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Die Hexe
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eBook253 Seiten3 Stunden

Die Hexe

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Über dieses E-Book

Eine Welt kämpft ums Überleben ...

Nachdem die Finsternis Hera eingehüllt hat, bricht fast überall Panik aus.

Die Menschen werden anfällig für Fanatismus, falsche Erlöser und Verzweiflungstaten. In der Pyramidenstaat Yax Kayab erscheint den Hohepriestern ein mysteriöser Fremder, der sich als Bote der Götter ausgibt. Er verspricht die Finsternis zu vertreiben, wenn ihm das Volk Menschenopfer darbringt. Ein blutrünstiger Opferwahn bricht in der Stadt aus und droht die gesamte Region in einen grausamen Krieg zu reißen. Nur zwei Menschen können den Fremden aufhalten: Aman Pinto und eine geheimnisvolle Hexe. Ein erbarmungsloser Wettlauf mit der Zeit beginnt ...
SpracheDeutsch
HerausgeberAtlantis Verlag
Erscheinungsdatum3. Jan. 2024
ISBN9783864029240
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    Buchvorschau

    Die Hexe - Patrick J. Grieser

    I. Erinnerunsen

    Das ist das Ende! Alles aus und vorbei, dachte Aman Pinto. Er ließ den Kopf sinken, und ein flüchtiger Blick auf seinen Bauch genügte, um alle Zweifel aus der Welt zu schaffen: Die Wunde war tödlich. Er presste die Hände auf die Bauchdecke, damit seine Gedärme nicht heraustraten. Tief in seinem Inneren wollte er nicht wahrhaben, dass er gescheitert war, und dabei war er dem Ziel so nahe gewesen.

    Langsam ließ er sich auf die Knie fallen. Es hat keinen Sinn! Vielleicht ist es besser so zu sterben, als auf dieser verfluchten Welt dahinzusiechen.

    Schwindel überkam ihn, und er merkte, wie ihn die Lebensgeister verlassen wollten. Eisige Kälte nahm von seinem Körper Besitz. Vorsichtig legte er sich auf den Rücken. Er spürte das Gras in seinem Nacken. Das Blut rauschte wie ein tosender Sturm in seinen Ohren, und sein Blick glitt zum Himmel. Ewige Dunkelheit hatte sich über diese Welt gelegt, denn ein endloser Wolkenteppich aus Rauch und Staub schluckte das Licht der Sonne, der Monde und der Sterne.

    Wind kam auf, und die Bäume fingen leise an zu rauschen. Fast hatte man den Eindruck, die alten Riesen wären zu neuem Leben erwacht und flüsterten miteinander. Doch der Eindruck täuschte. Einige welke Blätter regneten auf Pinto herab.

    Er dachte an Yva. Würde er seine verstorbene Geliebte bald wiedersehen? Gab es ein Leben nach dem Tod? Er wollte einfach nur schlafen und am nächsten Morgen wieder neben Yva aufwachen, die ihn anlächeln würde, sodass man ihre Grübchen sah, und ihm versichern, dass alles nur ein böser Traum gewesen sei. Und dann würde er sie in seine Arme nehmen und nie wieder loslassen. Nie wieder …

    In diesem Moment musste er auch an Sharla denken. Diesmal würde ihm die zierliche Frau mit den Sommersprossen nicht mehr das Leben retten können. Eine tiefe Traurigkeit überkam ihn, denn er musste sich eingestehen, dass er nicht nur mit seinen Plänen Schiffbruch erlitten hatte, nein, auch seine Liebesbeziehungen waren ihm vom Schicksal zerstört worden. Ein lang anhaltender Schrei, der seine ganze elende und verzweifelte Situation widerspiegelte, wurde anscheinend ungehört von der Dunkelheit verschluckt.

    Leiser Donner grollte am Horizont.

    Bald wird es regnen, dachte Pinto. Seit vielen Monden schon hatte es nicht mehr geregnet. Wenn der Himmel für kurze Zeit seine Schleusen öffnete, waren es meistens feine Ascheflocken, die auf die Erde niedergingen.

    Was habe ich nur falsch gemacht? Ist dieser Weg von den Göttern vorherbestimmt gewesen?

    Pintos Gedanken kehrten zurück in die Vergangenheit, und noch einmal zogen lose Erinnerungen wie stumme Momentaufnahmen vor seinem inneren Auge vorbei: Yvas Leiche, die er verzweifelt aus der Zisterne zog, Shae’buzz Sendril, wie er seinen Dolch der Priesterin Anthea zwischen die Rippen stieß, und das untote Wesen in den Katakomben unterhalb der Stadt Pangaion, jene Kreatur, die den Fluch der Finsternis über Hera verhängt hatte …

    Immer wieder hatten unheilvolle Dinge seine Pläne durchkreuzt und zunichte gemacht. Es schien so, dass die Vorsehung ihn ausgesucht hatte, sich selbst und andere Menschen mit Unglück und Leid zu überschütten.

    Mit wachsender Panik bemerkte er, dass ihm das Atmen immer schwerer fiel. Schon jetzt kostete es ihn viel Kraft, die Augen offen zu halten.

    Warum war er überhaupt in diese hoffnungslose Situation geraten? Er versuchte, sich zu erinnern, wie das ganze Unheil seinen Lauf genommen hatte. Die Erinnerungen überwältigten ihn, saugten ihn wie in einen trichterähnlichen Wirbel hinein …

    Das Bellen eines Straßenköters riss Pinto aus seinen Träumen. Ein Schweißfilm bedeckte seine Stirn, und sein Herz pochte bis zum Anschlag. Er fuhr sich mit der Hand durch sein feuchtes rostbraunes Haar und bemerkte dabei, dass diese zitterte.

    »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte eine vertraute Stimme neben ihm. Sharla richtete sich auf und schaute ihm in die Augen. Wie anders er aussah – und doch war er es. Sie wusste, dass er im Schlaf aufschrie und Namen rief, die sie nicht kannte. Er weinte auch im Schlaf, wurde hektisch und zerwühlte die Laken.

    »Ich habe schlecht geschlafen. Mir ist nur ein bisschen flau, aber das vergeht wieder«, antwortete Pinto und versuchte, die verstörenden Bilder zurückzudrängen.

    Er zog Sharla an sich und umarmte sie fest. Ihr Körper fühlte sich warm an. Sie hob ihre Hand und berührte mit ihrem Zeigefinger sanft seine Lippen. Dann zeichnete sie sein Gesicht nach und ließ ihre Hand in sein Haar gleiten.

    »Wieder ein Albtraum?« Sharlas Stimme klang besorgt. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht besonders gut.

    »Vielleicht. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«

    »Wir sollten von hier verschwinden«, flüsterte sie leise, löste sich aus seiner Umarmung und glitt aus dem Bett.

    »Wo willst du denn hin?«

    »Nach Süden.«

    »Sharla, wir können vor dieser Finsternis nicht fliehen. Unsere Welt liegt im Sterben!«

    »Gestern haben die Priester noch einmal eindringlich davor gewarnt, das Wasser in den Zisternen zu trinken. Es sei verseucht.«

    »So schmeckt es auch«, erwiderte Pinto und zog eine Grimasse.

    »Du hast davon getrunken?«, fragte Sharla fassungslos. »Aber warum? Wir sollen doch nur das Wasser in den Katakomben trinken.«

    »In die Katakomben bringen mich keine zehn Pferde mehr. Es spielt keine Rolle, was wir essen oder trinken, oder was wir tun. Wir werden alle sterben!«

    »Ich mag es nicht, wenn du so redest, und das weißt du auch. Man muss immer noch Hoffnung haben.«

    Sharla ging zum Fenster, öffnete die beiden Flügel und lehnte sich hinaus. Heute ließ die Schwärze nur schemenhaft Gebäude in der Nachbarschaft erkennen. Zudem lag eine Unheil verkündende Stille in der Luft, so als ob die Dunkelheit alles Leben und Treiben erstickte. Es gab jedoch auch Tage, an denen sie etwas zurückwich und einem schwachen Dämmerlicht Platz machte, je nachdem, wie stark die Wolkenbänder waren, die am Himmel vorüberzogen. Ein leichtes Zittern, gefolgt von einem eisigen Schauer, durchlief Sharlas Körper, und sie schloss schnell wieder das Fenster.

    »Es liegt was in der Luft …«, flüsterte sie und dann lauter zu Pinto gewandt: „Ob es schon Tag ist?«

    »Keine Ahnung.«

    »Diese anhaltende Nacht bringt unseren ganzen inneren Rhythmus durcheinander.«

    »Das kannst du laut sagen. Am Ende werden wir noch an Magengeschwüren krepieren.«

    »Wie kommst du denn darauf?«

    »Das hat mir einmal Draccus erzählt. In der Schule des Blutes gab es Soldaten, die fast dreihundert Tage im Jahr Wachdienst hatten. Die armen Teufel haben in der Nacht Wache geschoben und am Tag geschlafen. Draccus fiel auf, dass fast die gesamte Einheit schon nach kurzer Zeit an Magengeschwüren litt.«

    »Gibt es dafür eine Erklärung?«, hakte Sharla nach.

    Pinto zuckte mit den Achseln. »Pius hätte es mit Sicherheit gewusst.«

    »Der Nekromant?«

    »Ja.«

    »Ich will weg von hier!«, betonte Sharla noch einmal.

    »Das hast du gerade eben schon gesagt«, erwiderte Pinto gereizt.

    »Dann lass uns Nägel mit Köpfen machen und von hier verschwinden.« Sharla seufzte leise, zog ihr Nachtgewand aus und begann sich anzukleiden. Pinto beobachtete sie und fragte sich, ob er so etwas wie Liebe zu ihr empfand. Sie hatten sich gestern Nacht geliebt, aber irgendwie fühlte er sich seitdem schlecht. Sharla bedeutete ihm sehr viel, denn sie war ein guter Mensch, tiefe Freundschaft und Zuneigung verband sie beide. Sie war imstande in seine Seele zu blicken und das Chaos, das in ihr herrschte, zu ordnen. Er sehnte sich nach ihrer Wärme und Geborgenheit. Aber Liebe? Er hatte furchtbare Angst davor, noch einmal einen geliebten Menschen zu verlieren, deshalb versuchte er, jegliche Gefühle in seinem Inneren zu unterdrücken. Gestern hatte er der Versuchung jedoch nachgegeben; sein Verlangen war einfach zu groß gewesen. Das durfte so schnell nicht mehr passieren.

    »Was hast du vor?«, fragte Pinto, als sich Sharla angezogen hatte.

    »Ich hole Wasser aus den Katakomben, denn wir haben keins mehr.«

    »Musst du wirklich da runter gehen?«

    »Haben wir denn eine andere Wahl?«

    »Die Zisternen sind voll mit Wasser.«

    »Igitt! Eigentlich müsste ich dir das Fell über die Ohren ziehen. Versprich mir, nie mehr davon zu trinken.«

    »Vielleicht.«

    »Vielleicht?«

    »Ja, vielleicht.«

    »Manchmal kannst du mich wirklich zur Weißglut bringen, Aman Pinto.«

    Sharla zupfte ihn an seinem Bart, der wie ein Stalaktit von seinem Kinn abstand, und ging nach draußen. Leise knarrte die Treppe im Flur.

    Pinto unterdrückte ein Gähnen; er war immer noch hundemüde. Sein Blick wanderte durch das spärlich eingerichtete Schlafzimmer. Das Haus, in dem sie untergetaucht waren, lag in Deneb und hatte einst einem wohlhabenden Händler gehört. Als die Vulkane im Ildion-Gebirge ausgebrochen waren, hatte der Mann mit seiner Familie die Stadt verlassen, und Plünderer hatten bis auf einige Möbel fast das gesamte Haus leer geräumt und selbst die Gemälde an den Wänden mitgenommen.

    Pinto schloss die Augen. Vielleicht hatte Sharla recht, und sie sollten endlich diese verfluchte Stadt verlassen. Pangaion war eine Stadt der Toten, in der die Menschen leise dahinsiechten. Früher einmal hatte Pinto davon geträumt diese Stadt hinter sich zu lassen; er war von dieser Idee geradezu besessen gewesen. Damals zog es ihn in die Berge, wo er ein Leben als Eremit führen wollte. Doch die Vorfälle in den letzten Wochen hatten schlagartig alles verändert, und jetzt war er ein anderer Mensch geworden – ein seelisches Wrack, gefangen in einem Zustand krankhafter Lethargie. Jede Bewegung kostete ihn unglaublich viel Kraft, und selbst das Denken fiel ihm manchmal schwer. Am liebsten verzog er sich den ganzen Tag über auf eine alte Turmmauer am Rande der Stadt, wo er seine Ruhe hatte und stundenlang das Elend in der Stadt beobachtete.

    Er war sichtlich abgemagert, und seit langer Zeit schon verspürte er keinen Appetit mehr, ließ sein Essen meistens unberührt stehen. Seine Gesichtszüge hatten sich verändert; sein ehemals braun gebranntes Gesicht war aschfahl, sein Haar seltsam struppig. Er sah krank aus. Seine Haltung wirkte unnatürlich, als müsse er sich die ganze Zeit gegen etwas stemmen. Oftmals bemerkte er nachts, wie sich sein Hals zuzog, und dann überkam ihn das Gefühl, dass er ersticken würde. Die letzten Nächte waren eine wahre Tortur gewesen. Und dann diese Träume! Er träumte oft von den Katakomben und dem untoten Wesen darin. In seinen Träumen irrte er durch ein Labyrinth von dunklen Gängen; dort wartete die Kreatur in einer großen Halle auf ihn, in der es nach Moder und Verwesung roch und deren Decke mit glänzenden Tropfsteinen übersät war. Mit glühenden Augen stürzte sich das Wesen auf ihn … Er erwachte dann immer schweißgebadet und war heilfroh, dass Sharla das Bett mit ihm teilte und er die Nähe eines Menschen erfahren durfte.

    Seine Gedanken schweiften immer wieder in die Vergangenheit zurück, denn er hatte sein ganzes Leben hinter den Mauern dieser Stadt verbracht. Nur ein einziges Mal durfte er die Stadt verlassen. Sollte Pangaion wirklich sein Grab werden? Er erschauderte bei diesem Gedanken. Aber welchen Unterschied machte es schon, ob er im Ödland oder in diesem alten Haus krepierte? Der Mantel der Finsternis würde innerhalb kürzester Zeit alles Leben auf diesem verfluchten Planeten auslöschen, und dieser Wahrheit musste er ins Auge schauen. Es gab keinen Weg dieses Schicksal aufzuhalten, außer man arrangierte sich jetzt mit diesen Gegebenheiten.

    Aber wenn es doch noch irgendeine Möglichkeit gab, die Finsternis zu bekämpfen? Diese Frage nagte immer wieder an ihm, durchbohrte die lähmende Mauer seiner Lethargie wie mit kleinen Nadelstichen. Wenn es eine solche Möglichkeit gab … sollte man dann nicht alles in seiner Macht Stehende tun, um den Planeten doch noch zu retten? Wenn die untote Kreatur in der Lage gewesen war, einen so gewaltigen Zauber zu sprechen, dass die Vulkane im Ildion-Gebirge ausbrachen und einen Mantel der Finsternis erzeugten, dann musste es doch auch einen Zauber geben, um die Dunkelheit aufzuhalten. Oder ist das nur ein Trugschluss?, fragte sich Pinto bitter. Ein Zeitzauber wäre des Rätsels Lösung. Wenn man doch einfach die Zeit zurückdrehen und die Katastrophe verhindern könnte. Pinto verwarf den Gedanken schnell wieder; vielleicht gab es aber in den anderen Städten hinter der großen Salzwüste mächtige Schriftgelehrte, die wussten, was in Zeiten wie diesen zu tun war. Diese Männer konnten jetzt schon an einem mächtigen Zauber arbeiten. Er musste bei diesem Gedanken unwillkürlich lächeln – fing er schon an, wie ein sterbenskranker Mann zu denken? Man weiß, dass man sterben wird, und doch gibt man sich der Illusion hin, dass vielleicht noch ein Mittel existiert den Klauen des Todes zu entkommen.

    »Ich verlasse die Stadt«, sagte Sharla bestimmt, »und zwar morgen früh.«

    »Was?« Pinto glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Dabei hatte seine Gefährtin es oft genug angekündigt. Er hatte sie einfach nicht recht ernst genommen …

    »Ich wollte heute Morgen in den Katakomben frisches Wasser holen …«

    »Und?«

    »Irgendwelche dunkle Gestalten aus Sinister haben die Quelle besetzt. Diese Schurken verlangen Nahrung und Geld, damit man Wasser holen darf.«

    »Hast du ihnen etwas gegeben?«

    »Nein. Sie wollten, dass ich mich ihnen hingebe.«

    »Und warum willst du deswegen gleich die Stadt verlassen? In den Zisternen gibt es genug Wasser.«

    »Diese verseuchte Brühe werde ich nicht trinken!«

    »Dann wird dir nichts anderes übrig bleiben, als dich diesen Kerlen auszuliefern.«

    Ohne Vorwarnung schlug Sharla ihm ins Gesicht. Etwas in ihr geriet plötzlich in Bewegung, und sie spürte eine so gewaltige Aggression gegen ihn, dass sie der Versuchung widerstehen musste, ihn noch einmal zu schlagen. Pinto nahm die Ohrfeige ruhig hin, obwohl seine Haut wie Feuer brannte.

    »Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte er sie ohne Zorn. Er wusste, dass er sie mit seinen Worten verletzt hatte.

    »Das hat mich sehr getroffen, Aman! Du weißt ganz genau, dass ich mein altes Leben hinter mir gelassen habe. Ich bin keine Hure mehr. Begreif das doch endlich!« Ihre Augen verrieten, dass er zu weit gegangen war.

    »Gäbe es den Mantel der Finsternis nicht, dann würdest du immer noch in diesem Bordell in Sinister arbeiten«, erwiderte Pinto vorwurfsvoll.

    »Warum sagst du so etwas? Warum bist du so zu mir? Warum tust du mir das alles an?« Während sie sprach, waren ihr Tränen in die Augen getreten.

    »Es tut mir leid, was ich da gerade gesagt habe. Ich will nur nicht, dass du die Stadt verlässt.«

    »Aman, wenn du mich lieben würdest, dann könnte ich dich nicht verlassen – aber du liebst mich nicht. Ich muss hier weg!«

    »Was redest du da für einen Unsinn?«

    »Morgen bist du mich los!«

    »Wenn ich nichts für dich empfinden würde, dann wäre es mir ehrlich gesagt gleichgültig, ob du in Pangaion bleibst oder nicht. Doch so ist es nicht …«

    »Ich möchte einmal in meinem Leben richtig geliebt werden. Verstehst du das? Meine Eltern haben mich verstoßen. Meine Freier haben nie etwas für mich empfunden. Wenn sie mein Zimmer verließen, hatten sie mich schon wieder vergessen. Du bist der Einzige, der mir wirklich etwas bedeutet.« Sharlas Augen waren geschlossen, über ihr Gesicht strömten die Tränen.

    Pinto atmete tief durch. »Hör mal …«

    Traurig wandte sich Sharla von ihm ab. »Jede Nacht, die wir zusammen verbringen, weiß ich, dass du mit deinen Gedanken bei Yva bist«, sagte sie. »Ich habe versucht, mich damit abzufinden, aber es geht einfach nicht.«

    »Yva war meine erste große Liebe. Du kannst nicht erwarten, dass ich sie so einfach vergesse.«

    »Ich weiß, dass ich Yva niemals ersetzen kann. Ich möchte nur ein klein wenig geliebt werden – nicht einmal dieses Gefühl gibst du mir.«

    Pinto wollte etwas erwidern, doch kein einziges Wort kam über seine Lippen. Sharla bedeutete ihm sehr viel, aber er liebte sie nicht wirklich. Es fiel ihm schwer, sich diese Tatsache einzugestehen, denn immer wieder tauchte Yvas lachendes Gesicht mit den Grübchen vor seinem inneren Auge auf. Ich bin gefesselt, dachte er, gefesselt an die Vergangenheit.

    »Morgen bin ich weg.«

    »Ich will nicht, dass du gehst. Bleib da!«

    »Ich halte es hier nicht mehr aus. Mit jedem Tag stirbt ein Stück mehr von mir. Es geht nicht mehr.«

    Pinto fing an zu lachen.

    »Was soll das?«, fragte Sharla irritiert. Ihre grünen Augen funkelten ihn an.

    »Du solltest dich einmal reden hören.«

    »Warum?«

    »Weißt du noch, wie ich damals immer zu dir gekommen bin und dir erzählt habe, dass ich mit dem Gedanken spiele aus der Stadt zu flüchten? In die Berge wollte ich. Krampfhaft hast du versucht, mir diese Idee auszureden, und jetzt bist du diejenige, die genug von diesem jämmerlichen Leben hat. Eine Ironie des Schicksals, oder?«

    »Mag sein. Ich werde trotzdem gehen«, sagte sie trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust, als wolle sie es damit bekräftigen.

    »Wenn du gehst, wird das nichts an deiner Lage ändern, denn man kann vor den Dingen des Lebens nicht davonrennen. Du musst das akzeptieren. Ich habe gelernt, dass jeder andere Ort genauso trostlos ist wie dieser hier – wenn nicht noch schlimmer. Lyssip war ein dreckiger Moloch. Ich weiß, wovon ich rede.«

    »Niemand zwingt dich mitzugehen, Aman. Du wirst auch ohne mich zurechtkommen.«

    »Dann ist deine Entscheidung endgültig?«

    »Ja.«

    »Leb wohl, Sharla!«, rutschte es aus ihm heraus, obwohl er so etwas nicht sagen wollte.

    Impulsiv trat sie einen Schritt auf ihn zu, griff nach seiner Hand, drückte sie und umarmte ihn schließlich kurz und fest. Sie flüsterte ihm »Leb wohl!« ins Ohr. Erfolglos versuchte sie, ihre Tränen zu verbergen. Dann drehte sie sich um und ging, ohne sich noch einmal umzublicken. Pinto fühlte sich in diesem Moment hundeelend. Ich

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