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Der anonyme Brief: Ein Roman um Karl Liebknecht
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eBook480 Seiten6 Stunden

Der anonyme Brief: Ein Roman um Karl Liebknecht

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Über dieses E-Book

In diesem Roman hat E.R. Greulich das ereignisreiche Jahr 1913 im Leben Karl Liebknechts gestaltet. Durch sorgfältige Studien brachte der Autor auch wenig Bekanntes ans Licht und zeichnete einprägsame Charakterbilder.

Als er von Budapest zurückkehrt, findet er unter der eingegangenen Post einen umfangreichen Brief. Der Absender ist unleserlich, und das stimmt skeptisch. Anonyme Briefe bedeuten meist Klatsch und Tratsch. Aber dann liest er den Inhalt mit wachsender Erregung. Er ruft seine Frau: Schau dir das an, Sophie. Hier wird Krupp Spionage vorgeworfen, Bestechung von Beamten der Militärverwaltung. Wenn das stimmt, es wäre Dynamit inter den Sesseln einiger Herren!
Sophie warnt: Vorsicht, Karl! Womöglich will der Gegner dich in eine Falle locken. Du mußt sorgfältig prüfen, ob das Material echt ist.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum19. Sept. 2014
ISBN9783847613282
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    Buchvorschau

    Der anonyme Brief - E.R. Greulich

    Zitat

    Nur das Leben ist unmöglich, das alles laufen lassen wollte, wie es läuft. Nur das ist möglich, das sich selbst zu opfern bereit ist, zu opfern für die Allgemeinheit.

    Karl Liebknecht an seinen ältesten Sohn Helmut

    1 Licht im Novembernebel

    Der gut mittelgroße Mann ließ die Geräusche der Bahnhofshalle hinter sich, am Portal verharrte er, schaute suchend hinunter zum Droschkenhalteplatz. Sein Gesicht mit der hohen Stirn und den dunklen Augen wurde von einem breitrandigen Hut überschattet. Obwohl müde von der Reise, waren seine Bewegungen bestimmt, und das durchgeistigte, ein wenig asketenhafte Gesicht vergaß kaum jemand, der es einmal gesehen hatte.

    Berlin empfing ihn am Abend des 19. November 1912 mit Nebel. Die Lichter der Gaslaternen warfen matte Reflexe auf das feuchte Pflaster.

    Paule - Paul, der Dokter kommt!

    Karl Liebknecht hörte den Ruf, lächelte und stieg die Stufen hinunter. Der Droschkenkutscher kam ihm entgegen und nahm den Koffer. Freundlich, ein wenig abwesend, erwiderte Liebknecht das Willkommen, lauschte dem wohlvertrauten Dialekt des älteren Berliners. Paul Dillack gehörte zu den wenigen Droschkenkutschern, die in den Reihen der Partei standen.

    Dillack wand die Zügelleine von der Bremse und ermunterte den Wallach mit einem Schnalzlaut. Nu los, Aujust, aber 'n bißken dalli, der Dokter wird müde und janz schön hungrich sein.

    Während sie im eintönigen Rhythmus der Hufschläge dahinzockelten, plauderte Dillack, gab sich, die Abgespanntheit des Fahrgastes begreifend, selbst die Antworten. Wieder 'ne feine Rede jewesen, Dokter. Ick hab die Auszüje heute im Vorwärts jelesen. - ... und die Krüppel werden verjeblich um Brot und Arbeit rufen, sie werden einen Leierkasten bekommen ... Also wenn Worte töten könnten, die Kriegsmacher wärn längst erledigt. Bloß, det Jesindel hört ja nich. Sowat lässt nich vom profitablen Jeschäft, wenn wir nich dazwischenfahren. Aber et is schon jut, wenn erst mal alle Kleenen hinhörn.

    Dialekt oder Großstadtjargon? Kann eine Großstadt Heimat sein? Liebknechts Gedankenfluss verharrte. Ist sie dort, wo man geboren wird? Als Vater die Chefredaktion des Vorwärts übernommen hatte, sind wir endlich sesshaft geworden. Nun waren wir nicht mehr gejagt und vertrieben, nun wurde Berlin im Herbst 1890 unsere zweite, wirkliche Heimat.

    Ich hoffe ja ooch, meditierte Dillack auf dem Kutschbock, die Kommißköppe werden sich überlejen, ob sie aus dem Balkankrieg 'nen Europakrieg machen. Det hättense sich nich träumen lassen, wie die Arbeeter überall mobil werden. Also hier in Berlin, Dokter, et war 'ne Wucht. So nervös hab ick die Blauen selten jesehn. Der Saal hätte zehnmal so groß sein können. Der Jaures hat keen Blatt vor den Mund jenommen. So 'n richtijer Feuerkopp. Kann man sich kaum vorstellen, det der Professer is. Und det Dollste, sie wollten ihm den Mund verbieten. In einer deutschen Veranstaltung dürfe nich französisch jesprochen werden. Wat macht er? Spricht einfach deutsch. Den Jubel könnse sich nich vorstelln. Am liebsten hätten wir ihn zum Schluss uff Händen aus dem Saal jetragen. Ein Glück, dass et überall so feine Kerle jibt.

    Liebknecht war dankbar für den Bericht aus erster Hand über den Verlauf der Kundgebung in Berlin. Die feinen Kerle werden immer mehr in der Welt, Genosse Dillack.

    Det is wahr. Mit neuerlichem Schnalzlaut schreckte Dillack den Wallach aus seinem schläfrigen Trott.

    Liebknecht fröstelte, er drückte sich in die Ecke des Sitzes und verfiel wieder in Nachsinnen. Der Wasserkopf Berlin - welch simple Metapher für die Riesenstadt, lediglich auf die hundert Ämter gemünzt, mit dem aufgeblähten Beamtenapparat, dem kostspieligen Hofstaat dessen von Gottes Gnaden, die Kommandozentrale von Preußen-Deutschland. Preußen hat sich groß gehungert. Fürchterliche Wahrheit - für die Kleinen. Und die Herrschenden haben dazu das Ihre geleistet. Intrigen, Rankünen, falsches Spiel mit Freund und Feind - diese Tradition geht zurück bis vor den sogenannten Großen Friedrich, der sie zur Virtuosität entwickelte. Der Eiserne Kanzler polierte diese Tradition glänzend auf. Der wusste zu jonglieren mit verstümmelten Telegrammen, drohenden Demarchen, mit lancierten Nachrichten, lauten Halbwahrheiten und leiser Korrumpierung, mit roher Kriegsgewalt nach außen, brutaler Unterdrückung nach innen. Noch heute, im Jahre zwölf, spürt man allenthalben die Spuren dieser Politik. Liebknecht schüttelte sich, unangenehme Jahreszeit. Trotzdem wird kommenden Sonntag gewandert. Und sei es wenigstens bis zum Botanischen nach Dahlem. Ich muss mir den Tag freihalten - zumindest den Vormittag. Die Kinder dürfen keine blässlichen Stubenhocker werden. Gehören unsere Familienausflüge mit Vaters Hinweisen und Erklärungen über Flora und Fauna nicht zu meinen schönsten Erinnerungen?

    Wenn man so überlegt, setzte Dillack sein Selbstgespräch fort, wie mühsam et is, wenichstens den Jeneppten det Stillehalten abzujewöhnen. Ick verjesse nich, wie schon Ihr Vater jejen die Flottenvorlage im Reichstag losjelegt hat. Et muss so um die Jahrhundertwende jewesen sin, aber einijes von dem, wat einem so richtich zu Herzen jeht, behält man manchmal uffs Wort. Wir wissen wohl, hat er denen jejeigt, welche Ziele die Flottenvorlage hat: die Stärkung des Militarismus und des Kapitalismus. Mehrmals hat ihm der Reichstagspräsident dazwischenjebimmelt. Und wir haben uns eens jejeckt, als unser Willem daruff im Vorwärts schrieb: Im Deutschen Reichstag kann man die Wahrheit nicht sagen, ohne zur Ordnung gerufen zu werden.

    Liebknecht fröstelte es nicht mehr. Selbstverständlich war ihm die Episode bekannt. Des Vaters letzte Reichstagsrede, kurz vor seinem Tode. Längst hatte das unselige Flottenprogramm Gestalt angenommen, und Seiner Majestät Kriegsschiffe bedrohten den Frieden der Welt. Um so energischer müssen wir gegen die weitere Rüstung angehen. Gewiss, meine Rede in Budapest gegen den Balkankrieg diente auch dieser Aufgabe, aber das ist alles zu wenig.

    Seine Gedanken schweiften wieder zurück in die Vergangenheit. Die unbekümmertsten Berliner Jahre waren die des Studiums an der Universität. In den folgenden Jahren, als Referendar in Arnsberg und Paderborn, wäre ich ohne emsiges Büffeln im Kleinstadtmief erstickt. Dort empfand ich Berlin zum ersten Mal als Heimat. Das Jahr neunzehnhundert trug ein Janusgesicht. Glücklicher Maitag: die Heirat mit Julia, von allen Liebknechtsöhnen umschwärmte und verehrte Tochter der Freundesfamilie Paradies. Etwas später mein Eintritt in den Sozialdemokratischen Wahlverein für den ersten Berliner Reichstagswahlkreis. Am siebenten August das Unfassbare, das, womit jeder Mensch rechnen muss und es doch nicht wahrhaben will. Der Vater ging von uns nach vierundsiebzig Jahren tatenreichen Lebens voller Niederlagen und Siege, voller Not, Entbehrungen, Erfolge; in jungen Jahren umhergetrieben in halb Europa, später bekannt in der ganzen Welt, Freund von Marx und Engels, Parteigründer mit Bebel. Die Hauptstadt erlebte noch kein solches Begräbnis. Wie hatte es doch Bebel kommentiert? Wilhelm Liebknecht wurde, wie nie zuvor ein Mensch in Deutschland, weder Fürst, Staatsmann noch Bürger, zur letzten Ruhe geleitet. Vierhunderttausend Berliner Arbeiter demonstrierten ihre Trauer. Auch das ist Berlin: die Zentrale der deutschen Arbeiterbewegung, jener organisierten Kraft, die man nicht zu unrecht als die führende in der sozialistischen Weltbewegung bezeichnet.

    Kaum einer hat es besser ausgedrückt als Engels bei seinem Besuch Berlins im September 93, der sein letzter sein sollte: Heute könnten Hof, Adel, Garnison und Beamte sich einen andern Wohnort suchen, und Berlin bliebe doch Berlin. Die Berliner Sozialdemokratie ist aufmarschiert mit fast 160.000 Stimmen. In dieser Beziehung steht Berlin an der Spitze aller europäischen Großstädte und hat selbst Paris weit überflügelt.

    Die Tätigkeit als Stadtverordneter ab neunzehnhundertzwei hat mich trotz manchen Ärgers noch fester mit der Stadt verbunden. Die Eröffnung der Anwaltspraxis, gemeinsam mit Bruder Theodor, verschaffte mir eine gewisse Unabhängigkeit. Denn nie möchte ich von der Idee leben, sondern immer nur für sie. Auch Bebel hat fast ein Leben lang die Drechslerwerkstatt aufrechterhalten. Unter dem Sozialistengesetz ein harmloses Aushängeschild für illegale Reisen und Agitation. Aber auch notwendiger Rückhalt bei der Einhaltung unabdingbarer Prinzipien. Außerdem, wo könnte ich die besser vertreten als in der Verteidigung von Arbeitern vor dem Klassengericht?

    In der Partei hat man es mir nie leicht gemacht. Im schwierigsten Territorium, dem sogenannten Kaiserwahlkreis Potsdam-Spandau-Osthavelland, sollte mein Reichstagssitz gewonnen werden. Fast hätten wir es im Juni neunzehnhundertdrei geschafft. Zweihundertdreizehn Stimmen mehr, und der konservative Gegenkandidat Pauli wäre in der Stichwahl geschlagen worden. Neunzehnhundertsieben schlug mich Pauli abermals. Aber wer verlorene Gefechte nicht ertragen kann, wird die Klassenschlacht nicht gewinnen. Es waren Pyrrhussiege der Konservativen. Im Januar dieses Jahres zahlte sich unsere Beharrlichkeit aus. Fast viertausend Stimmen mehr für mich als für den Reaktionär Voßberg.

    Wie ist das, sinnierte Liebknecht, hemmen Schicksalsschläge den politischen Elan? Es kommt wohl auf den Charakter an. Für mich war es das Beste, dass mir die drängenden Anforderungen wenig Zeit ließen, mich in meinen Schmerz zu verlieren. Ich konnte die Todesnachricht aus Bad Ems, wo Julia zur Kur weilte, zuerst nicht fassen. Hätte nicht gerade sie mit ihrer Aufopferungsbereitschaft, mit ihrer Güte und den vielen Herzensgaben ein langes Leben verdient gehabt? Ich mag nicht daran denken, wie noch heute alles aussehen würde, gäbe es nicht Sophie. Die Heirat mit ihr, fünf Vierteljahre nach dem Tode Julias, war nicht nur diktiert von der Notwendigkeit, den Kindern wieder eine Mutter zu geben. Ohne Sophie wäre die Welt trüber. Sie entschied sich ohne Wenn und Aber, ich werde es ihr nie vergessen.

    Bald darauf hielt die Droschke. Liebknecht brachte einige Stücke Zucker zutage, die er auswickelte. Ließ er sie in einem Restaurant in seiner Tasche verschwinden, entschuldigte er sich vor den fragenden Blicken der Bekannten: Zucker fürs Pferd. Er ging zu dem Braunen, hielt ihm auf der flachen Hand die weißen Würfel hin. Behutsam wurden sie von den weichen Lippen aufgenommen, Aujust schnaubte dankbar.

    Dillack hob den Koffer aus dem Fond. Wat meinse, Dokter, wie der jetzt lospeest, wenn et heißt nach Hause.

    Nicht viel anders als ich, Genosse Dillack. Liebknecht ging schnellfüßig voraus. Die Müdigkeit war von der Freude aufs Heimkommen weggeblasen. Im zweiten Stockwerk hob er den Klingelgriff unter dem Türschild. Als er die Tür aufgehen sah und in das vertraute Gesicht blickte, überkam ihn wieder der Gedanke: Gäbe es sie nicht, wäre alles viel schwerer. Er hielt Sophies Gesicht in beiden Händen und küsste sie auf die Stirn.

    Sie versuchte vorwurfsvoll zu tun: Kein Brief - vor zwei Tagen nur ein Telegramm.

    Dillack hatte den Koffer auf der Diele abgesetzt und räusperte sich. So, det wärt denn woll.

    Liebknecht fand aus seiner Versunkenheit und fragte nach dem Fahrpreis. Dillack verabschiedete sich schmunzelnd: Schön juten Ahmd, Frau Dokter, und sanften Schlummer in Morfeus' Armen, Dokter!

    Leise schloss Liebknecht die Tür hinter Dillack. Ein fragender Blick zu Sophie. Die Kinder?

    Sie machte eine beschwichtigende Gebärde, flüsterte, sie habe gesagt, Papa werde wohl erst morgen kommen. Behutsam öffnete er die Tür des Kinderzimmers. Der Schein des Dielenlichts fiel auf das Bett Veras, der Jüngsten nach den beiden Söhnen Helmut und Robert. Aufatmend fragte er sich, gibt es einen friedlicheren Anblick als ein vom Schlaf gerötetes Kindergesicht?

    Während ihm Sophie beim Ablegen des Paletots und des Jacketts half, versuchte sie ihn mit Fragen nach seinen Budapester Erlebnissen abzulenken. Sie hatte den Blick durch die geöffnete Tür des Arbeitszimmers zum Schreibtisch gesehen. Wie immer nach Tagen der Abwesenheit türmten sich dort Berge von Post. Er antwortete zerstreut. Briefe, Zeitschriften, Kreuzbandpäckchen, alles sichtbare Zeichen der Kommunikation mit der Umwelt, übten magische Gewalt auf ihn aus.

    Ob sie Badewasser einlassen solle, fragte Sophie. Später, bat er, wusch sich schnell die Hände und saß dann vor dem Schreibtisch, begann die Post zu sortieren.

    An der Tür wiegte Sophie nachsichtig den Kopf, spöttelte, ihres Wissens habe am ersten Oktober dieses Jahres die Heirat stattgefunden zwischen einem Doktor jur. Liebknecht und einer gewissen Doktor phil. Sophie Ryss aus Rostow am Don. Sie sei gespannt, ob die beiden wohl jemals Flitterwochen machen würden.

    Schuldbewusst schaute er auf. Jede Minute des Zusammenseins mit ihr seien ihm Flitterwochen, erwiderte er, stand schnell auf und küsste sie. Gedankenvoll betrachtete sie ihn. Ein vorsichtiges Mädchen sollte keinen Revolutionär heiraten.

    Er drückte sein Gesicht in ihr volles dunkles Haar. Es sei denn, das vorsichtige Mädchen ist eine liebende Frau mit der gleichen Weltanschauung.

    Als sie das Tablett mit einem Imbiss und Tee brachte, wies er auf einige Bücher und Broschüren, die ihm der Information wegen zugesandt wurden. Zornig sagte er: Die Hyänen wittern Aas und fette Beute. Sieh dir das an. Mit gespreizten Fingern nahm er die Bände auf und legte sie nacheinander auf den Schreibtisch: Die Friedensbewegung und ihre Gefahren für das deutsche Volk - Deutschland und der nächste Krieg - Deutschland erwache!

    Einen Augenblick saß Liebknecht reglos, von düsteren Visionen bedrängt: Der Balkankrieg hat den Blut-und-Eisen-Profiteuren Appetit gemacht auf größere Geschäfte. Ein Vampir, saugt das Rüstungskapital am Lebensmark des Volkes, wandelt dessen Arbeit um in Dividenden und Macht.

    Liebknecht dachte an Budapest und wurde wieder zuversichtlicher, Er sah die Riesenhalle mit den Tausenden Menschen vor sich, deren Gesichter in Begeisterung für den Frieden flammten, dachte an den Sommer vergangenen Jahres, an dessen Marokko-Hundstage. Hatte Wilhelm der Größenwahnsinnige mit seinem Panthersprung nach Agadir die Dinge nicht bis an den Rand des Krieges getrieben? Doch überall in Europa sprang Protest auf. Die Berliner Kundgebung der 200.000 im Treptower Park, Gegen die Kriegshetze, war der Auftakt für ähnliche Veranstaltungen in ganz Deutschland.

    Während dieser Rückerinnerungen schlitzte Liebknecht geschäftig Briefe auf, sein Blick überflog deren Inhalt. Zuweilen nickte er dabei, manchmal furchte er die Stirn. So wunderlich manche Menschen, so wunderlich ihre Briefe. Ein Abgeordneter scheint für sie der Zauberer mit dem Stein der Weisen zu sein, der alles zu regeln vermag.

    Wieder gingen Liebknechts Gedanken zurück. Bereits am 6. Juli hatte das Internationale Sozialistische Büro eine Beratung gegen die Marokkopolitik der Imperialisten beschlossen. Zwar schrieb der Genosse Molkenbuhr vom Parteivorstand an das ISB, aus Rücksicht auf die bevorstehenden Reichstagswahlen von internationalen Massenaktionen absehen zu wollen, doch auf der Jahrestagung des Büros in Zürich, Ende September, wurden die Beschlüsse von Stuttgart bestätigt, bekamen die Leisetreter eine Abfuhr. Wie hatte Bebel in seiner großen Reichstagsrede am 9. November die Säbelrassler gewarnt? Sie treiben die Dinge auf die Spitze, sie führen es zu einer Katastrophe. Neben manchem anderen ist die Mobilisierung des arbeitenden Europa nicht der letzte Grund gewesen, dass sich die Wölfe ohne Krieg einigten.

    Plötzlich stutzte Liebknecht. Verwundert betrachtete er ein gewichtiges Kuvert mit unleserlichem Absender in seiner Hand. Sophie schaute wieder herein und mahnte besorgt, er solle endlich essen. Gehorsam legte er das Kuvert hin, dann ließ er es sich schmecken. Er versuchte Sophie aufzuheitern, berichtete von Budapest, von der rührenden Sorge der ungarischen Genossen um ihn. Selbstironisch schwärmte er vom Szegediner Gulasch, von den süffigen Weinen, nicht zu vergessen die herrlich schlanken, aromatischen Virginias.

    Sophies Blick hing an seinem Munde. Er ist nicht nur ein faszinierender Rhetoriker, dachte sie, er kann auch ein amüsanter Plauderer sein. Durch ihn sehe ich alles, als hätte ich es selbst erlebt. Mit welchem Blick für Nuancen er Land und Leute charakterisiert. Jede biedere, bürgerliche Ehefrau würde sagen, schade um den Mann, dass er ausgerechnet in die Politik gegangen ist. Er wäre sicher ein bekannter Schriftsteller geworden. Oder Komponist, Dirigent, Pianist, bei seiner Liebe zur Musik. Aber all diese Begabungen sind nur wie selbstverständliches Beiwerk zu dem, was sich am schwierigsten beschreiben lässt. Ist es sein Mut, sein scharfer Verstand, seine Liebe für die Mitmenschen und alle Kreatur? Man könnte weiter aufzählen, weiter fragen, es mündet doch alles in dem einen: Man muss ihn lieb haben. Was sind dagegen schon seine kleinen Schwächen? Die zuweilen professorale Zerstreutheit, die generöse Vernachlässigung von Alltagsdingen gegenüber seinen großen Aufgaben. Die genialische ordentliche Unordnung des Arbeitszimmers, seine Nervosität, wenn dort Saubermachen droht. Karls Zeitungsmanie, die Angst, in irgendeiner Zeitung könnte irgendetwas stehen, was er nicht zu wissen bekam. Wie jetzt wieder seine verstohlenen Blicke zu dem dicken Kuvert, als könnte es um einige Minuten zu spät geöffnet werden.

    Liebknecht fuhr sich mit der Serviette über Mund und Hände, eilig schob er das Tablett beiseite. Sophie respektierte seine innere Unruhe und ließ ihn allein.

    Hastig öffnete er den Umschlag. Je länger er las, desto erregter wurde er. Entschlossen räumte er die übrige Post auf leere Stühle, breitete den Inhalt des Kuverts auf dem Schreibtisch aus und rief Sophie.

    Nachdem sie eine Weile schweigend gelesen hatte, sagte sie nachdenklich: Interessantes Pendant zu jenen alldeutschen Schwarten dort - falls es hieb- und stichfest ist.

    Es könnte ein Bluff sein?

    Arg wundern würde es mich bei einer anonymen Sendung nicht.

    Und aus welchem Grund?

    Nachdem das Ausschlussverfahren aus der Anwaltskammer gegen dich nicht zum Erfolg geführt hat ...

    Er sah einem Ring seines Zigarrenrauches nach. Den unbequemen Anwalt aufs Glatteis führen, ihn mit Lächerlichkeit unmöglich machen?

    So ungefähr.

    Aber das Material enthält eine Reihe Indizien der Echtheit für den Sachkenner.

    Glaube nicht, dass deine Feinde dich unterschätzen. Wenn sie dir schon eine Fälschung in die Hände spielen, dann darf sie nicht plump sein.

    Liebknecht stand auf, ging mit schnellen Schritten auf und ab, die Daumen in den Ärmelausschnitten der Weste, seine charakteristische Haltung, wenn er diktierte.

    Er blieb vor den Blättern auf dem Schreibtisch stehen, betrachtete sie abermals aufmerksam. Der Anonymus dürfte ein Krupp-Direktor oder sonst ein führender Mitarbeiter sein. Er will den Leiter des Berliner Büros der Krupp AG kennen. Der besticht die Beamten des Heeresbeschaffungsamtes, sendet ständig Geheimberichte unter dem Decknamen, 'Kornwalzer' nach Essen, die von der Firma ausgewertet werden. Zur Ausschaltung der Konkurrenz bei Preisangeboten, zur Ausnutzung der Heeresversuche für den eigenen Waffenbau. Das grenzt an Landesverrat, ist zumindest jene stinkende Korruption, die wir bisher so überzeugend nicht beweisen konnten.

    Um überzeugend zu beweisen, muss man einen sicheren Beweis in Händen haben, erinnerte Sophie.

    Ich habe doch eine Nase für so etwas. Das Material riecht mir nach Echtheit.

    Und weshalb, meinst du, hat dir jener Friedensfreund das Material übersandt? Sophie sagte es spöttisch.

    Liebknecht zügelte seinen kleinen Ärger über ihren Spott. Das ist ein zu kurz Gekommener, den die Fragen von Krieg und Frieden wahrscheinlich kaum interessieren. Es sieht nach einem Racheakt aus. Der eiskalte Herr Krupp von Bohlen und Halbach mit seiner autokratischen Betriebsführung hat sicherlich nicht nur Freunde. Mit einigem Witz lässt sich so etwas doch wohl rekonstruieren?

    Besonders wenn der Wunsch der Vater des Gedankens ist.

    Liebknecht war nahe daran, heftig zu werden. Wünschst du etwa, dass dieses Material nicht echt sei?

    Trotzdem lasse ich mich nicht dazu verleiten, es schon als echt zu nehmen. Wie ich dich kenne, trätest du bei der nächsten passenden Gelegenheit am liebsten damit vor den Reichstag.

    Das war eine verlockende Vorstellung, Liebknecht begeisterte sich bereits. Stell dir mal vor, wenn ich vor dem Hohen Haus sagen könnte: Herr von Krupp, Sie als außerordentlicher Gesandter des Deutschen Reichs und Idol der Nation organisieren den Landesverrat; Herr Hugenberg, Sie als Verantwortlicher der Firma und berühmter Patriotard, lassen seit Jahren Beamte des Heeresbeschaffungsamtes bestechen und kassieren dafür Berichte über allergeheimste Reichssachen der Landesverteidigung. Oder wollen Sie behaupten, Sie wüssten von den Umtrieben jenes Herrn Brandt nichts, des Leiters der Berliner Krupp-Filiale? Als suche Liebknecht Beistand gegen einen leise aufkommenden Zweifel, fragte er suggestiv: Glaubst du nicht, dass es womöglich das nächste Budget des Heeresetats zu Fall bringen könnte?

    Betont sachlich erwiderte Sophie: Möglich ist auch die andere Version: Karl Liebknecht blamiert sich unsterblich, da ihm die Hyänen beweisen, er sei einem raffinierten Schwindel aufgesessen.

    Betroffen schluckte er seine entrüstete Antwort herunter.

    Hin und wieder ist die treu sorgende Gattin doch stärker in ihr, als der politische Verstand, dachte er. Weshalb bremst sie meinen Schwung?

    Sophie erriet seine Gedanken. Nun bist du traurig, dass ich nicht gleich mit dir davonstürme. Aber ich kenne doch meinen Karolus. Er ist allzuleicht entflammt, und es scheint mir für ihn heilsam, wenn diese Entflammbarkeit hin und wieder gedämpft wird.

    Das ist es! Seine Enttäuschung brach nun doch hervor. Ich komme von einer anstrengenden Reise nach Hause, finde dies Göttergeschenk hier vor, und du nimmst mir alle Freude mit deiner Skepsis.

    Aber Karl! Vorwurfsvoll sah sie ihn an wie eine Mutter ihren ungebärdigen Sohn.

    Gerade das reizte ihn, und er zügelte seinen Ton nicht. Glaubst du, der Kampf um den Frieden ist ohne Risiko zu führen?

    Ihr Blick war eindringlich, fragend. Wären wir beide zusammen, Karl, wenn ich grundsätzlich anders dächte? Dein ganzes Leben ist ein einziges Risiko, musst du dir da noch ein zusätzliches aufladen?

    Also schön, verbrenne ich den ganzen Ramsch.

    Er wirkte beinahe komisch in seinem Zorn, und Sophie musste lächeln. Das wirst du nicht, Karl. Ich bin wie du der Meinung, ein hochbrisantes Material - falls es kein Bluff ist. Das herauszubekommen, scheint mir zunächst wichtig.

    Und wie, meinst du, ließe sich das eruieren?

    Entwaffnend ruhig gestand Sophie ein: Ich weiß es noch nicht.

    Noch immer hatte er die Enttäuschung nicht überwunden und bemerkte ironisch: Ich kann ja ein Inserat aufgeben: Bitte den unbekannten Einsender, sich zu melden, der an Doktor Liebknecht Material gegen die Firma Krupp gesandt hat.

    Sie spürte, dass er innerlich schon einiges einsah, und schüttelte belustigt den Kopf. Wie kann ein intelligenter Mann so starrköpfig sein.

    Du sollst die Sache ernst nehmen, begehrte er auf.

    Wärst du nicht schon in manche unangenehme Situation hineingeritten, hätte ich und deine nächsten Freunde deine temperamentvollen ersten Impulse immer ernst genommen?

    Er drehte sich um und gestand wie ein ertappter Junge: Ich glaube, da ist etwas dran.

    Sie mussten beide lachen, Sophie legte die Arme um seinen Hals und schaute ihn versöhnlich an. Willst du nicht meine ehrliche Meinung hören, wenn du mich fragst? Und wenn ich dich nicht überzeugen kann, bleibt nicht noch die Möglichkeit, die Freunde zu befragen?

    Er gab ihr einen herzhaften Kuss, nahm seine Wanderung wieder auf und murmelte: Wahrscheinlich der beste Weg ... Inzwischen kann man überlegen ... Der eine oder der andere hat eine Idee, wie man ... Als habe sie es nicht gehört, fragte er: Du meinst, das wäre vorerst das Beste?

    Ganz sicher.

    Er blieb vor Sophie stehen. Wie sagt der Dichter? Ein edler Mann wird durch ein gutes Wort der Frauen weit geführt.

    2 Erfolg in Paris

    Der Beifall war um Nuancen anders als in Deutschland. Aus dem anschwellenden Geräusch des Trampelns und Klatschens sprangen die Zurufe einzelner, gaben dem Ganzen einen vielgestaltigen Klang. Nun erhoben sich alle und sangen die Internationale. Der Redner war zurückgetreten vom Pult, stand am Präsidiumstisch auf der Bühne und sang kräftig mit. Die französischen Worte des Liedes hatte sich Philipp Scheidemann eingepaukt. Als die nächste Strophe angestimmt wurde, stutzte er einen Augenblick und sang dann aus voller Kehle den deutschen Text. Hochfliegende Gedanken beschäftigten ihn: Weder mit solchen Massen hatte ich gerechnet noch mit dieser Begeisterung - wenn man bedenkt, dass Satz für Satz meiner Rede übersetzt werden musste.

    Das Lied war verklungen, die Saaltüren öffneten sich, und hinter den Hinausströmenden blieb der feine Schleier bläulichen Tabakrauchs. Scheidemann genoss den Rausch, den er bei denen dort unten hervorgerufen hatte, obwohl er überzeugt war, der graue Alltag würde den Einzelnen schnell ernüchtern. Breitete sich der Balkankrieg über Europa aus, dann würden auch diese Pariser Arbeiter in die Poilu-Uniform steigen, die ihre Mächtigen schon für sie bereithielten. Dabei kam ihm nicht der Gedanke, wie sehr es auf die Organisation ankommt, ob der Einzelne einsam bleibt oder ob die Millionen Individuen, zusammengefasst durch die Idee der Partei, als geballte Kraft in die Waagschale der Geschichte geworfen werden.

    Scheidemann wurde aus seinen Gedanken gerissen, auf der Bühne wimmelte es von freudig erregten Menschen, die dem Friedensboten aus Berlin die Hand drücken wollten, Grüße an die deutschen Genossen auftrugen, Dankesworte für die großartige Rede hervorsprudelten. Der Gefeierte strahlte, erwiderte mit Bonmots. Dieser Abschluss war ein zwar strapaziöses, aber erfreuliches Geschäft, das ihn den Erfolg nachhaltig auskosten ließ. Genosse Leger, der Dolmetscher, geborener Elsässer, übersetzte rasch und fließend.

    Der nun stille, leere Saal machte frösteln, langsam leerte sich auch die Bühne. Während Scheidemann ein Päckchen Grußadressen und Briefe durchsah, besprachen sich die Genossen der Versammlungskommission, und Leger fragte, ob der Genosse Scheidemann sehr müde sei. In diesem Fall würde er ihn zu seinem Hotel bringen. Vorstellbar sei aber auch ein Bummel durch die Etablissements von Montmartre.

    Sorgfältig verstaute Scheidemann die Friedensbotschaften in der Aktentasche und überlegte. Müde? Da war nicht mehr als wohliges Abgespanntsein. Die berühmten Stätten der leicht geschürzten Muse, wie etwa die Folies-Bergere oder Moulin Rouge, hätte er gern durch eigenen Augenschein kennengelernt, doch manche Genossen in der Heimat würden es nach solch einem Abend sicher bekritteln. Er schlug einen Plausch in einem gemütlichen Restaurant vor.

    Voila, gehen wir! ermunterte Leger, und es schlossen sich noch zwei Genossen an.

    Kurz darauf fanden die Vier in einem Restaurant einen Tisch, an dem man sich ungestört unterhalten konnte. Scheidemann bat, eine Flasche Champagner bestellen zu dürfen, die Andern quittierten es mit Scherzworten.

    Wir freuen uns, dass die deutschen Genossen Sie geschickt haben, denn Ihr Ruf als glänzender Redner reicht ja über Deutschland hinaus, sagte Morizet. Er war mittleren Alters wie Leger, sein schwarzes, wuschliges Haar und die großen, brennenden Augen mochten auf bedachtsame Menschen beunruhigend wirken.

    Scheidemann vergaß nicht, dass er sich im Land der geschliffenen Komplimente befand, und erklärte geschmeichelt, ohne den exzellenten Dolmetscher wäre der Erfolg dieses Abends nicht denkbar gewesen.

    Leger wehrte ab und sprach die Hoffnung aus, dass alle gleichartigen Massenveranstaltungen des heutigen Abends in den Hauptstädten Europas ähnlich verlaufen sein mögen.

    Scheidemann nickte eifrig. Falls Jean Jaures in Berlin einen adäquaten Dolmetscher zur Seite gehabt habe wie er, dürfte die Berliner Veranstaltung der in Paris nicht nachstehen.

    Um Liebknechts Erfolg in Budapest sei ihm ebenfalls nicht bange, bemerkte Morizet. Nichts im Gesicht Scheidemanns verriet, dass ihm der Name Liebknecht nicht angenehm in den Ohren klang. In diesem Zusammenhang interessiere ihn, fuhr Morizet fort, und er sei deshalb für diese Unterhaltung dankbar, ob Scheidemann sich in letzter Zeit den mehr linksstehenden Genossen angenähert habe.

    Scheidemann behielt den verbindlichen Gesichtsausdruck und fragte, was Morizet unter rechts und links verstehe. In Deutschland betrachte man die ganze Sozialdemokratische Partei als links stehend, die Organisationen der Bürger als rechts stehend.

    Morizet resümierte, Scheidemann habe seine Rede aufgebaut auf der antimilitaristischen Tradition der deutschen Sozialdemokratie, habe an die Verweigerung der Kriegskredite 1870 durch Bebel und Wilhelm Liebknecht erinnert, an das Eintreten der beiden für die Pariser Kommune und daran, dass sie für ihre Friedensaktivitäten mit Festungshaft büßen mussten. Die Zitierung der Worte Bebels gegen das militaristische Preußen-Deutschland - diesem System keinen Mann und keinen Groschen - habe schon brausende Zustimmung ausgelöst.

    Während der Garçon die Gläser füllte, die Flasche im Eiskübel deponierte, fragte sich Scheidemann, ob es sich bei Morizet nur um naiven Wissensdurst handele. Er wusste nicht, dass der temperamentvolle Franzose ein Freund Liebknechts war und als Journalist für die Humanite schrieb. Mit aufmunternden Worten trank Scheidemann den drei Genossen zu. Als er das Glas wieder hinsetzte, war er sich klar über seine Taktik: auf keinen Fall Grundsatzfragen behandeln. Lasse ich mich hier aufs Glatteis führen, dann ist womöglich in den nächsten Tagen in irgend so einem Oppositionsblättchen etwas vom Mann mit den zwei Zungen zu lesen. Es wäre nicht der erste Angriff von jener Seite. Mit dem Zeigefinger strich er sich die Sektfeuchte vom Bart auf der Oberlippe und fragte Morizet liebenswürdig, ob er es für falsch halte, in einer Massenveranstaltung der Völkerverbrüderung auf derartige Traditionen hinzuweisen.

    Im Gegenteil, das sei genau das Richtige, versicherte der dritte Genosse, Boulbec mit Namen. Er war der Älteste am Tisch und erinnerte Scheidemann an einen Epikureer, der stets aus dem Leben das Beste zu machen weiß. Womöglich rührte der Eindruck von seinem Bäuchlein her, dem vollen Gesicht mit der fleischigen Nase und der blanken Glatze.

    Na also, Scheidemann trank Boulbec zu, da sei ja die Einigkeit zwischen Franzosen und Deutschen wiederhergestellt. Mit diesem charmanten Waffenstillstandsangebot hoffte er auf mehr Zurückhaltung des aggressiven Struwwelpeters. Ihm war jetzt am allerwenigsten nach Politisieren zumute. Weit lieber hätte er bei unverbindlicher Plauderei das Leben in diesem Lokal beobachtet. Dessen Publikum schien sich neben Angestellten und besser bezahlten Arbeitern aus Journalisten und Angehörigen freier Berufe zusammenzusetzen, hatte aber wenig von der Atmosphäre jener Künstlerkneipen, die den Fremden als Attraktion vorgeführt werden. Die Mehrzahl der Besucher schien das Etablissement als zweites Zuhause zu betrachten, der Ton war familiärer als in den meisten Berliner Restaurants.

    Scheidemanns Hoffnung trog, es schien, als habe dieser Morizet schon lange darauf gewartet, mit ihm sprechen zu können. Morizet sagte, er halte es für schädlich, innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten in Kampfveranstaltungen gegen den Klassenfeind hineinzutragen. Aber hier im kleinen Kreis könne doch über interne Fragen gesprochen werden. Die Anwendung konkreter Kampfmaßnahmen im Falle eines imperialistischen Krieges sei ja bekanntermaßen erst durch die Bemühungen Lenins und Rosa Luxemburgs in die Stuttgarter Resolution hineingenommen worden. Bernstein und die Leute seiner Couleur seien keineswegs davon erbaut gewesen. Sie hätten es - wäre Bebel nicht gewesen - zu verhindern gewusst.

    Überlegen-nachsichtig strich sich Scheidemann den gepflegten Spitzbart. Wissen Sie, Genosse Morizet, das sind doch lediglich Fragen der öffentlichen Taktik. Soll man dem Gegner genau aufs Butterbrot schmieren, was die Internationale im Kriegsfall zu tun gedenkt?

    Bliebe also die Frage, gab Morizet zu bedenken, was die Parteiführungen in besagtem Fall für möglich hielten.

    Er habe bereits betont, bemerkte Scheidemann nonchalant, dass er es für abträglich halte, derartig heikle Fragen vor aller Welt auszutragen.

    Vor aller Welt? Ganz wie der Genosse Scheidemann vorgeschlagen, säßen sie hier doch gemütlich und privat, erinnerte Morizet.

    Champagner bestellt zu haben, fand Scheidemann angesichts dieser Unterhaltung nun ein wenig unpassend. Auf allen Tischen standen Siphons. Es wurde meist Rotwein getrunken. Die Leute spritzten ihn mit dem Kohlensäurewasser. Es wäre schön, mein lieber Morizet, dachte Scheidemann, wenn wir hier gemütlich und privat säßen. Doch du willst etwas Offizielles aus mir herausquetschen. Aber ich kenne deinen Typ und eure Termini. Imperialistischer Krieg. Was weiß der einfache Mann damit anzufangen? Ich habe vom Krieg und vom Frieden gesprochen, das versteht jeder.

    Boulbec kam Scheidemann abermals zu Hilfe. Eben, Genosse Morizet, nahm er dessen Erwiderung auf, man muss auch mal verschnaufen, ganz Mensch sein, in der Politik haben wir an diesem Abend wohl unser Möglichstes getan.

    Morizet lächelte ein wenig boshaft über Boulbecs Selbstzufriedenheit und versuchte auf andere Art, beim Gegenstand zu bleiben. Die beste Politik ist Menschlichkeit. Morizet fragte Boulbec, ob er diesen Satz für falsch halte.

    Der Satz könnte von Rousseau stammen, vielleicht von Diderot, orakelte Boulbec.

    Monizet blinzelte Boulbec an. Der Satz ist von Liebknecht.

    Ein überzeugender Aphorismus, bemerkte Scheidemann.

    Wäre er mir bekannt gewesen, ich hätte ihn in meiner Rede zitiert.

    Morizet tat überzeugt. Als interessantes Phänomen empfinde ich folgende Tatsache, er sagte es im Plauderton, als wolle er auf ein neutrales Thema kommen, obwohl es in allen Parteien der Internationale zwei Hauptströmungen gibt, könnte man glauben, die Führer der internationalen Sozialdemokratie sind allesamt links stehend, sofern man ihre Reden auf Massenveranstaltungen betrachtet. Schon aus dem Grund bin ich gespannt auf die Rede Molkenbuhrs in Amsterdam, die morgen früh in der Humanite abgedruckt sein wird. Ich wette, auch da trifft zu, was ich eben festgestellt habe. Dabei gibt es doch wohl keinen Zweifel, dass der Genosse Molkenbuhr zum rechten Flügel der deutschen Sozialdemokratie gehört. Bei Ihnen, Genosse Scheidemann, scheint mir das nicht immer so klar ersichtlich zu sein. Nur deshalb meine Frage zu Anfang des Gesprächs.

    Mit Genugtuung vermerkte Scheidemann den nun folgenden Disput zwischen den französischen Genossen. 0ffensichtlich warf Boulbec dem Morizet vor, er habe sich unhöflich benommen, Scheidemann plump attackiert. Leger versuchte den Streit der beiden zu schlichten und fuhr sie an, sich endlich zu beherrschen. Einlenkend schlug Morizet vor, dass er zur Buße vier Calvados bestellen werde. Leger übersetzte diesen Vorschlag und unterschlug das Wort Buße nicht.

    Scheidemann hielt die Hand vor den Mund und gähnte dezent. Freundlich erklärte er, keinen Grund zur Buße zu sehen. Es sei ein anregendes Gespräch gewesen, die Welt wäre langweilig, seien alle immer einer Meinung. Doch jetzt spüre er die Anstrengungen des Tages, und er bitte die Genossen um Verständnis für sein kaum noch zu bezwingendes Schlafbedürfnis.

    Lachend erklärten die Drei, dass auch sie baldigem Schlaf nicht abgeneigt seien. Boulbec ging voraus und rief eine Autodroschke herbei. Zu viert fuhren sie zum Hotel, in dem Scheidemann übernachtete.

    Morizet drückte Abschied nehmend Scheidemann die Hand und bat um Nachsicht für seine französische Impulsivität. Sozusagen als Ausgleich nehme er an, dass Jaures in Berlin ähnliche Fragen gestellt würden. Dessen ehrliche Kriegsgegnerschaft stehe zwar außer Zweifel, ansonsten aber gehöre er keinesfalls zum revolutionären Flügel der Partei.

    Scheidemann bewahrte weiterhin Kontenance. Auf dem Münchener Parteitag wurde Karl Liebknecht wegen seines ungehörigen Tons gegen Jaures vom Genossen Bernstein zur Ordnung gerufen, erinnerte er, und es sollte ein Kompliment für Jaures und die französische Partei sein. Es war ein handfester Familienstreit in unserer Partei.

    Wobei allerdings Familienvater Bebel dem jungen Mann bescheinigte, dass er eine schneidige Feder führe, ergänzte Morizet. Ferner erklärte August Bebel, wenn Liebknechts Vater noch gelebt hätte, wäre dessen Antwort an Jaures schärfer ausgefallen.

    Man sollte Sie ins Parteiarchiv holen, lobte Scheidemann ironisch, Sie wissen gut Bescheid in der Historie unserer internationalen Bewegung.

    Morizet hob abwehrend die Hände. Das Schicksal bewahre mich vor Aktenregalen.

    Boulbec und Leger nahmen ihn freundschaftlich bei der Schulter und zogen ihn mit sich fort. Du kannst es nicht lassen, räsonierte Boulbec, schaute noch einmal zurück, und seine Geste deutete

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