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eBook376 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Detlef Grumbach

Christian Geissler untersucht in seinem Romandebüt "Anfrage" (1960) die Schuld der Väter am Holocaust und greift die "Wir haben von allem nichts gewusst"-Haltung der Adenauer-Ära an. Das war neu und stieß nicht gerade auf Gegenliebe in der Nachkriegsgesellschaft.
Der Roman erzählt vom Physiker Klaus Köhler, der herausfinden will, was mit der jüdischen Familie Valentin geschehen ist. Ihr hatte das Haus gehört, in dem das Institut untergebracht ist, in dem er arbeitet. Seine "Anfragen" fördern das Bild einer Gesellschaft zu Tage, in der alte Nazis unbehelligt weiterleben und die Opfer sich weiterhin verstecken müssen. Zudem sucht der Protagonist den einzigen überlebenden Sohn des Eigentümers, der – noch immer in Angst und Schrecken – unter falschem Namen in der Stadt wohnen soll. Köhlers mit der DDR sympathisierender Kollege Steinhoff interessiert dies nicht. Für ihn, der ein Bein im Krieg verloren hat und der traumatisiert wie zynisch stets davon erzählt, wie Menschen als Soldaten von Hitler zum Kriegsende verheizt wurden, zählt ein Einzelschicksal nicht. Schließlich begegnet Köhler einem entfernten Verwandten der jüdischen Familie, der in den USA lebt und während einer Europareise das Haus der Familie aufsucht.
"Anfrage" wurde 1960 zum Bestsellererfolg. Große und kleine Zeitungen druckten Besprechungen, sorgten so für eine enorme Verbreitung. Marcel Reich-Ranicki sah in dem Buch den lang ersehnten Schrei des Schmerzes und der Verzweiflung, der Schande und der Empörung: "Ein heiserer Schrei, gewiß, doch ein erschütternder Schrei, dessen Ehrlichkeit nicht bezweifelt werden kann."
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Mai 2023
ISBN9783957325631
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    Buchvorschau

    Anfrage - Christian Geissler

    PROLOG

    Der Stolz der Kinder sind ihre Väter

    Sprüche 17,6

    Der Prozessverlauf brachte keine Höhepunkte und keine Sensationen. Das Leugnen und spätere Gestehen des Angeklagten gab zwar der Presse die gewünschte Gelegenheit, Spannung in die Prozessberichte zu bringen, für das Ergebnis des Prozesses jedoch war das Schlusswort des Angeklagten allein von Bedeutung.

    Staatsanwaltschaft und Verteidigung hatten das ihre getan. Der Vorsitzende fragte den Angeklagten, ob er noch etwas zu sagen wünsche, bevor das Gericht zur Urteilsfindung sich zurückzöge. Der Angeklagte nickte, erhob sich und schwieg. Erst als er das Gesicht seines Sohnes, der unter den Leuten im Saal saß, gefunden hatte, sagte er:

    »Ich bin schuldig. Ich bitte das Gericht, den Antrag der Verteidigung auf Zuerkennung des Paragrafen 51 abzulehnen. Ich bin damals voll zurechnungsfähig gewesen, und ich bin es heute. Ich bin schuldig.«

    »Wollen Sie uns erklären, was Sie zu dieser Bitte veranlasst?«

    Der Angeklagte nickte wiederum, schwieg, sah seinen Sohn an und sagte:

    »Ich habe einen Sohn. Es ist besser für einen Sohn, er hat einen schuldigen Vater, der seine Schuld kennt, als er hat einen nicht zu rechnungsfähigen Vater. Einem Menschen, dem man die Möglichkeit abspricht, schuldig werden zu können, tut man keinen Gefallen. Es mag aussehen wie Güte und Nachsicht, aber man entwürdigt ihn. Man entzieht ihn der Gerechtigkeit, und also entzieht man ihn auch der Vergebung. Man nimmt ihm die Würde, Mensch zu sein. Es ist für einen Sohn wichtig zu wissen, dass sein Vater ein Mensch war. Es wird ihn verderben, wenn es heißt: dein Vater war ein Idiot. – Ich bitte das Gericht, den Antrag der Verteidigung auf Zuerkennung des Paragrafen 51 abzulehnen.«

    Diese Szene, insbesondere der Vater, ist frei erfunden. Die folgenden Szenen, insbesondere die in ihnen auftretenden ›Väter‹, sind nicht frei erfunden.

    Daraus ergibt sich die Anfrage.

    ERSTER TEIL

    Hinderlicherweise hatte er einen komplizierten Charakter. Gewiss, er hatte studiert, Physik, war wissenschaftlicher Assistent, neunundzwanzig, TOA III, aber ist das ein Grund zu lächeln, wenn alle anderen in ernstes Ergriffensein versetzt sind?

    Klaus Köhler ging gewöhnlich abends in der Dunkelheit noch ein Stückchen hinab in die Straßen der Stadt. Er fand die Straßen angenehm laut und die Lichter anregend matt und verspielt. Man konnte nachdenken ohne Ziel, man konnte sehen, hören, Bewegungen ausstoßen, tasten, den Duft der Luft schmecken, ohne dabei seiner selbst schon gewiss zu sein. Man bewegt sich, hantiert, begrüßt alle Welt ohne Scheu, ohne Einwand und Aufwand und vor allem ganz ohne die Furcht, irgendwann irgendwo von irgendwem immer angepackt, angeschaut und etwa erkannt zu werden. Man lässt Gedanken kommen und gehen, lässt sie bunt, scheckig, fleckig, faul, leise, eitel, unverbunden und interruptiv durch Räume schaukeln, die man ihrem Maß nach nicht kennt und die zu kennen, so scheint es, niemand und nichts einen zwingen kann. Man gründelt, man treibt, man kräuselt so vor sich hin, um sich herum, gefällt sich, erweist sich Gefallen, schickt gelegentlich Grüße, Flaschenpost, Absender unbekannt – wie gleichfalls die Welt; wen geht sie an?

    Was gingen sie ihn an, die Leute dort drüben unter den Schirmen dicht beieinander, Leute mit offenen Augen, die hinter das Glas der Schaufensterscheibe starrten wie hinter den vorletzten Schleier? Gab es ein Wunder? Das wäre wunderbar, mithin nicht möglich. Dennoch ging Köhler, vorsichtig, so als wünsche er nicht, als Teilnehmer jener lautlosen Feier verkannt zu werden, aus einem Hinterhalt rechts an die Gruppe von Leuten heran und blieb erst stehen, als er beides, links die Gesichter und rechts den Inhalt des Fensters, gut übersehen konnte. Was gab es? Er nahm eine Zigarette und lächelte nachsichtig, was jedoch nicht ganz gelingen wollte, denn es war schwer, den Schmerz zu verbergen, der einen, allem geübten Zeitsinn zuwider, beschleichen kann vor Dingen, die man nicht versteht, obwohl sie wirklich und allen Ernstes und in greifbarer Nähe sich abspielen: Hinter den riesigen Gläsern des Fensters, zuckend in wechselnden Farben beleuchtet, drehte sich still ein mit silbrigem Kunststoff verhängter Gegenstand. Oben hatte man ein Schild angebracht: Der vorletzte Tag. Und wenn das keine Drohung war, dann eine Verheißung. Was aber verhieß man denn? Eben das war von innen mit roten, bewegten Lettern gegen das Glas geschrieben: Der neue Ford Taunus de Luxe ab 1. September!

    1. September: Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen.*

    Richtig, Köhler erinnerte sich, es war heute der dreißigste, morgen musste er Miete zahlen, und er erinnerte sich weiter, erst heute, mittags, in einer Zeitung die Nachricht gelesen zu haben über die Eröffnung des Frankfurter Autosalons am 1. September. Man schien diesen Tag zu erwarten wie früher den Tag des Herrn; nicht eben wunderbar, aber doch fast; mindestens lag in den sagen wir zwölf mal zwei Augen der Leute vor dem Fenster etwas von dieser Erwartung, eine stumme Andacht von unermüdlichen Herzen, denen bis heute noch nicht die Hoffnung abhandengekommen ist, wenn auch sonst dieses und jenes. Köhler beobachtete, dass, nach der Kleidung der einzelnen Leute zu urteilen – übrigens waren es fast ausschließlich Männer, nur ein einziges Mädchen am Arm ihres Freundes –, dass kaum einer von ihnen die Chance haben würde, irgendwann einmal de Luxe zu reisen. Umso größer die Erwartung, umso wunderbarer der Traum. War es da in der Ordnung zu lächeln?

    Klaus Köhler schritt von dannen, und als wäre das Maß noch nicht voll, ließ er es sich einfallen, ein weißes, hohes Kirchenschiff zu betreten, das seine Tore weit geöffnet zur Straße hin streckte.

    Diese Kirche ist kein Museum. Besucher, die in unangemessener Kleidung angetroffen werden, insbesondere Frauen und Mädchen …

    … also wie sonst. Frauen und Mädchen, meistens nicht so sehr angemessen, eine alte Geschichte, die älteste, auf einer kleinen braunen Tafel aus Holz: Für Besucher.

    Links die Gottesdienstordnung, dreißig Zahlen; hinter den Säulen und in den Nischen etwa die gleiche Zahl Frauen, die beten, andächtig, beinah stumm.

    Gegrüßet seist du Maria, der Herr du bist unter den Weibern und ist die Frucht Jesus der …

    … der was? Die Worte waren schlecht zu verstehen, doch kam freundlicherweise gleich alles noch einmal:

    Der für uns gelitten hat …

    Köhler suchte nach einem Bild des Gekreuzigten. So etwas kann einem ja passieren. Man kommt nicht drum herum. Es liegt an den Wiederholungen.

    Der für uns gelitten hat … der für uns gelitten hat …

    So etwas kann einem ja passieren. Aber er fand kein Kreuz. Viele hübsche große Bilder, ja, aber ein Kreuz, ein kleines, ein ganz kleines, war nur vorn am Altar hinter übermannshohen Gittern, schamhaft vergoldet, diskret.

    Er hätte jetzt gern geraucht, mäßigte jedoch klug sein Verlangen und sah einstweilen zur Decke hinauf. Es war angenehm trocken unter dem hohen alten Dach, vielleicht ein bisschen zu still, aber vorübergehend mochte es zuträglich sein, richtig, dort drüben stand es ja schwarz auf weiß:

    Es wird um Ruhe gebeten,

    daneben die Fastenverordnung, oberhirtliche, links ein Hinweis auf einen Vortrag:

    Ehe unter dem Segen der Kirche,

    und daselbst denn auch, schon ein wenig vergilbt, die Aufforderung zur Aschermittwochsandacht.

    Bitt für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes.

    Ohne Absicht flüsterte er mit den Frauen das Amen und ging leise rechts an das Bücherbrett.

    Vertiefe dein religiöses Wissen!

    war dort die Empfehlung. Man bot Bücher und Büchlein zum Kauf an, und es lachte vom Deckblatt eines der Heftchen ihm heiter ein Jüngling entgegen, ein Jungmann, so heißt das, sonnenäugig, gipfelkreuzsicher, schmiedeeisern im Willen, bienenwachsfleißig und körperfroh keusch; laute und auch lautere Innerlichkeit im Herzen, und von oben herab, einsamer nie*, wenn zur Laute einer nicht singen mag. Religiöses Wissen, das alles – Werbetheologie intramuskulär.

    Köhler lächelte, entnahm einer Kapsel ein Stück Pfefferminz und bemerkte im unteren Fach der Auslage ein im Umschlag munter gehaltenes buntes Bändchen:

    Der Mensch ohne Ich.

    Bei der Anschauung solcher Vertiefung wandte er diskret den Blick noch einmal nach vorn zum Altar, weit, weit, über roten Teppich, über Stufen, durch kunstreich verziert’ und verschlossenes Gitter, noch einmal über Stufen, höher hinauf, bis zu den Lichtern, bis zu dem weißgekleideten, winzigen Mann, dem Priester.

    Dominus vobiscum,

    kam es da plötzlich aus nächster Nähe, nicht unfreundlich, aber zu laut. Köhler erschrak. Jemand hatte ohne sein Wissen, vermutlich auf Grund einer unmissverständlichen geistlichen Weisung, nachträglich, heimlich, das System der verborgenen Lautsprecher hinter den Säulen zum Einsatz gebracht. Oben über ihm saß so ein Kästchen im Rücken eines steinernen Heiligen. Er sah hinauf, um auf den nächsten Anruf besser gefasst zu sein. Er lächelte sogar dem Heiligen zu und wusste doch nicht einmal dessen verdienstliche Todesart: Man hatte ihn auf einem Rost gebraten, langsam, wie Hochwürden am Laurentiustage anlässlich der Predigt mit traurigem Genuss es zu schildern sich angewöhnt hatte. Der erwartete lautstarke Zuspruch blieb jedoch aus.

    Köhler wollte soeben die Kirche wieder verlassen; an den Mänteln der Eintretenden konnte man sehen, dass es mit dem Regen so schlimm nicht mehr sein konnte; da sagte hinter ihm jemand: »Sie wollen schon gehen?«

    Er wandte sich um.

    »Es regnet nicht mehr, Hochwürden«, sagte er und lächelte mild.

    »Gewiss, das ist ein Grund zu lächeln.«

    »Darf man nicht lächeln?«

    »Worüber freuen Sie sich?«

    Klaus Köhler trat einen Schritt zurück.

    Wenn alles gutging, würde auch dieser Mann dort sich mustern lassen wie ein Bild hinter Glas ohne Titel.

    In Köhlers Bewusstsein dehnten sich die Sekunden auf eine höchst unangenehme Weise, und er entdeckte bei sich den Wunsch, im Rücken mindestens eine der Säulen zu haben. Also sagte er leichtfertig: »Es ist spät inzwischen, gestatten Sie …?«

    Er trat auf die Straße.

    Der Bursche hat Charme, erstaunlich. Köhler dachte beim Gehen draußen noch ein Weilchen darüber nach, doch dann, wie um bei dieser Gelegenheit gleich mehrere Gedanken auf einmal loszuwerden, murmelte er zuerst: alter Schlingel; und dann: frecher Gauner; und am Ende nannte er den Hochwürdigen Herrn gar einen blöden Hund, was nun gewiss am allerwenigsten zutraf, aber die zornigen jungen Männer, man kennt das ja von der Bühne, Geduld.

    Klaus Köhler verlor erst die Geduld, als er vor sich an einer Hauswand, tausendkerzig angestrahlt, ein Filmplakat, riesenhaft groß, nicht übersehen konnte: Gorilla greift ein

    – ein beinah nacktes Mädchen unter dem Zugriff haariger Arme. Als hätte man in eine überhitzte prallrote Beule gestochen, so floss es jetzt giftig und übelriechend, wenn dieses herbe Bild erlaubt ist, aus ihm heraus, andersherum, in ihn hinein: Gorilla und nacktes Mädchen, das gefällt, das ist Verschleiß, die Supermänner im Film genügen nicht mehr, Problemmännchen sind nicht gefragt, sagte das Mädchen und nahm den Heizer, denn sie war sich selbst ein Problem, doch darüber spricht man nicht, worüber spricht man, über die Sonne, die Sonne, die Sonne im Urlaub, den Mann in der Sonne, nicht im Mond, das ist Kitsch, über den Mann in der Sonne, den mit der Pfeife auf Segelbooten, in teuren Hotels, über den Mann im weißen Sportcoupé, sonst noch eine Frage, wer weiß, vielleicht sitzen bald Gorillas in den teuren Wagen, die Nachfrage wächst, und auf die Nachfrage kommt es an, Vater wusste Bescheid, die rechte Ware zur rechten Zeit am rechten Platz zum rechten Preis. Söhne sind Ware, die die Väter der Nachwelt anbieten, Angebote, Versöhnungsangebote, wenn Wechsel, die sie auf morgen gezogen haben, heute regresspflichtig werden, Söhne sollen die falsche Währung decken, wenn es sich zeigt, dass die Hypotheken, mit denen die Väter vorzüglich die Zukunft belastet hatten, fällig werden, und was für Söhne bietet man an, die auf den Illustriertenseiten, die vor den Additionsmaschinen, die antisemitischen Lehramtskandidaten in vollem Wichs oder am Ende die Restbestände von Auschwitz* und Plötzensee*, darf es stückweise sein – kein schöner Land*, ihr Lieben, das alles wird kein Geschäft, denn inzwischen sind Gorillas gefragt, sei’s drum, in den Urwald mit euch, die Mutation wird gelingen, sie muss gelingen, denn die Nachfrage wächst ungeheuer, warten wir also, warten auf die Mutationen, warten auf den machtlosen Sprung aus der eigenen Haut, und inzwischen, man lebt, man lebt so ein Stück vor sich hin, das andere strahlen die Wände hoffnungsvoll wider: Gorilla greift ein

    Vater wäre wohl glücklich, der Übermensch kündigt sich an, Vater ist tot, ich wollte, er wär’s.

    Das letzte war ohne Frage ein hässlicher Wunsch, aber Köhler tat ihn ohne Absicht, nicht einmal bewusst, mithin war es verzeihlich.

    Da stieß ihn jemand an, lachte und ging davon, ein Mann und ein Mädchen.

    Auch so einer, woher hat dieser Kerl seine Schultern, und einen Gang, unter dem ist der Boden sicher, und wenn nicht, und wenn’s mal an zu wanken fängt, wenn alles in Scherben fällt*, tut nichts, so einer steht im Nichts noch wie ein Klotz, das ist Gewohnheit, Schwerkraft, Struktur, das ist rassisch erstklassiges Erbgut, würde Vater sagen, heute nennt man das Handelsklasse A.

    Er ließ die Arme hängen, ging ein paar Straßen weit, wartete auf die nächste Tram. Als sich die alten Wagen näherten, ging er als erster auf die Fahrbahn, zu früh, und sah dann, wie die anderen an der Station es ihm nachtaten, wie sie die Straße blockierten. Er hörte links den schrillen Ton von bremsenden Reifen, er hatte sie gezwungen zu bremsen, er, und er genoss seine kleine, unnütze Macht.

    Nachts – mag sein, gleich darauf, mag sein, Wochen und Monate später; für den, dem die Zeit zerstiebt von irgendwo vorn nach irgendwo rückwärts, ist das ohne Bedeutung – irgendwann nachts traf Köhler im Treppenhaus einen Mann. Beide erschraken sie. Dass Köhler erschrak, war nicht weiter verwunderlich, denn wie es aussah, hatte der Mann schon in der Dunkelheit zwischen den Flurwänden gestanden, bevor noch das Licht aufflammte und die Schaltuhr leise zu ticken anfing. Warum aber erschrak der Mann? Ohne Gruß, die Augen hinter einer schweren grünen Brille verborgen, schob sich die große, hängende Gestalt hinter die Tür im Erdgeschoss, links, und ohne sichtlichen Anlass verriegelte dieser Mann dann von drinnen dreifach die Tür. In der Luft blieb ein Hauch Parfüm.

    Köhler stieg die Treppen hinauf in sein Zimmer, und, als ekelten ihn plötzlich die schönen, verschlossenen Türen rechts und links, stieß er die Erinnerung an den Anblick dieses Mannes weit von sich. Er trat an ein offenes Flurfenster, sah hinunter in den Hof und warf etwas hinab wie einen Schlüssel in einen Brunnen. Das Treppenlicht erlosch, er ging die letzten Stufen im Dunkeln, er sah keine Tür mehr.

    Das Haus in der Kronprinzenstraße 7 war ein Haus so gut wie andere: Vom Hausherrn weiß man den Namen und die Bankanschrift; sonst nichts.

    Als er oben die Tür hinter sich zuzog, kam seine Wirtin ihm zaghaft entgegen, und also blieben sie beide noch in der Küche ein Weilchen sitzen. Erst viel später – nicht ohne zuvor bei einem Honigbrot der Frau mehr gezwungen als aus eigenem Wunsch von seinen nächtlichen Wegen erzählt zu haben; die alte Frau liebte es auf eine höchst hartnäckige Weise, teilzunehmen an den Wegen der Jugend, denn sie war allein, ihren Sohn hatte man ihr gelegentlich fortgenommen und ihn an unbekanntem Ort zerschossen – viel später also, nachdem er der Wirtin ein paar freundliche Dinge erzählt hatte, die in solch einem Fall zu erfinden er keine Mühe scheute – später, nachts, träumte er von Männern mit Sonnenbrillen in glänzenden Limousinen, die ohne Licht durch enge Gassen einen Weg suchen.

    Im Übrigen aber wacht man selbst nach langen Träumen gelegentlich auf, und wenn alles gutgeht, freut man sich, dass die Sonne scheint.

    Klaus Köhler wälzte sich auf den Rücken, sah gegen die Decke und fand die Sonnenbewegung im Stuck peinlich direkt und lähmend mit ihrer blöden Munterkeit.

    Das war keine freundliche Art, die so viel besungene Morgensonne zu begrüßen, aber freundlich zu sein ohne Freund, mit so einem Traum unterm Kissen – ein monströser Akt, wo er gelingt.

    Dazu das Zimmer.

    Köhler brauchte, um sich daran zu erinnern, den spielenden Sonnenfleck an der Decke nicht erst aufzugeben: ein großer Raum, überlebensgroß und kaum möbliert. Früher mochte das anders gewesen sein, früher war das ein Raum, dessen Ausstattung – Plüsch, Spiegel, rechts das Gründerantlitz in Öl und über dem Schränkchen mit zierlichem Porzellan vielleicht das akademische Zaumzeug mit buntem Band – einen potentiellen Schwiegervater, sofern er den Künftigen hier zu empfangen geruhte, ermächtigen mochte, nach Einkommensstufe und nach Sicherheit aus gelagerten Aktien sich diskret zu erkundigen, bevor er, bedingungsweise, seinen Segen in Aussicht zu stellen gütig bereit war. Inzwischen hatte die Zeit, die ja bekanntermaßen immer dann herhalten muss, wenn sich die Schuldigen trösten wollen, diesen Raum gründlich entlastet, er war leer. Aber in der Leere zwischen den Wänden lebt es sich nicht so leicht, leichter, als man es wünscht, zu leicht, um noch der Schwerkraft, um noch dem Boden zu trauen, dass der einem den Halt und den Grund verbürgt, den zu suchen doch fast jeder unausweichlich gezwungen ist. Man schwebt nur so irgendwo zwischen den Wänden, und im Bett liegen zu bleiben, auch über die angemessene Zeit, wird zu einer Frage der Sicherheit.

    Klaus Köhler blieb denn auch in dem fast leeren Raum noch ein Weilchen liegen; der Lehnstuhl, der große schadhafte Tisch mit den gehäuften Zeitungen, das Buchbrett unter dem Fenster über dem längst nicht mehr so sorgsam gepflegten Parkett, all das behielt auch so seinen Platz.

    Das Buchbrett, gut, aber was sollte man davon denken? Neben den Lehrbüchern der Physik, die noch kein Hinweis sind, es sei denn, man nimmt sie für ein Zeichen aufmerksamen Eifers, neben den Lehrbüchern zwei Bände Lenin, die Bibel, Das Bonner Grundgesetz (DM 1,10 bei Reclam), Mein Kampf in Dünndruck und der Mythus in Volksausgabe (47.–48. Auflage, 1935); dazu drei Bände Logik, antiquarisch, sehr billig, wie das heute so geht, und am Ende mindestens fünfzig Comicstrips und ein einsamer Band Zur Phänomenologie des Verrates, und kein Goethe, kein Schiller, kein Walter Flex, geschweige denn ein Tornister.

    Wer das so nebeneinander sah, dem waren plötzlich Friede und Stille nicht mehr geheuer, und der Blick die Wände entlang, sonst gern Aufhängevorrichtung einer zeitnahen Weltauffassung, versprach kaum Tröstung. Die Wände waren weiß, sofern das Weiß nicht von den Staubschatten längst versteigerter Gemälde entstellt war, und nur in einem Winkel im Dämmerlicht nahe der Tür waren Bilder so unübersichtlich gedrängt beieinander, dass man gezwungen war, näher zu treten, um dann mit Mühe und womöglich mit Fassung zu unterscheiden. Einem männlichen Beschauer mochte zuerst das entzückend große Aktfoto imponieren, nur wandte die Dame leider den Blick vom Beschauer fort. – Das Nachbarbild, darüberstehend, zeigte den schönen Kopf des einzigen deutschen Bundeskanzlers, und der alte Herr hatte es der kindlichen Laune von Köhler zu verdanken, dass ihm zu Häupten ein braunes Spruchband prangte: Solange du da bist, wohl der Rest einer Filmrevue. Als drittes war dann da noch die kreißende Negerin vor einem Mikrofon im Abendkleid auf Glanzfolienkaschierung – das Deckblatt einer Schallplattenhülle. Das war die eine Seite des Winkels, die rechte. Die linke war ernster gehalten, das fiel sogleich auf, denn dort trug eine Indianerfrau ihr freundliches Kind in einem Rückentuch, über ihr baumelte, von einer Zwecke lose gehalten, ein billiges Rosenkranzkruzifix an einem roten Gummiband, und gleich daneben, größer als die übrigen Bilder, sah man ein engumschlungenes, munteres Pärchen auf einem braunen Pferd leicht über Haus und Hof hinfliegen; rechts auf dem Bild, im Himmel, der Mond prall und mild wie eine Weißwurst, drunter ein Lattenzaun, ein Schweinchen, wie Kinder es malen, und eine Petroleumlampe auf einem Tisch. Das Pferd mit den beiden sprang über das alles hinweg mit zärtlichem Blick, scheu, aber mutig.

    Gut, wo alles so drunter und drüber geht, geht am Ende auch das noch, nur ob es gut ausgehen würde, daran zweifelte von Tag zu Tag mehr auch die greise Wirtin, die Köhler von seinem Bett aus soeben den Flur hinunterschlurfen hörte, wohl im Zuge einer leiblichen Verrichtung. Er kannte die Gedanken der alten Frau. Die Schritte genügten, um ihm diese Gedanken ins Hirn zu jagen. Er drehte sich gegen die Wand, wollte weiterschlafen, fürchtete aber den Traum und stellte sich, für ein paar Augenblicke unschlüssiger noch als sonst, in den leeren Raum. Kein erfrischender Anblick für den, der ihn sah. Die Schultern hingen ihm breit in der Sonne, der Blick suchte den Punkt, den er an der Decke eben erst aufgegeben hatte, freundliche, stumme Augen, aber noch ungeschützt, denn die Brille fehlte. Erst als sie ihren Platz hatte, ging der Blick in den Bilderwinkel, und das Lächeln stieg aus dem Mund über Augen und Stirn und leuchtete wie ein künstliches weißes Licht.

    Mit der Brille hatte es seine besondere Bewandtnis. Sobald er sie aufsetzte, stellte sich das angenehm bergende Gefühl der Distanz ein, das er einerseits unter gar keinen Umständen missen wollte, so als bestünde Gefahr, die Welt fiele über ihn her, das er andererseits jedoch derartig fürchtete, dass er schon hin und wieder einen kaum noch zu hindernden Zwang verspürt hatte, im Gespräch, vor diesem oder jenem, die Brille abzunehmen. Gottlob, bisher war es in Ernstfällen nicht dazu gekommen. Er kannte sich gut genug, um zu wissen, dass er einen offenen Anblick schlecht aushielt, dass er Gefahr lief, sich zu entsetzen, denn was er bei offenem Anblick sah, das schien ihm von einer so großen Bedürftigkeit zu sein, dass das Lächeln ausblieb, ohne dass sonst Trost sich eingestellt hätte. Hinter der Brille jedoch, wie gut, hinter der Brille war die Welt hinter Glas, und hinter Glas ist der Anspruch auf klare, dauerhafte Verständigung nicht mehr als ein interessantes Phänomen, wohlpräpariert, museumsreif, tot.

    Doch zur Sache, es begann ja ein neuer Tag, die übliche Maskerade, und was da aus dem Bett kommt, gelb, mit Zahnbelag, Träume unter der Haut und drüber das Nachthemd, das alles verkleidet sich rasch, färbt sich, vergisst sich, und am Ende bei einer Tasse Kaffee sitzt da ein junger Mann, sauber und breit, der das Haar trägt, wie es die Zeit will: kurz, dass alles sich sträubt.

    Es hatte Tage gegeben, da war es für Köhler wichtig gewesen, den Unterschied, der ihn von anderen trennte, zu betonen, etwa durch eine Eigenwilligkeit in der Kleidung oder durch Unordnung ganz allgemein, sei es in den Gedanken, sei es im äußeren Anzug. Doch hatte es sich später gezeigt, dass all diese trauten Verstöße, die schwarze Brille, der Bart, das enge Hosenbein, dass alle noch so geschickt versuchte Originalität immer schon längst genormt ist, ja, dass besonders die Leistung außergewöhnlicher Schlamperei das Erkennungssignal einer unüberschaubaren Gruppe von Leuten ist, deren Eigenart schließlich nur noch darin besteht, dass man Angst hat, normal und endlich auch älter zu werden als zwanzig. Die große Norm überflutet Weg und Steg, wie peinlich das ist, überspült jeden Schleichweg, auch noch den kleinsten, und so fand denn auch Klaus Köhler des Morgens das Ei bei üblicher Temperatur und innen, wie man es wünscht, wachsweich.

    Um nichts weniger verbindlich zeigte sich ihm später auf dem Weg zum Institut die Welt: der Mann im Kiosk, das Morgenlicht über den Brücken am Fluss, die Fotokoffer an blassen Hälsen trauriger Amerikaner, auf immergrünen Bänken im Park die Pärchen, noch oder schon wieder, dritte Generation – und die Sonne, über allem die Sonne, dort drüben über dem Kinderkörbchen vielleicht gerade gut genug, einem Baby die gefürchtete Möglichkeit einer Rachitis rasch zu vertreiben, denn niemand schätzt krumme Beine.

    Krumme Beine.

    Nur ein Gedanke, wenn alles gutgeht, andernfalls Bilder aus Träumen. Klaus Köhler kam diesmal nicht so einfach davon. Krumme Nase – krumme Beine – krumme Seele: Juda verrecke!* Wie das auftaucht, steht es da und lebt.

    Er hatte an der Hand seines Vaters das gelbe Plakat mit der schwarzen Gestalt lange betrachtet, und sein Vater hatte mit großem Ernst von Gefahr gesprochen, von Weltgefahr, von Weltgefahr Nr. 1 – seltsam, man hatte Gefahren nummeriert. Der Junge hatte geschwiegen und es behalten. Vater war mächtig, ein gläubiger Mann. Aber nicht mächtig genug zu schützen, wo wirklich Gefahr war, wo einen Schreck durchstach, weil man doch sah, was war!

    Auf dem Schiff:

    Man war unterwegs gewesen, aus grauer Städte Mauern, Schneefelder blinken, Lande versinken, doch es geht auch ohne Sonne, und lachen am Tod vorbei*. Man nannte das damals Freude und meinte Kraft. Ein paar Eingeweihte nannten es Steigerung der Nutzleistung, und wozu es nützen sollte, wussten auch nur die wenigen. Doch die waren nicht auf dem Schiff, der Vater war auf dem Schiff und der Junge, auf den er stolz sein wollte, wie er sollte. Möwen, Meer, oben die Sonne, am (weißen) Schornstein das Sonnenrad (rot), und im Schornstein (schwarzer) Rauch. Der Junge stand mit anderen Kindern backbord in Luv, und der Wind trieb feingesprüht Salzwasser in die kleinen blanken Gesichter.

    Plötzlich schreit einer, schreit dafür, dass es ein Kind ist, mit ungeheuerlich geilem Vergnügen: »Da! Da! Da ist einer abgesoffen!«

    Ein gestrandetes Kohlenschiff auf einer Sandbank; ein roter rostiger Schornstein und ein Mast, niedrig über dem Wasser.

    Lachen, Rufen, Juchhei über so viel anschauliche Vernichtung. Alles freut sich und drängt, ein Junge schreit. Er hatte bisher noch nie Angst, darum schreit er jetzt, rennt über das leere Deck, findet seinen Vater und will sich bei dem in der Jacke verkriechen, mit sieben wagt man das noch. Aber der Vater nimmt den Kopf des Jungen: »Sieh mich an!«

    Der Junge hat Angst, aber den Vater kann man ja ansehen.

    »Du hast Angst, Bengel? Ich werde dir!«

    Das Rückgrat brechen? Das war nicht die Absicht gewesen, aber so etwas kommt vor.

    Der Vater hatte den schreienden Jungen an die Reling getragen.

    »Sieh dir das an, die andern lachen, lach auch!«

    »Augen auf, hörst du?!«

    »Und ich sage dir, mach die Augen auf, Junge, oder…!«

    Der Junge hatte das geborstene Schiff gesehen, ohne zu zittern, und der Vater hatte den Jungen noch höher gehoben, ohne zu zittern, den Jungen so hart wie Kruppstahl*.

    Über dem Park lag der samtene Glanz, den es nur im Vorfrühling manchmal gibt, zartblau, silbern, duftig wie Schimmel. Bald, zwei Monate noch, kaum mehr, dann war schon Mai. Am Anfang der Feiertag, den keiner begreift, und in der Mitte der Maibaum, den erst recht nicht.

    Man sagt das so leicht.

    Aber der Junge hatte dem Vater versprochen, nach oben zu klettern und ein Taschenmesser zu greifen. Das war eine Sitte damals: Oben am Kranz des Maibaumes hingen begehrenswerte Kleinigkeiten, unten standen die Jungen in Uniform, der Maibaum selbst war glatt wie ein Schiffsmast.

    Aber der Junge hatte dem Vater versprochen, nach oben zu klettern, diesmal bestimmt, und was man dem Vater verspricht, das verspricht man im Grunde sich selbst.

    Der Junge, der das versprochen hatte, blieb dann ein Stückchen über dem Pfeifen, dem Ansporn, dem johlenden Spott derer, die unten standen, an der glatten Stange zwei Meter hoch hängen, rutschte zurück, rutschte in den lachenden Zuschauerhaufen zurück, und das Messer hing hoch hoch droben unter

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