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DIE FRAU AUF DEM DACH: Der Krimi-Klassiker!
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eBook272 Seiten3 Stunden

DIE FRAU AUF DEM DACH: Der Krimi-Klassiker!

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Über dieses E-Book

...Langsam drehte sie sich um. Ein Frösteln befiel sie, ein Gefühl, das sie nur allzu gut kannte. Es war kein Frühlingsabend mehr, und das nette Zimmer kam ihr fremd und feindselig vor. Der Lehnstuhl - hatte sie selbst die Kissen so zerdrückt? Und wessen schmutzige Schuhe hatten ihre Spuren auf dem Teppich hinterlassen?

»Nein, ich will nicht hinschauen!«, rief sie laut. »Ich will nicht etwas sehen, das nicht da ist!«

Um sicher zu sein, drehte sie das Licht aus...

Der Roman Die Frau auf dem Dach von Helen Nielsen (* 23. Oktober 1918 in Roseville, Illinois; † 22. Juni 2002 in Prescott, Arizona) erschien erstmals im Jahr 1954; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1955.

Der Verlag DER ROMANKIOSK veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Thriller-Klassikers in seiner Reihe DIE MITTERNACHTSKRIMIS.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum20. Mai 2020
ISBN9783748742128
DIE FRAU AUF DEM DACH: Der Krimi-Klassiker!

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    Buchvorschau

    DIE FRAU AUF DEM DACH - Helen Nielsen

    Das Buch

    ...Langsam drehte sie sich um. Ein Frösteln befiel sie, ein Gefühl, das sie nur allzu gut kannte. Es war kein Frühlingsabend mehr, und das nette Zimmer kam ihr fremd und feindselig vor. Der Lehnstuhl - hatte sie selbst die Kissen so zerdrückt? Und wessen schmutzige Schuhe hatten ihre Spuren auf dem Teppich hinterlassen?

    »Nein, ich will nicht hinschauen!«, rief sie laut. »Ich will nicht etwas sehen, das nicht da ist!«

    Um sicher zu sein, drehte sie das Licht aus...

    Der Roman Die Frau auf dem Dach von Helen Nielsen (* 23. Oktober 1918 in Roseville, Illinois; † 22. Juni 2002 in Prescott, Arizona) erschien erstmals im Jahr 1954; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1955.

    Der Verlag DER ROMANKIOSK veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Thriller-Klassikers in seiner Reihe DIE MITTERNACHTSKRIMIS.

    DIE FRAU AUF DEM DACH

    Erstes Kapitel

    Jeden Abend, wenn Wilma Rathjen von der Arbeit nach Hause kam, spielte sich ein besonderer Ritus ab. Er fing damit an, dass sie nach dem Wandschalter langte und sämtliche Lampen im Wohnzimmer anknipste. Dann verriegelte sie die Tür hinter sich und unternahm eine sorgfältige Inspektionsreise durch die drei Räume mit Bad, die ihre Garagenwohnung ausmachten... Stand der Lehnstuhl an seinem Platz...? Waren die Fensterläden geschlossen...? Hatte jemand die Zeitschriften auf der Sitzbank berührt...? Nichts war zu unbedeutend, dass es nicht die Aufmerksamkeit dieses kleinen Frauchens mit den graumelierten dunklen Haaren und der namenlosen Furcht in den forschenden Blicken beansprucht hätte. Sogar die Schränke wurden durchsucht, ob denn auch die bescheidenen Kleidungsstücke noch, wie sich’s gehörte, in ihren Papiersäcken steckten und die Schuhe keine Spuren zeigten, dass jemand sie unrechtmäßig benützt hätte.

    Erst nachdem dieser Ritus vorüber war, nahm sie sich Zeit, eine große gelbe Katze zu begrüßen, die sich eifrig an ihren spindeldürren Beinen rieb und schnurrend ein Loblied auf die Schweineleber in der Einkaufstasche sang.

    ...Eines Abends aber wurde dieser Ritus verabsäumt.

    Die Waggoner war daran schuld. Selbstverständlich war es auch schon vorher ein schwieriger Tag gewesen, noch ehe sie zur Arbeit erschien, aber Leota Waggoner, Leiterin der Filiale Nummer 217 der Old Country, Style Bakeries (Spezialität: Großmütterchens Rezepte), besaß die Augen eines Falken und die Seele eines Inquisitors. Kaum hatte Wilma den Fuß über die Schwelle gesetzt, da fing die Folter an.

    »Was ist mit der Geburtstagstorte, Miss Rathjen? Hat die Kundin sie schon geholt?«

    Das war eine überflüssige Frage. Deutlich sichtbar prangte zwischen den üblichen Waren eine vierschichtige Torte mit Schokoladenüberguss, roten Zuckerrosen und der Aufschrift Meinem Liebling zum Geburtstag. Und überflüssig war die Besorgnis der Waggoner.    

    »Hoffentlich haben Sie sich nicht wieder geirrt«, fügte sie in ominösem Tone hinzu. »Sonst wird der Inspektor böse!«

    Damit fing es an. Die Waggoner brauchte nur ein Wort zu sagen, und schon wuchsen Wilmas Sorgen ins Unermessliche. Geburtstagstorten wurden extra bestellt, und mit den Bestellungen, die sie auf, nahm, war immer was los - wie zum Beispiel mit den sechs Torten für den Bridgezirkel, die eine Woche zu früh geliefert wurden, und mit den neunzig Dutzend Pfannkuchen für das Fest der Kirchengemeinde, die überhaupt nicht geliefert wurden. Wilma war nicht dumm - im Gymnasium war sie Klassenerste gewesen, bis sie dann abgehen musste aber da in der Welt so viele schreckliche Dinge geschehen (manches Mal vor ihren Augen!), fanden sehr häufig die langweiligen und kleinlichen Wünsche der Kunden keinen Platz in dem Gewimmel ihrer Gedanken. Aber mit der Geburtstagstorte hatte es seine Richtigkeit. An diese Bestellung konnte sie sich sehr gut erinnern!

    Es gab Zeiten, da sogar Mutter Natur sich gegen Wilma Rathjen zu verschwören schien. Regen machte sie nervös, und natürlich musste es an diesem Tage regnen. Der tiefhängende Nebel - überall anderswo als in Los Angeles würde man es ein Nieseln genannt haben - entwickelte sich im Laufe des Nachmittags zu einer kleinen Sintflut, so dass die älteren Kunden sich sehnsüchtig an die schönen Winter erinnerten, als die verschrobenen Wissenschaftler noch nicht begonnen hatten, mit Atombomben zu spielen. Wenn Wilma gehofft hatte, ihre Order auf das Wetterkonto abschreiben zu können, sah sie sich schnöde enttäuscht.

    »Eine Kundin, die sich eine Torte für fünf fünfundneunzig leisten kann«, dekretierte die Waggoner, »kann auch ein Taxi spendieren. Das bisschen Regen macht keine Geburtstagsfeier zunichte.«

    Schon möglich, dachte Wilma, aber es gibt andere Dinge, die eine Geburtstagsfeier zunichtemachen können...

    Wie alle Filialen der Firma lag auch Nummer 217 in einer großen Markthalle an einer verkehrsreichen Straßenkreuzung. Für gewöhnlich ging Wilma, wenn sie nach Hause eilte, den Weg durch die Halle. Es war näher zum Boulevard, und ihren Kolleginnen aus den anderen Ständen einen Gutenachtgruß zuzunicken, gab ihr für einen Augenblick das schöne Gefühl, dass sie zu ihnen gehöre. An diesem Abend aber schlich sie sich durch den hinteren Eingang davon. Der Grund lag auf der Hand. Außer ihrer Einkaufstasche, ihrem Handtäschchen und dem Schirm schleppte Wilma auch noch eine riesige Tortenschachtel mit sich, die den größten Teil des Nachmittags hinter einem Abfallbehälter im Lagerraum gelegen hatte. Besser die fünf fünfundneunzig einzubüßen als ihre Stellung, und die wäre bestimmt futsch gewesen, wenn die Waggoner bei der Schlusskontrolle entdeckt hätte, dass die Torte nicht abgeholt worden war. Die Arbeit bedeutete weit mehr für sie als das tägliche Brot (Curtis würde sie schon nicht verhungern lassen): Eine Zuflucht, damit sie nicht zu Hause zu sitzen brauchte, einsam in der winzigen Wohnung, lauschend, wartend, bis ihr das Gehirn wieder allerlei Possen zu spielen begänne und sie an jenen schrecklichen Ort zurückkehren müsste... Der bloße Gedanke daran ließ sie erschaudern. Gott sei Dank, dass die Waggoner sie nicht hatte weggehen sehen!

    Die Hintertür der Bäckerei ging auf einen geräumigen Parkplatz, der die Markthalle von Le Rene’s Place trennte, einem neonbunten Nachtlokal, das noch für ganz andere Dinge als für seine Küche berühmt war. Inzwischen hatten die Hügel über dem Santa Monica Boulevard sich zur Nacht in eine schmutziggraue Regendecke gehüllt, aber die grellen Lichter des Nachtlokals waren bereits eingeschaltet, und die leichtbekleideten Damen auf den Wandplakaten lächelten geistlos in das Unwetter hinaus. Wilma hatte einen schnellen, plattfüßigen Gang, es sah immer so aus, als wollte sie jemanden überholen, und als sie an den lächelnden Dämchen vorüberkam, beschleunigte sie noch ihre Schritte. Sie schienen sie auszulachen, und aus ihren verführerischen Augen funkelte ein böser Blick. Was berechtigte die Schlechten, schön zu sein, da Wilma Rathjen so hässlich war...

    Aber solche Gedanken musste sie sich aus dem Kopf schlagen. Sie eilte weiter und versuchte, sich an die Worte eines Lieblingspsalms zu erinnern, die die Spukgesichter verscheuchen würden. Und dann übertönte eine Stimme das Regengetrommel:

    »Miss Rathjen! Sind Sie das, Miss Rathjen? Steigen Sie ein, ich fahre Sie nach Hause.«   

    Kein Grund, sich zu fürchten! Es war eine vertraute Stimme, und Wilma erkannte den Wagen wieder. Dennoch schreckte sie zurück.  

    »Denken Sie nicht an die Polsterung«, sagte die junge Dame am Steuer, während sie sich über den Vordersitz beugte, um die Tür aufzuhalten. »Ein bisschen Nässe wird der alten Karre nicht schaden.«

    Wilma dachte nicht an die Polsterung. Wilma dachte nur an die riesige Tortenschachtel, und was für eine Erklärung sie sich ausdenken sollte, falls Ann Jenner sie fragte, was in dem Paket sei. Ann Jenner wusste genau, dass Wilma persönlich für eine Festtorte, noch dazu solcher Größe, keine Verwendung hatte!

    »Ich gehe so gern zu Fuß«, begann sie, aber Ann wollte davon nichts wissen.

    »Bei diesem Guss! Es herrscht schon genug Influenza, so dass Sie uns nicht auch noch krank zu werden brauchen!«

    Die weiße Uniform unter Ann Jenners Regenmantel würde ihre Bemerkung erklärt haben, wenn nicht Wilma ohnedies gewusst hätte, dass sie Krankenschwester war. Wilma hat nichts für Krankenschwestern übrig. Sie sind ihr zu hurtig, zu tüchtig und zu weltklug - und wer weiß, wie es mit ihrer Moral bestellt ist! Aber Ann Jenner war keine Spitalpflegerin, sondern Schwester und Empfangsdame bei Dr. Fergus, dessen Ordination in einer Privatklinik gleich um die Ecke lag, und sie wohnte in dem Nordflügel desselben Villenblocks, in dem Wilma wohnte. Deshalb - und weil sie sich auf keinen Ausweg besinnen konnte - setzte sich Wilma neben Ann ins Auto und versuchte, die Tortenschachtel mit der Einkaufstasche, dem Handtäschchen und dem triefnassen Schirm zu tarnen.

    »Sie sind heute früher dran«, sagte Ann, während sie den Wagen wieder in den Verkehrsstrom lenkte.

    »Es ist Mittwoch«, murmelte Wilma.

    »Ja, richtig! Sie schließen mittwochs früher! Wie gefällt Ihnen die Arbeit?«

    Wilma gab keine Antwort. Gerade heute hatte sie gar keine Lust, über Dinge zu sprechen, die mit der Bäckerei zusammenhingen - und dass sie früher daran war, ja, ohne diesen leidigen Zufall würde die Tortenschachtel ihr nicht so sehr auf die Nerven gehen. Aber wie alle Krankenschwestern, die Wilma kennengelernt hatte, konnte auch diese hier nicht aufhören, drauflos zu schwatzen und ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken.

    »So ein Zufall!«, sagte sie. »Gerade heute hat Doktor Fergus sich nach Ihnen erkundigt.«

    Wilma presste die Lippen zusammen. »Was wollte er wissen?«

    »Nichts Besonderes. Er fragte nur, wie es Ihnen geht.«

    »Doktor Fergus ist nicht mein Arzt.«

    Wilma entging das flüchtige Lächeln, das der recht unansehnlichen Krankenschwester so gut zu Gesicht stand. »Doktor Fergus hat bestimmt nicht die Absicht, Patienten zu angeln. Er hat das Bild Ihres Bruders in der Zeitung gesehen, und da musste er an Sie denken. Haben Sie das Bild gesehen, Miss Rathjen?«

    Das sensationsliebende Lokalblättchen lag noch zusammengefaltet in Wilmas Einkaufstasche, aber sie brauchte das Bild nicht zu sehen. Es war eigentlich immer dasselbe Bild: Thronend an einer Bankett-Tafel, das stereotype Lächeln auf dem feisten Gesicht. In der letzten Zeit hatte sie von Curtis kaum noch etwas anderes zu sehen bekommen als seine Bilder. Manchmal fragte sie sich, ob das Lächeln bereits in seinem Gesicht festgefroren sei.

    »Er ist auf dem besten Wege, ein großer Mann zu werden!«, fügte Ann hinzu, und Wilma wurde mulmig zumute... Ein großer Mann. Diese selben Worte hatte Curtis an dem Tage zu ihr gesagt, da er sie vom Sanatorium zu ihrer neuen Behausung fuhr. Manche Leute konnten nicht begreifen, warum Curtis Rathjen seine Schwester in dem bescheidensten seiner Mietblocks untergebracht hatte, aber die winzige Wohnung über der Garage war eigens für sie ausgebaut worden. Dort war sie völlig ungestört. Kein Stimmengemurmel hinter dünnen Zwischenwänden, keine Fenster zu ebener Erde, keine unerwarteten Schritte im Flur.

    »Hier werden dich keine Nachbarn belästigen«, hatte er versprochen. »Niemand außer dir benützt diese Treppe. Aber nimm dich in Acht! Wenn du noch einmal mit deinen Schauermärchen zur Polizei läufst, kommst du wieder in die Anstalt, und zwar für immer! Ich kann mir keine Skandale mehr leisten. Ich bin dabei, ein großer Mann zu werden.«

    Nie würde Wilma diese Worte vergessen. Plötzlich begann sie vor Aufregung zu zittern. War es wirklich nur ein Zufall, dass Ann Jenner sie gerade heute, an dem einen Tage, da sie früher aus dem Geschäft ging, aufgegabelt hatte? War es ein Zufall, dass sie Curtis’ Worte zitierte? Und Dr. Fergus hatte sich nach ihr erkundigt. Sie erinnerte sich dunkel, dass Curtis einmal erwähnt hatte, er habe diesen Dr. Fergus in seinem Club kennengelernt. War das vielleicht mehr als eine zufällige Begegnung gewesen? Sollte der Arzt, weil er seine Praxis in der Nähe der Markthalle hatte, sich von Zeit zu Zeit nach ihr erkundigen? Hatte die Mieterin aus dem Nordflügel den Auftrag erhalten, sie zu überwachen?

    »Fühlen Sie sich nicht wohl, Miss Rathjen?«

    Wilma blickte auf und sah, wie die Pflegerin ihr hageres Gesicht im Rückspiegel betrachtete. »Ich bin müde«, erwiderte sie schnell. »Es war ein anstrengender Tag.«

    »Ich werde aber doch mit Ihnen hinaufgehen und die Temperatur messen. Bei solchem Wetter muss man sich vorsehen.«

    Gewiss, dachte Wilma. Ich muss mich bei jedem Wetter vorsehen - besonders, wenn ich es mit so abgefeimten Leuten zu tun habe! Krankenschwestern können ebenso schlimm sein wie Ärzte - oder sogar so schlimm wie die Polizei! Sie hören zu und sind voller Anteilnahme und bitten dich, all das Schrecklidre zu berichten, das du weißt - dabei aber überlegen sie die ganze Zeit, wie sie dich irgendwo einsperren könnten...

    Von der Markthalle bis zu dem Villenblock war der Weg nicht weit, und noch bevor die Räder stille standen, hatte Wilma bereits die Autotür geöffnet.

    »Fällt mir nicht ein, Sie zu belästigen!«, rief sie, bevor Ann Jenner protestieren konnte. »Ich werde etwas Leichtes essen und dann gleich zu Bett gehen... Nein, nein Sie brauchen mir nicht zu helfen. Ich schaff’s allein!«      

    Es war nicht sehr klug von ihr, soviel zu schwatzen, aber sie musste verhindern, dass das Frauenzimmer die Tortenschachtel in die Hände bekam. Das würde eine nette Geschichte sein, wenn Curtis davon hörte...

    ...Ihre Schwester ist wieder krank. Sie hat sich eine große Geburtstagstorte gekauft, und dabei hat sie nicht einmal Geburtstag...!

    Ihre Siebensachen zusammenraffend und ohne ein einziges Wort des Dankes machte Wilma kehrt und eilte fluchtartig über den schmalen Weg, der zu der Garagentreppe führte. Sie hörte nicht eher zu laufen auf, bis sie oben angelangt war und sich in ihre kleine Zufluchtsstätte eingeschlossen hatte.

    Wilma stand da, starrte die Tortenschachtel an, die sie noch in der Hand hielt, und wusste nicht, wie die Zeit verrann. Sie hatte vergessen, das Licht anzuschalten. Allmählich traten die Umrisse des Zimmers hervor, schwebende Schatten und ein Lichtschein aus dem Hof. Wilma war durchnässt und durchfroren. Der triefende Schirm hinterließ eine hässliche Pfütze auf dem geflochtenen Chenille-Teppich. Aber sie starrte unverwandt die Schachtel an. Jetzt schien sie ihr ein Symbol zu sein für die dümmste Handlung ihres Lebens. 

    ...Wenn du noch einmal mit deinen Schauermärchen zur Polizei läufst, kommst du wieder in die Anstalt, und zwar für immer...!

    Curtis’ warnende Stimme aus dem Dunkel...

    Aber wie sollte sie sich denn auskennen? Wie sollte sie das Schauermärchen von der Wahrheit unterscheiden können? Wenn die Kundschaft nicht erscheint, um den bestellten Kuchen zu holen und zu bezahlen, wird Wilma ausgescholten. Was aber, wenn die Kundschaft erscheint - jetzt, nachdem Wilma sich mit der Torte aus dem Staub gemacht hat?

    Wilma musste sich vergewissern. Der Villenblock bestand aus sechs Häuschen (ausschließlich der Garagenwohnung) - verteilt auf zwei Komplexe, die vorn durch einen Stukkaturbogen miteinander verbunden waren. Drei gleiche Türen blickten auf drei gleiche Türen, und jeder Lichtstreif, der auf den schmalen Rasen in der Mitte fiel, bezeichnete die Salonfenster einer Wohnung. Als Wilma hinausblickte, sah sie Licht in Ann Jenners Fenster. Im gegenüberliegenden Haus war es finster; ein schöner junger Mann wie Tony Carmen lässt selten sein schnittiges Kabriolett in der Garage rosten. Der Lichtstreif neben Ann Jenners Fenster verkündete, dass der alte Wallace Timm wie gewöhnlich zu Hause war, und gegenüber seiner Wohnung ging’s immer lebhaft zu, mit Fernsehen und lärmendem Radio. Dort hauste das Theatervölkchen, wie Wilma sich auszudrücken pflegte, und wollte Gott, Curtis würde sich endlich abgewöhnen, an leichtfertige junge Damen von der benachbarten Varieté-Bühne zu vermieten.

    Aber der Block hatte sechs Wohnungen, und es waren die beiden letzten, die Wilma so viel Sorgen bereiteten. Von ihrem hochgelegenen Aussichtspunkt aus sah sie mehr als nur die Lichtstreifen auf dem Rasen: Ihr Blick wanderte in zwei Küchen, in zwei Schlafräume, in zwei Badezimmer. Erschreckend, dass so wenige Menschen daran denken, die Vorhänge zuzuziehen. Zu diesen Menschen gehörte vor allem Ruby Lennox. Ruby machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube und aus ihrem Leben kein Geheimnis... Aber Wilmas ängstlich gespannte Aufmerksamkeit und Neugier galten keineswegs der Wohnung von Ruby Lennox.

    Ihre Blicke wanderten über den Hof zu den gegenüberliegenden Fenstern. Ja, das Badezimmer war erhellt: Dies zumindest hatte sie sich nicht eingebildet! Ihr Herz begann hastiger zu pochen. Soeben war ihr ein Gedanke durch den Kopf geschossen wie ein verspäteter Sonnenstrahl. Auch wenn sie sich wieder einmal geirrt haben sollte, gab es einen Ausweg. Sie konnte selbst die Torte abliefern und sagen, wegen des Wetters hätte die Firma einen besonderen Kundendienst organisiert. Schöne Frauen sind es gewohnt, sich bedienen zu lassen, sie betrachten das als ein natürliches Vorrecht - und Jeri Lynn war die schönste Frau, die Wilma je gesehen hatte.

    Aber die Scheiben leuchteten hell. Und hinter den Scheiben des Badezimmerfensters war alles genauso, wie sie es den ganzen Tag über in Erinnerung gehabt hatte: Der Kopf zurück geworfen, die goldbraunen Haare im Wasser gelöst, die nackten Schultern braun vor dem grellen Weiß der Wanne...

    Mit einem Seufzer der, Erleichterung trat Wilma vom Fenster zurück. Sie hatte also doch recht gehabt. Jeri Lynn würde ihre Geburtstagstorte nicht abholen.

      Zweites Kapitel

    Weil Ruby Lennox ihre Telefonrechnung nicht bezahlen konnte, wurde die Leiche in der Badewanne am nächsten Vormittag entdeckt. Es war fast schon um die Mittagsstunde, aber als der Mann von der Telefongesellschaft an die Tür klopfte, ging Ruby noch im Morgenrock und in Pantoffeln umher.

    »Sie könnten mir wenigstens Zeit lassen, mein Frühstück zu beenden«, murmelte sie über den Rand der Kaffeetasse hinweg, die sie in der Hand hielt. »Es gibt Leute, die nachts arbeiten, müssen Sie wissen!«

    Der Telefonmann grinste, denn er hatte seine private Meinung über die Nachtarbeit dieser zerzausten Blondine, und während er in die Wohnung ging, trat Ruby auf die schmale Terrasse hinaus, um mit dem Kaffee auch ein wenig Sonnenschein zu schlürfen. Nach dem vielen Regen tat die Sonne wohl, und Ruby war stets überrascht, wenn sie beim Erwachen einer so sauberen und frischen Welt begegnete, einer Welt ohne Zigarettenrauch, ohne schale Likörgerüche und ohne die Hintergrundmusik klappernder Serviertabletts. Ruby war Kellnerin von Beruf, ihre Schicht dauerte von sechs bis zwei, aber sie ging selten vor sieben zur Arbeit und kam selten vor Tagesanbruch nach Hause. 

    Hier im Hof an diesem hellen und strahlenden Morgen fühlte man sich keineswegs einsam und verlassen. Das Unwetter hatte sich über Nacht gelegt. Ein alter Mann in ausgebeulten Arbeitshosen und verblichenem blauem Hemd war auf dem schmalen Fahrweg, der die beiden Gebäude trennte, damit beschäftigt, dürres Laub und abgefallene Palmenzweige zusammenzuharken. Der Anblick eines Lebewesens war für Ruby stets das Signal, ein Gespräch zu eröffnen.

    »Sie arbeiten zu viel, Papachen!«, rief sie dem Alten zu, und er drehte sich um, das runzelige Gesicht mit den Apfelbäckchen in düstere Falten gelegt.

    »Rathjen ist anderer Meinung«, murmelte er. »Rathjen ist der Meinung, dass ich gar nichts tue.«

    »So, und was tut Rathjen, außer dass er die Mieten einkassiert?« Der Alte -»für Ruby war er immer nur der Alte, obwohl er ebenso gut fünfzig wie siebzig sein mochte - schien ihre Frage beachtenswert zu finden. Er stützte sich auf die Harke und betrachtete die Türöffnung hinter Rubys Rücken. Was ging da drin vor? Das musste was zu bedeuten haben. Wenn Leute ausziehen, pflegen sie das Telefon abmontieren zu lassen. Wollte Ruby ausziehen? Dann musste Rathjen sofort davon verständigt werden. Curtis Rathjen sah nicht gerne seine Wohnung leerstehen.

    »Ist was los?«, fragte er. Es brauchte nicht viel, um Ruby zu veranlassen, beliebige Intermezzi aus ihrem ereignisreichen Leben zu berichten. Jetzt erzählte sie eine traurige Geschichte, die davon handelte, wie es einer Telefonrechnung ergehen kann, wenn eine einsame junge Dame sich einen Schwips antrinkt und ihre sämtlichen Bekannten in sämtlichen Gegenden des Landes anruft. Ferngespräche sind teuer.

    »So was von einer Rechnung! Und jetzt nimmt man mir das Telefon weg«, sagte sie traurig und versonnen. »Ich bin ohnedies einsam. Und ohne Telefon kann ich mich überhaupt mit niemand mehr verabreden!«

    »Ich habe ein paar Dollar übrig begann der Alte.

    »Vielen Dank, Papachen, aber die

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