Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Schmugglerin
Die Schmugglerin
Die Schmugglerin
eBook394 Seiten5 Stunden

Die Schmugglerin

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Erste Weltkrieg ist um, doch die Zeiten bleiben hart. An der österreichischen Grenze zu Italien schmuggelt Maria, eine junge Frau, Ware über die Alpen und gewinnt dabei neues Selbstbewusstsein. Als ein Theater-Ensemble im Ort den Tourismus neu ankurbeln soll, freundet sie sich mit einer der Schauspielerinnen an. Bald überschreitet Maria nicht mehr nur als Schmugglerin Grenzen …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Apr. 2018
ISBN9783897419650
Die Schmugglerin

Ähnlich wie Die Schmugglerin

Ähnliche E-Books

Historienromane für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Schmugglerin

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Schmugglerin - Rike Feldhoff

    Grenzen

    Auswege

    Das war nicht der richtige Weg. Hier gab es zu viele Äste. Zu viele Fichten. Nichts war, wie Maria es kannte. Auch wenn sie sich im Wald sonst wie zu Hause fühlte, heute erschien er ihr fremd.

    Erneut drückte Maria einen Ast zur Seite. Als sie ihn losließ, schnellte er zurück. Eine Ladung Schnee fiel auf sie herab und nahm ihr für einen Moment die Sicht. »Was denn noch alles!«, knurrte sie, während sie sich über die Augen wischte. Dann atmete sie einmal tief durch. Anstatt zu jammern, sollte sie lieber endlich den Heimweg finden! Sie überlegte. An der Fichte, die der Blitz im letzten Sommer gespalten hatte, war sie noch vorbeigekommen. Das bedeutete, dass sie nicht allzu weit vom Weg abgekommen sein konnte. Suchend verfolgten ihre Augen die Fußstapfen zurück bis zu einem Felsstein, der rechter Hand hätte liegen müssen: die Stelle, an der sie falsch abgebogen war.

    Erleichtert wollte sie zu dem Felsen zurückkehren, da sah sie es: ein kurzes Aufflackern aus der Richtung, aus der sie kam. Zwar in weiter Entfernung, dazu behinderten die tiefhängenden Äste und das dichte Schneetreiben die Sicht. Dennoch zweifelte sie nicht eine Sekunde daran, dass jemand hinter ihr her war.

    Sie gab sich einen Ruck. Egal wie weh es tat, wie schwer ihr jeder Schritt inzwischen fiel, sie durfte nicht länger hier herumstehen. Entschlossen schob sie die Daumen unter die Riemen ihres Rucksacks und kämpfte sich wieder voran.

    Ja, das hier war der falsche Weg, aber es gab kein Zurück. Irgendwo dort vorn warteten die Eltern und der Bruder auf sie und auf das, was sie mitbrachte. Sie sah die kleine Stube vor sich und spürte die Wärme, die der alte Ofen verbreitete. Für wenige Augenblicke hatte sie nicht länger das Gefühl, mitsamt ihren Kleidern durch einen eiskalten, reißenden Fluss zu schwimmen. Nur deshalb schaffte sie es, weiterzugehen.

    Mit einem Mal drang dumpfes Kirchengeläut vom Dorf herauf. Es lenkte sie kurz ab. War es tatsächlich schon so spät? Maria lauschte. Der Klang der Glocken erinnerte sie an jenen Tag vor wenigen Wochen – es war am elften November gewesen, als sich die Donaumonarchie hatte ergeben müssen.

    Heute bedeutete das Geläut: Silvester. Das Jahr 1918 neigte sich dem Ende zu. Niemand wusste, was das nächste bringen würde. Der schreckliche Krieg war vorüber, doch der andere, der ums Überleben, hatte gerade erst begonnen.

    In den letzten Wochen waren unzählige Soldaten über die Tauern geströmt, bei Wind und Wetter, weil sie so schnell wie möglich heim wollten. Dorthin, wo sie sich wärmende Stuben, Ruhe und Frieden erhofften.

    Maria straffte die Schultern. Wenn sie nicht erwischt werden wollte, musste sie sich beeilen. Sie würde weitergehen, der Nase nach, mitten durch den Wald, bis nach Hause. Glücklicherweise schneite es stark genug, dass ihre frischen Spuren bald bedeckt waren. Diese Sicherheit machte ihr die Schritte etwas leichter.

    Trotzdem hatte sie das Gefühl, vor Erleichterung weinen zu müssen, als sie den Voigt-Hof vor sich sah.

    Jetzt nur keinen Fehler machen! Sie öffnete die Haustür gerade so weit, dass sie ins Haus schlüpfen konnte und nicht zu viel Licht nach draußen drang. Die Vorsicht erwies sich als unnötig, denn im Gang war es dunkel. Aus der Küche war nichts zu hören als leises Stühlerücken.

    Kurz war sie versucht zu rufen, entschied sich aber dagegen. Dabei hätte sie gut jemanden brauchen können, der ihr half. Ihre Finger waren so klamm, dass sie Mühe hatte, die Haustür zu verriegeln, sich die Schuhe auszuziehen und zu den anderen unter die Treppe zu stellen. Alles, wie sie es jedes Mal machte, wenn sie draußen gewesen war.

    Geschafft! Rasch schlüpfte sie in ein Paar Filzschlappen und rannte mitsamt dem Rucksack die Holztreppe hinauf in ihre Kammer. Ihr Atem ging schwer, als sie die Tür hinter sich schloss.

    Sie sah sich um, öffnete die Wäschetruhe und verstaute den Rucksack, so wie er war – nass, schwer. Endlich bekam sie wieder Luft und konnte aus dem Schrank ein trockenes Kleid holen. Ihr Schönstes. Dem besonderen Tag des Jahreswechsels angemessen. Der Stoff fühlte sich gut an, als sie es überstreifte.

    Draußen vor dem Fenster begannen Schatten zu tanzen. Laternenlicht bewegte sich direkt auf den Hof zu. Sie konnte bereits die Stimmen hören.

    Es war höchste Zeit, in die Küche hinunterzugehen. Eilig strich sie sich durchs nasse, erdige Haar. Hoffentlich fiel niemandem auf, dass es dunkler aussah! Und wenn doch, würde ihr etwas einfallen … Die Schürze band sie im Gehen.

    Unten wartete die Mutter in der offenen Küchentür. Maria schaute nicht zu ihr hin, als sie die warme Stube betrat und sich an den Ofen stellte. Die Kälte in ihrem Inneren ließ allmählich nach, doch die Angst blieb. Wie alle in dem kleinen Raum starrte sie zur Tür. Niemand bewegte sich. Nur das gleichmäßige Schlagen der Pendeluhr und die Geräusche vor dem Haus zeigten an, dass die Zeit nicht stillstand.

    Augenblicke später pochte es kräftig am Eingang. »Andreas! Mach auf!«, forderte eine Männerstimme.

    Mutter und Tochter wechselten einen kurzen Blick. Ein Deut mit dem Kinn, Maria setzte sich an den Esstisch. Da standen vier Becher, daneben ein Krug mit Most. Sie griff danach und schenkte ein, Becher für Becher. Bei jedem zitterte ihre Hand weniger.

    »Ander! Jetzt komm! Wir woll’n kein’ Ärger!« Der Unterton in der harten Stimme besagte jedoch genau das Gegenteil.

    Endlich setzte sich die Mutter in Bewegung. Ihr Brustkorb hob und senkte sich noch einmal, wie um Kraft zu sammeln, dann öffnete sie die Stubentür und trat lautlos wie ein Geist hinaus in den Gang. Dafür war das neuerliche Gepolter an der Tür umso lauter.

    Jetzt knarrte der Riegel am Hauseingang. Kalte Luft drang bis in die Stube und mit ihr die kräftige Stimme von Pauline Voigt. »Was ist? Habt ihr Zöllner heut nix Besseres zu tun, als unschuldige Leut’ von der Feier abzuhalten?«

    Maria sah die Männer förmlich vor sich. In ihren langen dicken Mänteln, die Krägen hochgeschlagen, mit Fellmützen auf dem Kopf, die unter einer leichten Schneeschicht verschwanden.

    »Wir mach’n nur unsere Arbeit, Schwägerin.«

    »Und die müsst ihr immerzu bei uns mach’n?«, giftete die Mutter weiter. Aber, das wusste Maria, die Zöllner ließen sich davon nicht aufhalten.

    Wortlos trampelten die Eindringlinge den Schnee von den Schuhen, dann kamen sie ins Haus. Ihre genagelten Schuhsohlen schlugen auf die Holzdielen. Maria zählte die Schritte mit … acht, neun, zehn. Mehr brauchte es nicht bis zur Küche.

    Sie kehrte sich um zur Tür. Als Erstes erschien der Onkel. Nach ihm sein Kollege, Inspektor Ignaz Stöger. Ihre verschneiten Mützen hielten sie in den Händen. Die Mäntel hatten sie anscheinend draußen abgeklopft, sie schimmerten nur feucht. Auf den Schuhen klebte immer noch Schnee, der zusehends glasiger wurde und blassbraune Lachen auf dem Holzboden hinterließ.

    Von der Wärme erfasst, die der alte Herd im Raum verströmte, zogen die Zöllner ihre Handschuhe aus. »Wir haben einen Schmuggler verfolgt. Bis zu euch, Ander«, sagte der Onkel zu Marias Vater.

    Der fuhr in die Höhe. »Und was geht uns das an?« Er griff nach seinem Becher und nahm einen kräftigen Schluck daraus. »Ihr wisst, dass mein Bernhard im Krieg für den Kaiser kämpft. Und der Hannes war vorhin nur kurz im Stall, um nach dem Vieh zu schau’n. Aber sonst war er immer da. Stimmt’s, Hannes?«

    Marias Bruder prostete dem Vater zu und nickte bestätigend.

    Für kurze Zeit war nur das Schlagen der Pendeluhr zu hören.

    »Ander … Bruder … Wir wollen ja nicht …« Richard Voigt räusperte sich und sah den Vater wieder an. »Wir haben einen anderen verfolgt. Nicht den Hannes.«

    »Und siehst du noch einen anderen hier, Richard?« Der Vater deutete in die Küche. »Aber wenn ihr wollt, könnt ihr gerne in die Kammern schauen. Da werdet ihr nichts finden. Kein Zeug und keinen Schmuggler.«

    Maria schluckte. So unauffällig wie möglich griff sie sich an den Nacken und schaute dabei zur Decke. Hoffentlich verstand die Mutter die Warnung!

    Das tat sie, denn Pauline Voigt stemmte sofort die Hände in die Hüften. »So weit kommt’s noch!«, zeterte sie, »dass irgendwelche Mannsleut’ hier herumschnüffeln.« Entschlossen baute sie sich vor ihrem Schwager auf. Was komisch aussah, weil der sie um fast zwei Köpfe überragte und trotzdem leicht zurückwich. »Wen wollt ihr denn gesehen haben? Bei dem Schneefall?«

    Angespannt wartete Maria auf die Reaktion ihres Onkels.

    Der hob die Hände. »Beruhig dich, Pauline. Es kann genauso gut sein, dass der Kerl beim Haus vorbei ist.«

    »Wir sind halt den Fußspuren nachgegangen. Und die führen zu eurem Hof«, mischte sich zum ersten Mal der Kollege ein. »Und da enden sie, weil bei der Hintertür gibt’s keine mehr.«

    Nun kam die Mutter erst richtig in Fahrt. »Und deshalb behandelt ihr uns wie Verbrecher?«, fauchte sie. »Schlagt’s uns fast die Tür ein?« Sie zeigte auf die Füße der Männer. »Und bringt den ganzen Schnee rein. Die Maria und ich dürfen dann auf den Knien herumrutschen, damit wir alles sauber kriegen! Nur weil ihr geglaubt habt, dass irgendein Schmuggler bei uns ein- und ausgeht.«

    Bei der Erwähnung von Marias Namen schaute Ignaz Stöger in ihre Richtung. »Ich wollt’ schon beim Reinkommen fragen, wieso deine Haare nass sind, Maria. Warst du draußen?«, fragte er, wie er sie sonst fragte, ob sie viel zu tun hätten auf dem Voigt-Hof.

    Gerade deshalb war sie sich nicht sicher, ob er womöglich einen Verdacht hegte. »Ja. Ich hab nach den jungen Obstbäumen geschaut. Nicht dass der Schnee die Äste abbricht. Da hab ich sie halt abgeschüttelt.«

    Mit einem Mal lachte Hannes laut auf. »Womöglich habt ihr ab da die Fußspuren von der Maria verfolgt«, überlegte er und schaute grinsend von Ignaz Stöger zum Onkel. »Oder es sind noch ein paar Kriegsheimkehrer in den Bergen, die bei dem Wetter den Weg nicht mehr finden.«

    Aus den Augenwinkeln sah Maria, wie ihre Mutter die Arme vor der Brust verschränkte und sich an den Brotbackofen lehnte.

    Richard Voigt ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Wenn du draußen warst, muss dir was aufgefallen sein, Maria«, stellte er fest.

    Marias Herzschlag beschleunigte sich. Ihr Onkel hatte recht. Dann hätte ihr jemand begegnet sein müssen. Aufs Geratewohl antwortete sie: »Ja, weiter weg. Beim alten Tauernweg. Wie der Hannes schon gesagt hat. Ich hab auch gedacht, dass noch ein paar Soldaten über den Pass sind. Du verstehst bestimmt, dass ich da schnell wieder rein bin. Man weiß ja nie …«

    Sofort mischte sich die Mutter ein. »Da hörst es. Wir haben mit deinem Schmuggler nichts zu tun.« Während sie weiter mit den Zöllnern schimpfte, schritt sie zur Tür. »Und jetzt haut ab«, verlangte sie barsch.

    Die Männer schauten sich an, unschlüssig, ob sie der Aufforderung folgen sollten. Nach zwei Schlägen der Pendeluhr hoben sie fast gleichzeitig die Schultern und zogen die Handschuhe wieder über. Bevor sie hinausgingen, drehte sich der Onkel noch einmal um. Er deutete mit dem Kopf auf seinen Bruder. »Der Ander braucht Hilfe, Pauline. Das kann so nicht weitergehen.«

    Marias Augen folgten dem Wink: Der Vater stand da und starrte auf einen Punkt im Raum, an dem nur er etwas Fesselndes ausmachen konnte. Ander Voigt war wieder in seiner eigenen Welt.

    Die Mutter dagegen ignorierte den Blick ihres Schwagers und schob sich zwischen die beiden Brüder. »Ach ja, Richard? Und du wirst uns helfen? So wie du uns geholfen hast, als du unseren Buben, den Bernhard festgenommen hast? Wegen ein paar Sachen, die er über die Grenze gebracht hat, damit wir was zum Leben haben?« Sie riss die Tür auf und wies mit dem Arm hinaus. »Ich sag’s noch einmal! Haut ab!«

    Maria sah die Bestürzung und das schlechte Gewissen im Gesicht ihres Onkels. Vielleicht hätte sie Mitleid mit ihm gehabt, wenn nicht klar gewesen wäre, dass bei ihm auch in Zukunft die Arbeit vorging. Darum sah sie ihm auch gleichgültig hinterher, als er schließlich mit Stöger die Stube verließ.

    »Wenn ihr wieder mal wen seht, der hier mitten in der Nacht rumschleicht, sag mir Bescheid, Pauline«, sagte er noch, doch die Mutter warf die Tür hinter ihm zu mit den Worten »Die einzigen, die hier rumschleichen, seid ihr Zöllner!«

    Dann trat sie zum Fenster, ohne hinauszuschauen.

    Maria wusste, warum. Für einen Augenblick wollte die Mutter es wohl nicht sehen. Dieses große schwarze Monster, das sich kaum besiegen ließ. Egal wie sehr sie alle kämpften, die Ruine blieb. Stand starr und reckte ihnen ihr dunkles Gerippe entgegen. Der Stall. Abgebrannt an dem Tag, als der jüngere Bruder, Bernhard, den Zöllnern ins Netz gegangen war. Seit diesem Tag ging es mit dem Voigt-Hof bergab.

    Maria betrachtete den Vater. Wie er den Becher mit dem Most von sich schob und nach seiner Pfeife griff. Wie er sie eine Spur zu fest stopfte und den Tabakbeutel auf den Tisch warf. Er allein hatte vergessen, dass es den Stall nicht mehr gab. Wie er auch vergessen hatte, dass der Bernhard im Gefängnis saß. Oder dass der Krieg verloren war. Und morgen, wenn er sich wieder erinnerte, würde er wie immer versuchen, den Schmerz in seinen Augen zu verbergen.

    Bedächtig zog die Mutter den Vorhang etwas zur Seite und blickte den davonstapfenden Männern hinterher. »Du musst vorsichtiger sein, Maria«, damit ließ sie den rot-weiß karierten Stoff wieder los, streckte sich und fasste sich an den Rücken. Unter der Bürde der letzten Jahre war er zunehmend krummer geworden. »Zum Glück hat der Hannes vorhin die Bäume abgeschüttelt. Wenn nicht, hätt’ dein Onkel die Ausrede gleich durchschaut.«

    Maria nahm einen Schluck vom Most. Er schmeckte sauer. »Beim nächsten Mal pass ich besser auf«, versprach sie, »keine Ahnung, warum die heute unterwegs waren.« Es klang wie der Versuch einer Entschuldigung.

    »Weil sie sonst keinen haben, mit dem sie ins neue Jahr reinfeiern können«, behauptete Hannes. Er schaute an sich hinunter, stoppte an dem Bein, dem der Unterschenkel fehlte, und grinste schief. »Nur gut, dass ich nicht mehr der Schmuggler sein kann und sie dich nicht in Verdacht haben, Maria.«

    Die Mutter kam zurück zum Tisch, setzte sich neben den Vater und legte ihre Hand auf seine. Faltige Hände. Von den Jahren harter Arbeit in den Bergen ausgemergelt. Und doch kräftig und irgendwie sanft, fand Maria. So viele Jahre waren die Eltern für sie und ihre Brüder da gewesen. Jetzt war sie selbst an der Reihe. Darum ging sie seit Wochen über den Pass. Es brachte Geld, das am Hof nicht mehr zu verdienen war. Es bedeutete ein wenig Licht in ihrem kargen Dasein, auch wenn das, was sie tat, für die Zollwache ein Vergehen darstellte.

    »Stoßen wir auf das kommende Jahr an. Und auf den Frieden«, sagte die Mutter in Marias Gedanken hinein.

    »Möge er ewig anhalten und uns reich machen«, ergänzte Hannes.

    »Satt würd’ mir schon langen«, gab die Mutter zurück. Sie stellte ihren Becher ab. »Was hast du denn für die letzte Rinderhaut bekommen, Maria?«

    Der Rucksack! Sie musste ihn dringend ausräumen und die Waren trocknen. Eilig stand sie auf. »Stoff. Polenta. Winterstiefel«, begann sie stolz aufzuzählen.

    »Mir reicht der linke«, warf Hannes ein.

    Maria fasste sich an den Hals, als schnüre ihn eine Schlinge zu. »Kannst du deine blöden Witze nicht lassen?«, brachte sie mühsam heraus.

    »Klar kann ich das, Maria«, meinte der Bruder. »Ich kann euch dafür ja was anderes erzählen. Wie es so war, da am Piave, wie so ein Schwein Dynamit in den Graben geworfen hat«, ätzte er. »Wie ich dann im Dreck lag und gedacht hab, dass ich dort verrecken werd!« Er wurde immer lauter. »Ich kann dir auch sagen, wie es ist, jeden Morgen und Abend auf diesen Stumpen zu schauen, der einmal mein Bein gewesen ist. Soll ich darüber reden?!«, schrie er plötzlich.

    Maria senkte den Kopf. Hannes hatte recht. Und trotzdem konnte sie nicht froh darüber sein, dass er Witze machte, anstatt sein Schicksal immer nur laut zu beklagen.

    Die Mutter wartete schweigend ab, ob sie eingreifen musste. Aber Hannes schwieg. Er schluckte nur ein paar Mal hart, dass sein Adamsapfel hüpfte.

    Und der Vater? Der kratzte sich am Kinn. »Was meinst du, Pauline«, begann er, »wann bekommt der Bernhard wohl Fronturlaub?«

    Das war zu viel. Maria ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Ein Blick auf Hannes genügte. Stocksteif saß er da, die Hände zu Fäusten geballt. Zur Mutter musste sie gar nicht erst schauen.

    »Ein bisschen wird’s noch dauern. Aber dann wird er sicher zu Hause bleiben«, kam es liebevoll von dieser.

    »Passt.« Mehr sagte der Vater nicht. Er stand einfach auf und ging zur Schlafkammer.

    »Es stimmt, was der Richard sagt«, stellte die Mutter leise fest. »Euer Vater braucht Hilfe.«

    »Aber wir haben fast nichts mehr, was ich nach Südtirol bringen kann«, wandte Maria ein. Noch weniger hatten sie Geld, um Waren für den Weiterverkauf zu besorgen.

    »Was ist mit dem Kramer-Franz und dem Amperger-Josef?«, überlegte Hannes laut. Er hatte sein Grinsen wiedergefunden. Sie würde nie herausfinden, wie er das schaffte, aber vielleicht war es der Grund, der ihn noch am Leben hielt. »Was soll mit denen sein?«, fragte sie müde. Die Anstrengungen der letzten Stunden machten sich langsam bemerkbar. Dabei musste noch der Rucksack ausgeleert werden. Sie wollte aufstehen, doch die Mutter hielt sie zurück.

    »Du kannst genauso für den Kramer und den Amperger Waren über den Pass bringen, wie es der Bernhard gemacht hat«, sprach die Mutter es auch schon aus. »Oder siehst du einen anderen Ausweg?«

    Sie wusste selbst nur zu genau, dass es keinen gab.

    »Am Samstag ist Versammlung unten im Dorf«, übernahm Hannes. »Da kann die Maria mit den beiden reden.«

    »Genau«, stimmte die Mutter zu. »Von uns kann keiner runter und einer muss sich anhören, was der Bürgermeister so Dringendes zu sagen hat.« Sie fuhr über den nassen Ring, den ihr Becher auf der Tischplatte hinterlassen hatte. Maria kam es vor, als wische sie damit auch jeden Einwand beiseite. Hatten die beiden vergessen, dass die beiden Männer auf Bernhard nicht gut zu sprechen waren? Durch ihren Bruder hatten sie jede Menge Petroleum verloren, weil es beim Brand zerstört worden war. Aber sie schwieg und willigte ein, mit Bernhards ehemaligen Hehlern zu reden.

    Die Pendeluhr schlug zur Mitternacht.

    »Frohes neues Jahr«, flüsterte Maria. Dann ging sie endlich ihren Rucksack holen.

    Zwei Tage später hatte Maria immer noch keinen guten Grund gefunden, warum sie nicht nach Krimml gehen konnte. Am Morgen hatte sie erklärt, dass sie sich erst einmal vom anstrengenden Gang über den Pass erholen musste. Die Mutter hatte die Arbeit nur kurz unterbrochen und zu ihr geschaut – dann hatte sie weiter den Polentabrei gerührt. Ab da hatte es Maria aufgegeben, nach weiteren Ausreden zu suchen.

    Deshalb war sie jetzt auf dem Weg ins Dorf. In ihrem Kopf drehten sich die Anweisungen im Kreis, die ihr die Mutter und Hannes mitgegeben hatten. Sogar jetzt wurde ihr noch schwindelig, wenn sie daran dachte, wie sie zwischen den beiden gestanden hatte, während ihr die Instruktionen um die Ohren flogen.

    Abwechselnd hatten sie auf Maria eingeredet. »Erklär ihnen, dass du dem Bernhard geholfen hast«, hatte die Mutter gesagt. »Du weißt, wem du die Waren verkaufen kannst«, kam es von Hannes. »Sag bloß nicht, dass wir darauf angewiesen sind!«, war die Mutter dazwischengefahren. »Sonst zieh’n sie dich über den Tisch, diese Bauernfänger.« Dann hörte sie wieder Hannes’ mahnende Stimme: »Gib ihnen nicht das Gefühl, dass du zu schwach bist.« Am Ende hatte ihr die Mutter den Janker in die Hand gedrückt und sie mehr oder weniger aus dem Haus geworfen.

    Zum Glück war der Weg geräumt, sodass sie nicht durch einen halben Meter Schnee stapfen musste. Sie lächelte – zum ersten Mal an diesem Tag. Das hatte sie Leitner Ferdl zu verdanken. Sie sah den jungen Mann vor sich, wie er gestern mit hochrotem Kopf das Glas mit heißem Most von ihr entgegengenommen hatte. Beinahe wäre es ihm aus der Hand gefallen, weil er nicht stillhalten konnte. Die Pferde, die den Pflug gezogen hatten, waren hingegen geduldig stehen geblieben.

    Es erstaunte Maria immer wieder aufs Neue, dass die meisten Lebewesen um Ferdl herum ruhig blieben – egal, wie sehr er auch zappelte. Andere wiederum lachten ihn deshalb aus; und er zappelte dann noch mehr. Dabei gab es so viel Gutes an ihm, was ihn aus der grauen Masse hervorhob. Deshalb mochte sie den Ferdl. Und deshalb behaupteten ein paar Leute in Krimml, er wäre ihr Liebster. Für sie aber war er ein besonders guter Freund.

    Vermutlich ihr einziger. Außer ihm wäre jedenfalls keiner auf die Idee gekommen, den Weg zum Voigt-Hof freizuräumen. Dabei wussten alle, dass sie selbst keine Pferde oder Rinder mehr hatten, die sie vor den Pflug spannen konnten. Sie hatten nicht einmal mehr einen Pflug. Alles war beim Stallbrand zerstört worden.

    Gerade deshalb war es so wichtig, mit den ehemaligen Geschäftspartnern ihres Bruders zu reden, das wusste Maria inzwischen nur zu gut. Sie beschleunigte ihren Schritt. Wie üblich blieb sie kurz an der Abzweigung zur Hängebrücke stehen, die eine Abkürzung nach Krimml bedeutete. In letzter Zeit ärgerte sie sich immer öfter, dass sie sich dort nicht hinübertraute. Auch wenn ihr klar war, warum. Selbst heute, wo sie in Eile war, wählte sie den längeren Weg. Dabei musste sie in einer halben Stunde im Gemeindesaal sein.

    »Maria, warte!«, rief es plötzlich hinter ihr. Sie drehte sich um. In großen Schritten kam die Leitner-Bäuerin auf sie zu. Es wunderte Maria, dass die Frau allein unterwegs war. Sollte bei der Versammlung nicht die ganze Familie mit dabei sein? Doch sie selbst war ja auch alleine.

    »Grüß dich, Alwine«, sagte sie artig. »Wo hast du denn deine Buben und die Schwiegertochter gelassen?«, weil sie sich sicher war, dass die Frage erwartet wurde.

    »Die Buben sind schon nach dem Essen runter ins Gasthaus. Und die Gerda hat nicht mit wollen«, legte Alwine sofort los. »Sie hat g’meint, dass ich die Bäuerin bin und deshalb zu dieser Versammlung gehen muss.« Alwine hatte aufgeschlossen, Maria streckte ihr auch gleich die Hand zur Begrüßung hin. Der Griff der Leitner-Bäuerin war stark und fest. Trotzdem wirkte sie nicht so kraftvoll wie sonst. Aber das traf im Grunde auf jeden zu. Vier Jahre Krieg hatten bei allen Spuren hinterlassen. Aber da hatte Alwine die Hand auch schon wieder losgelassen und marschierte weiter. Fast mochte man meinen, dass sie vor ihrem eigenen Zuhause floh.

    »Es war sehr lieb vom Ferdl, dass er den Weg gestern bis zu uns freigeschoben hat«, begann Maria das Gespräch. Wenn sie nun schon Begleitung hatte, konnte sie sich auch unterhalten. Heute war ihr danach. Dann musste sie nicht länger über später nachdenken.

    »So ist er, mein Bub. Immer hilfsbereit. Das nutzen viele aus.« Maria wollte sofort widersprechen, aber Alwine fuhr bereits fort: »Du machst das nicht, ich weiß. Du magst den Ferdl.« Sie klang, als spräche sie mehr mit sich selbst. »Er hat gesagt, dass er dich vielleicht heiraten wird.«

    Lächelnd erinnerte sich Maria an den Tag, an dem Ferdl das feierlich verkündet hatte. »Stimmt. Aber nur, wenn ich bis zu meinem Fünfundzwanzigsten niemand anderen find.« Weil die Leut’ behaupten, dass mit einer Frau was nicht stimmt, wenn sie mit fünfundzwanzig noch ledig ist, waren seine Worte gewesen. Keiner soll dumm über dich reden, hatte er hinzugefügt. Weil mit dir stimmt alles, Maria. Davon war Ferdl überzeugt, und Maria hoffte, dass er sich nicht täuschte.

    Alwine lachte. »Dann hast ja noch gut drei Jahre.« Plötzlich wurde sie ernst. »Ich glaub, ich hab’s noch nie gesagt, aber das mit deinen Brüdern und dem Vater tut mir leid.«

    Maria nickte stumm. Im Grunde hatte bisher niemand Bernhard in sein Bedauern mit eingeschlossen.

    »Es muss hart sein für deine Mutter«, stellte Alwine fest. Die Art, wie sie das sagte, brachte Maria die Hängebrücke über dem Wasserfall in Erinnerung. Sobald man aber einen Fuß darauf setzte, begann der Steg zu schwanken. Maria traute der Brücke ebenso wenig wie dem Unterton in Alwines Stimme.

    »Vor allem, seit der Bernhard im Gefängnis ist. Der war euch bestimmt eine große Hilfe. Wo doch der Hannes und dein Vater so aus dem Krieg gekommen sind.« Das so betonte Alwine besonders.

    »Wir kommen zurecht«, widersprach Maria. »Das mit dem Vater wird wieder. Und der Hannes lernt fleißig, mit Krücken zu gehen. Vielleicht bekommt er bald ein Holzbein.« Sie biss sich auf die Lippen, weil sie zuviel gesagt hatte. Womöglich fragte Alwine sich nun, woher sie das Geld nehmen wollten. Am Ende sorgte das für noch mehr Gerede im Dorf. Maria stöhnte innerlich auf. Wie lange dauerte es noch bis ins Dorf?

    »Dein Vater ist wenigstens zurückgekommen. Mein Ferdinand, Gott hab ihn selig …« Alwine hielt inne und Maria schalt sich im Stillen für ihre Ungeduld und die Unterstellungen. Die Leitner-Bäuerin war Witwe. Ihr Mann war einer der ersten gewesen, die gefallen waren. Einer von zwanzig Krimmlern, die den Krieg nicht überlebt hatten.

    »Hast du gewusst, dass mir mein Ferdinand den Hof überschrieben hat, bevor er an die Front ist?«

    Ja, das wusste sie. Das wusste jeder im Dorf. Deshalb gab es seit dem Kriegsende die Streitereien auf dem Leitner-Hof.

    »Ich hab mich um alles gekümmert, als die Mannsleut’ vom Hof unbedingt haben in den Krieg ziehen müssen. Nur der Ferdl ist dageblieben. Freiwillig«, betonte Alwine, »nicht, weil sie ihn nicht dabei haben wollten. Der Ferdl hält nix vom Kämpfen.«

    Das klang nach Mutterstolz, aber manchmal fragte sich Maria, ob Alwine Leitner sich in Wahrheit nicht für ihren Ältesten schämte. So wie sie immer betonte, dass der Ferdl von sich aus nicht an die Front wollte. Dabei wusste jeder im Dorf, dass er bei der Musterung für untauglich befunden worden war.

    Vielleicht würde sie die Leitner-Bäuerin irgendwann fragen, ob sie mit ihrer Vermutung recht hatte. Gleichzeitig fürchtete sie die Antwort. Sie wünschte ihrem Freund eine Mutter, die stolz auf ihn war. Also schwieg sie und wartete darauf, dass Alwine aussprach, was ebenfalls jeder im Dorf wusste: »Jetzt soll ich mich aufs Altenteil zurückziehen? Nur weil meine Buben meinen, dass es Zeit ist? Ich bin grad mal dreiundvierzig!«

    Maria antwortete mit einem langgezogenen »Hm«, mehr wurde von ihr bestimmt nicht erwartet. Die Leitnerin wollte keine Meinung hören; sie wollte sich nur Luft machen. Und heute war eben zufällig sie da. Ihr war das aber nicht unangenehm. Jeder Mensch brauchte ab und zu jemanden zum Reden. Und – dessen war sich Maria sicher – auf dem Leitner-Hof boten sich nicht viele Möglichkeiten dazu.

    Alwine schien zufrieden. Sie nickte und redete gleich weiter. »Bei euch hat doch auch die Mutter das Sagen. Das stört niemanden.«

    »Sie entscheidet nichts allein«, stellte Maria klar. Die Mutter fragte den Vater – dann jedenfalls, wenn er wusste, wo er war. Auch der Hannes durfte mitreden. Nur ihr, Maria, wurde gesagt, was zu tun war. Weil eine Tochter sich zu fügen hatte. Sie machte sich da nichts vor. Eines Tages würden ihr die Eltern auch einen Heiratskandidaten bringen. Bei der Vorstellung, mit einem der Burschen aus dem Dorf das Bett teilen zu müssen, fröstelte es sie allerdings. Aber wir haben nix, da findet sich vielleicht gar keiner. Und wenn, kann ich immer noch nein sagen. Sie atmete tief durch.

    Diesmal war es Alwine, die ein langgezogenes »Hm« hören ließ. Sogar den Schritt hatte sie etwas verlangsamt. Ob sie sich überlegte, ihre Söhne und die Schwiegertochter mehr einzubinden? Maria schaute kurz hinüber. Die Lippen ihrer Begleiterin waren fest aufeinandergepresst. Zudem ging sie jetzt wieder schneller. Das hieß wohl, dass sich auf dem Leitner-Hof in naher Zukunft nichts ändern würde.

    »Es passt jetzt einfach nicht«, bestätigte Alwine, was Maria vermutet hatte. »Der Hans und die Gerda werden bald Eltern. Da müssen sie sich erst um das Kind kümmern.« Das Reden munterte die Leitner-Bäuerin immer mehr auf. »Der Sepp wird bald heiraten. Er hat da eine von außerhalb, hat er gesagt.«

    Maria musste grinsen, weil der letzte Satz hastig angefügt worden war. Damit ich mir keine Hoffnungen mache, dachte sie bei sich. Dabei waren Sepp Leitner und das, was er in eine Ehe mitbringen mochte, ihr völlig egal.

    Überraschend blieb Alwine stehen. »Solange ich die Bäuerin bin, ist auch für den Ferdl alles klar. Es geht einfach nicht, Maria. Wieso kann das keiner verstehen?«

    Maria verstand sehr gut. Es ging nicht um den Hans, die Gerda und deren ungeborenes Kind. Es ging nicht um den Sepp. Auch nicht um den Ferdl. Es ging darum, dass Alwine Angst hatte. Davor, dass sie die Witwe vom Ferdinand Leitner war und nun ein Witwenleben zu führen hatte. Bis jetzt aber war sie immer noch die Leitner-Bäuerin, wie seit vier Jahren schon.

    Die Versammlung dauerte noch keine halbe Stunde, schon war es mit der Ordnung vorbei. Alle redeten gleichzeitig. Jeder hatte etwas zu sagen, und jeder wollte den anderen übertönen. Manch einer sprang auf, fuchtelte mit den Armen. Andere wiederum blieben wie versteinert sitzen.

    So auch Maria. Sie drückte sich immer tiefer in den harten Stuhl hinein. Am liebsten hätte sie sich die

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1