Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

... und nicht auf den Knien: Ein Lebensbild des Artur Becker
... und nicht auf den Knien: Ein Lebensbild des Artur Becker
... und nicht auf den Knien: Ein Lebensbild des Artur Becker
eBook583 Seiten7 Stunden

... und nicht auf den Knien: Ein Lebensbild des Artur Becker

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Autor dieses Lebensbildes weicht den Problemen der werktätigen Jugend in der Weimarer Republik - heute so aktuell wie damals - nicht aus. Er beschreibt die interessante Kindheit, die bewegte Jugendzeit und die erregenden Geschicke des reifen Artur Becker, der als Interbrigadist für Spaniens Freiheit fiel. Der Tod eines echten Helden
erschüttert uns. Selbstlos ging er mit der Tat voran und opferte sein Leben, das der immer Heitere so liebte. Trotz des tragischen Schlusses wirkt dieses hoffnungs starke Naturell lebensbejahend. In diesem Roman wird ein Schicksal literarisch gestaltet, das es verdient hat, nicht nur in Geschichtsbüchern fortzuleben, sondern vor allem in den Herzen der Menschen unserer Zeit.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum19. Sept. 2014
ISBN9783847613268
... und nicht auf den Knien: Ein Lebensbild des Artur Becker

Mehr von E.R. Greulich lesen

Ähnlich wie ... und nicht auf den Knien

Ähnliche E-Books

Historienromane für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für ... und nicht auf den Knien

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    ... und nicht auf den Knien - E.R. Greulich

    KINDHEIT

    Königskind in falscher Gegend

    Man muss ihnen die Zähne zeigen, Gigorek! Der stämmige Feilenhauer war aufgesprungen und hatte die Faust in die Luft gestoßen. Dabei streifte er einen Pappmond, sodass die kitschige Deckendekoration des kleinen Vorstadtlokals ins Schwingen kam.

    Vielstimmiges Echo antwortete dem Protest.

    Der stattliche Mann hinter dem Tisch auf dem Podium schien der gleichen Meinung zu sein. Er nickte mehrmals, ehe er erwiderte: Aber unsere Zähne müssen auch etwas zu beißen haben, Kollege Becker.

    Gerade deshalb müssen wir's durchstehn!, rief Borbach, ein älterer Kollege, der den erregten Becker auf den Sitz zurückgezogen hatte.

    Deshalb beraten wir darüber, entgegnete Gigorek gütig.

    Wir beraten, wie wir den Streik gewinnen können, und du willst ihn abbrechen, kam es aus der hinteren Saalecke.

    Ich habe unsere Chancen dargelegt. Ob wir den Streik abbrechen oder nicht, müsst ihr entscheiden! Gigorek strich nachdrücklich seinen Knebelbart.

    Pass Obacht, Gigorek! Ein Verbandssekretär muss uns Mut machen, anstatt abzuwiegeln! Wieder war Becker aufgesprungen, wieder hatte seine ungestüme Faust den Mond getroffen, und die Masken, Fratzen und närrischen Symbole unter dem verräucherten Deckenholz tanzten, als wäre ein Windstoß durch den Saal gefegt.

    Das löste Heiterkeit aus. Grundewski, der rechte Nachbar Beckers, brummte: Nu lass mal endlich den Mond in Ruhe.

    Gigorek benutzte das Ungeschick Beckers zu einem Seitenhieb. Die Unternehmer sind leider nicht von Pappe wie der Mond da. Den kannst du mit einem Boxhieb zu Boden bringen, Kollege Becker, aber nicht den Arbeitgeberverband. Gegen den müssen wir schon ein bisschen den Kopf gebrauchen. Mehrere lachten, einige beklatschten Gigoreks Worte. Das stachelte die Wut des stämmigen Feilenhauers noch an. Borbach wollte ihn wieder auf den Stuhl ziehen, doch Becker stieß dessen Hand von seiner abgewetzten Joppe und rief: Ein Bebelbart genügt nicht, man muss auch handeln wie Bebel!

    Gigorek antwortete lächelnd: Was hat mein Bart mit euerm Streik zu tun? Er zupfte die untadelige Künstlerkrawatte zurecht und sagte würdevoll: Hier ist keine Wahlversammlung, wir beraten über den Streik.

    In der Versammlung erhob sich Widerspruch. Borbach nutzte die Stimmung und fragte laut: Bist du etwa gegen Bebel, Gigorek?

    Natürlich nicht, Kollege. Der Verbandssekretär hob beschwörend die Hände. Ich schätze Bebel wie keinen andern, nicht zuletzt deswegen, weil er durchaus zu unterscheiden weiß zwischen Gewerkschaft und Partei. Die Unternehmer kann man mit politischer Agitation nicht aus dem Sattel heben. Hier im Bergischen Land ist es eine ganz besondere Sorte. Mindestens so hart wie ihre Remscheider Stahlwaren.

    Darum gehören sie zum Teufel wie der ganze Plunder hier! Ein hünenhafter junger Rohrzieher war aufgestanden. Ohne den Arm besonders recken zu müssen, zupfte er an einer Schnur über sich, und alle Pappmascheefratzen begannen wieder zu hüpfen.

    Diesmal bemühte sich Gigorek nicht, geistreich zu entgegnen. Seine dunklen Augen in dem ebenmäßigen Gesicht blickten tadelnd auf den jugendlichen Spaßmacher. Hart klopfte er mit den Knöcheln auf die abgescheuerte Tischplatte. Bitte mehr Ernst, Kollegen! Wir stehen die zweite Woche im Streik. Keinem geht es rosig. Wer etwas zur Sache zu sagen hat, soll es tun. Andernfalls schlage ich vor, wir stimmen ab, ob wir den Streik fortsetzen oder ...

    Wir brauchen keine Abstimmung, sondern Maßnahmen, den Streik zu gewinnen! Becker war diesmal sitzen geblieben.

    Borbach unterstützte ihn. Dazu ein Vorschlag: Gigorek wird von uns beauftragt ...

    Warum so undemokratisch?, unterbrach ihn Grundewski. Unser Sekretär hat eine Abstimmung vorgeschlagen, das ist genau nach Verbandsstatut. Erheben sich Gegenstimmen, müssen wir erst mal darüber abstimmen. Ich stelle den Geschäftsordnungsantrag.

    Walter Becker reckte heftig den Arm zur Wortmeldung, als ihn jemand am Ärmel zupfte. Unwirsch wandte er sich um und sah in die aufgerissenen Augen Eugens, seines Erstgeborenen. Sollst nach Hause kommen, wir haben 'n Kind gekriegt.

    Die Kollegen um Walter Becker schmunzelten; Anteilnahme und gutmütiger Spott waren in ihren Zurufen. Trab los, Walter, gib ihm den Vatersegen, sagte Borbach.

    Den impulsiven Feilenhauer bewegten widersprechende Gefühle. Nun also doch schon, dachte er, kaum hatten wir uns vom blinden Alarm der Vorwehen erholt und gehofft, erst nach dem Streik ...

    Vor den anstürmenden Sorgen flackerte die Freude in ihm nur wie ein bescheidenes Flämmchen.

    Nu komm, Papa, drängte Eugen.

    Walter Becker zog ihn neben sich auf eine Ecke des Stuhls. Gleich, bloß noch die Abstimmung.

    Der Appell Grundewskis hatte Erfolg. Die Mehrzahl entschied sich für den Vorschlag Gigoreks, über Fortsetzung oder Abbruch des Streiks geheim abzustimmen.

    Flüsternd tauschte Walter Becker mit dem Genossen Borbach noch einige Worte, dann ging er mit seinem Jungen leise aus dem Saal. Hoffentlich ist alles gut gegangen, murmelte er draußen vor sich hin, das Kind an seiner Hand vergessend. Altklug sah der Kleine zu ihm auf. Frau Schütz sagt, der Storch hat nicht doll gebissen, Muttel kann zufrieden sein.

    Sie kommen in den Remscheider Stadtteil Reinshagen. Dort steht in der Tiroler Straße 13 das Häuschen. Wie meist im Bergischen Land, sind die Wände mit Schieferschindeln gedeckt. Es ist eher ein Dorf- als ein Stadthaus. Schon einmal zog es Walter Becker so heftig dorthin wie jetzt. Damals kam man von der Arbeit, nicht von einer Streikversammlung. Als der Eugen geboren wurde. Er lächelt vor sich hin. Komisch, wie in einer Posse: beide Jungen auf den gleichen Tag geboren. Den 12. Mai wird er nicht vergessen.

    Der Kleine kann kaum noch Schritt halten, trippelt tapfer, heftig atmend. Kurz entschlossen nimmt ihn der Vater unter den Arm wie ein Bündel, läuft die letzten hundert Schritte im Dauerlauf. Hei, das ist ein Spaß für den Jungen. Fast so schön wie huckepack.

    Im Flur begrüßt Becker die Nachbarin, Frau Wiesflecker. Beruhigend nickt sie dem Mann zu, verschwindet geschäftig in der Stube. In der Küche hantiert Frau Schütz, die Hebamme. Den Gruß Beckers überhört sie, stemmt die Hände in die Hüften. Das ist mir 'n Vater! Arbeitet nicht, aber lässt die Frau in der schweren Stunde allein.

    Walter Becker wischt die schweißige Stirn, schaut der rotgesichtigen Frau pfiffig ins Gesicht. Sie sind doch zufrieden, wenn die Väter Ihnen dabei nicht im Wege stehen.

    Die Schütz ist nicht gleich zu besänftigen. Und wo sind wenigstens 'n paar Blumen?

    Ablenkend fragt der junge Vater: Kann man mal erfahren, was es ist?

    Jetzt strahlt die Frau, die manchem Jammerwurm in den Proletarierbezirken ans Licht der Welt geholfen hat. Ein prächtiger Junge. Sechs Pfund.

    Darf man ...? Erwartungsvoll weist Walter Becker zur Stubentür.

    Gehn Sie schon! Aber manierlich, keine Aufregung.

    Behutsam öffnet er die Tür. Mit blassem Gesicht lächelt ihm Luise zu. Aus dem Bündel neben ihr schaut ein winziges dunkelrotes Gesicht, das Köpfchen voller Wuschelhaare. Frau Wiesflecker legt den Finger auf den Mund, verschwindet dann. Walter Becker lässt sich auf dem Bettrand nieder, nimmt die Hände seiner Frau.

    Schwach, doch voller Zärtlichkeit sagt sie: Ein wunderschönes Kind. Artur soll es heißen.

    Walter Becker nickt. Wenn es Luise wünscht, mag es der Name sein. Nun haben wir zwei Jungen, denkt er, und das mitten im Streik.

    Wie sieht's aus?, fragt Luise leise, als habe sie seinen Gedanken erraten.

    Wir werden's schon schaffen. Sacht streicht er ihr über die Stirn. Mach dir jetzt darum keine Gedanken. Dass ihr beide gesund bleibt, ist die Hauptsache.

    Sie sprechen von ihren Hoffnungen, nicht von den Sorgen. Als sich Walter Becker erhebt, schaut er Kind und Mutter liebevoll an. Es soll ein guter Junge werden. Leise schließt er die Tür hinter sich.

    Im Korridor hört er aus der Küche Eugens Fragen. Nachbarin und Hebamme haben Mühe, die Wissbegierde des Jungen abzulenken. Warum der Storch nicht lieber durch die Fenster komme? Ob sich das Brüderchen bei der Reise durch den Schornstein nicht wehgetan habe? Sein Verstand wehrt sich gegen den Humbug, denkt Walter Becker, es ist an der Zeit, unsern Kindern Vernünftigeres über die Menschwerdung zu erzählen. Er tritt in die Küche und sagt dem Sohn, er solle Blumen von Frau Grundewski holen für die Mutter. Frau Wiesflecker geht mit dem Kleinen hinaus. Die Hebamme packt ihre Tasche.

    Walter Becker kramt im Küchenschrank nach der Dose mit dem Spargeld.

    Nun, fragt die Schütz, habe ich zu viel versprochen?

    Ein fein' Bengelchen. Frau Schütz. - Was kriegen Sie?

    Wie immer, zehn Mark. Aber lassen Sie jetzt, Becker. Bezahlen Sie's nach dem Streik. - Und was sagen Sie zu seinen Haaren?

    Rabenschwarz. Und viel dichter als damals beim Eugen. Haben Sie den Wirbel gesehen?

    Walter Becker gesteht, dass er so genau den Sprössling noch nicht besichtigt habe.

    Die Schütz wird ernst, beinah geheimnisvoll. Das kommt bei tausend Kindern bloß einmal vor. Königskinder nenne ich die.

    Walter Beckers Augenbrauen heben sich. Dann ist er also in der falschen Gegend abgeliefert worden?

    Sein Sie nicht jeck! Ich hab' doch auch nichts für die hohen Herrschaften übrig. Aber ich kenn' mich darin aus. Solche Kinder sind was Besonderes.

    Wenn mich mein Chef auf die Straße setzt, nützen mir auch zwei Haarwirbel nichts, Frau Schütz.

    Die Hebamme wird krötig. Ach, ihr Männer! Glück heißt doch nicht bloß gut verdienen. Sind Sie über den kleinen Artur nicht glücklich?

    Walter Becker lacht. "Jetzt, wo er da ist, ja. Aber wir hätten nichts dagegen gehabt, wenn der Storch bei uns vorbeigegangen wäre. 'Diesem System keinen Mann und keinen Groschen', hat Bebel gesagt. Er weiß natürlich, dass Bebels berühmter Satz sich nicht auf die Geburtenkontrolle bezieht, aber es macht ihm Spaß, Frau Schütz aufzuziehen.

    Dass ihr Sozialdemokratischen immer politisch werden müsst.

    Wir müssten den Hebammen und Ärzten die Hölle heiß machen, dass sie uns beraten, wie man nicht so viel Kinder kriegt.

    Die Schütz lacht laut. "Uns brotlos machen? Da möcht' ich sehen, was ihr sagt, wenn wir dann streiken."

    Seid zufrieden, dass ihr's nicht braucht. Walter Beckers Scherz bekommt einen bitteren Unterton. Und dann ohne Gewerkschaft. Es ist mit Gewerkschaft schon schwer.

    Die Hebamme gibt ihm einen gutmütigen Klaps auf die Schulter. Wenn irgendwas ist, schicken Sie den Eugen. Und der Zweite - der ist zu Größerem geboren. Mit schwerem Schritt stapft die Frau aus dem Haus.

    Walter Becker sinnt kopfschüttelnd ihren Worten nach.

    Altweibergeschwätz und Wunderglauben. Von wegen Königskind! Lohnsklave der Mannesmänner und ihresgleichen wird er, genau wie sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater. Haben vielleicht alle Haarwirbel gehabt, mussten sich trotzdem schinden ums tägliche Brot.

    Behutsam geht Walter Becker wieder in die Stube, betrachtet lange den Neugeborenen. Dann erzählt er Luise von der Unterhaltung mit der Hebamme.

    Solche Frauen haben einen Blick dafür, sagt sie.

    Du glaubst am Ende noch diesen Unsinn.Er droht ihr mit dem Finger.

    Hast selbst gesagt, es soll ein guter Junge werden. Warum können gute Menschen kein Glück haben? Es ist schön, an das Glück seiner Kinder zu glauben.

    Sie werden glücklich sein, wenn wir alle glücklicher werden.

    Eine Woche später - Luise Becker stand schon wieder auf - kamen Borbachs und Grundewskis, um den Familienzuwachs zu begutachten. Die Frauen brachten Windeln und andere brauchbare Sachen ihrer herangewachsenen Kinder. Alle waren fröhlich wie nach einer bestandenen Prüfung. In jener Abstimmung hatte eine Mehrheit für die Fortsetzung des Streiks gestimmt. Der Unternehmerverband hatte sich zu Verhandlungen bequemen müssen, es war zu einem Kompromiss gekommen, und morgen sollte die Arbeit wieder aufgenommen werden.

    Man kam auf die Prophezeiung der Schütz zu sprechen. Borbach lachte -grimmig. Sie ist 'ne tüchtige Hebamme; aber im Kopf hat sie Kaffeegrund.

    Grundewski widersprach. So unrecht hat sie auf ihre Art nicht. Wenn der Artur groß ist, haben wir den Sozialismus.

    Gigorek wird dann Reichskanzler und du sein Stellvertreter, höhnte Borbach. Er konnte noch immer nicht vergessen, dass Grundewski als Einziger ihrer Werkstatt dem Gewerkschaftssekretär Hilfestellung geleistet hatte.

    Der phlegmatische Mittvierziger war dergleichen Anzapfungen gewöhnt. Überlegt mal: Trotz des Sozialistengesetzes sind unsere Reichstagsmandate von zwölf im Jahre einundachtzig auf vierundzwanzig im Jahre dreiundachtzig gestiegen. Glatt um das Doppelte.

    Rechne so weiter, unterbrach ihn Walter Becker, dann müssten schon jetzt nur noch Sozialdemokraten im Reichstag sitzen.

    Grundewski blieb friedlich. Ganz so einfach ist es nicht. Aber immerhin, sieben Jahre später hatten wir schon 35 Abgeordnete, jetzt schreiben wir 1905 und lachen über unsere paar Männekens von damals. Einmal kommt's - wir erleben es noch -, dann haben wir die Mehrheit, und dann bestimmen wir, was gemacht wird.

    Das wird 'nen dollen Stuhlmangel geben, sagte Borbach undurchdringlichen Gesichts. Grundewski sah ihn fragend an, und Borbach erklärte: Dann müssen doch die Unternehmer an die Werkbänke, und wir setzen uns auf ihre Stühle. Nun sind die aber weniger und wir mehr.

    Walter Becker rieb sich die Hände über den Spaß und schaute nach den Frauen, die in der Stube beim eifrigen Gespräch über Neugeborene saßen.

    Grundewski war ein bisschen beleidigt. Bist du nun Sozialdemokrat oder nicht?

    Borbach füllte aus der Flasche Schabau, die er mitgebracht hatte, wieder die Gläschen voll. Allerdings. Ich glaube bloß nicht, dass unsere Stahl- und Kohlefürsten vor Stimmzetteln zu Kreuze kriechen. Die sind nur so lange demokratisch, wie es ihrem Geldsack nicht wehtut.

    Dann willst du Bürgerkrieg?

    Sowenig wie du. Leider geht es nicht bloß nach uns. Ich bin auch überzeugt, dass wir mal die Mehrheit kriegen. Aber da wirst du staunen, was die Sippschaft dann aufzieht.

    Ihr alten Schwarzseher, schnaufte Grundewski. In einem Zug kippte er seinen Schabau hinunter und räusperte sich genießerisch nach dem scharfen Schnaps.

    Ähnlich verliefen ihre Gespräche meist. Sie tranken gemeinsam eins, stritten sich heftig, spielten dann friedlich Skat, trugen sich nichts nach, stritten sich aufs Neue und kamen immer wieder einträchtig zusammen.

    Als die Gäste schieden, wurde Grundewski pathetisch: Er legte Walter Becker seine Hand auf die Schulter: Dein kleiner Artur soll mal 'n großer Mann werden! Im Sozialismus brauchen wir sie.

    Fräulein Marein besiegt den gelben Neid

    Und wenn er nicht wieder heruntergefallen ist, so wird er wohl noch oben in der Luft herumschweben, schloss Eugen und klappte das Märchenbuch zu.

    Noch eins, bat Artur.

    Der Ältere bekam Stirnfalten und eine zornige Unterlippe. Ich hab' gesagt eins, und nun geh' ich.

    Da komm' ich mit.

    Wehe!, drohte Eugen. Wenn ich dir ein Märchen vorlese, kann ich allein gehen, hast du gesagt.

    Du hast das Kürzeste rausgesucht.

    "Pah, 'Dreschflegel vom Himmel' ist viel kürzer als 'Der Riese und der Schneider'."

    "Du hast aber die Stelle weggelassen, wo der Riese sagt: ... Geh, kleiner Halunke, und hole mir einen Krug Wasser."

    Kannst sie auswendig, aber ich soll sie dir vorlesen.

    'Fitchers Vogel' kann ich nicht auswendig. Liest du's vor?

    Nein! Eugen schlug mit der Faust auf den Deckel des Märchenbuchs.

    Dann komm' ich mit.

    Du bleibst hier. Knirpse können wir heute nicht brauchen. Eugen war schon aus der Küche, nacheinander knallten zwei Türen. Allein saß Artur und war beleidigt. Da lag das Märchenbuch. Der bunte Einband lockte und die Kränkung war vergessen. Die Prinzessin mit dem goldenen Haar war schöner als Molche und Frösche, die der Bruder fangen ging. Und vielleicht war sie noch wunderbarer, als es selbst Drachen steigen lassen mit Eugen sein konnte. Drachen kamen auch in manchen Märchen vor. Aber böse, die Gift und Schwefel spuckten, nicht so lustige aus Papier, die schon ein Windstoß erzittern ließ. Solch einen bösen Drachen hätte Artur gern einmal gesehen, wenigstens einen kleinen. War da nicht wer? Artur hätte schwören mögen, dass eben etwas hinter den Küchenschrank gehuscht war. Irgendwo wisperte und knisterte es. Ob vielleicht der Drache in der Stube ...? Artur getraute sich kaum zu atmen. Auf Zehenspitzen ging er zur Stubentür, zog leise, leise die Klinke herunter, lugte durch den Spalt. Nichts. Er trat ein, schaute tapfer unter die Betten der Eltern, dann unter das an der anderen Wand stehende Sofa. Nun blieb nur noch die Jungenkammer, in der er mit Eugen schlief. Auch hier schien sich der Drache soeben davongemacht zu haben. Mehr nachdenklich als enttäuscht ging Artur wieder in die Küche. Ein eng begrenztes Reich, die Arbeiterwohnung der Beckers. Für Artur war sie vorerst die Welt. Hier lebte er, hing seinen fantastischen Träumen nach, und da es für die Fantasie keine Grenzen gibt, hatte er sich bisher selten an der Enge der Wirklichkeit gestoßen. Artur überlegte. Der Flur gehörte nicht zur Wohnung, war aber am geheimnisvollsten, mit der schmalen Treppe zu Wiesfleckers hinauf, steil wie die Stiege zum Zauberberg. Oben winkte öfter Frau Wiesflecker und hatte etwas für ihn: eine Lakritzenstange, zwei Stück zu einem Pfennig. Wenn es Mutter sah, sagte sie: Sie sollen den Bengel nicht verwöhnen, Frau Wiesflecker. Unter der Treppenschräge begann die Kellertreppe. Im Keller war es dunkel und muffig wie in einer Höhle. Drachen wohnen in Höhlen. Siegfried hatte keine Angst gehabt; zum Drachen zu gehen. Doch Siegfried hatte ein Schwert. Artur brauchte ein Schwert. Draußen klappte und schurrte es. Beherzt griff er sich das Küchenbeil vom Herd, schlich zur Tür und klinkte sie mit einem Ruck auf. Was willst du mit dem Beil, Lümmel?, schrie es aus dem Halbdunkel.

    Drachen reden sonst mit Donnerstimme, die Gestalt im Halbdunkel dort in ihrem schwarzen Umhang erinnerte mehr an eine Hexe.

    Wo ist deine Mutter?, herrschte ihn die Schwarze an.

    Artur starrte auf die lange, hagere Frau und packte das Beil fester.

    Oben bei Wiesfleckers ging die Tür auf, und etwas mehr Licht fiel auf die Erscheinung. Zu wem wollen Sie denn?, rief Frau Wiesflecker.

    Zu Frau Becker.

    Kann ich was bestellen? klang es von oben.

    Allerdings, spitz hob sich die Stimme der Schwarzen, bestellen Sie ihr, dass wir nicht nötig haben, uns mahnen zu lassen. Sie zerrte ein Kuvert aus ihrem Pompadour und legte es auf eine Treppenstufe. Hier ist das Geld für den letzten Waschtag, und sie soll sich nie wieder bei uns blicken lassen!

    Plustern Sie sich bloß nicht so auf. Frau Wiesflecker kam gemächlich die Treppe herab.

    Hoheitsvoll reckte sich die Hagere im schwarzen Umhang. Kümmern Sie sich lieber um die Blagen. Der da glupscht, als wollte er mich mit dem Beil erschlagen.

    Frau Wiesflecker lachte ihr breites, unbekümmertes Lachen. Ausgerechnet der Artur.

    Bagage, zischte die Schwarze, hart knallte die Flurtür hinter ihr zu.

    Frau Wiesflecker nahm das Kuvert von der Stufe und ging mit Artur in Beckers Küche. Sie stellte das Beil neben den Herd und zog den Kleinen auf ihren Schoß. Das war vielleicht 'ne jecke Tunte, was, Artur?

    Ist sie eine Hexe?

    Frau Wiesflecker musste lachen. Wahrhaftigen Gotts, das ist sie.

    Aber sie hatte keinen Stock.

    Die braucht keinen Stock, Jungchen, die macht es mit der Zunge.

    Diese Weisheit der einfachen Frau war für Artur zu hoch. Sie ist keine richtige Hexe aus dem Märchen?

    Sie ist eine Hexe aus dem Leben, und die sind schlimmer. Aber nun denk nicht mehr dran, die kommt nie wieder.

    Die Großen hatten gut reden. Er war ausgezogen, einen Drachen zu töten, stattdessen war er einer Hexe begegnet. Es war aber keine aus dem Märchenbuch und sie sollte noch schlimmer sein? Er wurde erlöst von den wirren Gedanken, die Mutter trat in die Küche. Frau Wiesflecker berichtete, was vorgefallen war.

    Bedrückt öffnete Luise Becker das Kuvert und zählte das Geld. Sechs Stunden war ich das letzte Mal da, bezahlt hat die Börgerlein nur vier. Und obendrein kündigt sie einem die Stelle.

    So fleißige Frauen wie Sie kriegen wieder 'ne Stelle, tröstete Frau Wiesflecker. Bei dem Drachen hatten Sie doch bloß Arger.

    Luise Becker schaute still vor sich hin. Was man hat, hat man, Frau Wiesflecker. Es gibt zu viele Frauen wie mich, mit drei Kindern oder mehr, die alle was zuverdienen müssen. Das wissen solche wie die Börgerlein. Ich hätte gemahnt - das ist doch übertrieben. Dem Dienstmädchen habe ich gesagt, sie möchte Frau Börgerlein daran erinnern, dass ich das Geld brauche.

    Das war Ihr gutes Recht, empörte sich die rundliche Nachbarin. Die Reichen lassen sich bedienen, und dann sollen wir sie um die paar Pfennige auf den Knien bitten.

    Ja, ja, sagte Luise Becker wie abwesend.

    Es wird sich bestimmt wieder was finden, Frau Wiesflecker ging, wenn ich was höre, sage ich Ihnen sofort Bescheid.

    Artur hatte die Mutter selten so gesehen. Sie war anders traurig, als wenn er sie betrübt hatte. Das kam von dieser Garstigen mit dem verflixten Geld. Davon war immer zu wenig da. Die Frauen sprachen öfter davon und die Eltern, doch so deutlich wie heute hatte er es noch nicht aufgenommen. Die raue Wirklichkeit schlug mit Drachenzähnen in seine Märchenwelt. Er fürchtete sich plötzlich und schmiegte sich an die Mutter. Warum kaufen wir nicht einen Esel-streck-dich, Mama? Dann haben wir immer Geld.

    Luise Becker schreckte aus ihrer Nachdenklichkeit und drückte ihn an sich. Ach du, das gibt's doch bloß im Märchen.

    Eine ähnliche Antwort wie vorher von Frau Wiesflecker. Die Großen passten wohl nicht so gut auf. Er hatte schon Eulenaugen im Dunkeln glühen sehen und Gnome hinter Weidenwurzeln verschwinden. Das bunte Märchenbuch zog seine Blicke wieder an. Die Großen konnten alles darin entziffern, der Bruder Eugen auch. Dicker gelber Neid auf den Bruder packte ihn, der meist Absätze fortschummelte und so schnell las, dass man gar nicht richtig zum Weinen kam, wenn es traurig wurde, und nicht zum Lachen bei fröhlichen Stellen. Sie knufften sich und vertrugen sich; wenn ihm Prügel von andern Kindern drohte, stand ihm Eugen bei; sie teilten brüderlich jede Leckerei. Nur diese Ungerechtigkeit, dass Eugen lesen konnte und er nicht, bohrte und schmerzte. Der unbewusste, tiefere Schmerz war aber die Ahnung, dass eines Tages die bunte Märchenwelt verblassen könnte. Es war ein Jammer. Artur begann zu schluchzen.

    Erschrocken nahm Luise Becker seinen Kopf in ihre Hände. Hast du Schmerzen?

    Heftig schüttelte Artur den Kopf. Eugen, der - der kann lesen, ich nicht.

    Du Dummer, Mutter Becker zog den Weinenden an sich, jeder lernt doch lesen, wenn er in die Schule kommt.

    Ganz bestimmt? Vor Freude wurde ihm so heiß, dass die Tränen verdampften. Da geh' ich morgen mit Eugen in die Schule.

    Die Mutter befeuchtete den Zipfel eines Handtuchs und säuberte Artur das Gesicht. Ein bissel musst du noch warten.

    Och, herrje, er tat wieder schmerzgebeugt, liest du mir was vor, Mama?

    Seufzend nahm Luise Becker den Quälgeist neben sich und begann zu lesen. Dem dankbaren Zuhörer gelang es, eine Zugabe zu erbetteln, und noch eine, und noch eine.

    Da trat ein Mann herein, der war größer als alle andern und sah fürchterlich aus. Oh, du Wicht, rief er, nun sollst du lernen, was Gruseln ist ...

    Artur gruselte es wirklich, denn draußen tappten Schritte. Die Tür ging auf ... Der Vater stand auf der Schwelle. Artur sprang ihm entgegen. Die Mutter begann eilig mit Pfannen und Töpfen zu hantieren und entschuldigte sich. Nun würde es später Abendbrot geben.

    Walter Becker wusch sich Hände, Gesicht und Oberkörper, ließ sich vom Sohn Handtuch und Feierabendhemd reichen und meinte, da könne er bis zum Essen noch ein bisschen Zeitung lesen.

    Lies doch lieber das Märchen zu Ende, Papa, bat Artur.

    Nun gut. Der Vater nahm das aufgeschlagene Buch vor die Augen und las für sich.

    Bitte, laut, forderte der Sohn. Walter Becker strich ihm übers Haar und las. Als das Märchen zu Ende war, schob er unauffällig das Buch fort und schaute sehnsüchtig zur Zeitung.

    Kann ich morgen mit Eugen zur Schule gehen?, fragte Artur. Ich muss doch lesen lernen.

    Wenn du sechs Jahre alt bist.

    Artur maulte. Ich möchte aber jetzt.

    Walter Becker sah ihn ernst an.

    Warum soll man mit dir eine Ausnahme machen? Bist du was Besseres?

    Jawohl. Mama hat's mir doch erzählt. Ich hab 'nen Wirbel.

    Die Eltern sahen sich an und unterdrückten nur mit Mühe das Lachen. Walter Becker räusperte sich. Das ist doch auch nur 'n Märchen.

    Aber ich möchte doch so gern in die Schule.

    Ärgerlich nahm der Vater den Blick von der Zeitung.

    Pass Obacht, Bengel. Entweder du versprichst jetzt zu warten, bis du sechs Jahre alt bist, oder du marschierst ins Bett.

    Artur senkte den Blick, es herrschte Schweigen. Die Mutter klapperte mit den Tellern. Eugen kam vom Herumstrolchen. Schuldbewusst begrüßte er den Vater. Der brummte: Du weißt doch, wann wir essen.

    Eugen nuschelte, er hätte einen Umweg machen müssen, weil der Gendarm ihm aufgelauert habe. Auf die Frage des Vaters gestand er, sie hätten für Karle Leutners Aquarium Molche gefangen.

    Am abgesperrten Tümpel?

    Eugen gab es zu.

    Wenn ihr den Pickelhauben so leichten Vorwand gebt, braucht ihr euch nicht zu wundern, dass sie euch jagen, sagte der Vater und gab seinem Ältesten einen versöhnlichen Klaps. Die Mutter füllte eine Flasche für die kleine Schwester Hedwig, brachte sie ihr an die Wiege, und dann setzten sich die Vier zum Abendessen. Artur aß in sich gekehrt. Als der Tisch abgeräumt war, ging er zum Vater und schmiegte sich an. Ich will es versprechen, Papa.

    Hast du's gehört, Luise?

    Wir werden ihn daran erinnern, falls er es vergisst.

    Sie mussten es einige Male tun. In den vielen Monaten bis zum Schulbeginn ging Arturs Ungeduld des Öfteren mit ihm durch, kroch ihn der Neid, gegen den älteren Bruder an, den er sonst liebte wie die kleine Schwester und die Eltern. Doch wenn er an das Versprechen gemahnt wurde, verstummten seine Quengeleien.

    Mitte März 1911 nahm Luise Becker ihren Zweiten an die Hand, um ihn zum Unterricht anzumelden. Das Amtszimmer des Rektors lag im ersten Stock des nicht mehr ganz neuen Gebäudes. Sie stiegen die breite Steintreppe hinauf. Mit großen Augen lief Artur durch den hallenden Gang mit den eintönig getünchten Wänden. Frau Becker klopfte, trat grüßend ein und legte das Familienstammbuch sowie den Impfschein Arturs auf den Schreibtisch. Rektor Kunz bot ihr einen Stuhl an, schrieb etwas in eine Liste. Dann wandte er sich den beiden zu und ließ den Zwicker fallen, der nun an einer Schnur vom Rockaufschlag baumelte. Freundlich fragte er Artur: So, du willst also zu uns kommen?

    Artur nickte eifrig. Ja, sehr gern.

    So offensichtliche Begeisterung stimmte den Rektor heiter. Hoffentlich hält das acht Jahre an.

    , trompetete Artur, ich will bloß lesen lernen, dann komme ich nicht mehr.

    Wohlwollend gab der Rektor zu bedenken: Was aber dann, wenn dir nun anderes ebenso gefällt wie Lesen? Vielleicht Erdkunde oder Religion?

    Der Mann mit dem steifen Kragen und der feierlichen Krawatte schien netter zu sein, als er aussah. Artur mochte ihn nicht enttäuschen. Na ja, dann - dann kann man vielleicht mal sehen.

    Belustigt gab Kunz Frau Becker und ihrem Sohn die Hand. Ich denke auch, Artur, du wirst mit dir reden lassen. Und wenn du zu den drei fleißigsten Schülern gehörst, bekommst du beim Abgang ein Buch zur Belohnung. Überleg dir's, bist doch so aufs Lesen aus - auf Wiedersehn.

    Als sie über die schwarze Schlacke des Schulhofs gingen, fragte Artur: Was wird es für ein Buch sein, Mama?

    Mit seiner Offenheit wird es Artur manchmal schwer haben, dachte Luise Becker. Die Frage des Sohnes entriss sie dem Grübeln. Was für ein Buch? Wahrscheinlich ein - so ein vaterländisches, mit lauter Geschichten vom Kaiser.

    Ist er ein lieber Mann?

    Sie sagen so. Aber er rasselt so viel mit dem Säbel.

    Will er mit dem Säbel stechen?

    Seine Soldaten sollen es für ihn tun. Andere totstechen und totschießen, die ihnen nichts getan haben.

    Soldaten sind doch mutig.

    Was bleibt ihnen anderes übrig, wollen sie nicht selbst totgemacht werden. Oft kommen sie nach Hause ohne Arm oder Bein. Dann können sie nicht mehr arbeiten und müssen betteln. Wie der alte Piezker, der immer vor dem Kaufhaus Alsberg sitzt.

    Warum gibt denn der Kaiser dem alten Piezker kein Geld?

    Er bekommt etwas, aber es ist zu wenig zum Leben.

    Dann kann ich den Kaiser nicht leiden. Und ich will auch das olle Kaiserbuch nicht haben.

    Den ganzen Tag vor dem ersten April war Artur aufgeregt. Stolz betrachtete er immer wieder die Schulmappe und hing sie zur Probe über. Eine Schiefertafel war darin, mit einem Schwamm an einer Strippe, und der musste aus der Mappe hängen. Es war die alte Mappe von Eugen. Der Vater hatte neue Riemen angenietet und das billige abgeschabte Leder mit brauner Schuhwichse auf Hochglanz poliert. Die Tafel war auch von Eugen. Der rümpfte die Nase über den Schulranzen und das Schreibutensil der Siebenklepper. Er durfte die Schulbücher jetzt als Paket tragen, mit Riemen verschnürt. Das war unpraktisch bei Regenwetter, aber schick, weil es die Vierzehnjährigen in der Oberklasse so hielten und sogar die meisten Hochpieper aus dem Realgymnasium.

    An dem denkwürdigen Morgen musste Artur dulden, dass die Mutter ihn wusch - was er sonst schon selber tat -, besonders seinen Hals und die Ohren, jene Körperteile, die bei kleinen Jungen eine alteingefressene Abneigung gegen Wasser und Seife haben.

    Die meisten Schulanfänger wurden von ihren Müttern gebracht. Mehrere von ihnen kannte Artur. Nun trafen sie sich in der Klasse sieben bei Fräulein Marein. Artur fand die Lehrerin nicht so schön wie die Mutter, aber sie war sehr nett. Sie gab jedem die Hand und führte ihn auf seinen Platz. In der linken Bankreihe saßen die Mädchen, rechts die Jungen. Als alle da waren, winkten ihnen die Mütter noch einmal zu und gingen. Endlich, dachte Artur, es wurde höchste Zeit, dass es losgeht mit dem Lesenlernen. Er wurde enttäuscht. Fräulein Marein rief jeden auf und fragte, wie er heiße und wann er geboren sei.

    Nachdem sie sich so die Namen eingeprägt hatte, sagte sie: Damit ihr die Schule lieb gewinnt, machen wir heute am ersten Tag ganz etwas Schönes: Ich lese euch ein Märchen vor."

    Au jaaa! rief Artur.

    Die Sieben Raben.

    Och, das kenn' ich schon, protestierte er.

    Fräulein Marein blieb nachsichtig. Wenn Artur das Märchen kennt, muss ich euch ein anderes aussuchen.

    Wir wollen doch lesen lernen, erinnerte Artur.

    Ich nicht, widersprach Kaspar Leutner, der Bruder von Karle, der Eugens Freund war und ein Aquarium besaß.

    Dann bleibst du dumm, belehrte ihn Artur.

    Wenn ihr was zu sagen habt, müsst ihr euch melden, ordnete Fräulein Marein an, und morgen fangen wir dann an, Artur. Da lernt ihr gleich beides, lesen und schreiben. Als sie seine erschrockene Miene sah, machte sie es ihm schmackhaft. Beides zusammen lernt sich besser, und wenn du erst alle Buchstaben kennst, kannst du dir sogar selbst ein Märchen ausdenken und aufschreiben. Das macht noch mehr Spaß, als nur Märchen lesen.

    Sehr zufrieden mit Lehrerin und Schule, ging Artur später in der Schar der anderen nach Hause. Bald würde es aus sein mit der Überlegenheit der Großen. Jetzt sollte ihm der Eugen nur kommen.

    Der kam auch, aber erst zwei Stunden später, maulend über die vielen Schularbeiten.

    Artur barst beinahe vor Neuigkeiten. Wenn ich erst alle Buchstaben kann, schreibe ich Märchen.

    So'n Zimt, sagte Eugen, ist doch alles Spinn.

    Den Faulen helfen?

    Die Tür der sechsten Klasse öffnete sich, der Pausenlärm verstummte. Fräulein Marein ging zum Katheder. Während sie den Stoß Rechenhefte mit den korrigierten Hausaufgaben ablegte, sah sie prüfend in die Kindergesichter.

    Wortlos begann Fräulein Marein die Hefte zu verteilen, doch eine ganze Anzahl blieb auf dem Katheder liegen. Deren Besitzer ließ sie dann nach vorn kommen. Als das gute Dutzend Mädchen und Jungen vor ihr stand, fragte sie: Artur Becker, fällt dir an dieser Gruppe etwas auf?

    Artur erhob sich und schaute zu Boden.

    Fräulein Marein forschte weiter:

    Kaspar Leutner, weißt du, warum ich dich und die anderen nach vorn geholt habe?

    Dem sommersprossigen Kaspar stand die Schuld auf die Stirn geschrieben, trotzdem tat er dumm mit aufgerissenen Augen und hob die Schultern.

    Erika Borbach, du weißt es sicher.

    Erika, eine Enkeltochter des alten Borbach, senkte den Kopf, ihre kurzen Zöpfe mit den schmalen Haarschleifen standen in die Luft wie die Hörner eines störrischen Böckleins.

    Diese Mitschüler stehen vor euch als abschreckende Beispiele, wandte sich Fräulein Marein an die Klasse, denn wie kann man einem vertrauen, der dumm ist aus Faulheit? Die dreizehn hier sind faul. Sie denken, mich zu betrügen, dabei betrügen sie sich, wenn sie von Artur abschreiben. Er hat einen Fehler gemacht, sie haben alle haargenau den gleichen. Daran habe ich's gemerkt. Hast du sie abschreiben lassen, Artur?

    Ja, sagte Artur leise.

    Und du meinst, du hilfst ihnen damit?

    Artur sah die Lehrerin nicht an; sagte halb trotzig, halb schuldbewusst: Mir fällt's doch leichter.

    Fällt es dir auch leicht, mich zu hintergehen?

    Artur war bestürzt. Sie hat ja recht, fand er, aber darüber habe ich nicht nachgedacht.

    Fräulein Marein wandte sich an die Gruppe der Sünder: Setzt euch. Solltet ihr weiter so dumm sein zu glauben, man besitze, was man nicht erarbeitet hat, dann müsste ich mit euren Eltern sprechen.

    Die Ermahnten waren beschämt. Durch besonderen Eifer wollten sie die Schande wettmachen. Auch Artur versuchte es, doch es gelang ihm nicht. In seinem Kopf wimmelten zu viel Gedanken. Die Lehrerin spürte es. Um ihm Zeit zu lassen, bezog sie ihn kaum in den Unterricht ein.

    Sie mag mich nicht mehr, fürchtete er. Sie hatte damals Wort gehalten, ihm Schreiben und Lesen beigebracht. Sie hatte das sogar beim Kaspar versucht, der weder das eine noch das andere hatte lernen wollen. Und wenn es Schüler gab, die noch nicht richtig lesen und schreiben konnten, war es wirklich nicht ihre Schuld. Nie hatte er daran gedacht, dass er die Freundschaft der Lehrerin verlieren könnte. Jetzt sah es so aus, und es war das erste richtige Unglück in seiner bisherigen Schulzeit.

    Als endlich, endlich an diesem Tag die Schule aus war, trottete Artur grübelnd seines Wegs inmitten der krakeelenden Klassenkameraden. Dass die es so leichtnehmen konnten. Ja, er war der Hauptschuldige, er hatte fast die halbe Klasse abschreiben lassen. Aber nicht er war faul gewesen, sondern die Abschreiber. Gewiss war es den meisten kalt den Rücken hinabgelaufen bei der Verwarnung durch Fräulein Marein. Doch sie hatten es wieder abgeschüttelt wie junge Hunde das Wasser. Das Schlimmste auf der Welt war doch Dummsein. Alle hänselten sie die Dummen, niemand nahm sie ernst, jeder machte mit ihnen, was er wollte. Das hatte ihm der Vater immer wieder gesagt, und in zwei Jahren Schule hatte er es selbst oft genug erlebt.

    Erika löste sich aus dem Schwarm der Mädchen und ging eine Weile still neben Artur her. Er tat als merke er es nicht, doch es gefiel ihm. Erika wartete darauf, dass er das erste Wort spreche.

    Aber Artur war zu beschäftigt mit seinem Kummer. Es genügte ihm, hoffen zu dürfen, dass ein Mitschuldiger ihn verstand.

    Endlich stieß sie hervor: Fräulein Marein immer mit ihren - ihren Reden. Mach dir nichts draus.

    Ach du, sagte Artur enttäuscht.

    Erika blieb beleidigt stehen. Die - die hat vielleicht mehr abgeschrieben als wir, wo sie noch in die Schule ging.

    In Artur stieg Zorn hoch. Du bist ... Das ist gemein! Fräulein Marein hat bestimmt nie abgeschrieben.

    Woher weißt du 'n das so genau? Erikas Stimme war spitz. Alles wird sie dir auch nicht auf die Nase binden.

    Sie hat es gar nicht nötig gehabt abzuschreiben.

    Die war ebenso schlau wie du, was?

    Brüsk wandte sich Artur von ihr ab und trabte in eine Nebenstraße hinein. Bei der nächsten Gehässigkeit hätte er sie ohrfeigen müssen.

    Über übliche Jungenraufereien sah Vater nachsichtig hinweg, aber Mädchen zu schlagen hielt er für schäbig. Überhaupt vergreife man sich nicht an Schwächeren, war einer seiner Grundsätze.

    Wie eine Last warf Artur die Schulmappe von dem einen Arm in den anderen. Die Riemen waren angeblich kaputtgegangen, in Wahrheit abgeschnitten worden. Nach so langer Schulzeit trug man den Ranzen nicht mehr brav auf dem Rücken. Es baumelte auch kein Schwamm mehr heraus. Schließlich schrieb man nicht mehr auf der Schiefertafel. Die wartete schon darauf, von der Schwester Hedwig benutzt zu werden.

    Bedrückt schlurfte Artur heute in die Wohnung. Hast wohl einen Tadel bekommen?, fragte die Mutter halb scherzend. Der für seine Kümmernis viel zu leichte Ton ließ Artur nur verschlossen den Kopf schütteln. Mutter war die beste Frau der Welt, aber sie hatte immer zu schnell Redensarten zur Hand wie die Heilzwiebel, wenn er mit Schrunden oder Wunden vom Spiel kam. Mutter wusch, buk, kochte - nicht selten sein Lieblingsessen Makkaroni -, sie hielt die Wohnung blitzblank und half zuverdienen als Wasch- oder Putzfrau. Wahrscheinlich würde Mutter das alles gar nicht schaffen, wenn sie die Dinge wie Vater stets im Kopf um und um wenden würde. Deshalb nahm sie auch die Wehwehs der Kinder leichter. Bis du heiratest, ist das längst vergessen. Mit dieser Zauberformel verscheuchte sie Kinderbetrübnis. Doch es gab Dinge, die man nie vergaß. Über die musste man mit Vater reden.

    Artur war es gewohnt, den Vater nur sonntags am Tage zu sehen, sonst des Abends. Manchmal wurde er enttäuscht. Er schlief schon, wenn Vater von einer Gewerkschaftsversammlung kam oder vom Zahlabend des sozialdemokratischen Wahlvereins. Um so mehr freute sich Artur auf die Sonntage.

    An diesem Abend wartete Artur besonders erregt. Trotzdem geduldete er sich, bis der Vater nach dem gemeinsamen Abendbrot zur Zeitung gegriffen, eine Weile gelesen hatte und nun kurz vor dem Einnicken war. Jetzt ging Artur zu ihm, nahm des Vaters Arm und legte seine Wange dagegen. Walter Becker schreckte ein wenig verlegen hoch und fuhr seinem Zweiten über den Schopf. Was gibt's?

    Du, Papa, als du noch - wie du erst so groß warst wie ich, wollten sie da auch immer-von dir abschreiben?

    Der Vater schüttelte den Schlaf ab und fragte ein wenig verwundert: Wieso? - Wahrscheinlich. – Die Faulen werden ja nicht alle.

    Und du hast sie nicht abschreiben lassen?

    Der Vater wurde hellhörig. Erzähl mal der Reihe nach: Was war los?

    Artur berichtete, dann sah er den Vater erwartungsvoll an. Der strich sich nachdenklich die stopplige Wange. Bei uns war mal so was Ähnliches. Da hat's Dresche gegeben, immer von oben runter. Fräulein Marein macht's besser.

    Auch wenn sie nicht mehr mit mir spricht?

    Der Vater verkniff sich ein Schmunzeln. Bist doch der Hauptangeklagte.

    Wenn sie nichts mehr von mir wissen will, gehe ich nicht mehr in die Schule.

    Na, na.

    Aber Kaspar und Bruno kamen nicht mit und die Mutze auch nicht. Die ist immer so käsig und müde, weil sie helfen muss Zeitungen austragen. Das weiß doch Fräulein Marein auch. Manchmal gibt sie ihr Frühstücksbrot der Mutze.

    Und der dicke Alois, der Bäckerjunge, der Mutze gut und gern jeden Tag 'ne Schrippe zustecken könnte? Warum hast du das verwöhnte Muttersöhnchen auch abschreiben lassen?

    Der hat gesagt, alle haben das gleiche Recht. Wenn ich Mutze und Kaspar abschreiben lasse, muss ich den anderen auch das Heft geben.

    Walter Becker lachte zornig. Der hat das Zeug zum Großkapitalisten. Was ihm in den Kram passt, nennt er Gerechtigkeit. Damit hast du dich hereinlegen lassen.

    Das letzte Mal, schwor Artur. Jetzt kriegen bloß noch Mutze und Kaspar mein ...

    Abschreiben gibt's nicht mehr, für keinen. Vater sagte es so entschlossen, dass Artur erschrocken in das fahle Gesicht mit den feinen Furchen und dem struppigen Schnurrbart blickte.

    Mutze bleibt diesmal bestimmt sitzen, wenn ich ihr nicht helfe, prophezeite Artur.

    Abschreiben lassen ist auch für Mutze keine Hilfe, beharrte der Vater. Als er die verzweifelte Miene Arturs sah, suchte er nach einem guten Beispiel. Beim Nachdenken rieb er sich die behaarte Brust unter dem verwaschenen Leinen des Feierabendhemds. Pass Obacht. Neben mir stellen sie einen jungen Kollegen hin, der in seinen vier Jahren Lehrzeit mehr Botenjunge als Feilenhauerlehrling war. Er kommt und kommt nicht auf seinen Akkord. Soll ich nun seine Arbeit mitmachen?

    Artur hob mal die eine, mal die andere Schulter. Dann sagte-er vorsichtig; Da würdest du doch weniger verdienen.

    Der Vater verstopfte ihm das Schlupfloch. Das auch. Aber darum geht es nicht. Wie kann ich dem Kollegen wirklich helfen? Überlege mal!

    Arturs Jungenhirn dachte an vieles. Dem Vater dauerte es zu lange. Deshalb fuhr er fort: Da guckt man, was er falsch macht, und zeigt ihm, wie's richtig gemacht wird. So lange, bis er's kapiert. Und wenn er was von Dank brabbelt, gibt man ihm 'nen Aufnahmeschein für die Gewerkschaft. Hier, mein Junge, danke es der, die hat uns zum gegenseitigen Helfen erzogen.

    Artur betrommelte begeistert den eisenharten Arm des Vaters. Wenn ich erst Feilenhauer bin, mach' ich's auch so.

    Das will ich hoffen. Aber du bist es noch nicht. Und was machst du nun mit Kaspar und Mutze?

    Vor Schreck fuhr sich Artur mit dem Zeigefinger in die Nase. Eben hatte er sich als großmütiger Feilenhauer einen neuen Kampfgenossen werben sehen, nun riss ihn der Vater in die wenig heldische Wirklichkeit zurück. Rasch fasste

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1