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Zu Hause ist anderswo: NEU überarbeitete Fassung
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eBook297 Seiten3 Stunden

Zu Hause ist anderswo: NEU überarbeitete Fassung

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Über dieses E-Book

Klaus ist sich so sicher, dass er Martina mit dieser spontanen Reise ins Tschechische eine Freude macht. "Das müsste doch für Dich wie eine Heimkehr sein?" vermutet er.
Doch was tut seine Frau? Sie schweigt, was sie sonst selten tut.
Ihr Gesicht verschließt sich immer mehr, je näher sie jenem Ort kommen, wo ihr Vater nach Kriegsende bestialisch ermordet worden war - vor den Augen seiner Familie. Darüber hat sie bisher noch mit niemandem gesprochen.
Klaus fängt an zu bohren, was er sonst auch nie tut.
Als Martina endlich imstande ist, ihr Schweigen zu brechen, sind sie endlich Zwei – auf der Suche: nach Wurzeln, nach Wahrheit, nach Schuld, nach Sühne?
*
Eine ungewöhnlich dicht und differenziert erzählte Geschichte: von Liebe und Hass, von Leben und Tod. Aufregend, anregend und ungeheuer spannend. Auch so gut wie ihre anderen Bücher? Nein, besser, ihr reifstes Werk.
(Sudetendeutsche Zeitung)
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum3. Juli 2014
ISBN9783847696247
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    Buchvorschau

    Zu Hause ist anderswo - Monika Kunze

    Prolog

    Das Mädchen versucht die Augen zu schließen, als könne sie damit alles ungeschehen machen. Aber ihre Lider gehorchen ihrem Willen nicht, sie bleiben geöffnet. Ihr Kopf dröhnt, ein stechender Schmerz durchfährt die Schädeldecke. Was ist passiert? Wo befindet sie sich überhaupt?

    Sie spürt, wie etwas Kaltes, nicht Greifbares sie niederzwingt.

    Angst? Genau dieselbe Angst, die ihr vor Minuten noch befohlen hatte zu laufen, weit wegzulaufen vor dem Grauen?

    Aber sosehr sie sich auch anstrengt, sie kommt nicht von der Stelle. Ihre Beine sind einbetoniert. Jeder Versuch sich zu befreien, macht alles nur noch schlimmer.

    Tränen laufen ihr übers Gesicht.

    Was machen die fremden Männer hier? Sie kommen näher … sie glaubt, die Bedrohung mit den Händen greifen zu können. Aber warum haben die Ungeheuer keine Gesichter?

    Plötzlich taucht eine Frau auf. Auch sie ist ohne Gesicht, doch die Kleine weiß auch so, wer sie ist. Die Hände und die Kleidung der Frau sind blutverschmiert. Sie schreit wie eine Furie.

    Lasst das Mädel! Nicht auch noch das Mädel!

    Für einen Moment gelingt es ihr, die Männer wegzureißen.

    Das Mädchen windet sich und stöhnt. Aus allen Poren rinnt der Schweiß. Sie versucht, ihre Hände schützend vors Gesicht zu schlagen. Vergeblich.

    Ihr Herz beginnt zu rasen, weil sie weiß, dass sie man sie zwingen wird, alles noch einmal mit anzusehen.

    Wenigstens will sie nichts hören, versucht sich die Ohren zuzuhalten. Vergeblich.

    Sie hört jede Einzelheit.

    Sie will schreien, aber sie bringt kaum ein Flüstern zustande.

    Die beiden fremden Männer lassen von der Frau ab, die auf dem Boden liegt und schlagen dafür wieder auf den dünnen Mann ein, mit Fäusten, Knüppeln und Gewehrkolben. Dabei stoßen sie ein unmenschliches, unartikuliertes Gebrüll aus.

    Wütend zerren die Gesichtslosen ihr Opfer hoch und schlagen den ausgemergelten Körper gegen eine Wand.

    Das Kind zuckt zusammen bei jedem der klatschenden Geräusche …

    Aufhören! Aufhören, schreit es in ihr, aber sie bringt noch immer kein Wort heraus. Die fremden Stimmen werden immer lauter und drohender. Den Sinn des Gebrülls versteht sie nicht.

    Ein Stöhnen? Sie lauscht. Nein, kein Stöhnen, überhaupt kein Geräusch, nur Stille. Gespenstisch.

    Ein beißender Geruch steigt in ihre Nase. Schwefel und Blut? So muss es in der Hölle stinken, denkt sie. Dann hört sie ein Knacken, Splittern und Bersten, ein Geräusch, als bisse ein Hund in einen Knochen.

    Mit einem Mal weiß sie, dass die Qual für den dünnen Mann zu Ende ist.

    Doch was ist mit ihrer eigenen Qual?

    Ist es nicht endlich an der Zeit, das Schweigen zu brechen?

    1. Fragwürdige Reise

    Martinas Hände fühlten sich kalt und feucht an. Hin und wieder spürte sie, wie Klaus sie forschend ansah.

    Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Warum kam ihr heute kein Wort der Bewunderung für diese sanfte Hügellandschaft über die Lippen?

    Sie wollte sich zusammennehmen und zwingen, den Bergketten des Czornebohs, des Kottmar oder des Bielebohs wenigstens einen anerkennenden Blick zu schenken. Es gelang nicht.

    Gleich darauf nahm sich Martina vor, an die schönen Geschichten und Sagen aus der Oberlausitz zu denken. Meine Güte, wie oft hatte sie diese gelesen, Kindern daraus vorgelesen, manchmal beim Erzählen allerdings fast ungehörig abgewandelt. Zu ihrer eigenen und zur Freude der Kinder.

    Klaus schaute wieder leicht verärgert in ihre Richtung, sagte aber selbst auch keinen Ton. Noch immer schien er es für besser zu halten, seine Frau in solchen Momenten, da sie alles um sich her vergessen zu haben schien, nicht anzusprechen. Wie wenig er sie doch kannte.

    Martina konnte sich ausmalen, wie sehr ihr Gebaren ihn befremdete. Er war schließlich hier geboren. Die Oberlausitz war seine Heimat! Jedes Mal, wenn sie hier entlanggefahren waren, war sie ins Schwärmen geraten. Nie hatte sie einen Hehl daraus gemacht, wie gut ihr dieser Landstrich gefiel. Klaus war zwar nicht so euphorisch veranlagt, aber Martinas Schwärmerei für seine Heimat gefiel ihm. So hatten sie einander verstanden. Sonst. An normalen Tagen. Bei normalen Reisen …

    Aber heute war kein solch normaler Tag. Und ihre Reise? Auch alles andere als normal. Jedenfalls für sie. Das wusste und fühlte sie. Und Klaus? Woher sollte ihr Mann das wissen, wenn sie nicht imstande war, mit ihm darüber zu sprechen?

    Überhaupt hatte sie bisher mit niemandem über jene Zeit sprechen können.

    Ihr ganzes Leben lang hatte sie geglaubt, Stillschweigen bewahren zu müssen. Das war ihr nicht einmal schwergefallen. Sie hielt nichts davon, alte Wunden aufzureißen.

    Als ein flüchtiger Blick das Thermometer streifte, erschrak sie. Achtundzwanzig Grad? Wieso fror sie dann so entsetzlich?

    Plötzlich fühlte sie wieder jene Angst, wie sie sich drohend in der Magengegend einnistete, die Haut zusammenzog, bis die blonden Härchen an den Unterarmen sich aufrichteten. Ein Gefühl, das sie seit ihrer Jugend kannte. Es kam ihr zwar so vor, als habe die Intensität mit den Jahren nachgelassen, als seien die Abstände zwischen den Attacken immer größer geworden. So war alles nach und nach immer mehr in Vergessenheit geraten. Manchmal hatte sie sogar geglaubt, es sei vorbei. Endlich und endgültig.

    Und jetzt? Ihr Glaube, die Angst irgendwann ganz zu besiegen, war soeben wieder in seinen Grundfesten erschüttert worden.

    Martina versuchte, dem unangenehmen Gefühl mit Vernunft beizukommen. Sie fragte sich, wovor sie Angst hatte. Was sollte ihr denn schon passieren? Schließlich war sie nicht allein, Klaus war bei ihr.

    Das klang alles sehr vernünftig in ihren Gedanken. Doch kann der Verstand gegen so ein so starkes Gefühl überhaupt jemals etwas ausrichten?

    Ganz unerwartet wurde ihr bewusst, dass sie plötzlich noch etwas anderes empfand: Einsamkeit. Kaum hatte sie das erkannt, schalt sie sich auch schon töricht. Wie konnte sie denn einsam sein, wenn ihr Mann nicht einmal einen halben Meter von ihr entfernt hinter dem Steuer saß? Sie brauchte ja nur den Arm auszustrecken, um ihn zu berühren.

    Ihn anzufassen, davor scheute sie jedoch zurück. Warum auch immer. Doch sie schaute zu ihm hinüber und fand, dass er für sein Alter sehr gut aussah. Er hatte noch dichtes, volles Haar, auch wenn es schlohweiß war, eine normale Figur mit kleinem Bauchansatz, kräftige Arme und Hände, die zupacken konnten. Sein bisheriges Leben hatte so gut wie keine Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Das war schon erstaunlich, denn er hatte ja auch schon einiges durchmachen müssen, woran vielleicht manch anderer zerbrochen wäre.

    Schon zu Beginn ihrer Reise hatte sie ihm seine Hemdsärmel bis über die Ellenbogen aufgekrempelt. Das tat sie immer, ein Mann wie er fror schließlich nicht bei achtundzwanzig Grad im Schatten. Der Beweis: Schweißperlen rannen ihm am Ohr entlang. Da sie nicht wollte, dass er die Hände vom Lenkrad nahm, tupfte sie ihm die kleinen Rinnsale vorsichtig ab.

    Er dankte es ihr mit seinem ganz speziellen Lächeln.

    2. Mehr als zwei Seelen

    Martina fragte sich wieder und wieder: Ist das richtig, was wir hier tun? Kann es denn überhaupt richtig sein? Sollten sie nicht besser umkehren?

    Heimkehr, dachte sie mit einem bitteren Geschmack im Mund, was denn für eine Heimkehr? Was hatte er sich nur bei seinem spontanen Vorschlag gedacht? Ihr Elternhaus – und vielleicht auch das der Großeltern – wollten sie suchen. Einfach so. Im Tschechischen!

    „Das müsste doch für dich wie eine Heimkehr sein."

    Diese Vermutung, am Morgen beim Rasieren mitten aus dem Schaum gemurmelt, erschien ihm wohl über jeden Zweifel erhaben, denn er hatte Martina gleich darauf unternehmungslustig in die Seite geknufft und ihr Beifall heischend zugeblinzelt.

    Sein typisches Lächeln, bei dem die Mundwinkel nur einmal kurz nach oben zuckten und die Oberlippe sich kaum merklich kräuselte, sein Blinzeln und, zugegeben, auch ein wenig ihre eigene Neugier, hatten schließlich ihre Bedenken zum Schweigen gebracht, bevor sie sie überhaupt aussprechen konnte. Also hatte sie zu ihrer eigenen Überraschung eingewilligt in diese Wahnsinnsidee.

    Jetzt war es allerdings sowieso zu spät, nach der Richtigkeit ihres Vorhabens zu fragen, denn ihr Auto rollte schon unaufhaltsam jenem Ort entgegen, in dem das Unaussprechliche passiert war.

    Zum Teufel mit dieser Kleinstadt im Tschechischen! Martina fühlte, wie ihr Blutdruck anstieg und ihr Herz ein paar unregelmäßige Hüpfer vollführte.

    Du bist dort geboren worden!

    Ja doch, das wusste sie selbst … Aber was tat das schon zur Sache? Ganze acht Monate hatte sie dort gelebt.

    Du hast das alles auch mit ansehen müssen!

    Mit einem Mal wusste Martina, woher sie jene Stimme kannte, die sie nun schon zum zweiten Mal zu hören glaubte. Die Worte ihrer Schwester Margot klangen so deutlich in ihren Ohren, als säße sie neben ihr. Die Bilder, die sich im Laufe der Jahre daraus immer dichter zusammengefügt hatten, ließen sich nicht mehr länger zurückdrängen.

    Sie hob die Hände vors Gesicht, als könnte sie so das nackte Entsetzen besser abwehren, das die Schilderungen ihrer Schwester in ihr ausgelöst hatten.

    Doch stimmten diese Bilder überhaupt? Und wenn ja, sollte man jetzt, mehr als 60 Jahre danach, nicht endlich alles auf sich beruhen lassen?

    Es waren wieder einmal weit mehr als zwei Seelen, die sich in ihrer Brust stritten.

    Martina fühlte sich diesem Streit ohnmächtig ausgeliefert und begann zu zittern. Schnell sah sie zu Klaus hinüber, aber er schien von ihrer Seelenpein bis jetzt noch nichts mitbekommen zu haben.

    Er machte vielmehr einen ganz entspannten Eindruck, schmunzelte sogar ein wenig. Anscheinend gab es im Radio etwas Heiteres. Vielleicht sollte sie auch endlich einmal zuhören anstatt die Gespenster der Vergangenheit heraufzubeschwören.

    Klaus stieß ein glucksendes Lachen aus, denn der Kleine Nils nahm wieder einmal mit seinem Anruf jemanden auf die Schippe.

    Martina zuckte die Achseln. Wie hätte sie es ihrem Mann auch verdenken können, dass er sich amüsierte? Er konnte ja nicht wissen, wie sie sich gerade fühlte. Ja, nicht einmal ahnen konnte er etwas von ihren Ängsten und Zweifeln oder gar von dem, was im tschechischen Lom, das damals noch deutsch war und Bruch hieß, vorgefallen war.

    Das, was damals vorgefallen war! Kaum hatte sie das gedacht, spürte sie auch schon einen ekligen, faden Geschmack im Mund. So also schmeckte Feigheit?

    Sie hatte nicht einmal den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, nicht einmal in ihren Gedanken?

    Martina, der man sonst durchaus eine gewisse Redseligkeit nachsagte, musste sich wieder einmal eingestehen, dass sie bis jetzt weder willens noch in der Lage gewesen war, mit einem anderen Menschen über jene Ereignisse zu sprechen. Auch nicht mit ihrem Mann. Mit ihm am allerwenigsten. Ihm gegenüber empfand sie immer noch eine gewisse Scheu, obwohl sie schon so lange zusammen waren.

    Immer, wenn sie das Grauenhafte in ihren Albträumen wiederzuerkennen glaubte, hatte es ihr die Kehle zugeschnürt.

    Bei Tageslicht stellten sich dann allerdings wieder Zweifel ein. Ihr stets voller Terminkalender hatte überdies jahrelang dafür gesorgt, dass ihre schlimmen Träume nicht die Oberhand gewannen.

    So war sie mit der Zeit ein wahrer Meister in der Kunst des Verdrängens geworden.

    Die Narben auf ihrer Seele waren trotzdem erkennbar geblieben, aber nur für jemanden, der ganz genau hinschaute. Doch über so etwas sprach man nicht mit anderen Menschen.

    Martina sah Auguste, die Mutter ihrer Pflegemutter, wieder vor sich: klein, dünn, das schüttere Haar im Nacken zu einem Zopf geflochten und wie eine Schnecke zusammengerollt. Allein schon die Vorstellung von ihrem durchdringenden Blick, dem nichts verborgen blieb, ließ Martina erschauern.

    Und dann diese wie in Stein gehauenen Auguste-Regeln! Wie oft hatte sie sich mit rot gewaschenen Fingern gegen die ausgemergelte Brust geklopft und ihre Lebensweisheit an ihre angenommene Enkelin weitergegeben: „Wie es hier drinnen aussieht, geht niemanden etwas an! Merk dir das!"

    Mochten ihr auch jetzt die Worte der Großmutter sehr operettenhaft vorkommen, damals taten sie ihre Wirkung. Wenn Ermahnungen in der Kindheit nur oft und nachdrücklich genug wiederholt werden, tragen sie irgendwann Früchte. Diese werden im Laufe der Zeit so verinnerlicht, dass man sie auch als Erwachsene kaum abzustreifen vermag. Um das zu erkennen, brauchte sie keinen Psychologen, die Erfahrung war ihr Lehrmeister.

    So hatte es sich Martina schon beizeiten abgewöhnt, ihr Herz auf der Zunge zu tragen.

    Wenn andere das taten, bitte schön. Ihre Verschlossenheit bildete ihrer Meinung nach keinen Widerspruch zu ihrer Neigung, stets kontaktfreudig zu sein. Ihr Leben lang hatte sie sich gern mit anderen Menschen unterhalten und tat das immer noch. Wenn auch die „Unterhaltung" bei ihr fast ausschließlich im Zuhören bestand. Zur Freude der anderen – und zum Leidwesen ihres Mannes. Martina verstand schon, dass es ihren Klaus nervte, denn es wurden ja tatsächlich immer mehr, die sich bei ihr ausheulten, wie er es wenig zimperlich zu nennen pflegte.

    Klaus schaute jetzt fragend zu ihr herüber. Seine hochgezogenen Brauen sagten alles. Ihre Schweigsamkeit ging ihm gehörig gegen den Strich, denn er kannte sie eigentlich ganz anders: meistens fröhlich, unkompliziert und immer mal mit einem frechen Spruch auf der Lippe. So mochte er sie.

    Martina wusste das, konnte aber heute seinen Erwartungen nicht entsprechen. Noch während sie nach ein paar unbefangenen Worten suchte, mit denen sie ihn (und sich selbst) etwas ablenken könnte, kam er ihr zuvor.

    „Sag mal, wie war das denn eigentlich damals, als ihr rausmusstet?", fragte er, als ginge es um etwas ganz Alltägliches.

    Martina zuckte zusammen. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit solch einer Frage aus seinem Mund! Wie auch? Bisher hatte er sich doch noch nie für ihre Vergangenheit interessiert.

    Im selben Moment wusste sie, dass seine unverhoffte Frage eine Lawine ins Rollen bringen würde, die niemand mehr aufhalten konnte. Nicht einmal sie selbst.

    3. Leben ohne Vergangenheit?

    Klaus konnte absolut nicht verstehen, warum seine Frau nun schon seit Stunden so schweigsam und in sich gekehrt war, wo er ihr doch mit der Reise ins Tschechische eine Freude bereiten wollte. Aber ein Blick in ihr Gesicht verriet, dass seine Idee von ihr wohl doch nicht so freudig aufgenommen worden war.

    Du meine Güte, was war denn in sie gefahren? Irgendwie musste er sie ja mal aus ihrer schweigsamen Reserve locken. Ganz schwach erinnerte er sich, dass sie irgendwann einmal etwas von „Vertreibung" erwähnt hatte. Das war aber mehr als zehn Jahre her. Und ihm fiel ein, dass er seinerzeit sehr erstaunt war über dieses Wort aus ihrem Mund, denn in den vierzig Jahren DDR hatte es dafür lediglich die Bezeichnung Umsiedlung gegeben, humane Umsiedlung.

    Als er sie damals darauf aufmerksam gemacht und sie gefragt hatte, ob sie das etwa schon vergessen habe, war er unangenehm berührt gewesen über ihre karge, aber unmissverständliche Antwort.

    „Humane Umsiedlung? Das war eine Lüge, wie so vieles andere auch!"

    Sie schien ihm damals selbst fast noch erschrockener als er gewesen zu sein über ihren bitteren Unterton und hatte sofort angefangen, über etwas Belangloses zu plappern.

    Seit jenem Tag hatten sie das Thema gemieden wie der Teufel das Weihwasser.

    War das vielleicht sogar der Tag gewesen, als er ihr zu erklären versucht hatte, dass sie ihm nichts aus ihrer Vergangenheit erzählen müsse? Er war sich aber nicht sicher, wie sie seine Worte aufgefasst haben könnte: „Für mich hat mit dir ein ganz neues Leben angefangen, dein Leben vor meiner Zeit gehört dir! Es interessiert mich nicht."

    Auf der anderen Seite war es ihm wichtig, dass auch sie keine allzu große Neugier bekundete, wenn es um seine eigene Vergangenheit ging. Er war froh, dass sie das so schnell gelernt hatte, was er sich wünschte. Ihre anfänglich munter hervorsprudelnden Fragen waren jedenfalls schnell versickert gewesen.

    Er fuhr jetzt ziemlich forsch an einen grünen Skoda heran, blinkte kurz, um ihn gleich darauf zu überholen.

    Martina war ganz blass geworden. Sie hatte sich wohl von seiner beiläufigen Frage noch immer nicht erholt. Doch ihm kam es so vor, als bemühe sie sich um Contenance. Sie schaute angestrengt geradeaus, tat so, als interessiere sie nichts mehr als sein Überholmanöver.

    Dabei überschlugen sich die Fragen in Martinas Kopf. Woher kam plötzlich dieses Interesse? Was, um alles in der Welt, sollte sie ihm antworten?

    Seit so vielen Jahren waren sie nun schon zusammen, doch bisher hatte er sich jedes Mal dagegen verwahrt, sobald sie etwas aus ihrer Vergangenheit erzählen wollte. Im Hinblick auf die Geschehnisse in ihrer Geburtsstadt war ihr das zwar gerade recht gewesen. Aber im Hinblick auf ihr sonstiges Leben hätte sie sich manchmal schon etwas mehr Interesse gewünscht.

    Seine Worte klangen ihr noch im Ohr.

    „Für uns hat jetzt ein neues Leben angefangen!"

    Sie solle ihm bloß nicht mit irgendwelchen alten Geschichten kommen …

    Dabei hatte er seine Meinung stets so nachdrücklich vertreten, dass niemand es gewagt hätte, dem eine anders lautende entgegenzusetzen. Und Martina, die jeder als konfliktscheu kannte, schon gar nicht.

    Mit der Zeit hatte sie es aufgegeben, ihm von sich, ihrer gescheiterten Ehe oder den Konflikten mit ihrem Sohn erzählen zu wollen. Schließlich erzählte Klaus auch kaum etwas von sich, seinem Leben mit seiner Frau, die so jung gestorben war. Ebenso nebulös blieb auch das Bild von seinen Kindern. Seine Tochter lebte in Bayern, sein Sohn in Schleswig-Holstein. Sie schienen keinen Wert auf Kontakte zu legen, ebenso wenig wie ihr Vater seinerseits.

    Martina wagte es dann bald nicht mehr, nach dem Warum zu fragen, nachdem er sie wegen ihrer neugierigen Fragerei in die Schranken verwiesen hatte.

    Es hatte sie nicht zu interessieren, was früher war …

    Da sie, wenn auch widerstrebend, sich an seine aufgestellte Regel hielt, glaubte er wohl, dass seine Frau seine diesbezüglichen Prinzipien ebenfalls verinnerlicht habe. Manchmal war sie schon drauf und dran gewesen, es selbst zu glauben. Immerhin: Es war ihr mit der Zeit immer besser gelungen, ihr Interesse für sein Leben (und vor allem das seiner Familie) nicht zu offenkundig zu äußern.

    Sie hatte ja auch irgendwie ihre Prinzipien. Eines davon war, andere Menschen nicht umzuerziehen oder mit den eigenen Auffassungen zu bedrängen. So gelang es ihr, seine Ansichten zu akzeptieren, ohne sie jedoch in jedem Falle zu teilen.

    Zu all dem wollte die eben gehörte Frage einfach nicht passen.

    Woher kam der plötzliche Sinneswandel? An seinem Gesichtsausdruck konnte sie keinen Grund ablesen.

    Vielleicht hatte ihr Mann seine Frage auch schon längst wieder vergessen?

    Sein Blick war ruhig nach vorn gerichtet, seine Hände jedoch umschlossen so fest das Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortraten. Das verriet ihn.

    Sie bemerkte, wie wieder winzige Schweißperlen auf seiner Stirn glänzten, über die Schläfe rannen, dicht am grauen Haaransatz vorbei. Diesmal hütete sie sich davor, ihm den Schweiß abzutupfen, hielt ihm stattdessen ein Papiertaschentuch hin. Für einen Moment musste er eine Hand vom Lenkrad lösen, um sich den Schweiß abzuwischen.

    Martina fielen die weiß hervorgetretenen Knöchel wieder ein und sie glaubte nun zu wissen, dass er trotz seiner zur Schau getragenen Gelassenheit noch immer gespannt auf ihre Antwort wartete. Oder war hierbei nur ihr eigener Wunsch der Vater des Gedankens?

    Seine Frage gar noch einmal zu wiederholen, würde ihm sowieso nicht in den Sinn kommen. Soweit kannte sie ihn.

    Plötzlich hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen: „Klaus, ich weiß das alles doch selbst nicht so genau, ich war ja noch ein Baby, als wir dort wegmussten."

    Es hatte sie einige Anstrengung gekostet, ihre Stimme so gleichmütig wie möglich klingen zu lassen, denn ihm waren solche melodramatischen Geschichten, als die er die ihre ganz bestimmt bezeichnen würde, schon immer ein Gräuel gewesen.

    Martina kurbelte das Schiebedach zurück. Nun spürte auch sie die Hitze, die langsam unerträglich zu werden begann.

    Ob er wohl gemerkt hatte, wie viel Kraft sie aufbringen musste, um bei ihm einen glaubhaften Eindruck von Gelassenheit zu erwecken?

    Ob er wohl ahnte, dass ihr „weiß nicht so genau" eigentlich einen Schutzschild darstellte, um nicht über die Einzelheiten des Geschehens reden zu müssen, über dieses grelle, bizarre, schmerzhafte Mosaik?

    Und wenn? Würde sie es überhaupt fertigbringen, mit ihm über dieses dunkle Kapitel im Leben ihrer Familie zu reden?

    Sie wusste nicht, ob die Unsicherheit oder ihr Unwille stärker war. Bisher war er doch schließlich auch mit ihren knappen Informationen, dass sie kurz nach dem Krieg wie ein Paket in einem Krankenhaus abgegeben, aber nie wieder abgeholt worden und bei einer Pflegemutter aufgewachsen war, durchaus zufrieden gewesen.

    Wieso genügte ihm das plötzlich nicht mehr?

    Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Sie griff hinter ihren Sitz, fischte nach der Wasserflasche, fand sie aber nicht.

    Sie wollte Zeit gewinnen und dehnte das Kramen aus.

    Zeit?

    Wofür?

    Klaus schien ihr vergebliches Bemühen, die Wasserflasche zu finden, wenig amüsiert aus den Augenwinkeln zu beobachten, aber er sagte nichts dazu. Nur die Musik aus

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