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DIE LADY AM STRAND: Internationale Krimi-Erzählungen
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eBook692 Seiten9 Stunden

DIE LADY AM STRAND: Internationale Krimi-Erzählungen

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Über dieses E-Book

Die Anthologie Die Lady am Strand - zusammengestellt und herausgegeben von Christian Dörge -, Band 250 der Erfolgsreihe APEX CRIME, enthält 34 ebenso erstklassige wie spannende Crime-Erzählungen internationaler Spitzenautoren des Genres: Storys von Julia De Hahn, Harry Prince, Jeffrey Scott, John H. Dircks, Edward D. Hoch, C. B. Gilford, Stephen Wasylyk, John Lutz, Ernest Savage, Douglas Farr, Helen Nielsen, Fletcher Flora, Jack Ritchie, Lawrence Block, Duffy Carpenter, Alvin S. Flick, Olga Marx, Bruce M. Fisher, Lawrence Wasser, Jean Darling, Lawrence Treat, Richard Plotz, William Bankier, Gil Stern, Ron Goulart, Jaime Sandaval und Christian Dörge.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum20. Dez. 2021
ISBN9783755403432
DIE LADY AM STRAND: Internationale Krimi-Erzählungen

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    Buchvorschau

    DIE LADY AM STRAND - Christian Dörge

    Das Buch

    Die Anthologie Die Lady am Strand - zusammengestellt und herausgegeben von Christian Dörge -, Band 250 der Erfolgsreihe APEX CRIME, enthält 34 ebenso erstklassige wie spannende Crime-Erzählungen internationaler Spitzenautoren des Genres: Storys von Julia De Hahn, Harry Prince, Jeffrey Scott, John H. Dircks, Edward D. Hoch, C. B. Gilford, Stephen Wasylyk, John Lutz, Ernest Savage, Douglas Farr, Helen Nielsen, Fletcher Flora, Jack Ritchie, Lawrence Block, Duffy Carpenter, Alvin S. Flick, Olga Marx, Bruce M. Fisher, Lawrence Wasser, Jean Darling, Lawrence Treat, Richard Plotz, William Bankier, Gil Stern, Ron Goulart, Jaime Sandaval und Christian Dörge.

    Christian Dörge: DIE LADY AM STRAND

    »Meine Anwesenheit wird dekorativer Natur sein.

    Sie erleben mich als respektvollen, ruhigen,

    passiven Beobachter der Wahrheit.«

    - Daniel Craig in Knives Out (2019)

    An einem Aprilmorgen wurde die mit einem azurblauen Badeanzug bekleidete Leiche einer Frau am Strand nördlich von Hagensmoor gefunden, einer ostfriesischen Kleinstadt im Landkreis Aurich. Ein Frühsportler entdeckte die Tote, fuhr fünf Kilometer zurück zu seiner Wohnung und rief von dort aus die Polizei in Hagensmoor an.

    Kommissar Carl Drevermann, ein schlanker, schwarzhaariger junger Mann mit klugen dunklen Augen, traf am Tatort ein. Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Der Sportler war inzwischen zurückgekehrt und stand in der Nähe der Leiche. Nach einer stürmischen Nacht war es jetzt windstill. Nebel hing über dem Ufer.

    Drevermann kniete neben der Frau nieder, die ausgestreckt unterhalb des Hochwasserpegels auf dem Strand lag, etwa sechs Meter von der auslaufenden Brandung entfernt. Das Gesicht war zur Seite gedreht, so dass er ihr Profil erkennen konnte: eine Frau von etwa fünfunddreißig Jahren, die sehr hübsch gewesen war. Sie hatte kastanienbraunes Haar.

    »Um wieviel Uhr haben Sie die Leiche gefunden?«

    Der Mann erwiderte: »Kurz vor halb sechs. Ich bin direkt nach Hause gefahren, was genau fünfzehn Minuten dauert. Auf der Uhr in meiner Küche war es 5 Uhr 45.«

    Drevermann blickte hinauf zu der Stelle oberhalb des Ufers, wo sein blau-gelber Streifenwagen parkte. Zwei weitere Autos standen dort: ein ziemlich neuer BMW und ein uralter Ford. »Welcher davon ist Ihrer?«

    »Der BMW.«

    Der Kommissar stapfte durch den Sand zu dem Ford. Der Mann, ein drahtiger Fünfziger, begleitete ihn. Drevermann öffnete die Fahrertür, die unverschlossen war, und fand die Zulassung an der Sonnenblende angeklemmt: Famke Merowinger, Föhrenweg, Hagensmoor.

    Er zog sein Notizbuch hervor und schrieb die Adresse auf. Dann ließ er sich den Namen des Frühsportlers, Arndt Schüßler, geben und seine Anschrift. Er steckte das Notizbuch wieder ein und untersuchte den Wagen. Im Zündschloss steckte der Schlüssel, daran hing an einem Ring der Schlüssel zum Kofferraum. Keine weiteren Schlüssel an dem Ring. Auf dem Vordersitz lagen ein sauberes weißes Handtuch, ein gelber Frotteemantel und eine grüne Handtasche. Er machte sie auf und zog eine Brieftasche heraus. Der Name auf dem Führerschein stimmte mit dem auf der Zulassung überein.

    Auf dem Boden vor dem Beifahrersitz standen ein Paar braune Slipper. Auf dem Rücksitz befand sich nichts; auf dem Boden im Fond nichts von Bedeutung, lediglich Schmutz und Abfälle, ein paar zerknäulte Zigarettenpäckchen der Marke Camel, Sandwichpapier, leere Streichholzbriefchen und einige leere Cola-Dosen, woraus sich lediglich schließen ließ, dass Famke  nicht gerade die ordentlichste Frau auf dem Erdenrund gewesen war. Er öffnete das Handschuhfach und sah ein paar gefaltete Falk-Straßenkarten und zwei ungeöffnete Päckchen Zigaretten. Sonst nichts.

    Er ging zurück zum Streifenwagen, wollte die Polizeiwache anrufen, den Tod der Frau bestätigen und einen Leichenwagen bestellen. »Brauchen Sie mich noch?«, fragte Schüßler.

    »Im Moment nicht mehr. Gegebenenfalls setzen wir uns mit Ihnen in Verbindung. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

    Schüßler stieg in seinen roten BMW und fuhr davon.

    Drevermann ging zurück zu der Leiche und betrachtete sie. Er bemerkte einen winzigen Fetzen brauner Pappe, erkennbar jetzt, nachdem die Sonne höher stand, der am Saum des Badeanzugs befestigt war, dort wo er auf dem rechten Oberschenkel endete. Es schien der Rest eines Preis-Etiketts zu sein. Famke  Merowinger hatte also einen brandneuen Badeanzug für ihr letztes Bad angezogen.

    Er wartete fünfzehn Minuten. Dann fuhren zwei Polizeiwagen vor, kurz darauf der Leichenwagen. Aus einem der Streifenwagen stieg der Assistent des Leichenbeschauers, der ein kurzes Kopfnicken mit Drevermann austauschte; er kannte ihn flüchtig, ein älterer Mann namens Helferich. Helferich ging zu der Leiche. »Eine Ertrunkene zum Frühstück, wie?«

    »Sieht so aus.«

    »Immer noch besser als eine Messerstecherei. Erstochene vor dem Morgenkaffee schlagen mir immer auf den Magen.«

    Drevermann lächelte und stieg die Uferböschung hinauf, um die drei Polizisten zu informieren, die den Wagen verlassen hatten. Zwei Männer aus der Ambulanz stapften mit einer Bahre zur Leiche. Drevermann setzte sich in seinen Wagen und fuhr zur Polizeiwache.

    Ein Reporter des Hagensmoorer Morgen wartete dort. Drevermann kannte ihn – ein hochgewachsener Mann mit knochigem Gesicht namens Schumacher, nicht mehr allzu jung, der für eine Zeitung in Emden gearbeitet hatte, aber wegen übermäßigen Trinkens gefeuert worden war. Zumindest den Gerüchten nach, die Drevermann gehört hatte. Aber er respektierte Schumacher, der clever und erfahren war; in den zwei Jahren in Hagensmoor hatte er sich offenbar wieder gefangen.

    »Was war los?«, fragte Schumacher.

    »Eine Ertrunkene am Strand.« Er schlug sein Notizbuch auf und gab dem Journalisten Namen und Adressen, die Schumacher auf einem Zettel niederschrieb und dann in seine rechte Jackentasche steckte. »Ich fahre zum Haus des Opfers. Wollen Sie mitkommen?«

    »Gern.«

    »Okay, in ein paar Minuten.«

    »Dann trinke ich in dieser Giftküche an der Ecke eine Tasse Kaffee.«

    »Gut, ich hole Sie dort ab.«

    Drevermann ging hinein zu Hauptkommissar Krieger, seinem Vorgesetzten, der gerade seine Schicht begonnen hatte, um einen mündlichen Bericht abzugeben.

    Es war zwei Minuten nach sieben. Drevermanns Schicht war zu Ende. Aber heute Morgen roch es geradezu nach Überstunden.

    Als er seinen Bericht beendet hatte, fragte Krieger: »Irgendwelche ungewöhnlichen Umstände?«

    »Mir ist nichts aufgefallen. Sie hat nicht lang im Wasser gelegen. Es muss vergangene Nacht oder sehr früh heute Morgen passiert sein. Etwas merkwürdige Zeit, um ein Bad im Meer zu nehmen, aber manche Leute tun eben sehr merkwürdige Dinge.«

    Er sagte Krieger, dass er Famke  Merowinger Wohnung überprüfen wollte. Nachdem er Schumacher in dem Café abgeholt hatte, fuhr er zum Föhrenweg, einer Straße mit recht gepflegten Wohnhäusern. Verglichen mit seinen Nachbarn sah das Haus Nummer 16 tatsächlich etwas verwahrlost aus – die Hecke wucherte wild, und neben dem Vordereingang lagen Stöße alter Zeitungen. Die Auffahrt war mit Ölflecken übersät. Die Tür der angebauten Garage stand weit offen. Der Boden darin mit Kleiderbündeln und leeren Büchsen und Flaschen entlang den Wänden erinnerte Drevermann an den Fond des Ford, den er am Strand vorgefunden hatte.

    Sie gingen zum Vordereingang. Der Polizist drückte mehrmals auf den Klingelknopf. Sie konnten die Glocke deutlich hören, aber niemand machte auf. »Versuchen wir es beim Nachbarn«, meinte er. Sie marschierten zum nächsten Haus auf der rechten Seite.

    Ein kräftiger Mann in einem gelben Hemd öffnete ihnen die Tür. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Drevermann, »aber kennen Sie zufällig die Dame von nebenan?«

    »Die Krankenschwester? Eigentlich nicht, aber ich hätte absolut nichts dagegen, sie näher kennenzulernen.« Der Mann hatte ein breites rosiges Gesicht, und seine hellen blauen Augen waren von feinen Lachfältchen umgeben.

    »Was ist los, Frank?« Eine kleine braunhaarige Frau in einem rosa Bademantel war hinter ihm aufgetaucht.

    »Der Polizist hier erkundigt sich nach der feurigen Famke.« Die Lachfältchen vertieften sich. »Das aufregendste Ereignis in unserem Viertel, seit sich die Köhlers auf der Straße prügelten. An jedem Wochenende liegt sie in der Sonne. Sie sollten mal das Gras an meinem Gartenzaun sehen. Die Dürre ist spurlos an ihm vorübergegangen.«

    »Tatsächlich?«, meinte Schumacher mit einem wissenden Lächeln.

    »Tatsächlich. Weil ich nämlich dauernd über den Zaun linse und dabei vor Aufregung sabbere.«

    »Frank, ich muss schon sagen!« Die Frau lachte leise.

    »Sie hat immer ihren Badeanzug an. Und Mann, das ist wirklich ein Anblick.« Die blauen Augen waren ganz verklärt. »Sie ist erstklassig gebaut und zeigt ihre Reize offensichtlich gern.«

    »Trägt sie zur Schau, ist der korrekte Ausdruck«, erklärte seine Frau.

    Der Mann grinste Drevermann an. »Sie müssten sie in ihrem Badeanzug sehen, Kommissar.«

    »Hab’ ich. Ist noch gar nicht lange her. Am Strand. Sie ist ertrunken.«

    Das Ehepaar starrte ihn entsetzt an. »Sie machen wohl einen Witz«, stieß der Mann hervor.

    »Leider nicht.«

    »Du lieber Gott, das tut mir ja so leid.« Kopfschüttelnd wandte er sich ab. »Mein Gott, das arme Mädchen.«

    Mit belegter Stimme fragte seine Frau: »Wie ist es denn passiert?«

    »Anscheinend ist sie schwimmen gegangen. Dürfen wir hereinkommen und Ihnen ein paar Fragen über sie stellen?«

    »Natürlich. Bitte, treten Sie ein«, erwiderte der Mann.

    »Ich bin Kommissar Carl Drevermann«, stellte er sich vor. »Das hier ist Herr Schumacher.«

    »Frank Prokesch. Meine Frau Margarete.«

    »Ich mache gerade Frühstück für Frank«, sagte die Frau. »Möchten Sie auch etwas?«

    »Nein, vielen Dank.«

    »Oder Kaffee?«

    »Bring ihnen eine Tasse Kaffee«, befahl Prokesch. Er setzte sich an den Tisch im Wohnzimmer. Die Frau ging in die Küche und kam mit einer Portion Rühreier und gebuttertem Toast zurück, die sie vor ihren Mann auf den Tisch stellte. Sie ging zurück in die Küche, um den Kaffee zu kochen.

    Drevermann und Schumacher setzten sich ebenfalls an den Tisch. Drevermann hielt sein Notizbuch in der Hand, und Schumacher hatte einen Zettel aus seiner linken Jackentasche gezogen. Er verwendete niemals ein Notizbuch. Am Ende eines Arbeitstages quoll seine rechte Tasche von bekritzelten und zusammengefalteten Zetteln über.

    Die Frau brachte vier Tassen Kaffee auf einem Tablett und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Zusammen mit ihrem Mann, der sich heißhungrig über sein Frühstück hermachte, berichtete sie über Famke  Merowinger, soviel sie von ihr wusste. Was leider nicht viel war. Famke  Merowinger lebte ziemlich zurückgezogen. Sie wohnte seit etwa acht Monaten in dem Viertel, arbeitete als Schwester im Krankenhaus von Hagensmoor und war offenbar geschieden. Ein Sohn, ungefähr siebzehn Jahre alt, hatte eine Weile bei ihr gewohnt, war aber in letzter Zeit nicht mehr gesehen worden – man vermutete, dass er ausgezogen war und gemeinsam mit ein paar anderen Jungen eine Wohnung genommen hatte. Prokesch und seine Frau wussten die Adresse nicht.

    »Hatte sie einen Freund oder Freunde?«, fragte Schumacher.

    »Allerdings. Da gab es diesen Typ, der oft über Nacht blieb.«

    »Aber Frank!«, rügte seine Frau.

    »Was denn? Es stimmt doch. Es war schließlich kein Geheimnis. Er parkte immer seinen Wagen auf der Auffahrt, und frühmorgens sah man ihn dann wegfahren.«

    »Trotzdem – du solltest nicht solchen Klatsch verbreiten.«

    »Was heißt hier Klatsch? Das sind doch Polizisten. Ich erzähle ihnen nur die Wahrheit.«

    »Ich bin kein Polizist«, erklärte Schumacher. »Ich bin Reporter.«

    »Sind Sie Arno Schumacher?«

    Schumacher nickte und schwieg.

    »Ich lese immer Ihre Artikel. Sie sind viel zu gut für solch eine Provinz-Zeitung.«

    »Ich bin froh, dass ich überhaupt bei einer Zeitung arbeiten kann.«

    »Was ist mit dem Kerl, von dem Sie sprachen?«, warf Drevermann ein.

    »Er fährt einen nagelneuen Mercedes. Mit einem getunten Motor, Sie wissen doch, so ein heißer Schlitten. Gestern Abend habe ich ihn gehört.«

    »Wirklich? Um welche Zeit?«

    »Keine Ahnung. Wird so um Mitternacht gewesen sein. Ich kann nicht beschwören, dass es der Mercedes war. Er schien ein paar Sekunden vor ihrer Haustür zu halten, mit laufendem Motor, und fuhr dann weiter. Hat das etwas zu bedeuten?«

    Drevermann machte sich Notizen. »Wissen Sie zufällig seinen Namen?«

    »Nein. Ich habe ihm ein- oder zweimal zugenickt, morgens, wenn wir beide zu unseren Autos gingen. Hochgewachsener Typ, etwa fünfundvierzig, graumeliertes Haar, schmales Gesicht, Höhensonnenbräune, machte so einen elegant-vornehmen Eindruck, ein richtiger Angeber-Typ... Margarete! Der Zuckerstreuer ist leer!«

    Sie streckte ihm die Zunge heraus, warf den Besuchern ein Grinsen zu und verschwand mit dem Zuckerstreuer in der Küche.

    »Warum bezeichnen Sie ihn als Angeber-Typ?«, fragte Schumacher.

    »Ich weiß nicht recht. Vielleicht nur, weil diese Stadt voll von ihnen zu sein scheint. Das ist eben Hagensmoor.«

    Schumacher verzog amüsiert die Lippen. »Da haben Sie nicht ganz unrecht.«

    Drevermann fragte: »Wann haben Sie ihn zum ersten Mal gesehen?«

    »Ach, so vor etwa zwei Monaten... warum, stimmt was nicht mit dem Ertrinken?«

    »Soweit wir wissen, ist es ein normaler Unfall.«

    Plötzlich kam ihm etwas in den Sinn – das Stück Pappe, das an dem azurblauen Badeanzug gehangen hatte. Bedeutete das etwas?

    Margarete kam mit dem Zuckerstreuer zurück und nahm wieder Platz. Prokesch bediente sich großzügig.

    »Ist sie oft schwimmen gegangen?«, fragte Drevermann.

    »Sie lebte praktisch in diesem blauen Badeanzug«, erklärte Prokesch. »Das heißt, hier in der Gegend. Im Krankenhaus trug sie ihn vermutlich nicht, obwohl das eine ausgezeichnete Medizin gewesen wäre. Für die alten Knacker.«

    »Frank!«, sagte seine Frau tadelnd.

    »Na ja, du hast recht. Das ist nicht die passende Gelegenheit für meine dummen Sprüche. Ja, es stimmt, sie ging sehr oft schwimmen. Diesen Badeanzug trug sie nicht nur zur Dekoration. An dem Wochenende fuhr sie morgens weg und kam abends mit nassen Haaren wieder nach Hause.«

    »Haben Sie jemals bemerkt, ob sie auch nachts schwimmen ging?«

    »Nein, davon weiß ich nichts. Du, Margarete?«

    Sie schüttelte den Kopf. »Abends kam sie und ging sie, aber ich weiß nicht wohin. Gestern Abend hörte ich sie.«

    »Wie sie heimkam?«

    »Nein, wie sie wegging. Ihr alter Wagen macht einen schrecklichen Krach, wenn er angelassen wird. Ich hörte den Motor, dann die Garagentür, als sie geöffnet wurde. Sie quietscht nämlich so fürchterlich. Dann hörte ich den Wagen wegfahren.«

    »Ich nicht«, erklärte ihr Mann.

    »Du würdest es nicht einmal hören, wenn uns ein Flugzeug aufs Dach fällt.«

    »Sie hat recht«, grinste Prokesch. »Ich schlafe den Schlaf der Gerechten.«

    Schumacher fragte: »Hat sie normalerweise die Garagentür offengelassen, wenn sie abends wegfuhr?«

    »Ich habe nie gesehen, dass sie die Tür offenließ«, versicherte Margarete. Ihr Mann nickte zustimmend.

    »Jetzt steht sie offen«, bemerkte Schumacher.

    Drevermann machte sich Notizen. »Wissen Sie, ob ihr Freund manchmal mit ihr schwimmen ging?«

    Margarete schüttelte den Kopf. Prokesch meinte: »Keine Ahnung. Was ist mit ihm, Kommissar? Warum interessieren Sie sich so für ihn?«

    Drevermann lächelte schwach. »Ich weiß es selbst nicht recht.«

    »Frank, du musst gehen«, sagte Margarete plötzlich.

    Er blickte auf seine Armbanduhr. »Allmächtiger! Die Pflicht ruft. Ich muss heute eine Menge Reizwäsche an den Mann bringen.« Er stand auf.

    Drevermann und Schumacher erhoben sich ebenfalls. »Vielen Dank für Ihre Auskünfte«, sagte Drevermann. »Und für den Kaffee.«

    »Gern geschehen. Wiedersehen, meine Herren.« Frank lief zu seiner Frau, zielte einen Kuss auf ihre Lippen, verfehlte sie, versuchte es erneut, stellte eine schmatzende Verbindung her, nahm sich ein Jackett von einer Stuhllehne und verschwand durch die Tür.

    »Ich möchte mich gern im Nachbarhaus umsehen«, sagte Drevermann.

    »Warum?«, fragte Margarete.

    »Vor allem suche ich nach einem Hinweis auf ihren Freund. Wenn er sie gestern oder letzte Nacht gesehen hat, kann er uns vielleicht etwas über ihre seelische Verfassung sagen, bevor sie ans Meer fuhr – ob sie bedrückt war, oder ob etwas Ungewöhnliches vorgefallen ist.«

    »Denken Sie an Selbstmord?«

    »Nicht unbedingt. Ich gehe einfach jeder Möglichkeit nach.«

    Sie schürzte die Lippen. »Wenn Sie ins Haus wollen – das ist ziemlich einfach. Sie legte immer den Schlüssel unter den Fußabtreter. Ziemlich leichtsinnig von ihr, meinen Sie nicht?«

    Drevermann nickte. »Das meine ich in der Tat.«

    »Warum sie ihn nicht in die Handtasche steckte, weiß ich nicht. Die Wagenschlüssel trug sie immer in der Handtasche; ich sah oft, wie sie den Ring hervorholte, wenn sie zur Garage ging.«

    »Sie sprachen von einem Sohn, der anscheinend ausgezogen ist«, meinte Drevermann. »Vielleicht ließ sie den Schlüssel für ihn dort liegen, weil sie nicht wusste, wann er kommen würde.«

    Sie dankten Margarete und gingen zurück zu Nummer 16. Drevermann hob die abgetretene Fußmatte an. Darunter lag ein Schlüssel. Er schob ihn ins Schloss, sperrte die Tür auf und steckte dann den Schlüssel in die Tasche. Sie schauten sich in einem unordentlichen Wohnzimmer um. »Die ideale Hausfrau war sie ja nicht gerade«, brummte Schumacher. An der einen Wand stand auf dem Fußboden ein Plattenspieler, drumherum stapelweise Schallplatten.

    Drevermann öffnete eine Tür und stand in einem Schlafzimmer. Nachdenklich betrachtete er das ungemachte Bett. »Gestern Abend hat sie hier geschlafen«, sagte er zu Schumacher, der ihm gefolgt war.

    »Gestern Abend oder letzte Woche. Irgendwann, seit sie das letzte Mal ihr Bett gemacht hat.«

    Drevermann lächelte. »Hervorragend kombiniert... Hier ist ihr Nachthemd.« Er deutete auf ein zartes blaues Etwas, das auf dem Teppich neben dem Bett lag. In der Nähe befand sich ein kreisrunder Fleck, der Teppichflor war etwas flachgedrückt, und der äußere Kreisrand wies eine leichte Verfärbung auf. Er studierte den Fleck einen Moment, zuckte dann die Achseln und wandte sich ab. Bei einer Hausfrau wie Famke  mochten Flecke dieser Art keine Seltenheit sein.

    Er betrachtete erneut das Nachthemd. »Sie steht also auf, streift das Nachthemd ab, zieht den Badeanzug an – vielleicht war sie durcheinander, fuhr zum Meer, um ihre Nerven zu beruhigen.« Er drehte sich zu der Spiegeltür des Schranks um. »Was halten Sie davon?«

    »Von was?«

    »Hinter der Sache steckt mehr. Da sind eine Menge Kleinigkeiten, nur kann ich mir keinen Reim darauf machen.«

    »Vielleicht hilft Ihnen Klaas auf die Sprünge.«

    »Klaas? Wer ist Klaas?«

    »Klaas ist ihr Freund.«

    Drevermann starrte ihn verblüfft an. Schumacher stand vor einem überladenen Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand. Er hatte Papiere und Unterlagen durchgestöbert und hielt jetzt ein Blatt blaues Schreibpapier in die Höhe. Er las laut vor, und Drevermann war mit einem Satz bei ihm und sah über seine Schulter die geschwungene Handschrift:

    Lieber Klaas, es waren lange und einsame fünf Tage ohne Dich. Es hat sich doch nichts geändert? Kannst Du Dir eine Geschichte ausdenken und Dich am nächsten Wochenende freimachen? Ich möchte mit Dir wegfahren – eine lange, lange Fahrt im Mondschein. Ich liebe Dich sehr.

    Schumacher legte das Blatt wieder auf den Schreibtisch und murmelte: »Das war hier drin. Noch nicht zugeklebt.«

    Er reichte Drevermann einen braunen Umschlag, der in der gleichen Handschrift adressiert war: Herrn Klaas Müller-Pilgram, Auto-Zubehör, Vor-der-Warf-Straße 31, Hagensmoor. Persönlich.

    »Da ist er also«, sagte Schumacher, »der Freund.«

    »Sieht so aus.« Der Polizist legte den Umschlag wieder auf den Schreibtisch und ging ins Bad. Ein Wäschekorb aus Plastik stand an der einen Wand, umgeben von Handtüchern, Strümpfen und Waschlappen. Er öffnete den Deckel, griff hinein, kramte kurz herum und zog einen azurblauen Badeanzug hervor.

    »Sie besaß zwei blaue Badeanzüge.« Er ließ ihn wieder in den Korb fallen. »Man sollte meinen, sie würde sich ein anderes Modell und eine andere Farbe kaufen.«

    »Sie liebte eben Azurblau. Das war ihre Farbe. Denken Sie doch an das Schreibpapier.«

    Drevermann ging ins Wohnzimmer, nahm den Telefonhörer ab, wählte die Nummer der Polizeiwache und verlangte Hauptkommissar Krieger. »Hauptkommissar«, sagte er, »gibt’s schon einen vorläufigen Bericht des Gerichtsmediziners über die Ertrunkene?«

    »Salzwasser in der Lunge, eine Schwellung am Kopf. Vermutlich kollidierte sie mit einem Stück Treibholz und verlor das Bewusstsein...«

    »Ich stöbere noch ein bisschen herum«, meinte Drevermann.

    Sie fuhren zu Müller-Pilgrims Firma in der Vor-der-Warf-Straße. Es war schon fast halb zehn.

    Ein junger Mann hinter der Ladentheke fragte: »Was darf es denn sein?«

    »Ist Herr Müller-Pilgram hier?«

    »Nein, er kommt heute Morgen nicht ins Geschäft.«

    »Was für einen Job hat er hier?«

    »Der Laden gehört ihm.«

    »Ist er jetzt zu Hause?«

    »Ja, ich glaube, Sie werden ihn dort erreichen.«

    Schumacher notierte sich die Adresse, die der junge Mann ihnen gab, auf einem seiner unzähligen Zettel: Drewerstraße 56. Beide kannten die Gegend – lauter vornehme und teure Villen.

    Sie fuhren einmal quer durch die Stadt. Vor dem Haus Drewerstraße 56 stand ein neuer Mercedes auf der Zufahrt zur Doppelgarage. Drevermann drückte auf die Klingel des flachen modernen Steinbungalows. Eine hochgewachsene Frau mit Brille öffnete ihnen.

    »Frau Müller-Pilgram?«, fragte Drevermann. »Ist Herr Müller-Pilgram zu Hause?«

    »Er trinkt im Innenhof Kaffee. Treten Sie bitte ein.«

    Sie gingen durch ein elegant eingerichtetes Wohnzimmer zur großen offenstehenden Glastür. »Klaas! Zwei Polizisten wollen dich sprechen.«

    »Polizisten?« Ein Mann in grünem Pullover, der Frank Prokeschs Beschreibung auffallend zutreffend entsprach, erschien in der Tür, die auf eine hübsche Terrasse hinausführte, auf der ein eiserner Tisch mit Marmorplatte stand. Dahinter erstreckte sich ein Garten, der von Kiefern und einer Steinmauer umgeben war. »Was gibt’s?«, fragte der Mann.

    »Ich bin Kommissar Drevermann, das ist Herr Schumacher. Können wir uns unter sechs Augen miteinander unterhalten?«

    »Unter sechs Augen?« Er warf der Frau einen Blick zu, deren blasses Gesicht ausdruckslos war. Hinter der Brille sahen ihre durch die dicken Gläser vergrößerten Augen kalt aus. »Na schön«, meinte Müller-Pilgram. »Machen wir einen Spaziergang.«

    Sie gingen über den Rasen zu den Kiefern. In ihrem Schatten blieb Müller-Pilgram stehen. »Um was dreht sich’s also?«

    »Es dreht sich um Frau Merowinger.«

    Er presste die Lippen zusammen. »Wer ist Frau Merowinger?«

    »Ihre Geliebte«, erwiderte Drevermann gelassen. »Wir fanden auf ihrem Schreibtisch einen Brief und einen an Sie adressierten Umschlag.«

    »Was zum Teufel hatten Sie an ihrem Schreibtisch zu suchen?«

    »Es ging um eine Untersuchung.« Drevermann zögerte. »Machen Sie sich auf schlechte Nachrichten gefasst.«

    Müller-Pilgram holte tief Atem. »Reden Sie schon.«

    Drevermann sagte es ihm.

    »Oh, nein«, murmelte er. Er legte eine Hand gegen die Stirn.

    Drevermann blickte über die Schulter zurück und sah, dass Frau Müller-Pilgram sie beobachtete.

    »Tut mir sehr leid«, sagte er. »Bitte, haben Sie Verständnis, dass ich Ihnen einige Fragen stellen muss. Waren Sie gestern Abend in der Föhrenweg?«

    »Was? Nein.«

    »Jemand meinte, Sie hätten ein paar Sekunden vor ihrer Tür gehalten.«

    »Dieser Jemand irrt sich. Ich war gestern Abend in Emden. Habe mir dort das Fußballspiel angesehen. Ich nahm ein paar Freunde mit. Wir tun das gelegentlich. Nach dem Spiel besuchten wir einige Nachtclubs. Ich war erst um halb vier wieder zu Hause.«

    »Haben Sie sich irgendwann gestern mit Frau Merowinger getroffen?«

    »Nein; seit einer Woche habe ich sie schon nicht mehr gesehen.«

    »Können Sie sich vorstellen, warum sie um ein Uhr morgens Baden gehen sollte?«

    »Warum nicht? Sie schwamm eben gern.«

    »Ging sie oft spät abends schwimmen?«

    »Ab und zu.«

    »Bedrückte sie in letzter Zeit irgendetwas? Erinnern Sie sich an etwas Ungewöhnliches?«

    »Na ja, wie das eben so geht. Eine Weile macht es Spaß, aber alles geht einmal zu Ende. Verstehen Sie?«

    »Sie meinen, Sie wollten sich trennen?«

    »Wir hatten uns auseinandergelebt.«

    »War das Ihre oder Frau Merowingers Idee?«

    »Was ist denn das? Ein Kreuzverhör?«

    »Nein. Ich versuche nur herauszufinden, in welcher seelischen Verfassung sie sich befand.«

    »Wer kennt schon die seelische Verfassung einer Frau?« Er spähte zum Haus. Seine Frau war verschwunden. »Ich muss ihr erzählen, dass es etwas mit meinem Geschäft zu tun hat«, murmelte er. »Sie weiß nichts von Famke. Sie haben ihr doch nichts gesagt, oder?«

    »Nein.«

    »Das ist... gut so. Es könnte sonst eine schreckliche Szene geben. Ist schon öfters passiert, mit anderen Mädchen. Aber diesmal war ich wirklich vorsichtig. Sie glaubt, ich wäre geschäftlich über Nacht weggeblieben.«

    Drevermann fragte: »Haben Sie Frau Merowinger vor kurzem einen neuen Badeanzug gekauft?«

    »Nein. Warum fragen Sie?«

    »Sie trug einen brandneuen, als sie gefunden wurde.«

    »Muss sie wohl selbst gekauft haben. Warum? Ist das so merkwürdig?«

    »Wahrscheinlich nicht. Haben Sie einen Schlüssel für ihr Haus?«

    »Einen Schlüssel? Nein. Warum sollte ich auch. Ich besuchte sie ja nur, wenn sie zu Hause war.«

    »Diese Freunde, mit denen Sie nach Emden fuhren – waren Sie den ganzen Abend mit ihnen zusammen?«

    »Natürlich. Sie stammen aus Hagensmoor, und ich habe sie nach Hause gebracht. Wir waren zusammen von ein Uhr mittags, als ich sie abholte, bis etwa drei Uhr nachts. Wollen Sie bei ihnen nachfragen? Was soll das eigentlich? Nehmen Sie immer die Leute ins Kreuzverhör, wenn jemand ertrinkt?«

    »Nicht immer. Vielen Dank für die Auskünfte. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so überfallen habe.«

    »Ich möchte lediglich, dass meine Frau nichts davon erfährt.« Er begleitete sie zurück über den Rasen und ins Haus. Seine Frau war nicht im Wohnzimmer, als sie durch die Haustür gingen. Mit gepresster Stimme sagte Müller-Pilgram noch einmal: »Sie darf es nicht erfahren. Eine solche Szene könnte ich nicht noch einmal ertragen.«

    Während sie den Hügel hinunterfuhren, fragte Schumacher: »Glauben Sie ihm? Diese Geschichte von gestern Abend?«

    »Ich glaube schon. Er würde nicht Zeugen erwähnen, wenn er sie nicht wirklich hätte.«

    »Vermutlich nicht. Der Gedanke, dass seine Frau etwas von Famke erfährt, beunruhigt ihn mehr als ihr Tod. Wenn er gewusst hätte, dass ich Reporter bin, hätte er wahrscheinlich einen Nervenzusammenbruch bekommen.«

    Drevermann ließ den Journalisten in der Nähe des Verlagsgebäudes des Hagensmoorer Morgen aussteigen und fuhr dann weiter zur Polizeiwache. Es war 10 Uhr 50. Krieger war nicht in seinem Büro, deshalb machte Drevermann sich an seinen schriftlichen Bericht. Als er ihn in den Aktenkorb auf Kriegers Schreibtisch fallen ließ, erkannte er mit plötzlicher Klarheit, dass nur ein Bismarckbrötchen ihn jetzt noch retten konnte. Er fuhr zum Einkaufscenter, parkte den Wagen und schlenderte an den modernen Läden vorbei zu dem Restaurant. Badeanzüge in einem Schaufenster zogen seinen Blick an. Er blieb einen Moment davor stehen, rieb sich das Kinn und dachte an Famke Merowinger, wie sie mit einem Preisschildchen auf der rechten Hüfte am Strand gelegen hatte.

    Auch an den wächsernen Schaufensterpuppen waren Preisschilder angebracht. Einem plötzlichen Impuls folgend, betrat er den Laden.

    Eine zierliche junge Frau mit sanften braunen Augen lächelte ihm zu. »Darf ich Ihnen behilflich sein?«

    »Ich weiß nicht genau.« Er war etwas verlegen. Es erschien ihm sinnlos – aber nun war er schon einmal hier. »Passen Sie auf, Fräulein. Nehmen wir an, eine junge Frau kauft sich einen neuen Badeanzug...«

    »Hat sie ihn hier gekauft?«

    »Hier oder sonstwo. Das ist nicht der springende Punkt. Nehmen wir also an, sie kauft sich einen Badeanzug, ja? Dann geht sie schwimmen – können Sie mir folgen?«

    Ihr Lächeln war etwas unsicher, aber interessiert. Außerdem war es sehr charmant, stellte Drevermann fest. »Bis jetzt schon.«

    »Okay. Und dann ertrinkt sie. Und ihre Leiche wird ans Ufer geschwemmt. Und an der rechten Hüfte, hier, am Oberschenkel, finden Sie ein Preisschild – was würden Sie sich dabei denken?«

    »Wie bitte?«

    Er lachte ein wenig verlegen. »Können Sie sich das bildlich vorstellen?«

    »Ja, das kapiere ich schon, aber... ja, was würde ich dabei denken?« Sie blickte ihn mit ihren sanften braunen Augen an und zuckte die Achseln. »Ich würde es etwas merkwürdig finden.«

    »Warum?«

    »Weil jede Frau, die einen neuen Badeanzug anzieht, ihn sehr genau anschaut – schließlich will sie feststellen, wie ihre Figur darin wirkt. Sie wird sich von allen Seiten im Spiegel betrachten, wenn sie einen Spiegel besitzt.«

    »Sie hat einen zwei Meter hohen Spiegel.«

    »Dann ist es wirklich merkwürdig.«

    »Genau das dachte ich auch«, erklärte Drevermann. »Nur wusste ich bis jetzt nicht, warum.«

    »Ich kann nicht verstehen, warum sie ein Preisetikett am Badeanzug hängen lassen würde. Frauen tun so etwas einfach nicht.«

    »Vielen Dank.« Er lächelte ihr zu.

    »Habe ich die richtigen Antworten gegeben?«

    »Sie haben absolut richtig geantwortet.«

    »Dann werden Sie mich also nicht verhaften?«

    »Ich habe keinen Haftbefehl. Aber wenn ich einen hätte, würde ich mit Ihnen anfangen. Sofern Sie sich verhaften lassen. Würden Sie...?«

    »Das ist eine Suggestivfrage. Während der Arbeitszeit beantworte ich keine Suggestivfragen.«

    »Würden Sie beim Abendessen Suggestivfragen beantworten?«

    »Kommt darauf an, wer mir die Fragen stellt.«

    Ihr Lächeln gefiel ihm außerordentlich. Und ihre sanften Augen. Und ihr kleines energisches Kinn. Und die Art und Weise, wie ihr zierlicher Körper höchst zufriedenstellend die weiße Bluse und den schicken braunen Rock ausfüllte. Er konnte nichts an ihr entdecken, das ihm nicht gefiel. Sie war das Perfekteste, was er seit langem gesehen hatte.

    Er sagte: »Wie kann ich Ihnen Suggestivfragen stellen? Ich kenne nicht mal Ihren Namen.«

    »Lisa Doepp.«

    »Okay, Lisa. Ich heiße Carl Drevermann und werde hier sein um – wann ist hier Schluss?«

    »Um sechs.«

    »Ich werde um sechs hier sein, Sie zum Essen ausführen und dann Suggestivfragen stellen.«

    »Ein guter Bürger widerspricht der Polizei nicht. Heute werde ich ausnahmsweise ein guter Bürger sein.«

    »Das waren Sie bereits.«

    »Tatsächlich? Bei der Geschichte mit den Badeanzügen? Dieser Trick, um jemand kennenzulernen, war mir wirklich neu.«

    »Ich habe ihn mir gerade erst ausgedacht.« Er nahm ihre Hand. »Wir sehen uns dann um sechs heute Abend, Lisa.«

    Er vergaß völlig das Bismarckbrötchen, stieg stattdessen in den Wagen, fuhr zurück ins Stadtzentrum und überlegte die ganze Zeit, wohin er sie ausführen sollte. Ob sie Hummer mochte?

    Er hatte noch nie ein Mädchen kennengelernt, dem sie nicht schmeckten. Das Restaurant Strandlust war der geeignete Ort, wohin man eine Feinschmeckerin führte, wenn es sich um ein Mädchen handelte, das einem etwas bedeutete. Drevermann wurde das Gefühl nicht los, dass Lisa Doepp ihm tatsächlich eine Menge bedeutete.

    Er fuhr zum Hagensmoorer Morgen, ging an den Anzeigenschaltern vorbei einen Gang entlang zum rückwärtigen Teil, wo die Schreibtische der Redakteure standen. In einer verglasten Kabine sah er Schumacher über eine Schreibmaschine gebeugt sitzen und trat ein. Schumacher, der eine Zigarette an der Unterlippe kleben hatte, blickte auf. »Eine neue Entwicklung hat sich ergeben«, verkündete der Polizist.

    Schumacher kniff die Augen zusammen. »Selbstmord?«

    »Mord.«

    Der Journalist stieß einen überraschten Laut aus.

    Drevermann drehte sich abrupt herum. »Wollen Sie mitkommen?«

    »Wohin?«

    »Müller-Pilgram besuchen.« Er marschierte auf den Korridor hinaus. Schumacher schnappte seine Jacke und stürzte hinter ihm her.

    Im Wagen erklärte Drevermann: »Ich habe ihm nicht die richtigen Fragen gestellt.«

    »Die Namen der Leute, mit denen er angeblich gestern Abend zusammen war?«

    »Nein.« Drevermann lächelte. Er fühlte sich beschwingt. Und das alles nur, weil er ein Mädchen wie Lisa kennengelernt hatte. Und natürlich, weil er die Lösung des Falles in der Hand hielt. »Ich werde jetzt Derrick spielen. Bei der Frage gebe ich Ihnen keine Hilfe. Sie müssen schon selbst raten.«

    Schumacher grinste. »Okay, Derrick. Ich stelle also Fragen über einen Mord. Wenn es Mord war, hat ihr jemand etwas über den Schädel geschlagen und sie dann ertränkt. Richtig?«

    »Richtig.« Sie fuhren in westlicher Richtung durch die Innenstadt.

    »Jemand ging also mit ihr zum Schwimmen. Müller-Pilgram?«

    »Nein.«

    »Wer?«

    »Niemand.«

    »Was?«

    »Niemand war dabei. Weil sie nämlich überhaupt nicht schwimmen gegangen ist.«

    Schumacher starrte ihn verblüfft an. »Sie hat sich ihren Badeanzug nicht selbst angezogen«, erklärte Drevermann. »Jemand streifte ihn ihr über. Über die Leiche. Sie war schon tot, als sie das Haus verließ.«

    Sie fuhren den Hügel hinauf in Richtung Drewerstraße. Schumacher schwieg einen Moment und sagte dann: »Und was ist mit dem Salzwasser in ihrer Lunge?«

    »Salzwasser gibt es nicht nur im Meer.«

    »Was meinen Sie damit?«

    »Sie können sich einen Eimer voll aus dem Meer holen.«

    Schumacher nickte. »Könnte man. Fahren Sie fort.«

    »Was jetzt kommt, ist reine Spekulation. Machen wir ein Experiment. Stellen Sie sich vor, Sie wären der Killer. Auf diese Art können Sie mir leichter sagen, ob meine Vermutungen logisch erscheinen, ob der Mörder so gehandelt haben könnte.«

    Schumacher setzte sein schiefes Grinsen auf. »Ich habe keine große Erfahrung, wie sich ein Killer fühlt. Bis jetzt habe ich lediglich ein paar tausend Flaschen Bourbon um die Ecke gebracht. Aber okay – für einen guten Zweck will ich ausnahmsweise den Killer spielen. Was tue ich also?«

    »Sie haben beschlossen, dass Famke  Merowinger den Tod verdient hat. Sie fahren deshalb an den Strand und holen sich einen Eimer Salzwasser. Dann fahren Sie zu Famkes Haus, halten dort einen Moment, nehmen den Eimer aus dem Wagen und stellen ihn hinter der Vorgartenhecke ab.«

    »Was erklären würde, warum Frank Prokesch den Mercedes hörte, wie er ein paar Sekunden vor dem Haus mit laufendem Motor stand.«

    »Genau. Sie fahren um den Häuserblock herum und parken den Wagen, gehen zurück zu Famkes Haus, nehmen den Eimer und verschaffen sich mit Ihrem Schlüssel Zutritt. Sie kommen ins Schlafzimmer. Sie schläft. Sie stellen den Eimer vor dem Bett ab.«

    »Dort wo der kreisrunde Fleck auf dem Teppich war.« Schumacher pfiff leise durch die Zähne.

    »Sie haben ihn bemerkt? Genau. Dann nehmen Sie irgendein Schlaginstrument aus der Tasche, einen Schraubenschlüssel oder eine Eisenstange oder etwas Ähnliches, und ziehen ihr eins über, so dass sie bewusstlos wird.«

    Er bog in den Drewerstraße ein. »Dann zerren Sie Famke zum Bettrand, stecken ihren Kopf in den Eimer, und sie ertrinkt. Und ihre Lunge ist voll Salzwasser.«

    Sie hatten beinahe das Haus der Müller-Pilgrams erreicht. Der Mercedes stand auf der Zufahrt. Drevermann fuhr an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Er blickte Schumacher an. »Alles klar?«

    »Soweit ja. Ich habe ein paar Fragen, aber sonst ist alles klar. Fahren Sie fort, Derrick.«

    »Sie ziehen ihr das Nachthemd aus und den Badeanzug an. Ein neuer azurblauer Badeanzug, den Sie erst vor kurzem gekauft haben.«

    »Warum?«

    »Weil Sie Famkes schlampigen Lebensstil bestens kannten und befürchteten, dass Sie den alten Badeanzug nicht finden würden. Vielleicht hatten Sie auch Angst, dass sie an diesem Abend schwimmen war und der Badeanzug tropfnass im Bad lag. Es ist schon schwierig genug, einen nassen Badeanzug über einen lebendigen Körper zu streifen, ganz zu schweigen von einer Leiche. Auf jeden Fall sind Sie es, der Mörder, der ihr den neuen Badeanzug anzieht – weil keine Frau einen neuen Badeanzug tragen würde, an dem noch ein Stück des Preisetiketts hängt.« Er grinste. »Ich weiß das von einem Fachmann.«

    »Von dem Preisetikett wusste ich nichts.«

    »Der Mörder auch nicht. Er hat es übersehen. Okay, jetzt schleifen oder tragen Sie die Leiche durch die Küche in Famkes Wagen, wahrscheinlich auf den Rücksitz. Sie gehen zurück ins Haus, finden ihre Handtasche im Wohnzimmer, nehmen die Wagenschlüssel und den Wohnungsschlüssel und legen den Haustürschlüssel unter die Fußmatte. Der Schlüssel, mit dem Sie sich Zugang verschafft haben, befindet sich in Ihrer Tasche. Sie leeren den Eimer in die Toilette und schaffen die Handtasche, einen Frotteebademantel, ein Handtuch und ein Paar Schuhe in den Wagen, weil Sie alles am Strand zurücklassen wollen. Sie nehmen den Eimer und das Schlaginstrument mit.

    Sie fahren zum Meer. Sie tragen oder schleifen die Leiche von Parkplatz hinunter ans Ufer. Sie sind passend dafür angezogen – Stiefel, alte Jeans oder etwas Ähnliches. Sie zerren sie ins Wasser und lassen sie dort treiben.«

    Schumacher blickte ihn gespannt an. Er fuhr fort: »Sie gehen wieder den Strand hinauf, verwischen irgendwie Ihre Spuren und lassen das Handtuch, den Bademantel, die Schuhe und die Handtasche im Wagen liegen. Dann holen Sie Ihren Mercedes und fahren wieder an den Strand, zu Famkes Wagen.

    Sie holen den Eimer und die Waffe aus ihrem Wagen, fahren nach Hause und verstauen den Eimer und die Waffe wieder, vermutlich in der Garage. Und nun haben Sie etwas geschafft, das haargenau wie ein Badeunfall aussieht – es ist Ihnen lediglich entgangen, dass noch ein Stück von dem Preisetikett an dem Badeanzug hing.«

    »Darf ich jetzt Fragen stellen?«, meinte Schumacher.

    »Schießen Sie los.«

    »Der Schlüssel, mit dem ich die Haustür aufschloss – woher hatte ich den? Gab Famke ihn mir?«

    »Nein. Sie bekamen ihn, indem Sie ihr nachspionierten, von Ihrem Wagen aus ihr Haus und ihre Gewohnheiten beobachteten. Sie fanden heraus, dass sie praktisch in ihrem azurblauen Badeanzug lebte, wenn sie nicht gerade arbeiten ging. Auf die gleiche Weise fanden Sie heraus, dass sie den Schlüssel gewohnheitsmäßig unter die Fußmatte legte. Im Krankenhaus erfuhren Sie ihre Arbeitszeiten und wussten, wann Sie sich am besten den Schlüssel stehlen konnten.«

    »Stehlen?«

    »Richtig. Eines Tages, als sie arbeitete und es in dem Viertel ruhig war, gingen Sie zu ihrer Tür und verschoben die Matte mit dem Fuß – auf einen zufälligen Beobachter hätte es wie eine völlig unbeabsichtigte Bewegung gewirkt. Sie beugten sich nieder, als wollten Sie die Matte wieder geraderücken, und nahmen bei dieser Gelegenheit den Schlüssel an sich. Dann gingen Sie zu einem Schlosser und ließen sich ein Duplikat anfertigen...«

    »Dort ist er«, unterbrach ihn Schumacher.

    Müller-Pilgram war aus dem Haus gekommen und starrte zu ihnen hinüber. Er lief zu dem Polizeiwagen und sagte: »Ich habe Sie durchs Fenster gesehen. Wollen Sie noch etwas?«

    »Eine Frage, die ich Ihnen noch nicht gestellt habe. Besitzen Sie einen Zweitwagen?«

    »Meine Frau hat einen Golf. Er steht in der Garage. Ab und zu fahre ich ihn ebenfalls.«

    »Mit welchem Wagen waren Sie gestern Abend unterwegs?«

    »Mit dem Golf. Verbraucht nicht so viel Sprit, außerdem findet man leichter einen Parkplatz. Warum wollen Sie das wissen?«

    »Der Mercedes war also hier?«

    »Natürlich. Ich ließ ihr die Schlüssel da – sie wollte noch zum Einkaufen fahren. Worauf wollen Sie hinaus?«

    Drevermann ließ den Motor an. »Ich wollte nur etwas klären.« Er nickte Müller-Pilgram zu und fuhr los.

    »Er war es also nicht«, bemerkte Schumacher. »Er ist zwar ein fieser Typ, aber kein Mörder.«

    »Er würde seine Freundin nicht umbringen, sondern sie einfach sitzenlassen.« Er lächelte müde. »Ein Dreieck hat immer drei Seiten. Seine Frau ist die dritte.«

    »Und was machen Sie jetzt?«

    »Ich übergebe die Sache Krieger. Wir werden auf Zeugensuche gehen – Leute im Föhrenweg wie die Prokeschs, die vielleicht den geparkten Golf gesehen haben. Leute aus der Drewerstraße, die vielleicht beobachtet haben, wann der Mercedes gestern Abend wegfuhr und wann er zurückkam. Schlosser. Verkäuferinnen in Läden, die Badeanzüge verkaufen. Wir überprüfen diese Streitereien, von denen Müller-Pilgram gesprochen hat. Vielleicht war seine Frau schon früher in psychiatrischer Behandlung oder ist in dieser Beziehung aufgefallen. Möglicherweise hat sie bereits frühere Freundinnen von ihm bedroht oder angegriffen. Vielleicht hat sie bereits vorher gemordet. Wir suchen nach dem Eimer und nach der Schlagwaffe, obwohl sie die vielleicht weggeschafft hat. Wir untersuchen den Fleck auf dem Teppich, ob sich Spuren von Salz finden. Wir können eine Menge tun, nachdem wir jetzt wissen, was wir suchen.«

    »Aber bis jetzt ist es noch keine Story für mich.«

    »Nur eine kurze Meldung über eine Frau, die im Meer ertrank. Aber der Rest kommt noch. Wir sorgen dafür.«

    »Sie sind ein richtiger Derrick, Carl.«

    »Ich nicht.« Er lächelte. »Ich bin nur ein Polizist, der Suggestivfragen stellt, besonders wenn die Person, mit der ich es zu tun habe, dafür empfänglich zu sein scheint.«

    Er fuhr ins Zentrum zurück und überlegte dabei, dass er nach seinem Bericht bei Krieger am besten ein Brötchen essen, dann nach Hause fahren und sich eine Weile aufs Ohr legen sollte, damit er für den kommenden, sehr speziellen Abend fit war.

      John Lutz: WO IST HARRY BEAL?

     (Originaltitel: Where is Harry Beal?)

    »Mr. Nudger?«, fragte sie.

    Ich sagte ja.

    »Nicht jeder Privatdetektiv hat einen lecken Wohnwagen als Büro.« Sie klappte ihren Schirm zu und trat in mein vier mal zwölf Meter großes Heim und Büro.

    »Mir gefällt es«, sagte ich. »Ich mag Moos und Schimmelpilze.«

    Sie sah müde und abgearbeitet aus, war blond, um die Vierzig, hatte braune Augen, ein eckiges, freundliches Gesicht und, abgesehen von den etwas zu dicken Knöcheln, eine gute Figur. »Ich möchte, dass Sie Harry Beal suchen«, begann sie.

    »Und wer ist das?«

    »Ein Freund. Das heißt, mehr als ein Freund. Mein Liebhaber, seit einem Jahr.«

    »Und warum glauben Sie, dass er gesucht werden muss?«

    »Die Polizei fand letzte Woche seinen Mantel, seine Schuhe und seine Krawatte auf der Jefferson Bridge.«

    »Sieht so aus, als müsste man da nicht lange suchen«, sagte ich und deutete auf das zu kleine Sofa. Sie setzte sich. »Sie haben mir noch nicht Ihren Namen genannt.«

    »Helen Farrow. Ich bin Kellnerin im Blue Bull in der Seventh Avenue.«

    Ich goss mir eine weitere Tasse Kaffee ein und bot auch Helen Farrow eine an, aber sie lehnte ab. »Haben Sie schon mit der Polizei gesprochen?«

    »Die glauben, dass Harry Selbstmord begangen hat.«

    »Und warum glauben Sie das nicht?«

    »Am Abend seines Verschwindens erhielt die Polizei einen Anruf aus einer Telefonzelle in der Nähe der Brücke. Es war Harry. Er sagte, jemand habe gedroht, ihn umzubringen, und verfolge ihn. Als ein Streifenwagen zu der Telefonzelle kam, war niemand da, aber sie fanden seine Kleider auf der Brücke.«

    »Falls jemand ihn umgebracht hat, ist es doch seltsam, dass er ihm zuerst Mantel, Schuhe und Krawatte ausgezogen haben soll. Glaubt die Polizei deshalb an Selbstmord?«

    »Anscheinend.«

    Aber ich wusste, dass der Grund für die prompte Schlussfolgerung Selbstmord Überarbeitung und Personalmangel war. Lieutenant Catlin hatte mir oft genug von den Schwierigkeiten seiner Abteilung erzählt.

    »Haben Sie ein Foto von Beal?«

    Sie schüttelte den Kopf.

    »Wenn es Mord war, dann ist Beal genauso tot, als wenn er Selbstmord begangen hätte«, bemerkte ich. »In beiden Fällen hat der Fluss oder das Meer ihn immer noch, falls er nicht inzwischen angetrieben wurde. Es sind schon mehr Leute von dieser Brücke gesprungen und nie wieder aufgetaucht.«

    »Ich glaube nicht, dass es Mord oder Selbstmord war«, beharrte sie störrisch. »Weder das eine noch das andere ergibt irgendeinen Sinn. Ich habe all meine Ersparnisse abgehoben. Ich will, dass Sie Harry finden – lebendig.«

    »Klingt unmöglich.«

    »Ich weiß, aber ich zahle Ihren Preis.« Plötzlich leuchteten ihre müden Augen auf und verrieten eine glasklare Entschlossenheit, eine unerwartete Zartheit auch, die ihre Verzweiflung noch tiefer wirken ließ. Sie war eine Frau, die sich bis zum letzten Augenblick noch weigerte, irgendetwas als hoffnungslos zu bezeichnen. »Harry war so etwas wie meine letzte Chance, Mr. Nudger. Und Sie sind meine letzte Chance, ihn zu finden.«

    Ich seufzte, zog eine Schreibtischschublade auf und reichte ihr einen Vertrag, den sie Unterzeichnete, wobei ich dachte, dass dies genau die Art Fall war, die mir unweigerlich Unannehmlichkeiten ein- und mich irgendwann einmal umbringen würde. Trotzdem nahm ich an. »Seien Sie nicht zu optimistisch«, sagte ich.

    Aber sie war es. Das sah ich genau. Was ist bloß mit den Leuten los?

    Lieutenant Charles Catlin sah von seinem Schreibtisch in dem kahlen, nüchternen Büro im Polizeipräsidium auf. Das Büro war in dem üblichen, blassen Grün gestrichen, das dringend eine Auffrischung benötigte, und von irgendwoher erklang permanent das Quaken eines Senders, mit dessen Hilfe Polizeiwagen zu den verschiedensten Stellen beordert wurden. Von einem Bild an der Wand hinter dem Schreibtisch schien der Polizeichef mit strenger Missbilligung über Catlins Schulter zu blicken.

    »Hallo, Nudger!«, grüßte Catlin gleichgültig. Er ist ein bulliger Mann, dessen grobe Gesichtszüge einen scharfen Verstand tarnen. »Was bringt Sie denn in diese Höhle des Antiverbrechens?«

    »Ein Job.«

    »Das Branchenverzeichnis schlägt wieder zu.«

    Ich setzte mich auf den unbequemen Stuhl neben Catlins Schreibtisch. »Harry Beal«, sagte ich.

    Er nickte. »Ich habe mit der Frau gesprochen, die er hinterlassen hat. Sie will es nicht glauben.«

    »Sie braucht Gewissheit«, erläuterte ich. »Entweder so oder so. Also erzählen Sie mir schon, was Sie über den Fall wissen.«

    Ich wusste, dass Catlin das tun würde. Wir schachern mit gegenseitigem Gefallen wie mit Monopolygeld, und wir wissen beide, dass wir in dieser Welt dadurch nicht reicher werden.

    Catlin wiederholte im Groben und Ganzen Helen Farrows kurzen, traurigen Bericht über die Nacht von Harry Beals Verschwinden.

    »Und warum lautet die Beurteilung des Falles auf Selbstmord?«

    »Weil mehr Anzeichen auf Selbstmord als auf Mord oder Unfall hinweisen – in Anbetracht unseres diesjährigen Budgets zumindest.«

    »Und was ist mit Harry Beal selbst?«

    »Achtundvierzig Jahre alt, stammt aus dem Kaukasus, arbeitet als Verkäufer für Büroausstattungen, keine Angehörigen.«

    »Irgendwelche Hinweise aus seiner Kleidung?«

    »Fragen Sie bei Denning im Labor nach. Ich habe Wichtigeres zu tun.« Er wedelte kurz mit der Hand hin und her und begann ein Formular auszufüllen. Charme war noch nie seine starke Seite gewesen.

    Ich ging und nahm den Lift hinunter ins Labor.

    Denning erkannte mich und nickte mir ein freundliches Hallo zu. Wir diskutierten unsere beiderseitige Abneigung gegen Catlin, dann bat ich Denning, mir alles über Harry Beal zu erzählen.

    »Er hatte Schuhgröße zehn, trug einen vierundvierziger Mantel und hatte eine Vorliebe für bunte Krawatten.« Er führte mich zu dem Fach, in dem Harry Beals Sachen untergebracht waren.

    Die Schuhe waren schwarz-weiß, der Mantel blau und von mittlerer Qualität, die Krawatte eine schreiende Mischung aus Violett, Rot, Gelb und Grau. Die Sohlen der Schuhe waren schon ziemlich abgetreten, und in den Taschen des Mantels hatte man nichts gefunden.

    »Sonst noch etwas?«, fragte ich.

    »Auf dem Mantel waren ein paar rote Haare«, sagte Denning. »Meiner Meinung nach gefärbt.«

    »Helen Farrows Haare sind blond gefärbt.«

    »Wer ist Helen Farrow?«

    »Beals Freundin, meine Klientin.«

    »Arme Frau.« Er sah mich mit seinem kurzsichtigen Laborblick an.

    Ich verließ ihn ohne ein freundliches Wort und fuhr in meinem alten, braunen VW-Käfer zu Helen Farrows Wohnung. Auf dem Weg überdachte ich alles, was ich über den Fall wusste, schaffte es, meinen nervösen Magen aufzuwühlen, und stopfte mir eine Magentablette in den Mund. Ich habe zwar das Geschick, nicht aber die Nerven für meinen Beruf.

    Helen Farrows Wohnung lag in einem der billigeren Stadtviertel, im dritten Stock eines heruntergekommenen Backsteinhauses, dessen Eingang auf beiden Seiten von einem steinernen Wasserspeier geziert wurde. Die Wohnung selbst war klein, billig möbliert, aber fast antiseptisch sauber und aufgeräumt. Helen Farrow war eine Frau, die wissen musste, wo genau alles lag und warum. Sie bat mich herein, und ich sagte ihr, ich sei bei der Polizei gewesen.

    »Was haben Sie herausgefunden?«

    »Dass Beal zweifarbige Schuhe trug. Das ist zumindest ein Anfang.« Ich setzte mich in einen kleinen Kunststoffsessel und beobachtete sie, wie sie auf und ab lief. Sie blieb am Fenster stehen und zündete sich eine Zigarette an.

    »Wo arbeitete Beal?«, fragte ich.

    »Gamer Enterprises, im Zentrum. Die Polizei befragte Mr. Gavner, und ich sprach am Telefon mit ihm. Er sagte, dass Harry vor seinem Verschwinden ziemlich deprimiert wirkte.«

    »Ich werde mit Gavner reden«, besprach ich. »Aber wahrscheinlich wird er mir das gleiche sagen wie der Polizei.«

    Sie drehte sich um und starrte mich an, inhalierte den Rauch ihrer Zigarette, als tue es ihr weh. Ich wusste, dass sie auf ein paar Worte der Ermutigung hoffte. Aber ich war der Meinung, dass Harry Beal genau in diesem Augenblick irgendwo von den Fischen angenagt wurde. Es hätte Helen nicht ermutigt, das zu hören, deshalb verließ ich die Wohnung, ohne überhaupt etwas zu sagen.

    Die Gavner Enterprises befanden sich in einem unauffälligen Büro in einem unauffälligen Gebäude im Stadtzentrum. In dem kleinen, modern eingerichteten Vorzimmer saß keine Empfangsdame, daher folgte ich den Anweisungen einer Tafel, die den Besucher aufforderte, einen Knopf zu drücken und sich zu gedulden.

    Schon bald dröhnte eine Stimme aus dem hinteren Büro und forderte mich auf, einzutreten. Ich war jedoch der Meinung, dass dies nicht den allgemein üblichen Geschäftsgepflogenheiten entsprach, aber ich tat trotzdem, was die Stimme sagte.

    Der rundschultrige, grauhaarige Mann hinter dem überfüllten Schreibtisch stand zwar nicht auf, als er mir bekanntgab, er sei Gerald P. Gavner, aber er streckte mir die Hand hin. Er sah aus wie Anfang Fünfzig, aber das kühne, lebhafte Glitzern seiner Augen ließ vermuten, dass es sich bei ihm um einen alternden Romeo handelte, der die Büromädchen um die Schreibtische jagte.

    Ich stellte bald fest, dass ich das Glitzern völlig falsch interpretiert hatte.

    »Es gefiel mir nicht, dass Beal in wilder Ehe mit dieser Frau lebte«, sagte er mit abgehackter, knapper Stimme. »Das mag zwar altmodisch klingen, aber ich bin der Meinung, dass ein derartiges Verhältnis sich auf das Unternehmen auswirkt. Dennoch war der Mann mein bester Verkäufer, und ich vermute, dass er nur wegen der Depression, in die er im Jahr vor seinem Selbstmord verfiel, mit dieser Frau zusammenzog.«

    »Depression?«

    »Oh, den meisten wäre das vielleicht nicht aufgefallen. Aber Beal war für gewöhnlich ein so lebhafter, übersprudelnder Mensch, dass für ihn normales Verhalten einfach den Ausdruck einer Depression darstellte. Die Frau hat seinen wahren Charakter wahrscheinlich nie kennengelernt und merkte daher nicht, dass er unter Depressionen litt.«

    »Ein Jahr ist eine lange Zeit, um deprimiert zu sein.«

    »Vielleicht hätte er sich daraus lösen können, aber da passierte der Famworth-Mord.«

    Mein Magen machte beim Wort Mord einen entsetzten Sprung. »Ich kenne den Fall nicht.«

    »Famworth war der Mann, der vor sechs Jahren wegen Mordes an Beals Frau und Tochter in Texas angeklagt, dann aber freigesprochen wurde. Allgemein war man der Meinung, dass er schuldig sei, aber es irgendwie schaffte, sich loszukaufen. Dann, als Famworth letzten Monat umgebracht wurde, verdächtigte die Polizei verständlicherweise Beal. Er hatte zwar ein einwandfreies Alibi – er war mehr als tausend Kilometer vom Schauplatz des Mordes entfernt –, aber man vernahm ihn trotzdem. Da müssen alte Wunden wieder aufgebrochen sein, und ich glaube, dass er nur daraufhin seine Selbstmordabsichten wahrmachte.«

    »Beal hatte Selbstmordabsichten?«

    »Er hatte gelegentlich Andeutungen gemacht.« Gavner faltete seine wachsbleichen Hände, wobei am kleinen Finger ein Diamantring aufblitzte, und hob fragend eine Augenbraue. »Hat die Polizei Ihnen das nicht gesagt?«

    »Unsere Beziehung ist von einer Art, bei der keiner der beiden Parteien gern in Einzelheiten geht.«

    Ich verließ Gavner und fuhr zurück ins Polizeipräsidium, wo ich Catlin glücklicherweise noch antraf.

    »Erzählen Sie mir vom Mord an Beals Frau und Tochter«, bat ich.

    »Die Sache ist bedeutungslos«, sagte er, »deshalb macht es mir nichts aus, es Ihnen zu erzählen.« Er lehnte sich in seinem quietschenden Drehstuhl zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. »Vor sechs Jahren hatte ein wohlhabender Schürzenjäger eine Affäre mit Beals Frau. Es stellte sich leider heraus, dass er mehr als nur ein bisschen verdreht war. Er erdrosselte die Frau und die vierzehnjährige Tochter

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