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TRISTANA - EINE WERKAUSGABE: Ausgewählte Texte 1988 - 2018
TRISTANA - EINE WERKAUSGABE: Ausgewählte Texte 1988 - 2018
TRISTANA - EINE WERKAUSGABE: Ausgewählte Texte 1988 - 2018
eBook723 Seiten5 Stunden

TRISTANA - EINE WERKAUSGABE: Ausgewählte Texte 1988 - 2018

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Über dieses E-Book

Christian Dörges Werkschau Tristana – eine Auswahl von Lyrik, Prosa und Theaterstücken aus den Jahren 1988 bis 2018 - ist grausam und dunkel; sie ist einem langen mühseligen Gang durch eine bleiern schwere Dunkelheit verwandt. Per aspera ad astra. Durch tiefe Nacht zu den Sternen, durch die Dunkelheit hindurch dem Licht entgegen. Die Nacht, das Unbewusste und Dunkle, fordert, Schritt um Schritt durchlaufen und vermessen zu werden. Denn nur, wenn etwas restlos durchschritten und Elle um Elle, bis in den letzten Winkel hinein, vermessen wurde, kann keinen Schatten mehr werfen. Der Schatten steht als trennender Abgrund zwischen Literatur und Mensch. Antike Mythen kleiden den Prozess der Bewusstmachung verdrängter Schattenaspekte in das Bild des Abstieges in die Unterwelt.

Die tiefe Schwärze, die uns im Werke Dörges entgegentritt, stellt die Dunkelheit dar, die ein Mensch erfährt, dem es immer wieder, für Momente, gegeben ist, einen Blick hinter den schweren samtenen Vorhang, der schützend das Dramatische verbirgt, zu erhaschen. Und eben von dieser Lichtlosigkeit berichtet Christian Dörge in diesem Buch. Die Schwärze, die das Auge des Menschen schaut, der aus dem strahlenden Sonnenglanz heraus, in einen künstlich beleuchteten Raum tritt. In Dörges hier zusammengefassten Schriften begegnen dem Leser ganz ungeheuerliche Seelenbilder und monströse Ausgeburten menschlicher Urängste. Eine unheimliche und bedrohliche Atmosphäre liegt über den Geschichten und Texten und begleitet die Themen der Entfremdung, Heimatlosigkeit, Isolation, der tief empfundenen Vereinsamung und des hilflosen Ausgeliefertseins. Und dennoch steht über Dörges literarischem Werk der unverrückbare Glaube an etwas Ewiges, an ein heliozentrisches Weltbild: Tristana.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum8. Juli 2022
ISBN9783755416937
TRISTANA - EINE WERKAUSGABE: Ausgewählte Texte 1988 - 2018

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    Buchvorschau

    TRISTANA - EINE WERKAUSGABE - Christian Dörge

    Das Buch

    Christian Dörges Werkschau Tristana – eine Auswahl von Lyrik, Prosa und Theaterstücken aus den Jahren 1988 bis 2018 -  ist grausam und dunkel; sie ist einem langen mühseligen Gang durch eine bleiern schwere Dunkelheit verwandt. Per aspera ad astra. Durch tiefe Nacht zu den Sternen, durch die Dunkelheit hindurch dem Licht entgegen. Die Nacht, das Unbewusste und Dunkle, fordert, Schritt um Schritt durchlaufen und vermessen zu werden. Denn nur, wenn etwas restlos durchschritten und Elle um Elle, bis in den letzten Winkel hinein, vermessen wurde, kann keinen Schatten mehr werfen. Der Schatten steht als trennender Abgrund zwischen Literatur und Mensch. Antike Mythen kleiden den Prozess der Bewusstmachung verdrängter Schattenaspekte in das Bild des Abstieges in die Unterwelt.

    Die tiefe Schwärze, die uns im Werke Dörges entgegentritt, stellt die Dunkelheit dar, die ein Mensch erfährt, dem es immer wieder, für Momente, gegeben ist, einen Blick hinter den schweren samtenen Vorhang, der schützend das Dramatische verbirgt, zu erhaschen. Und eben von dieser Lichtlosigkeit berichtet Christian Dörge in diesem Buch. Die Schwärze, die das Auge des Menschen schaut, der aus dem strahlenden Sonnenglanz heraus, in einen künstlich beleuchteten Raum tritt. In Dörges hier zusammengefassten Schriften begegnen dem Leser ganz ungeheuerliche Seelenbilder und monströse Ausgeburten menschlicher Urängste. Eine unheimliche und bedrohliche Atmosphäre liegt über den Geschichten und Texten und begleitet die Themen der Entfremdung, Heimatlosigkeit, Isolation, der tief empfundenen Vereinsamung und des hilflosen Ausgeliefertseins. Und dennoch steht über Dörges literarischem Werk der unverrückbare Glaube an etwas Ewiges, an ein heliozentrisches Weltbild: Tristana.

    Der Autor

    Christian Dörge, Jahrgang 1969.

    Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

    Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).

    Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung

    eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014).

    1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

    Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993).

    Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017).

    Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8813 – Eine Werkausgabe (2015), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.

    2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland.

    2022 folgen zwei weitere Krimi-Serien: Noir-Krimis um den Frankenberger Privatdetektiv Lafayette Bismarck und München-Krimis mit Jack Kandlbinder, der in der bayrisches Landeshauptstadt die merkwürdigsten Verbrechen aufzuklären hat.

    Für meinen Vater,

    Siegfried Karl Georg Dörge -

    ein Verwandlungskünstler, ein Magnesiumblitz.

    Die Nullstellen des Surrealen

    Vorwort von Christian Dörge

    »Der Neokortex steuert das analytische Gedächtnis.

     Wenn wir träumen, ist es nicht aktiv.«

    - CRISPIAN HAY, Café Vidocq

    Die unvergesslichsten Swimmingpool-Szenen des Kinos finden sich in den Filmen von Jacques Deray und Francois Ozon. Sie schimmern in smaragdgrünen und türkisblauen Farben und sind trotz (oder gerade wegen?) ihres Lyrizismus unmittelbar mit der Wirklichkeit verknüpft.

    Als ehemaliges Attribut einer vormals gefestigten Mittelstands-Kultur hat der Pool seine Verortung in zum Sterben schönen französischen Landhäusern, lärmbefreit, nicht-utopisch, jedoch denkbar vortrefflich fokussiert auf die unterschiedlichen Frauen-Figuren, dargestellt von Romy Schneider und Charlotte Rampling.

    In beiden filmischen Beispielen ist der Swimmingpool das visuelle Zentrum einer losen Erzählung über lang gedehnte, dramatisch aufgeladene Sommertage, die von Stillstand und Auflösung gleichermaßen bestimmt sind – und von einer seltsam aktiven Untätigkeit, bei der das Sonnenbaden fließend übergeht in strukturell bedingte Überbeschäftigung. Dies mag nun übertragbar sein auf ein sichtbar bohemistische Milieu, in welchem sich das gros der in diesem Buch versammelten Texte abspielt, verdichten sich doch in jeglichen Pool-Bildern die Gefühle einer grundrechtlichen und – ja! – emotionalen Instabilität, fernab jener Zeit, als Orwell’sche Panikattacken und der damit einhergehende Verfolgungswahn noch zur literarischen Kodierung einer jeden (Sub-)Kultur gehörten.

    Und Literatur ist vielfältig kodiert – allein in der Begriffspaarung die Nacht, der Tag läuft eine Fülle bemerkenswerter Codes zusammen: Da wäre der tragische Bohemien, in existenzialistischer Literatur belesen, der sich – freilich in einen schwarzen Rollkragenpullover gewandet – als Teil des Kreativ-Kapitals einer Stadt mit goldenen Türmen begreift; die Literatur selbst, die als metaphysische Spitzfindigkeit stattfindet; ein Mann und eine Frau, die an einem Tisch sitzen und auf ein giftiges Fieber warten.

    Literatur ist vielfältig kodiert.

    Das Paar am Tisch wartet, doch es geschieht kein Wunder. Und diese Sammlung von Texten, entstanden in den Jahren 1988 bis 2013, gleicht lustvoll einem besonderen Wunsch nach einer Zeitreise, vielleicht angelehnt an Alexander Trocchi’s Begriff vom Kosmonaut des Inneren Raums – Literatur als Ziel und Ansporn für neue Techniken des Schreibens. In surrealen Räumen, die das Persönliche und Private, das Spezielle und Allgemeine einer bemerkenswerten Biographie bergen, verbleibt die Literatur in der Verbindlichkeit und entschwindet nicht im Raum-/Zeit-Gefüge des Vergessens: Trstana verfügt damit über den unbedingten Willen (und: die Kompetenz) zum Kunstwerk. In existenzialistischen Wüsten-Ansichten, bestimmt von einem Stil mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten, in welchen sich Verweise auf die Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts finden, manifestieren sich wiederkehrende, ‚klassische‘ Motive – besonders deutlich herausgearbeitet in den Texten Tee in der Sahara und Saturn in fremdem Fleisch -, welche das Bild der Künstlerbohème, wie man es von Robert Doisneau oder Henri Cartier-Bresson kennt, invertieren und eine unverwechselbar schwebende, fast traumwandlerische Atmosphäre entstehen lassen: ein literarischer Lichteffekt mit glamourösen Schwarz-Weiß-Kontrasten, eine flüchtige Begegnung, die sich zum bevorzugten Sujet entwickelte.

    Die literarische Indikation vorausgesetzt, gibt es zwischen den Texten viele Tiefen, Abstürze, Entmutigungen. Dennoch wird der Erzähler, der Lyriker, der Dramatiker von seinen Lesern bestärkt:

    »Die Bühne ist die Drohung. Die Bühne muss die Drohung sein!«

    Was hier an giftigem Fieber versprüht wird, tötet ganze Dynastien feuerfester nicht-literarischer Vers-Sammlungen. Tristana jedoch – enzyklopädisch und auf bizarre Weise heterogen – bleibt niemals nur Text, ist niemals nur expressionistisch oder fatal, sondern gleicht subjektiver Erinnerung, welche die Erzählperspektiven ständig variiert und sogar übertragbar werden lässt. So mag das literarische Resultat unter den verschiedensten Prämissen gelesen werden, und man mag sich mitunter zu vorschnellen Schlüssen hingerissen fühlen, bei genauerer Betrachtung fallen jedoch die konstruktiven Akzente auf – ein vielfarbiges Schwarz, die Ambivalenz von Traurigkeit und Verletzlichkeit, elisabethanische Adaptionen in einer Opulenz kurz vor Schwarz untermalen das Konzept einer ursprünglichen und figurativen Form von Literatur, die stets fragt:

    Warum bin ich hier?

    Antwort: Wegen Texten, die unglaublichen Wolkentürmen gleichen, die nichts verschweigen und deren Resümee ist: »Die wissende Frau/ihr Gesicht wechselt in jedem Winter/in schweigender Chemie/ihr fließender Atem/in der sehr klaren Nacht/und ihrem sehr kalten Licht…«

    So geht die Zeitlosigkeit existenzialistischer Befindlichkeiten immer auch mit einer geschärften Aufmerksamkeit für ihre quasi-historische Gegenwart einher.

    Die Reise hat sich gelohnt.

    Christian Dörge,

    Januar 2014

    Eisengott spricht

    wenn Eisengott spricht

    riesig und schwarz

    wiegt das Wort so schwer wie Blei...

    glänzende Schlangen

    winden sich von Mondlicht überflutet

    und zerreißen

    die Schatten der Bäume

    so kommt mit Eis und Schnee

    aus der Nacht

    wie aus Elfenbein geformt

    Alecto in das Liebeszimmer

    die Augen leuchten in roter Raserei

    wahnsinnig

    vor Wut und Schmerz

    enthüllt sie den antiken Rosenkranz:

    du glaubst mir nicht,

    ich bin die Furcht der Götter!

    so folgt sie

    der verräterischen Verlockung

    eines Irrlichts

    tanzt vor mir her

    wie ein phantastischer Schatten

    majestätisch flammen die Augen

    nicht versteinert, schwarzeisern hingeliebt

    folge ich an gelöschten Lampen vorbei

    der weichen Zärtlichkeit

    des Sonnenuntergangs

    geführt von ihrer Gespensterhand:

    du glaubst mir nicht,

    entlocke mir die Fruchtbarkeit!

    wie der Nordwind,

    der den Winter bringt

    durchweht die Kerze

    eine bösartige Stimme

    wenn Eisengott spricht.

      Euryales Atem

    in unbewegtem Traum

    im eingefangenen Wald

    durch das Weiß

    noch einmal getanzt...

    in ihrem Atem, die Zunge im offenen Mund

    die sie häufig spielen lässt

    sehr korrekt, sehr gewandt...

    in der Luft

    im Nebel

    nackt geküsst

    in der Gasse, die man schräg trägt...

    an den Fluss erinnern

    Zeitwort und Punkt

    ist das Atmen gequält

    ins Französische übersetzt...

    erster und letzter Buchstabe

    von Paris über das Gesicht

    im Glas, in flackerndem Schlaf

    schleierhaft und oft unterbrochen...

    die Unruhe, das gespannte Wort

    in der Melodie des Atems

    nach alter Tempelgewohnheit

    in der Mitte des Aktes

    kein bald erkanntes Wort gesprochen...

    das Mädchen im Kaffeehaus...

    darin wird alles vorübergehen.

      Anamorpher Satyr

    anamorpher Satyr

    ätherischer Literat

    irgendwann im Herbst

    in symbolischem Akzent

    verträumt verschwommen

    - parfümierte Körper

    umeinander gekreuzt

    von Schleiern

    stranguliert

    auf Bühnen aus schwarzem Zelluloid

    am Rinnstein entlang

    die Nacht durchschwärmt

    diskret

    skizziert

    so manches vergessen.

      Elektronik

    im Schock

    in der Simulation

    im Neon-Glanz

    in kobalt-blauer Vision...

    der Körper

    in gespreizter Dunkelheit

    Sterne und Wind

    theoretisch, zerteilt

    in Fragmente von Musik...

    im Schock

    in magischem Vakuum

    in fötalem Wasser

    wo es immer finster bleibt...

    im Schock

    zwangsläufig schwarz

    identische Gesichter

    nichtssagend, nervös...

    im Schock

    mechanische Uhren

    halluzinierte

    legitime Transaktion...

    im Schock

    in traditioneller Matrix

    netz-untypisch die Stimme

    schwarz, nicht-schwarz...

    im Schock

    in Elektronik

    wenn das Eis die Kontrolle

    über meinen Körper verliert...

      L`enfer

    im Regen

    schwarz für den Blick

    irgendwo

    im Innern

    eingebrannte elektrische Lichter

    einer Frau

    aus Wachs

    verschwunden

    aufwärts und fort

    von den Säulen der Bühne...

    ein Klavier

    bemerkt jetzt den Irrtum

    die Kälte der Felder

    von dunklen, herbstlichen Wolken

    von Blut im engen Kopf

    wo die Frau aus Wachs

    nutzlos

    lockt.

      Nusch Éluard (ohne Titel)

    schweig!

    ich will es gar nicht wissen!

    lass es mit mir genug sein!

    - abreißende Anfänge

    zur Gänze aus ihr erhoben

    die ungeordneten Sätze

    in die Brust gedrückt

    die geschlossenen Augen

    nicht ohne Grund geschlafen

    - vergangen

    - umgarnt

    aber sehr hübsch mit tragischen Bewegungen

    zu spät erkannt:

    die Bitterkeit

    ich erkläre es damit

    wird

    schlangengleich

    Nebenzimmer

    kriechen.

      Tee in der Sahara

    Tabakqualm hängt über der Wüste wie Winternebel. Männer- und Frauenkleider liegen verstreut herum. Musik klingt fröhlich und hohl aus einem Grammophon unter den Dünen.

    Ich träume es sei Fasching, denke ich. Schäumende Feste mit fröhlicher Musik. Was kümmern mich die Toten in der Gruft?

    Eine alte Frau, ganz in schwarz gekleidet und das Haar mit einem schwarzen Tuch verhüllt, singt leise ein Kinderlied. Ihre Augen gleichen versunkenen Höhlen, Höhlen in einem kahlen, schmutzigen Schädel. Der Gesang verstummt. »Möchtest du eine Erdbeere essen?«, fragt die alte Frau. Sie beobachtet mich, ohne zu lächeln, ohne zu singen.

    Ich schaue in die Wüste hinaus. Die Wüste gehört der Vergangenheit an, geheimnisvoll, unerkennbar, ein altertümlicher Hafen. So wie ihr Treibsand von der Strömung des Windes fortgeschleckt wird, so verschlingt die Wüste die Zeit von dem Augenblick an, da man sie betritt. Sie bietet dem Leben nichts: Salzwinde vernichten alles, was dort wachsen will. Die Wüste ist das Produkt eines fremdartigen Sekrets, das in ersticktem, heißen Blut überkocht, alle Nervenzellen zum Zucken bringt, die Nacht in ein Grau verwandelt und jede Faser sich verkrampfen und aus dem Gleichgewicht geraten lässt.

    Die Wüste ist alles Fleischige und alles Unbewegliche.

    Es ist ein prächtiger Tag, Dezember und heiß, und irgendwo ist ein Vogel über das Wetter verrückt geworden. Feuchte Windstöße schlagen mir ins Gesicht. Aus dem Gewirr der wogenden Dünen erscheint ein Sich-Winden aller Verdammten irgendeiner Unterwelt. Und alle Gesichter sind sich in ihrer seltsamen Blässe gleich: eingefallene Wangen, glänzende Schläfen, die Knochen der ausgemergelten Körper knapp unter der Haut. Eine rituelle Orgie, eingefroren für Jahrtausende.

    Eine Gestalt mit dem Gesicht einer jungen Frau, in einen fleckigen schwarzen

    Mantel gehüllt, markiert mit rotem Speichel die Leiber derjenigen, die am nächsten Morgen verdurstet sein werden.

    »Komm mit«, flüstert sie und führt mich durch Blitzentladungen, Sonnenflecken und durch enge Wüstenstraßen, die kaum beleuchtet sind, doch voller Menschen, die mit tuberkulösen Stimmen singen und rufen. Weiße Gesichter tanzen wie verblühte Blumen durch die Dunkelheit. Die Frau, die alles Leben verschlingt, steht gegen eine Wand gelehnt und raucht eine Zigarette. Plötzlich durchbohren Schmerzensschreie die Wüste; das reflektierte Sonnenlicht huscht die Wand empor und frisst die Frau, um stattdessen Flecken tiefen Rots zu erleuchten. Zwei Ranken dieses Rots verlaufen zu einer nahen Tür. Ich öffne diese Tür, und die Wand verschwindet im Himmel. Ich schaue höher, sehe, wie sich ein großes Bleiglasfenster weit öffnet und die Frau in einem pfauenblauen und grünen Seidenkleid in die Sonne blinzelt. Ich warte auf die Sonne, auf eine zufällige Bewegung, die mich Brüste, Nabel oder Schamhaar sehen lässt.

    »Komm heraus, komm heraus!«, ruft sie, und ungeschickt überspringe ich die Mauer, und es scheint eine Art Wendekreis lieblicher als schlimmstes Höllenfeuer zu sein, denn das Leben, das ich auf der anderen Seite vorfinde, ist maßlos, gespenstisch, wahrscheinlich fleischfressend, von bitterem Geschmack.

    Die Frau gleitet aus ihrem Kleid. »Ich habe mir nur die Augen geschminkt«, sagt sie mit einem dekadenten Flüstern. »Meine Lippen können dein Blut rösten, wenn wir uns küssen.« (»So sink zu Füßen/Mir nun, winsle nach mir/Auch wenn die Tränen getrocknet/Bleibt dennoch ihr Schmerz dir.«)

    Sie beginnt mich zu liebkosen, wie lange dies so geht, ich weiß es nicht. Vielleicht mehrere Tage; das Licht über der Wüste wechselt ununterbrochen.

    Die Nacht gehört uns, Liebste, der Himmel ist frei. Komm mit mir und lass uns davonfliegen...

    Salzwasser schlägt gegen ihre Füße. Wolken ziehen vorüber, Aasgeier kreisen am Himmel. Die Augen der Frau reflektieren die rote Sonne und die weißen Nebelschwaden, die aus dem Wasser von unter der Wüste emporzusteigen beginnen. Ich kann Flammen aus Licht hinter meinen Augenlidern blitzen sehen, ich sehe, wie sich in meinem Kopf wirbelnde Gewässer drehen. Meine Finger sind voll Feuerfunken. Ich sehe riesige Boote mit weißen Segeln inmitten eines Ozeans, und aus dem Wasser ragen gezackte Felsen, die zum Himmel emporsteigen wie ungeheure Klippen.

    Ich habe dies weder in meinem Leben noch in einer meiner Visionen vorher gesehen.

    Tränen fallen aus meinen Augen und gefrieren noch im Fallen, schlagen wie Hagelkörner auf die Frau, die zu Stein geworden ist.

    »Eine neue Geschichte«, fleht die Frau. »Erzähle mir eine neue Geschichte.«

    »Ich weiß keine«, antworte ich. Die Worte sind so alt wie Wüstenwind; es verursacht unglaubliche Qualen, eine neue Geschichte zu erzählen.

    Lange Stunden verbringe ich damit, in den Worten, die sich wie sich unablässig ringelnde Würmer bilden, einen Sinn zu entdecken, ihre Bedeutung zu verstehen.

    Was ist der Wahnsinn?

    Woher kommt er?

    Der Wüstenwind kommt herbei, um mich wieder einmal den stürmischen Auftrieb eines heißen und kühlen Windes spüren zu lassen.

    »Du hast gelernt, neue Geschichten zu finden, Dichter.«

    Ich schaue sie an und spreche ein paar neue Worte: »Dies ist die Nacht des Wahnsinns in der Wüste; das Blut wird in Strömen fließen!«

    Ich wiederhole es immer wieder, bis die Frau ihre Augen schließt und für den Moment eines Traumes dahinsiecht.

    Eine Uhr tickt, Sand spritzt auf mich herab und es wird dunkel. Die quälende Geschichte erweist sich als Ding, als Ding aus Worten, Versen und Lauten. Das Ding, das mich lehrt, was Wahnsinn bedeutet, hat der Frau aus Stein ihre großen, wunderschönen Augen aus dem Kopf geschnitten. Still und kalt liegt sie da, mit leeren Augenhöhlen in die Wüste blickend.

    Ich taste nach Worten, Szenen, nach Symbolen, höre grausames Gelächter. Sehe die glühenden roten Zigarettenenden im Dunkel, wie sie sich bewegen, wie sie kreisen. Stelle mir die kalten Küsse der steinernen Frau vor. Schmecke Blut und Tränen. Sehe

    jetzt treibende Qualmwolken. Verschwommene Gestalten bewegen sich darin. Dicke Tränengaswolken.

    »Ein Schuss Dummheit für deine Geschichte«, sagt die Frau aus Stein. »Ein Schuss Wahnsinn!«

    Aus ihrer Nase und ihrem Mund rinnt Speichel.

    Direkt vor mir sehe ich die schreckliche Fratze eines Fisches. Wasser rinnt von seinen Kiemenspalten, die von einer dünnen Salzschicht bedeckt sind, herab.

    Mit Mühe bringe ich meine willenlosen Lippen zum Sprechen. »Die Gedanken kommen aus dem Nichts.«

    Richtig, denke ich. Nichts.

    »Ich fühle, dies ist ein großartiges Epos. Der Dichter wird das Orakel sein.«

    Die Wüste kennt Gewalt in jeder Form; meine Hände, meine Stimme, mein Gesicht, mein Gesicht, mein Gesicht...

    Was auch immer mir die Wüste angetan hat, ich bin jetzt ein Teil davon.

    Die Wüste wird mich bis ins Grab begleiten; eine Sonne ohne Umriss, eine endlose Küste, die mir fremd ist wie die Antarktis des Mondes, salziger Dunst, Stoff im Stacheldraht, die Starre der Felsen, die Gebrechlichkeit des Fleisches, das Sterben einer Frau aus Stein, der schaurige Schrei der Aasgeier des Nebels.

    Die Wüste schrumpft zum schwarzen Seidekreis; dieses klagende, sich selbst bemitleidende Sprachwirrwarr! »Ich weiß, sie will mit schwarzen Zaubertränken auch mich zur Liebesraserei verführen...!«

    Jenseits der Wüste singen Vögel, und Blätter tanzen im Wind, ohne dass man es hört.

      Lichtjahre

    Wieder fort, wieder da, wieder fort.

    Ein sturmgepeitschter Abendhimmel. Die Wolken hängen tief und sind fast schwarz. Blitze wie von bizarren Flammen umzüngelt, das Aufwirbeln von Asche. Im Wüstensand die leerstehenden Häuser einer Geisterstadt; die Häuser sind schäbig und verfallen, manche schon halb eingestürzt, staubig und erschreckend leer. Zwischen den Dielenbrettern sprießt Unkraut. Auf den Dächern nisten Vögel. Ich weiß nicht, warum ich hier bin - warum ausgerechnet hier, an diesem Ort. Es sollte immer einen Grund geben. Oder mehrere Gründe.

    Ich überquere die von verlassenen Häusern gesäumte Straße, auf der verstreut entsetzliche Überreste von Metall und menschlichen Gliedern liegen, denn aus einem der Gebäude habe ich ein kaum wahrnehmbares Geräusch vernommen. Auf den Türen sind Augen, die neugierig schauen. Die Schlösser haben sich in winzige Gesichter verwandelt, die mich boshaft angrinsen. Der Künstler muss sein Werk durchdringen, sich damit umgeben. Ich öffne eine Tür, auf der in verblichenen Buchstaben geschrieben steht: ES GIBT KEIN ZURÜCK.

    Gut, dass es so ist, denke ich.

    Rechts die Bar - mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Dahinter die gesplitterte Spiegelwand. Messing-Geländer. Ein Heer verzauberter Figuren, von innen heraus leuchtende leere und zerbrochene Flaschen. Links im Hintergrund Tische in trostlosem Zustand. Ich denke an das Märchen vom Fischer und seiner Frau und seinen drei Wünschen. Ich wünsche mir goldene Flügel, doch nichts geschieht.

    Ich sehe mein Spiegelbild, betrachte mein Gesicht, meinen Blick, grausam und besitzergreifend, hungrig. Mein Gesicht scheint nach alter lateinischer Tradition gleichzeitig mein kindliches Wesen und meine dramatischen Züge zum Ausdruck zu bringen. Bald werde ich alt sein und sterben. Ich wünsche mir ein Zeichen, einen Regenbogen. So sieht die Welt sehr klein aus, meine Welt, die nur aus der Bar und der Spiegelwand besteht.

    Die Spiegelwand ist an diesem Tag ein Gemälde in Anthrazitgrau, eine Symphonie in hellen bis dunklen Schattentönen, sie reflektiert meine Schuldgefühle. Und diese Schuld liegt über jedem Winkel meiner Seele, über jeder Phase meines Lebens.

    Ich scheue mich, den Spiegel zu berühren, so als könnte ich mit einem Zauber das Leben, diesen Fluss, aus dessen Fluten sich medusenhafte Arme heben, in Stein verwandeln.

    Einige Minuten bleibe ich reglos stehen. Ich erinnere mich bruchstückhaft an Schmerzen, Fieber, Durst, an alle Stadien des Selbstmitleids, des Ärgers, der Wut und der Rache, alle Stadien der Wildnis, die mein Leben ist. Doch der Schmerz und das Fieber sind verschwunden; ich fühle nur noch eine schreckliche Schwäche und Durst. Mein Mund ist ausgetrocknet und die Lippen sind aufgesprungen. Ich suche etwas zu trinken, und mein Blick fällt auf eine staubige Flasche. Ich greife danach, öffne sie umständlich und hebe sie an den Mund. Ich trinke, trinke noch einmal und noch einmal. Bei der Tür lege ich mich hin und schlafe, aber nicht lange. Die Sonne scheint herein, als ich die Augen wieder öffne.

    Die nächsten Stunden verbringe ich mit Trinken und Schlafen. Mein Mund wird zu einem schrecklichen schwarzen Höllenschlund.

    Ich träume. Ich träume von einem Silberregen, von einem Bach, an dem ich als Kind gespielt habe. Der Rest des Schlafes ist bedeutungslos, ein Schlaf ohne Träume.

    Als würde ich in einen heimtückischen Fluss stürzen wache ich auf. Es ist kalt und riecht nach Meeresluft und Salz und Verwesung. Draußen geht Werther vorbei im Augenblick des Triumphs. Auf einem kleinen Tisch neben der Tür steht eine Schreibmaschine; daneben liegen Bücher und Notizen.

    Ich werde Werther folgen.

    Ich weiß, dass er meinem Herzen entspringt.

    Es ist ein schöner Tag gewesen. Finster blicke ich vor mich hin, sammele Bücher und Papier ein und werfe alles weg. Ich nehme die Flasche und ein schmutziges Glas, stelle beides auf den Tisch und gieße ein. Ich habe dort draußen einen Mann im Regen sitzen sehen, er sitzt nur da, ist betrunken und starrt den Regen an. Im Spiegel sehe ich Werthers Gesicht; es hat die Schönheit griechischer Statuen, klare, elastische Haut und Augen, so hell, als würden sie von innen beleuchtet. Ich frage mich, aus welchem Grund mich sein Spiegelbild ängstigt.

    Ich lege die Hände auf den Tisch, beuge mich hin zum Spiegel und blase Werther meinen alkoholisierten Atem ins Gesicht. Der Spiegel erscheint mir wie das verzerrte Echo von Intelligenz, ein Sternenfunkeln, ein riesiges Schachbrett. Ist das nicht köstlich? Ich fühle mich zu literarischen Heldentaten aufgelegt!

    Werther schweigt. Ich blicke aus dem Fenster und sehe eine dicke, schwarze Wolke, die der Wind auf diesen verlassenen Ort zutreibt. Die Wolke schiebt sich vor die Mondsichel. Werther flüstert in zerbrechlichem Ton: Ich habe gewusst, dass die Wolke den Mond verdecken würde - ein schlechtes Omen! Ist es der Alkohol, der mich inspiriert, oder ist es die Verzweiflung?

    Plötzlich stößt Werther einen gellenden Schrei aus: Narren! Folgt mir! Ich bin alles! Als sei er wahnsinnig geworden und mit vor die Augen gehaltenen Händen stürzt er aus dem Spiegel heraus. Sein Gesicht ist schweißüberströmt, bleich, verstört. In seinen Augen lese ich ein komplexes Gefühl, das gleichzeitig aus missbrauchtem Vertrauen und dem Ausdruck pathetischer Einsamkeit besteht. Als er nur ein Spiegelbild gewesen ist, habe ich von diesem schrecklichen Drama nur einige Schatten wahrgenommen. Ich werde mit meiner Intelligenz dafür büßen müssen, flüstert er. Sie wird auf dem Scheiterhaufen der Intoleranz verbrannt werden, die Geburt aller Schmerzen!

    Er erhebt sich, während er sich mit einer Hand auf den Tisch stützt. Seine Augen glänzen. Mit der Hand führt er eine Geste aus, als ob er sich selbst damit zum Schweigen bringen will, aber er lächelt dabei. Poesie und Wahrheit! Welch‘ gewaltige Waffe im Kampf um Erleuchtung! In Werthers Augen steht der Abglanz des Fanatismus. Schwerter scheinen zu klirren, als sich unsere Blicke treffen. Die Nachtigall färbt aus Liebe zur Frau eine Rose rot, denke ich.

    Werthers Mund verzerrt sich spöttisch: Die Nachtigall, die ihre Brust in den Dorn des weißen Rosenstrauches stößt. Ich blicke ihn erstaunt an, den Virtuosen der freien Künste, dessen Gehirn ohne Frage in einem Alkoholmeer der besonderen Art schwimmt. In meinen Augen ist er ein griechischer Satyr, der ewig berauschte Pan, ermüdet von der fruchtlosen Verfolgung fliehender Nymphen. Es ist das Gesicht eines zynischen, verbitterten Rimbaud, eines Goya, der die Schreckenswelt von Ensayos auf die Leinwand bannt.

    Ich bin erfüllt von einer seltsamen Zufriedenheit. Ich bin nicht länger gezwungen, im dichterischen Sumpf umherzuschwimmen.

    Du bist tatsächlich ein großer Künstler, flüstert Werther langsam. Und eine verabscheuungswürdige Bestie. Und dann, wie um die Endgültigkeit dieses spöttischen Manifests zu betonen, breitet sich für einen kurzen Moment eine entsetzliche Stille aus. Ich kann die Frage nicht aussprechen, die in meinen Augen leuchtet. Von irgendwo, weit weg, höre ich das Wimmern eines Kindes. Der Todesgesang verhallt. Ein Bild formt sich auf der Spiegelwand. Zuerst ist es nur ein Gedanke, dann ein frischer, fremdartiger Geschmack in der Kehle und ein wunderbarer Hauch in meinem Mund. Durch den Spiegel kommt eine blasse und kränkliche Frauengestalt auf mich zu, verhüllt von einem Gewand aus leichten Fäden. Wie Abbilder wilder, romantischer Fabelwesen fliegen Schatten über ihr Gesicht. Sie verlangt keine Gefolgschaft, sie schleudert keine Verdammung auf mich, sie ist ausgesöhnt mit Werther und mit mir. Sie strahlt Demut aus, und in dieser Selbstverleugnung ist Größe. Gerade ihre Unvollkommenheit deutet ihre Grenzenlosigkeit an. Ich bin dein spitzer Dorn. Ihre Worte wirbeln umher.

    Ja, lache ich, mein lächerliches Werk wird umgeschrieben durch die lodernde Seele einer Göttin!

    Du hast es gewusst! kreischt Werther. Du hast es getan, um mich zu demütigen!

    Ich kann sehen, wie das Blut durch den Leib der Frau pulsiert.

    Mein Kopf schmerzt unter dem Eindruck von etwas Titanischem. Traurig sagt die Frau: Gefängnis deines Herzens/Blätter im Oktoberwind. Kunst ist nichts Größeres. Selbst der Dichter hat seinen Todeskampf verloren – verloren...

    Nackt, wie ich mich empfinde, mit bloßen Händen, spüre ich plötzlich wieder eine Verbindung zu diesem Werden und Vergehen. Ich schaue das Bild im Spiegel an. Ich begreife, dass ich mit einem Ding Zwiesprache halte, das nach meinem Verständnis ans Phantastische grenzt. Dieses Ding ist ein Teil von mir, ein Teil des Prinzips der Natur. Ich werde weiter Zukunftsträume beschwören, selbsterdachte, eitle Prophetie.

    Werthers Gesicht verwandelt sich in die grauenhafte Maske des Todes, die anklagend schweigt. Mit beängstigender, zärtlicher Gewalt dringt das Heulen eines Windes aus dem Spiegel und wirbelt den Staub auf, der auf den Tischen und dem Boden liegt. Es klingt wie ein Chor klagender Sängerinnen, der dem Grab der Götter entsprungen sein mag, um unendliche Wandlungen zu entdecken, eine Ewigkeit, mich zu ergründen.

    Ich lächle über die monströse Ausgeburt meiner Phantasie.

    Der Wind flüstert weiter seine Lockungen. Werther schüttelt den Kopf und lacht ein tiefes, schmerzerfülltes, irres Lachen. Sein Gesicht ist ein leerer, abgeworfener Helm, ein hässlicher Helm, ein sexueller Schmutz. Meine Furcht vor ihm ist nie schlimmer gewesen als die Wirklichkeit. Was sind wir doch für eine seltsame Nachahmung unseres klassischen Vorbildes, sagt er und kehrt zurück in die wundersame Welt hinter der Spiegelwand. Er folgt der Frauengestalt durch einen Wald schweigender Wunder, die mit provozierender, kindlicher Naivität die Selbstverständlichkeit meiner Welt, meines Alkoholmeers als ein absurdes Grab entlarvt. Ihre Spuren verlieren sich in den bizarren Verzweigungen, und ich bin wieder allein, eine urplötzliche Metamorphose, eingehüllt in den eigenen Atem. Wie das Nachtgewand eines Sterns, das fließt wie träges Wasser. Dieser bittersüße Ozean wirft mich hin und her. Der Verlust eines geliebten und verräterischen Freundes schwebt wie etwas Silbernes durch den Strudel meiner Erinnerung.

    Draußen ist es kalt und dunkel, und der Wind heult noch immer.

      Flut

    der Traum, die vergleichbare Flut

    mit ruhigen Händen

    an die Oberfläche getrieben

    und setzt sich zum Kaffee...

    der Augenaufschlag

    der nur 15 Minuten dauert

    ungedruckt aus meiner Feder

    schläft nicht ein

    staut das Regenwasser...

    für einen Augenblick

    trinke ich mit den gleichen Lippen

    das Liegenlassen der Briefe

    sehe ich etwas Dunkles unter der Feder

    Flüsse aus Glas

    als schlechtes Vorzeichen

    aus dem Mund

    durch Aufschreiben fixiert

    die Augen so hoch zu halten, dass ich nicht ertrinke...

    im ersten Akt, der tiefschwarz ist

    tanzt sie im grünen Kleid und friert...

    der Traum, die rhetorische Flut

    das bisher Geschriebene

    im gleichen Flusslauf

    jetzt drei Nächte leicht

    flussabwärts verloren.

      Atavismus des Zwielichts

    so schwebt

    die Wirkung ihrer Nähe

    unruhig

    in kurzen Zwischenräumen

    Schlösser

    auf dem Körper

    geöffnet

    oder zugesperrt...

    sie lächelt schwach

    mit leichter Ironie

    die Zigarette

    entfällt

    dem Rauch des Flusses

    - der Kaffee

    - der Morgennebel

    aus dem Fenster

    bis auf den letzten Tropfen...

    der falsche Schmerz

    dies Wort zerschmettert meinen Kopf

    erhebt sich wieder

    ohne Furcht

    vor den drei Fenstern

    den Wellen der See

    mit begrabenem

    Blick.

      Akt ohne Worte I

    und im Dunkel

    soviel du auch brauchst

    in nächster Nähe

    teilt sich der Sommer...

    und in kühler Nachtluft

    Kerze, Tintenfass und Feder

    Felice, aber nicht unmöglich

    ich bin hier fremd...

    so schließe ich die Tür

    schließe ich beide Augen

    um mich versammelt

    allein in meinem

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