen, Nelli? Genauso hat er mit mir geredet, als ich da lag und ihm ausgeliefert war.«

    Der Polizist schnaufte hörbar, und seine Stimme klang deutlich weniger plump vertraulich, als er weiter sprach.

    »Es tut mir leid, Frau Prenz, das konnte ich nicht wissen.«

    »Das konnten Sie nicht wissen und wir duzen uns nicht. Und ich bin auch keine Minderbemittelte, mit freundlichem Blabla zu Tätschelnde ... – Hallo, sind Sie noch da?«

    »Was ist?«

    »Mein Geld ist gleich durch.«

    »Wie kann ich Sie erreichen?«

    »Gar nicht. Ich rufe Sie wieder an.«

    »Aber da wäre noch was ganz Wichtiges zu bespre...« – Klick.

    »Verdammt!«

    Das war ihr letztes Kleingeld gewesen. Und sie hatte auch sonst nicht mehr viel Geld. Nelli ließ den Hörer sinken, bis die Telefonschnur spannte, und stützte sich an den Apparat. Ihr Atem ging stoßweise. Da stand ihr Fahrrad, wie sie selbst an die Telefonstele gelehnt. Sie war frei und unbedroht, konnte tun und lassen, was immer, konnte aufsitzen und fahren, wohin immer sie wollte.

    Aber Andi war verschwunden. Leiche oder lebendig, niemand wusste, wo das Scheusal steckte, und was es mit seinem Verschwinden auf sich hatte.

    Egal, was – es betraf Nelli unmittelbar. Er konnte hier sein, nur eine Ecke weiter, sie aus einem Geschäft heraus durchs Schaufenster beobachten. Auf sie lauern.

    Die Todesangst war mit voller Wucht wieder aufgeflammt.

    Sie sehnte sich nach dem Gefühl der Leere zurück, das sie in den vergangenen Tagen und vor allem seit dem letzten Tag, dem Besuch bei ihrer Stieftochter Monika, gelähmt hatte. Leere, Perspektivlosigkeit, Verzweiflung – alles war besser als dieses Grauen.

    Sie stand noch fünf, sechs, vielleicht auch 10 Minuten an der Hauptstraße von Hof in Richtung Schwarzenbach/Saale, starrte blicklos auf die vorbeifahrenden Autos und Lastwagen und wusste einfach nicht, was sie machen sollte. Eigentlich wollte sie zur Förmitztalsperre und von da aus zum Waldstein, zum Weißenstädter See, über Gefrees nach Bad Berneck, wieder hoch Richtung Münchberg ... – die Zickzack-Route ihres Aufbruches vor sieben Jahren. Damals hatte sie gewusst, sie musste umkehren, denn daheim wartete das Kind, ihre Stieftochter Monika, und hatte keine Ahnung, wo Nelli war. Sie hatte das Umkehren an der Förmitztalsperre aufgeschoben, hatte es auf dem Waldstein aufgeschoben, in den Fichtelgebirgsorten Weißenstadt und Bad Berneck, war ziellos auf dem alten Herrenfahrrad ihres verstorbenen Mannes, mit Stöckelschuhen und im Sommerkleid, durchs hufeisenförmige Mittelgebirge geradelt, bis sie in Richtung Bayreuth ausgeschert war, sich dort in einem Kaufhaus in der Fußgängerzone eine Radlerausrüstung gekauft und damit allen Gedanken an Rückkehr eine mehr als nur vorläufige Absage erteilt hatte.

    Wäre sie damals umgekehrt, gleich hier oder spätestens an der Förmitztalsperre ...

    Es ist nie zu spät! Nelli gab sich einen Ruck, wendete ihr Fahrrad, schob es vom Gehsteig, schwang sich auf den Sattel und nahm die Straße zurück Richtung Hof.

    2

    Sie mied den Radweg und folgte der Hauptstraße durch den Stadtteil Moschendorf über die Wunsiedler Straße Richtung Alsenberger Durchlass. War das wirklich der kürzeste Weg? Oder wäre es doch auf dem Radweg schneller gegangen? Oder gleich hier rechts über die Ascher Straße? Wozu überhaupt die Eile?

    Nelli bremste so abrupt, dass es ihr fast die Räder wegzog. Da sie sich an der Kreuzung zur Mitte hin eingeordnet hatte, musste ein Sattelschlepper hinter ihr mit einem Schlenker ausweichen und drückte auf die Hupe, bis er an ihr vorbei war. Sie hörte es nur mit halbem Ohr. Denn ihr war eingefallen: Wenn Andi wirklich noch lebte, wenn er ihr auf den Fersen war – dann war sie vielleicht jetzt im Begriff, ihm zu zeigen, wo Monika wohnte.

    Als ob er das nicht auch im Telefonbuch nachschlagen könnte! Vielleicht war er sogar schon dort oder auf dem direkten Weg zu ihr, und sie konnte das Schlimmste verhindern, wenn sie nicht zögerte.

    Wie angeleimt stand Nelli mitten auf der Hauptverkehrsstraße, wurde vom Verkehr umtost und wusste nicht weiter.

    Er war tot! Er war so zweifellos mausetot, dass es einfach lächerlich war, überhaupt umgekehrt und nach Hof zurückgefahren zu sein.

    Aber wo war dann seine Leiche?

    Es half nichts, sie musste Monika zumindest warnen. Und sie musste es persönlich tun, nicht telefonisch. Es führte kein Weg daran vorbei, sie musste noch einmal bei ihrer Stieftochter vorfahren und klingeln, ihr unter die Augen treten. Davor hatte sie doch die eigentliche Angst: Nachdem sie es nach sieben Jahren Davonlaufen endlich hinter sich gebracht hatte, sich zu entschuldigen, nun innerhalb von zwei Tagen ein zweites Mal dort aufzutauchen, diesmal mit der Horrornachricht, dass womöglich Gefahr durch einen irren Serienmörder bestand.

    Zögerlich, so langsam, dass sie beim Anfahren schwankte, setzte Nelli das Fahrrad wieder in Bewegung.

    Auch das musste sie wohl noch hinter sich bringen. Es ließ sich nicht vermeiden.

    Monika öffnete nicht.

    Nelli klingelte noch einmal und auch noch ein drittes und viertes Mal. Sie hämmerte mit der Unterseite der Faust gegen die wuchtige, dunkel gebeizte Massivholztür. Womöglich war Andi schon ...

    Blödsinn!

    Dennoch, sie konnte nicht einfach wieder davonfahren. Vielleicht eine Nachricht in den Briefkasten stecken?

    Nein, lieber warten. Es musste persönlich sein.

    Nelli ließ sich mit dem Rücken zur Tür auf das Treppchen davor sinken, spürte Splitt und Unebenheiten in ihren Hintern pieksen, wischte den Dreck schnell weg, hockte sich wieder hin, zog die nackten Beine an, umklammerte sie und starrte zum Gartentürchen, hinter dem die Straße und der Gehsteig verliefen.

    Millionenhügel nannte der Volksmund diese Gegend über der Stadt am Rande des Bürgerparks Theresienstein. Was war Nelli einst stolz gewesen, hier zu leben. Wie oft hatte sie diese Treppenstufen genommen und war den Weg zum Gartentürchen zur Straße gelaufen? Nicht oft. Meist war sie mit einem der Autos unterwegs gewesen. Ihr Weg hatte sie dann innen an der Haustür vorbei durch eine Seitentür in die Garage geführt: Garagentorfernbedienung gedrückt, die schmale, von hohen Tannen gesäumte Auffahrt zurückgestoßen, nach links eingeschlagen in die meist menschen- und autoleere Straße und ab zum Training auf den nur ein paar 100 Meter entfernten Tennisplätzen oder in Richtung Stadt zu Massageterminen, zur Maniküre, zum Shopping oder einfach nur zum Kaffeeklatsch.

    Kaum zu glauben. Kaum zu glauben, dass sie überhaupt mal so gelebt hatte. Wie lange das schon wieder her war! Und wie greifbar ihr diese Zeit doch noch schien.

    Ein Auto näherte sich. Eine Seltenheit in dieser ruhigen, in sich geschlossenen Wohngegend. Das Fahrgeräusch wurde lauter, und zugleich ging das Motorengeräusch zurück, je näher es kam. Es wurde abgebremst und dann hielt das Auto direkt am Grundstück auf der anderen Seite des Zauns. Nelli streckte sich, war unschlüssig, ob sie aufstehen sollte. Monika würde doch nicht auf der Straße parken, sondern die Einfahrt zur Garage benutzen. Eine Autotür ging auf, wurde zugeworfen, Schritte kamen näher.

    Eine Frau mit halblangen dunklen Haaren und Sonnenbrille erschien auf der anderen Seite des Gartentürchens, stutzte, erschrak, als sie Nelli sah, nahm die Sonnenbrille ab, wollte sich empören, stutzte abermals, schaute kurz auf das Fahrrad, begriff und fragte erstaunt: »Nelli?«

    »Ja, ich bins, Stefanie.«

    Nelli lächelte unsicher, stand auf und ging der Schwester ihres verstorbenen Mannes entgegen, die sie von Kopf bis Fuß musterte.

    »So siehst du jetzt also aus ...«

    Stefanies erstaunter, zunächst freudig überraschter Gesichtsausdruck war sofort nach dem Erkennen einer Miene der Ablehnung, Verbitterung und herablassend distanzierter Höflichkeit gewichen. Der Blick brannte Nelli in der Seele, sie las darin Genugtuung, sogar eine ganz offene, diebische Freude: Früher warst du die Attraktivere von uns beiden, aber sieh dich jetzt mal an!

    »Hat Moni dir nicht erzählt, dass ...«

    »Doch, deshalb bin ich ja hier.«

    Stefanie öffnete das Gartentürchen, kam herein, ließ es offen stehen, näherte sich Nelli bis auf einen Meter Abstand und nahm Aufstellung auf dem linken Bein als Standbein, das rechte leicht ausgestreckt ihr entgegen, die Botschaft war eindeutig: Komm mir nicht zu nahe!

    »Ich hab geklingelt, aber es macht niemand auf«, sagte Nelli verunsichert. »Wollt ihr euch hier treffen?«

    »Nein, ich schau nur nach dem Haus.«

    »Dann ist Moni gar nicht da?«

    »Warum interessiert dich das? Was machst du überhaupt schon wieder hier?«

    »Na, also hör mal!«

    »Leidest du an Gedächtnisschwund oder so was?«

    Nelli senkte resignierend den Kopf.

    »Hör mal, Stefanie, ich hab Moni ...«

    »Nenn sie nicht Moni, verdammt noch mal!«

    »Ich hab Monika vorgestern alles erklärt, und ich bin gern bereit, es auch dir zu erklären. Lass uns nicht mit Vorwürfen neu anfangen.«

    Stefanie zog ihr ausgestrecktes Bein zurück und machte es zum Standbein. Sie stützte die Hände in die Hüfte und produzierte einen Schnaufer der Empörung durch die Nase.

    »Neu anfangen? Du bist ..., also das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: gerne bereit oder wie war das? Du willst alles erklären und neu anfangen? Also, das ist doch ... da fehlen mir einfach die Worte!«

    »Das war so nicht gemeint. Ich wollte nur ...«

    »Weißt du, was ich glaube?«

    Nelli biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf.

    »Dir ist das Geld ausgegangen.«

    »Nein!«

    »Du hast das Konto geplündert, und jetzt willst du an das eigentliche Erbe ran.«

    »Stefanie ...«

    »Du bist wirklich das Letzte.«

    Sie trat einen Schritt zur Seite, deutete auf das offene Gartentürchen und starrte Nelli hasserfüllt an.

    »Raus hier, auf der Stelle! «

    Nelli wurde es zu dumm, und sie verschränkte als Zeichen, nicht weichen zu wollen, die Arme.

    »Also, tut mir leid, dass ich das so deutlich sagen muss, Stefanie, aber das ist streng genommen immer noch mein Haus und Grundstück.«

    »Wie viel willst du?«

    »Was?«

    »Sag schon, wie viel? Nenn einen Betrag.«

    »Ich hab Monika nicht um Geld gebeten. Hat sie dir das etwa erzählt?«

    »Nein, so plump bist du natürlich nicht, davon gleich beim ersten Besuch anzufangen. Erst mal wurde das Drama der reuigen Sünderin aufgeführt.«

    »Also, das wird mir jetzt zu blöd, Stefanie. Wenn du nicht bereit bist, vernünftig mit mir zu reden ...«

    »Zwischen uns gibts nichts zu reden!«

    »Wenn du das so siehst. Aber Monika hab ich was zu sagen. Also, wo ist sie?«

    »Nicht hier.«

    »Wo?«

    Stefanie lächelte böse.

    »Das wüsstest du gern. Aber sie will nicht, dass du es weißt.«

    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Monika ...«

    »Oh doch. Sie ist gestern gleich nach deinem Besuch abgereist, um dir ja kein zweites Mal begegnen zu müssen.«

    Nelli verzog das Gesicht und schüttelte skeptisch den Kopf.

    »Wohin denn abgereist?«

    »Ich bin nur hier, um ihr ein paar Sachen nachzuschicken, die sie vergessen hat.«

    »Also mal langsam, das war ein vollkommen vernünftiges Gespräch. Ich glaube nicht, dass ...«

    »Ach, du glaubst nicht, dass sie das erst mal verarbeiten, erst mal begreifen musste, dass du dich tatsächlich erdreistest, hier nach über sieben Jahren wieder aufzukreuzen, und dass die Sache erst so richtig hochkam, als du dich längst wieder aus dem Staub gemacht hattest?«

    Nelli schloss die Augen, biss sich auf die Innenseite der Unterlippe und versuchte, Schmerz und Scham nicht zuzulassen. Nicht jetzt.

    »Ach, jetzt tu doch nicht so!«, rief Stefanie.

    »Ich wollte eigentlich nur ...«

    »Was?«

    »Wenn ich ihr einen Brief schreibe, schickst du ihr den dann wenigstens mit ihren Sachen zu?«

    Stefanie schüttelte langsam den Kopf.

    »Und wenn du hier was in den Briefkasten steckst, kannst du es ebenso gut in den nächsten Mülleimer werfen.«

    »Kommt sie denn bald wieder?«

    »Eher nicht.«

    Nelli spürte Wut aufkommen.

    »Es ist verdammt wichtig!«

    »Dann sags mir.«

    Nelli schaute sie an und schüttelte langsam und entschieden den Kopf.

    »Wusste ichs doch.«

    »Gar nichts weißt du. Es geht dich schlicht nichts an.«

    »Ich bin Monikas Vormund.«

    »Sie ist erwachsen.«

    »Aber ich habe die Hand auf dem Geld.«

    »Du bist so was von ...«

    »Also?«

    »Es geht nicht um Geld, wie oft denn noch!«

    »Um so besser.«

    »Stefanie ...«

    Nelli trat einen Schritt auf sie zu, schaute ihr in die Augen. Ihre Schwägerin verzog den Mund zu einem bösen Lächeln und setzte demonstrativ die Sonnenbrille auf. Nelli resignierte und wandte sich ab.

    »Na gut. Irgendwann kommt sie schon wieder«, murmelte sie und wusste dabei selbst, dass ihr Beharren nichts mehr mit dem eigentlichen Grund ihres Hierseins zu tun hatte. Es ging nur noch darum, nicht klein beizugeben, nicht das Gefühl zu haben, verjagt und verbannt worden zu sein. Sie klappte den Fahrradständer hoch, wollte zum Gartentürchen. Stefanie hielt sie am Lenker zurück.

    »Seit du verschwunden bist, hab ich oft an dich gedacht, viel öfter, als du dir vorstellen kannst.«

    Sie sprach ruhig und sanft, und Nelli, davon ausgehend, dass nun der erste Sturm vorüber war, wollte ebenfalls einlenken.

    »Stefanie, es tut mir wirklich so wahnsinnig leid, ich kann mir denken ...«

    »Kannst du nicht!«, fiel sie ihr ins Wort. »Hör mir einfach zu.«

    Nelli nickte.

    »Okay.«

    »Ich hab mir ausgemalt, wie es wäre, dich in die Finger zu bekommen.«

    »Was!«

    »Dir richtig weh zu tun, weißt du. Nicht seelisch, so wie du uns, sondern ganz brutal körperlich.«

    Stefanie lächelte starr, es sah aus wie der Grinsemund eines Chitinpanzers, und da ihre Augen unter der Sonnenbrille nicht zu sehen waren, hatte Nelli das Gefühl, ein langhaariges Insekt mit großen, dunklen, blinden Facetten habe sie gepackt.

    »Du weißt ja nicht, was du sagst.«

    Nelli riss an ihrem Lenker, aber Stefanie hielt ihn eisern umklammert. Sie senkte die Stimme.

    »Keine Angst, das würde ich natürlich nie tun. Dich zu quälen, meine ich. Aber ich würde dich umbringen, schnell und schmerzlos, mit einem Messer vielleicht, wenn du Monika noch mal zu nahe kommst. Und dich dann irgendwo verscharren. Niemand würde dich vermissen. Das ist der Vorteil, wenn man es mit einer Landstreicherin zu tun hat. Es ist eine ganz einfache Sache!«

    Nelli schüttelte ernst den Kopf.

    »Da täusch dich mal nicht. Es ist ganz schwer, einen Menschen zu töten, das kann ich dir aus Erfahrung sagen.«

    Sie umklammerte Stefanies Handgelenk, mit dem die ihren Lenker festhielt, und drückte zu. Zunächst gab es keine Reaktion, aber als sie fester und so fest zudrückte, dass ihre eigene Hand sich vor Anspannung verfärbte, begann sich Stefanies Gesicht zu verkrampfen, und schließlich ließ sie mit einem leisen Keuchen los. Nelli schüttelte die Hand ihrer Schwägerin ab, fasste den Lenker an beiden Griffen und schob das Fahrrad auf die Straße. Ohne sich noch einmal umzudrehen, stieg sie auf und fuhr los.

    Nicht weit entfernt, auf einer Bank am Waldrand des Theresiensteins unterhalb der Tennisplätze, lehnte sie ihr Fahrrad an, wollte sich setzen, setzte sich aber doch nicht. Sie wartete auf eine Reaktion. Irgendetwas tief in ihr drin musste sich geregt haben bei einem derartigen Frontalangriff von hasserfüllter Mordabsicht. Leere Drohungen waren das nicht gewesen. Stefanie war ihr nur allzu gut in Erinnerung als eine Frau, die nichts sagte, was sie nicht auch tun würde.

    Nelli lauschte in sich hinein, und zu ihrer Verblüffung fühlte sie Trotz aufsteigen. Die Schuldgefühle der letzten Jahre, die sie fast in den Tod und schließlich hierher zurückgetrieben hatten, verloren an Bedeutung. Die Wunde war vernarbt. Sie hatte um Verzeihung gebeten, mehr konnte sie nicht tun. Betteln war nicht drin.

    3

    Nelli ließ die Räder bergab rollen, am Eisteich vorbei Richtung Stadtzentrum, und hielt die Augen nach einem öffentlichen Telefon offen. An der Michaelisbrücke fiel ihr eine Veränderung auf, die ihr neu

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