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ZEIT DER WÖLFE: Internationale Horror-Storys, hrsg. von Christian Dörge
ZEIT DER WÖLFE: Internationale Horror-Storys, hrsg. von Christian Dörge
ZEIT DER WÖLFE: Internationale Horror-Storys, hrsg. von Christian Dörge
eBook692 Seiten9 Stunden

ZEIT DER WÖLFE: Internationale Horror-Storys, hrsg. von Christian Dörge

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Über dieses E-Book

28 Erzählungen internationaler Spitzen-Autoren und -Autorinnen, vereint in einer Horror-Anthologie der Extra-Klasse (zusammengestellt und herausgegeben von Christian Dörge): u. a. von Isaac Asimov, Ray Bradbury, August Derleth, Aleister Crowley, Dion Fortune, Sir Arthur Conan Doyle, Robert Bloch, Sydney Austen, W. B. Yeats, Algernon Blackwood, Sax Rohmer, William Bankiers, Angela Carter u. a. .

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum10. Juli 2019
ISBN9783748702665
ZEIT DER WÖLFE: Internationale Horror-Storys, hrsg. von Christian Dörge

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    Buchvorschau

    ZEIT DER WÖLFE - Christian Dörge

    Das Buch

    28 Erzählungen internationaler Spitzen-Autoren und -Autorinnen, vereint in einer Horror-Anthologie der Extra-Klasse (zusammengestellt und herausgegeben von Christian Dörge): u. a. von Isaac Asimov, Ray Bradbury, August Derleth, Aleister Crowley, Dion Fortune, Sir Arthur Conan Doyle, Robert Bloch, Sydney Austen, W. B. Yeats, Algernon Blackwood, Sax Rohmer, William Bankiers, Angela Carter u. a. .

    Isaac Asimov: HALLOWEEN (Halloween)

    Als Haley am 1. November im frühen Morgengrauen endlich dort anlangte, war alles schon so gut wie vorbei. Das Plutonium war weg; der Dieb lag in sich zusammengesackt am Fuß der Treppe im 25. Stockwerk des Hotels. Der Gerichtsarzt beugte sich gerade über ihn, aber es war klar, dass der Dieb nie wieder ein Wort von sich geben würde. Der Bericht, den Haley erhalten hatte, besagte, dass der Dieb ein Wort gesagt hatte, Halloween, und dann gestorben war.

    Haley ließ keinerlei Regung auf seinem durchfurchten Gesicht, dem eines etwa Vierzigjährigen, aufkommen. Er musterte Sanderson, den örtlichen Sicherheitsbeamten der Station, nur kurz. Er hatte schon früher mit ihm zu tun gehabt, war aber zu keiner schlüssigen Meinung über ihn gelangt - weder in der einen noch in der anderen Richtung. Sanderson sah nun so aus, als ob er gleich zu weinen anfangen wollte, und seine blassblauen Augen glänzten in dem schwachen Licht.

    Haley winkte den Mann zur Seite und sagte: »Wer war der Dieb, Sanderson? Das ist bis jetzt noch nicht ganz klar geworden.«

    »Er arbeitete in der Station.«

    »So viel weiß ich schon. War er Atomphysiker? War er einer Ihrer Spezialisten?«

    »Nein. Er hat im Büro gearbeitet. Er hatte nichts mit der Forschung zu tun.«

    »Umso schlimmer. Wie konnte jemand aus dem Büro Zugang zu dem Plutonium haben?«

    Sanderson sah besorgt aus und wurde mürrisch. »Das war unser Fehler. Seine Gegenwart war für uns so selbstverständlich geworden, dass wir ihn gar nicht mehr wahrnahmen. Menschliches Versagen.« Er schüttelte den Kopf.

    »Und was für ein Motiv hatte er?«

    »Ideologische Gründe«, sagte Sanderson. »Er wollte den Job nur deshalb. Wir wissen das, weil er eine Notiz zurückgelassen hat; musste uns einfach sein Triumphgefühl zeigen. Er gehörte zu denen, die glauben, dass die Kernspaltung tödlich ist; dass sie zu großangelegten Plutoniumdiebstählen führen wird, zu selbstgemachten Bomben, zu Terrorismus und Erpressung in der Atomforschung.«

    »Ich nehme an, er war darauf aus zu demonstrieren, dass das tatsächlich möglich wäre?«

    »Ja. Er wollte es an die Öffentlichkeit tragen und die öffentliche Meinung wachrütteln.«

    »Wie gefährlich ist das Plutonium, das er gestohlen hat?«, fragte Haley.

    »Überhaupt nicht gefährlich. Es ist nur eine kleine Menge. Sie könnten den Behälter in einer Hand halten. Es war nicht einmal für die eigentliche Spaltung bestimmt. Wir haben es zu anderen Zwecken verwendet.

    Es reicht sicher nicht aus, um eine Bombe damit zu bauen, das versichere ich Ihnen.«

    »Könnte es möglicherweise für seinen Besitzer eine Gefahr bedeuten?«

    »Nicht, wenn man es in dem Behälter lässt. Wenn man es allerdings herausnimmt, könnte es letztlich jedem schaden, der damit in Berührung kommt.«

    »Ich verstehe, in welchem Falle man also die Öffentlichkeit alarmieren sollte«, sagte Haley.

    Sanderson runzelte die Stirn. »Aber das beweist gar nichts. Das war ein Fehler, der nie wieder passieren wird, und jedenfalls funktionierte das Alarmsystem. Wir waren ihm sofort auf den Fersen. Wenn er es nicht bis zu diesem Hotel geschafft hätte, wenn wir nicht befürchtet hätten, die Leute hier zu beunruhigen...«

    »Warum haben Sie nicht sofort die übergeordnete Dienststelle benachrichtigt?«

    »Wenn wir ihn selbst hätten erwischen können...«, murmelte Sanderson.

    »Dann hätten Sie die ganze Geschichte vertuschen können, sogar vor der Dienststelle. Die Fehler und alles drum herum.«

    »Nun ja...«

    »Aber schließlich haben Sie uns dann doch informiert. Als er schon tot war. Ich nehme also an, dass Sie das Plutonium nicht haben?«

    Sandersons Augen wandten sich verstohlen von Haleys festem Blick ab. »Nein, wir haben es nicht.« Dann, sich verteidigend: »Wir konnten nicht zu offen Vorgehen. Es waren Tausende von Leuten hier, und wenn der Verdacht aufgekommen wäre, dass es Probleme gibt - wenn man es der Station angekreidet hätte...«

    »Dann hätten Sie verloren und er gewonnen, selbst wenn Sie ihn erwischt und das Plutonium zurückbekommen hätten. Das verstehe ich. Wie lange war er denn hier?« Haley schaute auf seine Uhr. »Es ist jetzt 3.57 Uhr.«

    »Den ganzen Tag. Erst als es spät genug war, offener vorzugehen, haben wir ihn auf der Treppe in die Enge getrieben. Wir haben versucht, ihn zu jagen, und er hat versucht zu entkommen. Er ist ausgerutscht - und mit dem Kopf gegen das Geländer geschlagen, nachdem er eine Treppe hinuntergestürzt ist, und hat sich einen Schädelbruch zugezogen.«

    »Und er hatte das Plutonium nicht bei sich. Woher wissen Sie, dass er es bei sich trug, als er das Hotel betrat?«

    »Wir haben es gesehen. Einer unserer Männer hat ihn einmal fast erwischt.«

    »Also konnte er während der Stunden, in denen es ihm gelungen ist, Ihnen in diesem Hotel zu entkommen, dieses Ding, einen kleinen Kasten, irgendwo in den neunundzwanzig Stockwerken versteckt haben, in den neunzig Zimmern auf jedem Stockwerk - oder in den Gängen, den Büros, bei den technischen Einrichtungen, im Keller, im Speicher - und wir müssen es zurückbekommen, nicht wahr? Wir können es nicht zulassen, dass Plutonium sich so einfach für jedermann zugänglich in der Stadt befindet, und mag die Menge auch noch so gering sein. Stimmt's?«

    »Ja«, sagte Sanderson unglücklich.

    »Eine Möglichkeit ist, hundert Männer zu nehmen und das Hotel zu durchsuchen - Stockwerk für Stockwerk, Zimmer für Zimmer, Quadratzentimeter für Quadratzentimeter - bis wir es finden.«

    »Das können wir nicht machen«, sagte Sanderson. »Wie sollen wir das erklären?«

    »Und was haben wir sonst noch für eine Möglichkeit?«, fragte Haley. »Haben wir einen Hinweis? Der Dieb hat doch etwas gesagt. Halloween?«

    Sanderson nickte. »Er war noch kurze Zeit bei Bewusstsein, bevor er starb. Wir haben ihn gefragt, wo das Plutonium ist, und er hat gesagt: Halloween

    Haley atmete tief ein und langsam wieder aus. »Ist das alles, was er gesagt hat?«

    »Das ist alles. Drei von uns haben ihn gehört.«

    »Und es war ganz bestimmt Halloween, was Sie gehört haben? Er hat nicht vielleicht hohler Ring gesagt?«

    »Nein, Halloween. Darin sind wir uns alle einig'«

    »Sagt Ihnen das Wort irgendetwas? Gibt es ein Projekt Halloween in der Station? Wird das Wort als Code für irgendetwas benutzt?«

    »Nein, nein. Nichts dergleichen.«

    »Glauben Sie, er wollte Ihnen sagen, wo das Plutonium ist?«

    »Wir wissen es wirklich nicht«, sagte Sanderson gequält. »Sein Blick war verschwommen. Er flüsterte es, als er starb. Wir wissen nicht einmal, ob er unsere Frage gehört hat.«

    Haley schwieg einen Augenblick. »Ja. Das könnte ein letzter flüchtiger Gedanke an alles Mögliche gewesen sein. Eine Kindheitserinnerung. Alles Mögliche - aber ausgerechnet gestern war Halloween. Genau der Tag, an dem er sich in diesem Hotel versteckte und versuchte, Ihnen lange genug zu entkommen, um seine Geschichte an die Zeitungen weiterzugeben, war Halloween. Das könnte eine bestimmte Bedeutung für ihn gehabt haben.«

    Sanderson zuckte die Schultern.

    Haley dachte laut nach. »Halloween ist der Tag, an dem die Mächte des Bösen umgehen, und ganz offensichtlich hat er geglaubt, gegen diese Mächte anzukämpfen.«

    »Wir sind aber nicht böse«, sagte Sanderson.

    »Was zählt, ist, was er dachte - und er wollte nicht, dass Sie ihn oder auch das Plutonium erwischen. Deshalb hat er es versteckt. Jedes Zimmer wird irgendwann einmal während des Tages gesaugt, in jedem Zimmer werden Bettlaken und Handtücher gewechselt, und wenn das geschieht, ist die Tür offen. Er könnte an einer offenen Tür vorbeikommen und eingetreten sein - ein Schritt und schnell das Kästchen abstellen, wo man es nicht sofort sehen würde. Dann könnte er später zurückkommen, um es wieder abzuholen; oder - wenn er gefasst würde - würde irgendein Gast oder jemand vom Personal schließlich das Kästchen entdecken, es zur Hoteldirektion bringen, und es würde wiedererkannt werden, nachdem es Schaden angerichtet hätte oder auch nicht.«

    »Aber welches Zimmer?«, stöhnte Sanderson.

    »Wir können es mit einem Zimmer probieren«, sagte Haley, »und wenn das nicht klappt, müssen wir wohl das ganze Hotel durchsuchen.« Er ging.

    Haley war nach einer halben Stunde zurück. Die Leiche war inzwischen weggeschafft worden, aber Sanderson war noch da, in trübsinnige Gedanken vertieft.

    »Es waren zwei Leute in dem Zimmer«, sagte Haley. »Wir mussten sie aufwecken. Ich habe etwas auf dem Regal über der Garderobe gefunden. Ist es das, was Sie suchen?«

    Es war ein kleiner Würfel, von grauer Farbe, er lag schwer in der Hand, und der Deckel wurde von Flügelmuttern verschlossen.

    »Das ist es«, sagte Sanderson mit kaum verhohlener

    Erregung. Er löste die Flügelmuttern, öffnete den Deckel einen Spalt und hielt eine kleine Sonde nahe an die Öffnung. Sofort war ein knisterndes Geräusch zu hören. »Das ist das Kästchen. Aber woher wussten Sie, wo es war?«

    »War Zufall«, sagte Haley mit einem Schulterzucken. »Dem Dieb ging Halloween im Kopf herum, wenn man von seinem letzten Wort ausgeht. Als er sah, dass ein bestimmtes Hotelzimmer offen war und gerade saubergemacht wurde, erschien ihm das vielleicht wie ein Omen.«

    »Welches Hotelzimmer?«

    »Zimmer 3110«, sagte Haley. »Der 31. Oktober. Halloween.«

      William Bankier: DER UNHEILIGE HYBRIDE (Unholy Hybrid)

    Bei einer solchen Erde, dachte Sutter Clay bei sich, ist es ein Wunder, dass die Steine keine Wurzeln schlagen und wachsen. Er presste seine langen weißen Finger in den Boden, hob dabei zwei Hände voll feuchter Erde aus und ließ sie in Klumpen und Krümeln in die schwarze Furche zurückfallen.

    Nun, wenn ich meine Hände lange genug in dieser Erde ließe, setzte Clay seinen Gedankengang fort, würden selbst sie Wurzeln schlagen. Ein dünnes Lächeln spielte um Sutter Clays blassen Mund, als er sich vorstellte, wie er seine Finger tief in den nährenden Boden trieb, während unter seinen Fingernägeln ein glänzendes feines Netzwerk von Wurzeln auf der Suche nach Nahrung und Feuchtigkeit hervorkroch.

    Gute Erde war ein wichtiges Moment bei Sutter Clays Erfolg als Gärtner gewesen. Daran war nicht zu zweifeln. Aber es steckte mehr von Clay selbst in den Dingen, die er anbaute, als Glück oder Natur dazu beitrugen; und wenn es jemals jemanden gab, der eine glückliche Hand für Pflanzen besaß, so war es dieser schmächtige junge Mann, bei dem jeder einzelne Finger die Pflanzen zum Wachsen bringen konnte.

    Die wenigen Leute, die Sutter Clay kannten - denn er war ein einsamer Mann, der hier draußen am Stadtrand wohnte - behaupteten, dass bei ihm sogar in der Sahara noch Eichen wachsen würden. Bei der Bezirksausstellung jeden Herbst, wenn die Landbevölkerung zum Marktplatz hinausfuhr, um das Wettrennen der Gespanne und den Festplatz zu sehen, pflegten jene, die wussten, was wahre Wunder waren, auf das große Erntezeit zuzusteuern, um zu sehen, was Sutter Clay dieses Jahr vorzuzeigen hatte. Und Clay enttäuschte sie niemals.

    Dort lagen, ausgebreitet in üppigem Prunk wie aus einem Füllhorn, all die Reife und der Überfluss, all die Braun-, Grün-, Rot- und Gelbtöne des Erntefestes. Kürbisse so groß wie Wagenräder lagen unter dem Tisch, damit sie nicht die starken Gestelle zerbrächen, die die rohen Bohlen trugen. Auberginen, fast obszön in ihrer berstenden purpurnen Üppigkeit; Kürbisse in einer Orgie bizarrer Formen und Strukturen; goldene Maiskolben stellten hinter zurückgestreiften Blättern gigantische Körner in ihrer ganzen Unanständigkeit zur Schau, Körner, die sich an einem fast berstenden Kolben anklammerten, kaum groß genug, so vielen von ihnen Halt zu geben; und dann war da sogar noch die bescheidene Rübe, aufgebläht zur Größe eines Fußballs und umgeben von wechselnden Malven- und Elfenbeintönen wie der Saturn von Ringen.

    Und erst die Hybriden! Clay stellte sie auf einem eigenen Tisch zur Schau, wobei jedes seltsame Einzelstück mit seinem Namen und den Einzelheiten seiner wunderlichen Herkunft bezeichnet war. Hier gab es einen Ast Holzäpfel mit durchscheinender Haut, die sich majestätisch wie Trauben an einen Stamm anklammerten. Neben ihnen ein Bündel Karotten - Karotten dem Namen, der Form und der Größe nach, aber von der tief purpurnen Farbe roter Bete. Und aufgereiht lagen da prächtige Maiskolben, mit vielfarbigen Körnern gefleckt, manche davon spärlich wie Dominosteine, andere gesprenkelt wie Terrazzoböden, ein Mosaik von regenbogenfarbenem Mais.

    Und hinter all dem huschte die hagere Gestalt Sutter Clays mit eifersüchtiger Wachsamkeit hin und her, damit nicht jemand seine Ausstellungsstücke berührte. Dabei baumelten seine langen Handgelenke zentimeterweit aus den Ärmeln seines abgewetzten blauen Anzuges hervor, sein fahles Haar breitete sich lang und fein über die Rundung seines Kopfes aus und sah nichts so sehr ähnlich wie einem Schopf Seide von einem seiner wertvollen Maiskolben.

    Ja, Sutter Clay konnte die Dinge zum Wachsen bringen. Er konnte sie größer und anders wachsen lassen, als sie jemals zuvor gewachsen waren. Aber es ließ sich nicht leugnen, dass dieser tiefe, süßlich riechende schwarze Lehmboden eine ganze Menge damit zu tun hatte. Als Clay eine Scholle zerbröckelte, krümmte sich ein fetter glänzender Regenwurm, den kupferfarbene Ringe und Streifen umzogen, zwischen seinen Fingern. Er ließ den kalten, pulsierenden Wurm sanft auf den Boden gleiten und beobachtete, wie er sich in die Erde wand.

    »Geh, mein kleiner Kultivator«, sagte er laut. Und als er sprach, fächelte eine kalte Aprilbrise über das Feld und berührte ihn durch sein dünnes Hemd. Der Frühlingsnachmittag zog sich langsam zurück in die Wälder hinter dem Haus, und die fahle blaue Stille des ausklingenden Tages hing im Himmel.

    Sutter Clay stand auf, nahm Hacke, Kelle und Gabel in die eine Hand und seine Jacke in die andere und machte sich auf zum Haus. Rauch stieg aus dem Kamin- Er fragte sich, was Bonina wohl diesen Abend für ihn bereithielt.

    Sie war ein Mädchen, das eines Nachts im Januar, als der Schnee seitlich an Sutter Clays Küchenfenster vorbeipeitschte, allein die Landstraße heruntergekommen war. Das Auto, dessen Gastfreundschaft sie angenommen hatte, bog an der Brightsville Road ab und ließ sie etwa hundert Meter von dem kleinen blau-weißen Farmhaus entfernt aussteigen. In einer solchen Nacht konnte sie es kaum bis zu Sutters Tür schaffen. Niemand konnte von ihr verlangen, noch weiter zu gehen.

    Bonina Arnes kam aus einer Stadt oben im Norden. Sie hatte keine Familie mehr, und da sie gehört hatte, wie man sich von Freunden in Lauderdale erzählte, war sie südlich über die Berge aufgebrochen und hatte versucht, sie zu finden. - Vorausgesetzt, nichts Lohnendes ereignete sich auf dem Weg. Sie lächelte Sutter mit wässrigen runden Augen an, als sie dies sagte, und wollte ihm auch später nichts mehr sonst mitteilen. So fand er auch tatsächlich nie mehr über Bonina Arnes oder ihre Herkunft heraus.

    Aber als er sie ansah, wusste er, dass sie eine der hässlichsten Frauen war, die er jemals getroffen hatte. Ihr Kopf hatte die Form eines Flaschenkürbisses; schmal am oberen Teil, wo nur ganz wenig Haar darum kämpfte, eine hagere, knochige Stirn zu bedecken, dann dicker werdend und sich nach unten hin zu einem aufgeblähten Kiefer mit aufgeblasenen Backen und einem breiten Mund erweiternd, der sich kräuselte, wenn sie sprach, und in ein fettes Schmollen zusammenfiel, wenn sie schwieg. Ihre Augen waren blassgrün und immer feucht wie aufgeschnittene Weintrauben. Sie hatte, wie Clay bemerkte, als sie aufstand, einen annehmbaren, aber nur dürftig gepflegten Körper.

    Nun, man konnte nichts anderes tun, als sie die Nacht hier verbringen zu lassen. Dann blieb der Sturm noch einen Tag und eine Nacht, und dasselbe tat Bonina Arnes. Zu diesem Zeitpunkt kochte sie schon das Essen und wusste, wo die Spülschüssel war. Als das Wetter aufklarte, kam Sutter nie dazu, sie zum Weggehen aufzufordern, und sie machte keinerlei Anstalten, ihre spärlichen Besitztümer in der Einkaufstasche zusammenzupacken, die das einzige war, was sie bei ihrer Ankunft bei sich getragen hatte. So blieb sie und machte ihre Sache gut beim Kochen und Putzen und schlief in dem freien Raum auf einem Klappbett, das Clay rasch aus einigen Brettern und einem Drahtnetz zusammengehämmert hatte.

    Und das war der Ort, wo Sutter Clay Bonina vorfand, als er das Haus an jenem Aprilabend betrat. Feuer brannte im Ofen, und die Küche war warm. Aber kein Topf war in Sicht, auch keinerlei Anzeichen für Essensvorbereitungen auf der Anrichte. Ein Schluchzen aus dem Schlafzimmer machte Clay stutzig. Er ging hinein und beugte sich über sie.

    »Bist du krank?«, fragte er.

    »Eigentlich nicht.«

    »Was hast du denn dann? Wo ist das Abendessen?«

    »Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. Ich mache mir solche Sorgen.«

    »Dann ist was nicht in Ordnung. Was ist los?«

    Sie drehte sich um und zeigte ihr aufgeblähtes Gesicht, das vor Tränen glänzte. Ihre Nase lief.

    »Putz dir die Nase«, sagte Sutter.

    »Ach, Sutter, ich sterbe vor Sorgen. Ich hatte die ganze Zeit gehofft, dass etwas passiert. Aber nichts ist passiert. Ich bin sicher, dass ich schwanger bin.«

    Clay presste die Hände zusammen und ließ die Knöchel knacken, wobei er seine blasse Unterlippe einsog. »Es war Ende Januar, nicht?«, sagte er.

    »Ja.«

    »Warum hast du dann nicht früher was gesagt? Drei Monate. Ganz schön schwierig, jetzt noch was dagegen zu tun.«

    »Ich weiß.« Sie setzte sich auf und stützte den Kopf in die Hände. »Was sollen wir nur machen?«

    Sutter Clay sah sie einen Augenblick an. Dann sagte er: »Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut.«

    Bonina sagte in ihre Hände hinein: »Wie soll das gehen, wenn wir nicht heiraten?« Aber Sutter hörte sie nicht. Er war unterwegs auf die Veranda hinaus. Hier ließ er seine Finger über die glänzenden Griffe der Geräte wandern und wählte schließlich den Spaten. Dann ging er wieder hinein.

    Er fand Bonina Arnes noch immer in derselben Stellung, auf der Kante des Klappbettes sitzend, ihren Kopf in den Händen, fast bis zu den Knien herabgebeugt. Ohne ein Wort schwang Clay den Spaten über seinem Kopf und ließ seine scharfe Kante mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, auf ihren ausgestreckten Nacken herabsausen. Der Schlag enthauptete sie fast. Sie hing, ihr Hinterteil einige Zentimeter über der Matratze erhoben, eine volle Sekunde lang im Gleichgewicht. Dann kippte sie kopfüber gegen die Mauer des Raumes und sank zu Boden.

    Es wurde eine arbeitsame Nacht für Sutter Clay. Zuerst ging er hinunter zu dem hintersten Maisfeld und grub mit demselben Spaten ein Loch in die weiche, fruchtbare Erde. Das Graben war einfach, was gelegen kam, weil er in der Dunkelheit arbeiten musste. Dann kehrte er zum Haus zurück, sammelte Boninas Habseligkeiten ein und schnürte sie zusammen mit dem Körper in ein Bündel und trug alles zusammen hinunter zum Grab. Als sie eingegraben war, verteilte er die überschüssige Erde ringsherum und zog dort eine Reihe von Furchen in den Boden. Morgen würde er pflanzen, und das wäre das Ende der Geschichte. Er würde es nicht versäumen, den Leuten im Geschäft zu erzählen, dass seine Bedienstete gepackt hätte und so schnell verschwunden sei, wie sie gekommen war. Hat wohl nur den Winter abgewartet. Keine Familie. Keine Freunde, die ihren Aufenthaltsort kannten. Keine Fragen. Lass die Sache ruhen.

    Und alles kam genauso, wie Sutter Clay es geplant hatte. Keiner stellte Fragen. Keiner stellte Nachforschungen an. Und die warmen Sommertage kamen und gossen ihr Sonnenlicht und ihren Regen über all die fruchtbaren Samen aus, die Clay in die Erde gepflanzt hatte. In dem hintersten Feld wuchs der Mais hoch, höher als jemals zuvor, sagte sich Sutter mit grimmigem Lächeln. Dann pflanzte er mit dem ihm eigenen Sinn für die optimale Ausnützung des Landes auch noch Kürbisse zu Füßen der Maisstiele.

    So folgte der August auf den Juli, und dieses Jahr wurde von der Trockenheit verschont. Sutter Clay lächelte hinauf zum freundlichen Himmel; und die Sonne lächelte zurück und machte Platz für genau die richtige Menge Regen zur richtigen Zeit. Dann folgte der September auf den August und drückte mit langen, reifenden Tagen den Feldern seinen Stempel auf, Felder, die nun schwer wurden von den Früchten des Landes. Clay beschäftigte sich mit der letzten Pflege des Bodens vor der Erntezeit, aber es gab nur noch wenig für ihn zu tun. Er hatte seine Arbeit getan. Die gute Erde trug nun ihr Teil bei.

    Als der Oktober kam, wurde ganz klar, dass dies ein Rekordjahr war, sogar für Sutter Clay. Tag für Tag, mit bewundernswerter Leistungsfähigkeit, begann Sutter, die Ernte einzubringen.

    »Alle Dinge schön und fein, alle Wesen groß und klein«, sang er, als er sich zu den Körben hinabbückte und Wagen um Wagen zog, um Küche und Keller zu füllen.

    Es war spät im Oktober, es waren nur noch wenige Tage bis Halloween, als Sutter sich zu dem hintersten Feld vorarbeitete. Der Mais war prächtig, er erntete ihn schnell und sonderte dabei die schönsten Kolben für die Ausstellung aus.

    Und das war der Augenblick, wo er den Kürbis sah. Es war kein großer Kürbis, ungefähr so groß wie ein menschlicher Kopf; er ruhte auf der schwarzen Erde über dem Fleck, wo Bonina Arnes begraben lag. Es war die obszöne Form des orangefarbenen Gemüses, die Clay abrupt zum Halten brachte. Das Ding hatte die Form eines Flaschenkürbisses; schmal am oberen Teil, dann sich nach unten aufblähend wie ein grober, missgestalteter Kiefer. Darüber zwei aufgedunsene Stellen, nach außen aufgeblasen wie Backen, und ganz oben auf dem unansehnlichen Gewächs ruhte ein Schopf fahler Maisseide, die in glänzenden Fransen um die knotige Rundung hing.

    Clay traute seinen Augen nicht. Wuchs das Zeug tatsächlich dort, genauso wie es aussah? Oder war es während der Ernte von einem Maiskolben gefallen und hatte dabei diese bizarre Lage eingenommen, um sich über ihn lustig zu machen? Sutter kniete nieder und packte die seidige Substanz. Dann zog er seine Hand voller Schrecken zurück. Das Zeug fühlte sich eher wie Haar als wie Maisseide an, und es schien warm zwischen seinen Fingern. Was für eine teuflische Hybride war das?

    Später in dieser Nachte redete Clay sich ein, dass das Zeug nur von den Sonnenstrahlen erwärmt war. Was die Tatsache anbelangte, dass es auf einem Kürbis wuchs - nun, in einem Garten kann alles passieren. Er hatte das selbst viele Male bewiesen. Irgendeine Art von zufälliger Kreuzbestäubung. Das war die Erklärung. Natürlich war seine Fantasie nur allzu bereit gewesen, ihm einen Streich zu spielen, sobald er sich auf dem hintersten Feld befand. Er würde einfach morgen hinuntergehen und das Ding samt Wurzeln ausreißen.

    Aber Sutter Clay ging am nächsten Morgen nicht auf das hinterste Feld. Stattdessen beschäftigte er sich damit, die letzten Reste in anderen Teilen der Farm abzuernten. Dann ging er am nächsten Tag in die Stadt und gab bekannt, dass er einen Überschuss an Kürbissen auf seinem Land habe, die umsonst abgeerntet werden könnten.

    Das Echo war überwältigend. Ganze Wagen voller Leute kamen, erpicht darauf, einen Kürbis oder zwei mitzunehmen, weil doch nur noch ein Tag bis Halloween war. Sutter Clay sperrte sich in seinem Haus ein, während die Leute sich auf seinem Land befanden, und rührte sich nicht, bis er das letzte Auto abfahren hörte.

    Als er endlich doch hinaustrat, fiel er fast über den Kürbis auf der Veranda. Sein hässlicher Kopf war nach hinten gekippt, so dass er ihn mit aufgeblasenen Backen voll von unten anstarrte, und die Fransen gelben Haares glänzten fahl in den sich verlierenden Strahlen der Sonne. Unter einer Seite des vorstehenden Kiefers steckte eine Notiz. Sutter beugte sich hinunter und fingerte sie heraus, und dabei überkam ihn ein Frösteln der Abscheu, als seine Hand an der Haut des Dinges entlangstrich.

    Auf der Notiz stand: Mr. Clay, dies hier scheint eine Art von Kreuzung zu sein. Wir dachten, Sie würden ihn gern für die Ausstellung behalten.

    Clay zerknüllte die Notiz und ließ sie zu Boden fallen. Sein erster Impuls war, das Ding mit einem Tritt so weit den Weg hinunterzuschicken, wie er nur konnte. Aber aus irgendeinem Grunde verging dieser Impuls wieder. Statt ihn zu treten, bückte er sich, hob den Kürbis auf und trug ihn in die Küche. Er war erstaunlich schwer für ein nur mittelgroßes Gewächs. Er legte ihn auf den Küchentisch und suchte den Whisky.

    Mit der Flasche Bourbon auf seinem Schoß und einem Glas in der Hand saß Sutter Clay in der Dämmerung neben dem Fenster und starrte auf den Kürbis auf dem Tisch. Während er trank, wurde es dunkler im Zimmer, und mit jeder neuen Schicht von Grau, die die Szenerie überzog, nahm das bösartige Geschöpf auf dem Tisch neue Dimensionen an. Wo vorher nur fette Backen gewesen waren, befanden sich nun winzige Augen; der vorspringende Kiefer hatte nun einen Schmollmund; und der ganze böse Kopf schien sich hin und her zu bewegen und die Stirn zu runzeln und Sutter Clay alle möglichen bekümmerten Blicke zuzuwerfen.

    Um Mitternacht war die Flasche leer, und Clay war in einen unregelmäßigen Schlaf verfallen. Plötzlich schreckte er hoch. Stand der Tisch jetzt näher bei ihm, oder war das nur eine Täuschung der Dunkelheit. Die Finsternis wurde nur noch von einem milchigen Strahl Mondlicht durchdrungen.

    Clay sah auf die Uhr: 12.15 Uhr. Nun war also der 31. Oktober. Allerheiligen. Wenn es überhaupt einen Tag der schlimmsten Marter und des Bösen gab, so war dies Halloween. Sutter Clay stand auf und machte drei unsichere Schritte auf den Tisch zu. Beim letzten stieß er schwer dagegen und brachte den Tisch zum Wanken. Der Kürbis rollte zur Seite und bewegte sich einige Zentimeter auf Clay zu. Er stöhnte vor Furcht und Wut und schlug mit der Faust danach. War es reine Einbildung, oder fühlte sich das Ding wirklich weich und nachgiebig an unter seinen Knöcheln? Es kam frisch vom Feld. Es sollte eigentlich fest und unnachgiebig sein.

    Plötzlich wusste Sutter Clay, was er tun würde. Er stolperte auf den Schrank beim Waschbecken zu, suchte dabei herum und fand Streichhölzer und eine Kerze. Nachdem er ein Streichholz angezündet hatte, ließ er heißes Wachs in eine Untertasse tropfen und steckte die Kerze darauf. Dann zog er eine Schublade heraus und wählte ein scharfes Messer.

    Als er wieder beim Tisch war, stellte er die Kerze neben dem Kürbis ab und zog seinen Stuhl mit einem Fuß heran. Er setzte sich. Oh, welch zwinkernde Grimassen schnitt das Ding nun, als es seine aufgeblähten Züge unter dem tanzenden Kerzenlicht verzerrte.

    »Ein Gesicht willst du also?«, sagte Sutter laut. »Dann werden wir dir genau das verpassen, das du verdienst!« Und mit diesen Worten stieß er das Messer bis zum Anschlag in die Kürbisschale.

    Als er das Messer herauszog, wurde ein zischender Laut hörbar, fast so, als ob ein Kind geseufzt hätte, und plötzlich war der Raum voll von Grabesgestank. Clay jedoch konnte nun nichts mehr erschrecken. Nachdem er seine Nasenlöcher von dem fauligen, modrigen Gas freigeschnaubt hatte, machte er weitere Einschnitte in die Schale des Kürbisses, bis er den oberen Teil in einem sauberen Kreis abgetrennt hatte.

    Nachdem er den Deckel bei den Haaren abgehoben hatte, begann er, das Fruchtfleisch herauszuschaufeln und kümmerte sich nicht mehr um den kalten, faserigen Schleim, der sich dabei über seine Hose und die Stuhlbeine hinunterwand. Als alles herausgekratzt war, stach er grobe, dreieckige Augen, eine kleine, runde Nase und einen breiten, grinsenden Mund mit einem herunterhängenden spitzen Zahn ganz nach dem Brauch von Halloween heraus. Keine Laterne hatte jemals so böse ausgesehen.

    »Nun lass dein Licht leuchten vor den Menschen«, sagte Sutter Clay, als sein Gehirn Gedanken aus einem längst vergangenen Gottesdienst wieder ausspuckte, »auf dass sie deine guten Werke sehen.« Mit diesen Worten nahm er die Kerze von der Untertasse, goss heißes Wachs in den hohlen Schädel und stellte die Kerze hinein. Nachdem er den fransigen Deckel an seinen Platz zurückgesetzt hatte, war die Arbeit beendet.

    Clay stieß seinen Stuhl etwas zurück und betrachtete sein Werk. Die Laterne tropfte und blinzelte, und ein feuchtes Zischen entströmte seinem lüsternen Mund. Clay schlug sich auf die Schenkel und lachte hysterisch. Die Macht des Gelächters prallte gegen den Kürbis und brachte die Flamme innerhalb des prasselnden Kopfes wild zum Tanzen.

    Dann verfiel Sutter Clay in Schweigen. Denn während er hinsah, sanken die Mundwinkel des Wesens, die bisher ein boshaftes Grinsen geformt hatten, herab und brachen in ein betrübtes Schmollen zusammen. Und zwei Wachstropfen erschienen in den Winkeln der dreieckigen Augen und tröpfelten langsam die goldenen Wangen hinab.

    Clays Lippen waren trocken. Er leckte mit der Zunge daran, die nun nicht mehr länger feucht war. Dann, als er gebannt zusah, schoss eine winzige Flammenzunge aus dem herunterhängenden Mundwinkel und lief flink über den Tisch. Clay konnte nur zusehen, wie das flüssige Feuer in einem sprühenden Wasserfall über die Kante des Tisches hinuntertropfte und in eine Funkenpfütze auf dem Boden spritzte. Dann lief sie über und bewegte sich quer über den Boden auf die Spitze von Clays Stiefel zu.

    Fasziniert sah Sutter Clay zu, wie das Feuer sich aus dem leichenblassen Mund ergoss. Er konnte verbranntes Leder riechen, aber er konnte sich nicht rühren. Dann, als die Flammen den Stuhl ergriffen und umringten, saßen Vater und Sohn in der brennenden Küche und sahen einander beim Sterben zu.

    Unten in der Stadt schaute jemand hoch zum Himmel im Norden und sagte: »Sieht so aus, als ob Sutter Clays Haus brennt.« Und so riefen sie die Feuerwehr, aber sie kam zu spät, um noch etwas zu retten.

    Beim Durchkämmen der kalten Trümmer am nächsten Tag fand ein Feuerwehrmann die verkohlte Schale der Laterne mit ihrem Kerzenstummel.

    »Muss irgendein verrückter Halloween-Scherz gewesen sein«, murmelte er. »Was für Kinder ziehen wir nur heutzutage auf?«

      Ray Bradbury: MR. BENEDICTS ENDE (The Handler)

    Mr. Benedict trat aus seinem kleinen Haus. Er blieb zögernd unter der Tür stehen, weil er das Sonnenlicht scheute und sich anderen Menschen unterlegen fühlte. Ein Hündchen mit klugen Augen trottete vorbei; diese Augen waren so klug, dass Mr. Benedict ihrem Blick nicht standhalten konnte. Ein kleines Kind starrte durch das schmiedeeiserne Friedhofstor bei der Kirche, und Mr. Benedict zuckte unter der durchdringenden Neugier in des Kindes Blick zusammen.

    »Du bist der Begräbnismann«, stellte das Kind fest.

    Mr. Benedict krümmte sich innerlich. Er schwieg.

    »Gehört dir die Kirche?«, wollte das Kind wissen.

    »Ja«, antwortete Mr. Benedict. »Und das Leichenhaus?«

    »Ja«, sagte Mr. Benedict etwas verwirrt.

    »Und der Friedhof und die Grabsteine und die Gräber?«, fragte das Kind weiter.

    »Ja«, erwiderte Mr. Benedict mit berechtigtem Stolz. Und das stimmte tatsächlich, so erstaunlich es klingen mochte. Eigentlich war es nur ein glücklicher Zufall, der seit Jahren sein Geschäft in Schwung hielt. Zuerst hatte er die Kirche und den Friedhof mit ein paar bemoosten Grabsteinen erworben, als die Baptisten sich anderswo eine größere Kirche bauten. Dann hatte er sich ein hübsches kleines Leichenhaus bauen lassen - selbstverständlich im gotischen Stil - und hatte das Häuschen dahinter selbst bezogen. Wer sich von Mr. Benedict bestatten ließ, der konnte sich darauf verlassen, dass in seinem Fall keine Zeit vergeudet wurde. Kein Trauerzug notwendig! erklärten die großen Anzeigen in der Morgenzeitung. Heraus aus der Kirche und hinein ins Grab, so lautete Mr. Benedicts Grundsatz. Garantiert nur Verwendung bester Konservierungsmittel.

    Das Kind starrte ihn noch immer an, und Mr. Benedict fühlte sich wie eine Kerze, die vom Wind ausgeblasen wird. Er war so minderwertig. Alles, was lebte oder sich bewegte, machte ihn verlegen und melancholisch. Er stimmte anderen Leuten stets zu, weil er es nicht wagte, mit ihnen zu streiten, ihnen zu widersprechen oder etwas abzulehnen. Wenn man Mr. Benedict auf der Straße traf, starrte er einem auf den Mund, auf die Ohren oder auf den Haaransatz, aber nie gerade in die Augen, und er hielt die Hand des anderen zwischen seinen kalten Händen, als sei sie eine zerbrechliche Kostbarkeit, während er sagte: »Sie haben ganz entschieden, zweifellos und selbstverständlich Recht.«

    Aber wenn man sich mit ihm unterhielt, hatte man stets den Eindruck, er habe gar nicht zugehört.

    Jetzt stand er auf der Schwelle seines kleinen Hauses und sagte: »Du bist ein süßes kleines Kind.« Er fürchtete, dass das Kind ihn nicht mochte.

    Mr. Benedict ging die Treppe hinunter und durch das Tor, ohne einen Blick auf sein kleines Leichenhaus zu werfen. Dieses Vergnügen hob er sich für später auf. Es war sehr wichtig, dass alles in der richtigen Reihenfolge geschah. Es hatte keinen Zweck, freudig an die Leichen zu denken, die dort auf seine kundigen Hände warteten. Nein, es war besser, den üblichen Tagesablauf zu erdulden. Er würde den Konflikt beginnen lassen.

    Er wusste genau, wohin er gehen musste, um in Wut zu geraten. Er verbrachte den Vormittag damit, durch die kleine Stadt zu wandern, sich von der Überlegenheit seiner lebenden Nachbarn beeindrucken zu lassen, seine eigene Unterlegenheit deutlich zu spüren und sich in seinem Minderwertigkeitskomplex bestätigen zu lassen.

    Mr. Benedict unterhielt sich mit Mr. Rodgers, dem Apotheker, und er merkte sich alle kleinen Anspielungen und Beleidigungen, die auf ihn gemünzt waren. Mr. Rodgers hatte immer etwas Schreckliches über Bestattungsunternehmer zu sagen. »Hahaha«, lachte Mr. Benedict, obwohl er am liebsten geweint hätte. »Da sind Sie ja, Sie Kalter«, hatte Mr. Rodgers an diesem Morgen gesagt. »Kalter«, wiederholte Mr. Benedict, »hahaha!«

    Vor der Apotheke traf Mr. Benedict mit Mr. Stuyvesant, dem Bauunternehmer, zusammen. Mr. Stuyvesant warf einen Blick auf seine Uhr, um abzuschätzen, wieviel Zeit er mit Mr. Benedict vergeuden konnte, bevor er angeblich zu einer dringenden Besprechung musste. »Oh, hallo, Benedict«, rief Stuyvesant. »Wie gehen die Geschäfte? Ich möchte wetten, Sie sind mit Nägeln und Zähnen dabei. Haben Sie gehört? Mit Nägeln und...«

    »Ja, ja«, antwortete Mr. Benedict mit vagem Lächeln. »Und wie gehen die Geschäfte bei Ihnen, Mister Stuyvesant?«

    »He, warum haben Sie so eisige Hände, Benny, alter Knabe? Haben Sie eben eine frigide Frau einbalsamiert? He, das war nicht schlecht! Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«, brüllte Mr. Stuyvesant und schlug ihm auf den Rücken.

    »Ausgezeichnet!«, erwiderte Mr. Benedict frostig lächelnd. »Guten Tag, Mister Stuyvesant.«

    Und so ging es von einem zum anderen weiter. Mr. Benedict war für alle der See, in den sie ihren Abfall warfen. Die Leute begannen mit Kieseln, und als Mr. Benedict weder Wellen warf noch protestierte, versuchten sie es mit Steinen, Ziegeln und Felsbrocken. Aber Mr. Benedict schien bodenlos zu sein, und der See antwortete nicht.

    Im Laufe des Tages wurde Mr. Benedict immer hilfloser und zorniger, bis er sich schließlich mit geradezu masochistischem Vergnügen selbst hasste. Aber der Gedanke an die Vergnügungen, die ihn abends erwarteten, hielt ihn aufrecht. Deshalb gab er sich weiterhin mit diesen dummdreisten, arroganten Hohlköpfen ab, unterhielt sich freundlich mit ihnen und ließ sich von ihnen beleidigen.

    »Aha, der Fleischhauer«, sagte Mr. Flinger im Lebensmittelgeschäft. »Wie steht's mit den sauren Nieren und den eingelegten Gehirnen?« Damit war der vorläufige Höhepunkt erreicht. Mr. Benedict warf einen wilden Blick auf seine Uhr, wandte sich fluchtartig ab, jetzt konnte die Arbeit beginnen, jetzt würde er sie bereitwillig tun und noch sein Vergnügen daran haben. Der entsetzliche Teil seines Tages war vorüber; der schöne Teil würde jetzt beginnen!

    Er hastete die Stufen zum Portal seines Leichenhauses hinauf.

    Der Raum lag totenstill vor ihm. Unter weißen Tüchern waren die Umrisse lebloser Gestalten mehr zu ahnen als wirklich zu sehen.

    Mr. Benedict stand hochaufgerichtet in der Tür; er warf den Kopf in den Nacken, hob eine Hand zum Gruß und ließ die andere unnatürlich steif auf der Klinke hegen.

    Der Herrscher war zu seinen stummen Untertanen heimgekehrt.

    Er blieb fast eine Minute lang in der Mitte des großen Raums stehen. Vielleicht bildete er sich ein, Applaus zu hören. Er bewegte sich nicht, aber er senkte leicht den Kopf, als danke er für den Beifall.

    Er zog langsam seinen Mantel aus, hängte ihn auf, nahm einen frisch gewaschenen weißen Kittel aus dem Schrank und schlüpfte hinein. Nachdem er die Ärmel zugeknöpft hatte, rieb er sich die Hände und betrachtete seine guten Freunde.

    Es war eine gute Woche gewesen; unter den weißen Leintüchern lagen etliche Angehörige der besten Familien der Stadt, und als Mr. Benedict jetzt vor ihnen stand, hatte er das Gefühl, größer und immer größer zu werden, bis er sie alle turmhoch überragte.

    »Wie Alice im Wunderland!«, rief er verwundert aus. »Größer und größer. Seltsamer und seltsamer!« Er massierte sich die Hände.

    Mr. Benedict empfand dieses ungläubige Erstaunen jedes Mal, wenn er sich wieder in einem Raum mit den Toten befand. Er war entzückt und verwirrt zugleich, wenn er entdeckte, dass er hier über andere Menschen herrschte, dass er hier mit ihnen tun konnte, was ihm Spaß machte, und dass ihnen nichts anderes übrigblieb, als höflich und zuvorkommend zu sein. Sie konnten nicht fortlaufen. Und auch heute fühlte Mr. Benedict sich wie Alice wachsen. »Oh, so groß, oh, so groß, so sehr groß... bis mein Kopf... an die Decke... stößt.«

    Er ging zwischen den stillen Gestalten auf und ab. Er fühlte sich so wie wenn er spät abends aus dem Kino kam - sehr stark, sehr wachsam und sehr selbstbewusst. Er hatte das Gefühl, jeder achte nur auf ihn, wenn er das Kino verließ, und er sei sehr tapfer und besitze auch alle übrigen Eigenschaften des Filmhelden, habe die gleiche wohltönende Stimme, ziehe die linke Augenbraue ebenso wirkungsvoll hoch und schwinge sein Spazierstöckchen womöglich noch eleganter. Und gelegentlich dauerte diese Filmhypnose so lange, bis er wieder zu Hause und im Bett war. Mr. Benedict konnte nur an zwei Orten völlig glücklich und zufrieden sein: im Filmtheater - oder hier in seinem eigenen kleinen Theater der toten Seelen.

    Er schritt ihre Reihen ab und las die Namen auf den weißen Karten.

    »Mrs. Walters. Mister Smith. Miss Brown. Mister Andrews. Ich begrüße Sie, meine Damen und Herren!«

    »Wie geht es Ihnen, Mrs. Shellmund?«, erkundigte er sich dann, indem er das weiße Tuch hob, als suche er ein Kind unter dem Bettzeug. »Sie sehen prächtig aus, meine Liebe.«

    Mrs. Shellmund hatte ihn in ihrem ganzen Leben nicht eines Wortes gewürdigt. Sie war stets majestätisch an ihm vorübergerauscht - wie eine große weiße Statue, die unter ihren langen Röcken heimlich Rollschuhe trug, um elegant dahingleiten zu können. »Meine liebe Mrs. Shellmund«, sagte er, indem er sich einen Stuhl heranzog und sie durch sein Vergrößerungsglas betrachtete. »Ist Ihnen eigentlich klar, dass Ihre Poren unnatürlich geweitet sind, meine Dame? Im Leben hatten Sie stets ein etwas wächsernes Gesicht. Schlechter Teint, Öl und Fett und Pickel. Zuviel Sahnetorte und Pralinen und andere leckere Süßigkeiten. Sie haben sich immer viel auf Ihren Verstand eingebildet, Mrs. Shellmund, und Sie waren der Meinung, ich sei nur eine wertlose Münze unter Ihrem Schuh. Aber Sie haben zugelassen, dass Ihr wunderbares Gehirn in Limonade und Cocktails und Milchmixgetränken schwimmen musste, und Sie waren mir so himmelhoch überlegen, Mrs. Shellmund, dass jetzt folgendes geschehen muss...«

    Er nahm eine kleine Operation an ihr vor. Er sägte die Schädeldecke auf, nahm sie ab, legte sie zur Seite und hob das Gehirn heraus. Dann nahm er einen Sahnebeutel, wie ihn der Konditor benutzt, und füllte den leeren Schädel mit Pralinen und Schlagsahne; zum Schluss schrieb er noch mit rosa Zuckerguss TRÄUME SÜSS! auf die oberste Schicht, klappte die Schädeldecke wieder zu, nähte sie fest und verdeckte die Spuren mit Wachs und Puder. »So!«, sagte er darauf zufrieden.

    Er ging an den nächsten Tisch. »Schönen guten Tag, Mister Wren. Schönen guten Tag. Und wie geht es heute unserem obersten Rassenhasser, Mister Wren? Der reine, weiße, frisch gewaschene Mister Wren. Rein wie Schnee, weiß wie die Unschuld sind Sie heute, Mister Wren. Der Mann, der Juden und Neger hasste. Minoritäten, Mister Wren, Minoritäten.« Er zog das Leintuch zurück. Mr. Wren sah mit glasigen, kalten Augen zur Decke hinauf. »Mister Wren, Sie sehen hier jemanden vor sich, der einer Minorität angehört. Ich spreche von mir. Die Minorität der Unterlegenen, der Minderwertigen, die nicht zu laut zu sprechen wagen, die nur unbedeutende, erschrockene kleine Leute sind. Mäuse. Wissen Sie, was ich mit Ihnen vorhabe, Mister Wren? Zuerst werden wir Ihnen das Blut abzapfen, mein intoleranter Freund.« Das Blut wurde abgezapft. »Und jetzt injiziere ich Ihnen ein... ein Konservierungsmittel.«

    Mr. Wren lag schneeweiß und unschuldig und rein vor Mr. Benedict, bis die Flüssigkeit sich in seinen Adern verteilte.

    Mr. Benedict lachte.

    Mr. Wren wurde schwarz; pechschwarz, schwarz wie die Nacht.

    Das Konservierungsmittel war - Tinte.

    »Und auch Ihnen einen recht schönen guten Tag, Edmund Worth!« Dieser Worth hatte wirklich einen prächtigen Körper! Bärenstark, mit gewaltigen Muskeln an großen Knochen und einem Brustkorb wie ein Kleiderschrank. Frauen hatten sich nach ihm umgedreht, wenn er vorbeigegangen war; Männer hatten ihn neidisch betrachtet und sich im Stillen ausgemalt, wie schön es wäre, sich diesen Körper eines Abends ausleihen zu können, um damit nach Hause zu kommen und ihre Frauen angenehm überraschen zu können. Aber Worth hatte seinen Körper stets für sich allein behalten und damit getan, was ihm gerade in den Sinn kam. Das wiederum hatte dazu geführt, dass sich alle bösen Zungen, die ihr heimliches Vergnügen an den Sünden anderer fanden, unablässig mit ihm befasst hatten.

    »Und jetzt liegt er hier«, murmelte Mr. Benedict, während er diesen prächtigen Athletenkörper mit Vergnügen betrachtete. Einen Augenblick lang war er in Gedanken versunken, die alle seinen eigenen Körper in seiner eigenen Vergangenheit betrafen.

    Er hatte sich einmal beinahe mit einem dieser Geräte erdrosselt, die man an einer Tür befestigt, um das Kinn hineinzulegen und sich daran hochzuziehen, er hatte inbrünstig gehofft, dadurch wenigstens zwei oder drei Zentimeter größer zu werden, aber diese Hoffnung war selbstverständlich enttäuscht worden. Er hatte sich in die Sonne gelegt, um endlich nicht mehr so leichenblass zu sein; aber nach dem Sonnenbad hatte er nur Blasen bekommen, und seine Haut hatte sich geschält, und darunter war wieder empfindliche rosa Haut zum Vorschein gekommen. Und was sollte er tun, um seine Augen zu verändern - die eng beieinanderstehenden glasigen Augen und den kleinen, verkniffenen Mund? Man kann Häuser anstreichen, Müll verbrennen, aus den Slums in eine bessere Wohngegend ziehen, seine Mutter erschießen, einen neuen Anzug kaufen, sich einen Wagen finanzieren lassen, viel Geld verdienen oder seine Lebensumstände entscheidend verändern. Ihm aber machte sein Äußeres jede Veränderung unmöglich; seine Haut, sein Körper, seine Blässe und seine Stimme nahmen ihm jegliche Chance, eines Tages den Sprung in die große weite Welt zu wagen, in der Männer hübsche Frauen unter das Kinn fassten und sie auf den Mund küssten und ihren Freunden die Hände schüttelten und sich gegenseitig aromatische Zigarren anboten.

    Das alles bewegte Mr. Benedict, während er Edmund Worths athletischen Körper, betrachtete.

    Er trennte Worths Kopf vom Rumpf, legte ihn in einem Sarg auf ein Satinkissen, füllte den Sarg mit fünfundachtzig Kilo Ziegelsteinen, arrangierte einige Kissen unter einer schwarzen Jacke und einem weißen Hemd mit Krawatte, so dass sie wie der Oberkörper wirkten, und bedeckte das Ganze mit einer blauen Samtdecke, die bis zum Kinn reichte. Die Illusion war vollkommen.

    Den Körper aber legte er in den Kühlraum.

    »Wenn ich einmal sterbe, werde ich die ausdrückliche Anweisung hinterlassen, Mister Worth, dass mein Kopf abgetrennt, an Ihren Körper genäht und so begraben werden soll. Bis dahin habe ich bestimmt einen Assistenten gefunden, der zu dieser Schandtat für Geld bereit ist. Wenn man schon im Leben keinen Körper dieser Art haben kann, muss man wenigstens die Gelegenheit wahrnehmen, ihn sich im Tod zu verschaffen. Besten Dank, mein Lieber.«

    Er knallte den Sargdeckel über Edmund Worth zu.

    Da es immer gebräuchlicher wurde, die Särge während der Trauerfeierlichkeiten geschlossen zu lassen und auch später nicht nochmals zu öffnen, hatte Mr. Benedict immer mehr Gelegenheit, sich an seinen hilflosen Schützlingen zu rächen. Manche legte er verkehrt herum in den Sarg, andere lagen mit dem Gesicht nach unten, und wieder andere machten noch im Tod obszöne Gesten. Besonders viel Spaß hatte Mr. Benedict mit drei alten Jungfern, die auf dem Weg zu einem Kaffeeklatsch mit ihrem Wagen verunglückt waren. Diese drei berüchtigten Klatschbasen waren im Leben unzertrennlich gewesen und hatten stets und überall die Köpfe zusammengesteckt. Die Trauergäste bei ihrer Beerdigung konnten allerdings nicht wissen - die Särge blieben ja geschlossen -, dass alle drei in einen einzigen Sarg zusammengezwängt waren, wo sie bis in alle Ewigkeit miteinander schwatzen konnten. Die beiden anderen Särge enthielten Stein und viel Holzwolle, um das Geräusch zu dämpfen. Die trauernden Hinterbliebenen weinten. »Jetzt sind sie endlich doch getrennt, die drei Unzertrennlichen!« Alle schluchzten.

    »Ja«, stimmte Mr. Benedict zu und musste sein Gesicht verbergen, um sich nicht anmerken zu lassen, dass er am liebsten gelacht hätte.

    Da Mr. Benedict einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit besaß, bestattete er einen reichen Mann splitternackt. Einen Armen dagegen legte er kostbar gekleidet zur Ruhe - mit Fünfdollarstücken anstelle von Knöpfen und einem Zwanzigdollarstück auf jedem Auge. Einen Rechtsanwalt bestattete er überhaupt nicht, sondern verbrannte ihn in seinem Ofen; der Sarg enthielt an seiner Statt eine tote Katze, die morgens auf dem Friedhof gelegen hatte.

    Mr. Benedict schritt also an diesem Nachmittag in seinem Leichenhaus von einer verhüllten Gestalt zur nächsten und erzählte ihnen dabei unbekümmert von seinen Geheimnissen. Die letzte Leiche war ein gewisser Merriwell Blythe, ein uralter Mann, der an epileptischen Anfällen und Bewusstseinsstörungen gelitten hatte. Mr. Blythe war deswegen schon mehrmals für tot gehalten worden, aber bisher War er immer gerade noch rechtzeitig wieder erwacht, um nicht versehentlich lebendig begraben zu werden.

    Mr. Benedict zog das Tuch von Mr. Blythes Gesicht.

    Mr. Merriwell Blythe blinzelte zu ihm auf.

    »Ah!« Mr. Benedict ließ das Tuch fallen.

    »Sie!«, kreischte eine Stimme darunter.

    Mr. Benedict spürte, wie seine Knie nachzugeben drohten, und lehnte sich an den nächsten Tisch.

    »Helfen Sir mir auf!«, rief Mr. Merriwell Blythe.

    »Sie leben!«, flüsterte Mr. Benedict und riss das Leintuch weg.

    »Oh, was ich in der letzten Stunde gehört habe, was ich mir alles anhören musste!« jammerte der alte Mann und verdrehte die Augen. »Unbeweglich auf dem Tisch, zu keiner Bewegung fähig, und zuhören müssen, wie Sie Ihre Zwiegespräche mit sich selbst führen! Oh, Sie Ungeheuer, Sie abscheulicher Kerl, Sie Teufel in Menschengestalt, helfen Sie mir endlich, damit ich aufstehen kann. Warten Sie nur, bis ich dem Bürgermeister erzähle, was ich gehört habe! Ungeheuer! Leichenschänder, Sadist, perverser Schurke, Teufel! Warten Sie nur, bis ich wieder draußen bin und alles, alles erzählt habe!«, schrie der alte Mann. »Helfen Sie mir endlich auf!«

    »Nein!«, sagte Mr. Benedict und sank vor ihm in die Knie. »Oh, Sie schrecklicher Mann!« schluchzte Mr. Merriwell Blythe. »Wenn man sich vorstellt, was seit Jahren in dieser Stadt passiert ist, ohne dass jemand geahnt hätte, wie Sie die Toten behandeln! Ungeheuerlich!«

    »Nein!«, flüsterte Mr. Benedict; er versuchte aufzustehen, aber seine Knie gaben erneut nach, und er sank wieder schreckensbleich zu Boden. »Was Sie alles getan haben!« warf ihm der Alte erregt vor. »Was Sie alles getan haben!«

    »Tut mir leid!«, flüsterte Mr. Benedict.

    Der alte Mann versuchte aufzustehen. »Nein!«, sagte Mr. Benedict und hielt ihn fest. »Lassen Sie mich los!« verlangte der Alte. »Nein!«, wiederholte Mr. Benedict. Er griff nach einer Injektionsnadel und stieß sie dem alten Mann in den Arm. »Hilfe!«, rief der Alte und wandte sich an die leblosen Gestalten unter ihren Hüllen. »Helft mir doch!« Er blinzelte zum Fenster hinüber, hinter dem der Friedhof mit den schiefen Grabsteinen lag. »Ich meine auch euch dort draußen unter den Steinen! Helft mir! Hört alle zu!« Der alte Mann sank zurück; er atmete keuchend und hatte Schaum vor dem Mund. Er wusste, dass er im Sterben lag. »Hört alle zu«, stieß er mühsam hervor. »Er hat mir etwas angetan, er hat euch etwas angetan, er hat viel zu lange vielen etwas angetan. Lasst euch das nicht mehr gefallen! Lasst nicht zu, dass er diese Verbrechen weiterhin begeht!« Der Alte wurde schwächer. »Wehrt euch dagegen, tut ihm etwas an!«

    Mr. Benedict stand vor ihm, hörte erschrocken zu und sagte: »Sie können mir nichts tun. Das können sie nicht. Ich weiß doch, dass sie das nicht können.«

    »Kommt aus euren Gräbern!«, keuchte der alte Mann. »Helft mir! Heute oder morgen oder bald - aber kommt alle heraus und zeigt es diesem schrecklichen Mann!« Und er weinte. »Wie töricht«, murmelte Mr. Benedict benommen. »Sie liegen im Sterben und phantasieren nur.« Mr. Benedict hatte plötzlich das Gefühl, seine Lippen seien erstarrt und ließen sich kaum noch bewegen. Er riss erschrocken die Augen auf. »Los, sterben Sie doch endlich!«

    »Heraus aus den Gräbern!«, kreischte der Alte. »Heraus mit euch! Helft mir!«

    »Bitte sagen Sie nichts mehr«, verlangte Mr. Benedict. »Ich höre wirklich nicht gern zu.«

    Der Raum war dunkel geworden. Draußen wurde es rasch finster. Die Nacht brach herein. Der alte Mann phantasierte endlos weiter; er wurde jedoch sichtlich schwächer. Schließlich sagte er lächelnd: »Sie haben sich zu viel von Ihnen gefallen lassen, Sie abscheulicher Mann. Aber heute Nacht wollen sie etwas dagegen unternehmen.«

    Der Alte starb.

    Die Leute behaupteten später, in dieser Nacht habe es auf dem Friedhof eine Explosion gegeben. Oder vielmehr eine ganze Reihe von Detonationen, denen eigenartige Gerüche, seltsame Bewegungen, merkwürdiger Lärm und andere unerklärliche Geräusche folgten. Die Nacht war manchmal wie von Blitzen taghell erleuchtet, ein leichter Regen fiel, und die Kirchenglocken schwangen und klangen im Glockenturm; Grabsteine wurden umgestürzt, Stimmen fluchten, und seltsame Schatten flogen durch

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