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SoKo Schlafsack: Rheinland-Krimi
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eBook278 Seiten3 Stunden

SoKo Schlafsack: Rheinland-Krimi

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Über dieses E-Book

Sonderermittler Jost Brecht wird nach Wormersdorf gerufen. Am Ortsausgang liegen in der Kirche am Friedhof elf Leichen, in Schlafsäcke eingenäht.
Mit dem nörgelnden Oberstaatsanwalt Haase im Nacken, muss Brecht schnell handeln. Er stellt mit den SpuSi-Leuten Milla und Knips und dem Streifenpolizisten Federkern ein schlagkräftiges Team zusammen, das von Rheinbach aus ermittelt.
Die Spuren führen auch in die Mülldeponie nach Miel, wo Federkern Zeuge eines grässlichen Unfalls wird. Oder ist es der Versuch, einen Zeugen mundtot zu machen?
Und welche Rolle spielt der Kugelschreiber mit der Aufschrift eines Tennisclubs?
SpracheDeutsch
Herausgebercmz
Erscheinungsdatum1. Juli 2019
ISBN9783870623210
SoKo Schlafsack: Rheinland-Krimi

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    Buchvorschau

    SoKo Schlafsack - Günter Detro

    Kugelschreiber

    1

    Wie viele?«, fragte Brecht ungläubig und runzelte die Stirn. »Ölf«, wiederholte die Frauenstimme.

    Brecht wusste nicht, worüber er sich mehr wundern sollte, über die große Menge, die ihm da gerade mitgeteilt wurde, oder über die ungewöhnliche Aussprache des Zahlworts. Grundsätzlich legte er Wert auf die korrekte Verwendung von Sprache, gerade auch im Alltag, vielleicht, weil er stets mit Sorgfalt ermittelte und auf Genauigkeit achtete. In seinem Beruf kam es auf Gewissenhaftigkeit an! Vielleicht war ihm aber auch eine angemessene Sprache so wichtig, weil er in seiner Freizeit Gedichte schrieb. Bei dieser Betätigung spielte jedes Wort eine Rolle, jedes einzelne Wort musste bewusst gewählt werden!

    Aber seitdem sogar seine Tochter ihre Briefe mit LG anstatt mit Liebe Grüße beendete, konnte ihn eigentlich nichts mehr erschüttern.

    Ölf statt elf, das erinnerte ihn an die Sprache von Professor Crey in der Feuerzangenbowle. Jäder Schöler nor einen wenzigen Schlock, oder so ähnlich hieß es da. In Spoerls Roman hatte ihn das amüsiert. Aber jetzt …

    Brecht schüttelte unwirsch den Kopf, obwohl die Gesprächsteilnehmerin am anderen Ende der Leitung diese Geste, die sein Missfallen ausdrückte, natürlich nicht sehen konnte.

    »Wo?«, fragte Brecht einsilbig, mit der Befangenheit desjenigen, der seine Missbilligung nicht gänzlich unterdrücken kann.

    »Hier in der Kürche!«

    Kürche! Brecht schnappte nach Luft. Das wurde ja immer schlimmer! Kürche und ölf!

    »Ölf in der Kürche?«, äffte Brecht die Stimme am Telefon fragend nach, ohne groß zu überlegen. »Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht verzählt haben? Ölf Leichen?« Brecht steigerte sich in etwas hinein. »Sind es nicht vielleicht doch nur zöhn? Oder sogar zwelf?« Brecht genoss die kurze Pause, die entstanden war. Jäder nor einen wenzigen Schlock, dachte er belustigt.

    »Wie bitte?«, fragte die Dame am Telefon, offensichtlich verwirrt, aber auch mit einem leicht ärgerlichen Unterton.

    »Schon gut«, antwortete Brecht beschwichtigend, »ich komme! Um welche Kirche handelt es sich?«

    Wieder entstand eine Pause.

    »Jonas, hat die Kürche einen Namen?«, hörte Brecht die Stimme fragen. Irgendjemand im Hintergrund gab eine Antwort, die Brecht aber nicht verstehen konnte.

    »Wir sind in Wormersdorf, Stadtteil von Rheinbach«, gab die Dame an Brecht weiter, »aber das sagte ich ja anfangs bereits.«

    »In Wormersdorf gibt es zwei Kirchen, soviel ich weiß«, erwiderte Brecht in ruhigem Ton. Er war sich da ganz sicher, aber er bemühte sich, nicht unfreundlich zu klingen. Wegen seiner …, er wog kurz ab, welches Adjektiv sein Verhalten am besten beschrieb, … ungewöhnlichen Reaktion vorhin regte sich doch sein schlechtes Gewissen ein wenig.

    Pause.

    Brecht versuchte zu helfen: »Ist es eine große oder eine kleine Kirche?« Er bemerkte sofort selbst, dass Ungeduld in seiner Stimme mitschwang.

    Diesmal kam die Antwort spontan: »Kleiner als der Kölner Dom, aber größer als die Bruder-Klaus-Kapelle bei Wachendorf.«

    Brecht war verblüfft. Die Dame konterte. Und gar nicht mal so schlecht! Natürlich war seine Frage nicht sehr sinnvoll gewesen. Groß und klein waren relative Begriffe. Sie brauchten immer einen Bezug. Da die Dame die andere Kirche nicht kannte, konnte sie nicht wissen, ob sie größer oder kleiner war. Aber die Antwort gefiel ihm. Dass der Kölner Dom riesig ist, wusste jeder. Und kleiner als die Bruder-Klaus-Kapelle bei Mechernich in der Eifel konnte ein Gotteshaus kaum sein, zumindest was die Grundfläche anging. Der Betonturm des Schweizer Stararchitekten Peter Zumthor wies innen nur eine kleine Holzbank auf, und es konnten sich nur wenige Personen gleichzeitig in dem Gebäude aufhalten. Raffinierte Antwort!

    Brecht versuchte es erneut: »Liegt die Kirche mitten im Ort oder am Rand?« Mit dieser Frage müsste eine Identifizierung eigentlich gelingen.

    »Eindeutig am Rand«, lautete die Antwort.

    »Dann ist es die Ipplendorfer Kirche«, erklärte Brecht, zufrieden, dass er das Kommunikationsproblem gelöst hatte.

    »Wenn Sie meinen«, erwiderte die Dame mit skeptischem Unterton, »wir sind aber in Wormersdorf.«

    »Schön, dass Sie das sicher wissen«, schoss Brecht zurück, »und ich weiß, dass die Ipplendorfer Kirche in Wormersdorf liegt. So, ich bin schon unterwegs!« Damit beendete er das Gespräch und drückte einfach auf das Feld mit dem roten Hörersymbol.

    Elf Leichen auf einmal?

    Brecht wollte es nicht glauben. So viele hatte er gerade mal in seiner gesamten bisherigen Dienstzeit zusammengebracht, wenn überhaupt, und die betrug immerhin schon dreißig Jahre. Und nun elf auf einen Schlag? Eine komplette Fußballmannschaft? Brechts Phantasie war nicht mehr zu bremsen. Vielleicht vom Blitz getroffen? Aber was war mit dem Schiedsrichtergespann? Und der gegnerischen Mannschaft?

    Was hatte die Kollegin gesagt? Nicht an der Kirche, sondern in der Kirche? Dann schieden der Blitzschlag und die Fußballmannschaft schon einmal aus. Wie schnell die Polizei doch heutzutage arbeitete! Noch nicht einmal am Tatort angekommen, und schon lagen erste Ergebnisse vor!

    Brecht stöhnte über sich selbst. Wie gut, dass niemand seine Gedanken lesen konnte! Man hätte ihn für verrückt erklärt! Aber wie könnte man einen solchen Beruf sonst ertragen? Man musste ein bisschen verrückt sein, auf alle Fälle aber Humor haben, schrägen Humor.

    Er kannte die Kollegin nicht, die ihn angerufen hatte, zumindest hatte er ihren Namen nicht verstanden, und ihre Stimme war ihm auch fremd. Fremd, aber angenehm, wie er zugeben musste. Wenn nicht die ölf Leichen in der Kürche gewesen wären, hätte er ihr noch länger zuhören können. Eine weiche, angenehme Stimme. Mit der konnte man bestimmt einen potenziellen Selbstmörder vom Sprung aus dem Hochhaus abhalten. Aber dann?

    Na ja, in dem vorliegenden neuen Fall war es offensichtlich ohnehin zu spät. Auch eine angenehme Stimme konnte elf Leichen nicht zum Leben erwecken! Wenn es denn wirklich elf Leichen waren. Brecht hatte da einfach seine Zweifel. Das klang doch eher nach einem schlechten Krimi!

    Er schwang sich auf sein Fahrrad und strampelte los. Er fuhr zwischen den Häusern des Neubaugebietes hindurch, in das er vor ein paar Jahren gezogen war. Wohnpark Weilerfeld war die offizielle Bezeichnung. Er selbst sprach immer vom Neubaugebiet. Wie lange blieb ein Neubaugebiet eigentlich neu? Für ihn vermutlich immer, denn er hatte die Rohbauten erlebt, die noch nicht fertig gestellten Straßen, die Baumaterialien, um die man herum kurven musste. Aber das gehörte der Vergangenheit an. Das Neubaugebiet war fertig. Doch für ihn würde der Name bleiben! Basta!

    Brecht trat kräftig in die Pedale. Er befuhr den Worringer Weg. Jedes Mal, wenn er den Straßennamen auf dem Schild sah, erfasste ihn kurz seine Heiterkeit von damals, als man das Schild austauschte. Es müsste doch Worringener Weg heißen, hatte jemand beanstandet. Nach der Schlacht von Worringen, die den Rittern von Rheinbach das Recht gab, die Siedlung an ihrer Burg auszubauen, und damit letztlich auch zur Errichtung des Neubaugebietes geführt hatte, des Wohnparks Weilerfeld. Worringen plus Endsilbe -er. Der Schildertausch wurde in der Presse als Schildbürgerstreich gehandelt. Es gab eine ironische Nachfrage, ob man denn jetzt auch von den Bremener Stadtmusikanten sprechen müsste. Nach kurzer Zeit wurde das alte Schild wieder montiert.

    Brecht ließ den Worringer Weg und seine Geschichte hinter sich und bog nach rechts ab. Zum Glück waren die Temposchwellen, mit denen man hier die Straße versehen hatte, fahrradfreundlich. Die wie Kissen auf der Fahrbahn liegenden Erhöhungen fielen nach links und rechts ab, so dass direkt an den Bordsteinkanten schmale Durchlässe geblieben waren, die man als Fahrradfahrer nutzen konnte, ohne sich wie auf einer Holperstrecke vorzukommen. Oder hatte man den Radlern gar nichts Gutes tun wollen, sondern dabei nur an das Regenwasser gedacht, das ungehindert abfließen sollte? Jedenfalls wäre er nur widerstrebend über die Kissen gefahren, denn er hatte davon gehört, dass Fachleute ein solches Bremskissen auch schlafender Polizist nannten. Einen Polizisten hätte er nur ungern überfahren, kollegial wie er war!

    Sein Blick fiel auf das kleine Display am Lenker. Sollte er nicht den Motor einschalten? »Nur bei starkem Gegenwind oder am Berg«, hatte sein Arzt gemahnt. »Tun Sie etwas für Ihre Gesundheit, die Bewegung tut Ihnen gut, der Elektromotor soll nur extreme Anstrengungen vermeiden helfen.« So früh am Morgen kam ihm das Fahren eigentlich schon wie eine extreme Anstrengung vor. Und Gegenwind? Brecht steckte den Zeigefinger der rechten Hand in den Mund und hielt dann den Finger wie eine Fahne in die Luft. So hatten sie das als Kinder gemacht, wenn sie Drachen steigen ließen und die Windrichtung prüfen wollten. Der Finger wurde an der Seite, die in Fahrtrichtung zeigte, kalt.

    »Aha! Gegenwind!«, rief Brecht laut aus. Er wollte schon den Elektromotor einschalten, als eine dieser inneren Stimmen, die sich ab und zu bei ihm meldeten – meist zu unpassender Zeit –, das Wort ergriff: »Quatsch, Brecht, das ist kein Gegenwind, das ist bloß Fahrtwind! Ein Windchen!« In der Tat spürte er, wie ihm ein leichter Windstoß von der Seite und nicht von vorne eine Strähne seines ergrauten Haupthaares in die Stirn blies. Von der Seite! Seine Hand, die eben noch das entsprechende Feld seines Displays betätigen wollte, zog sich zurück und wischte die Haare aus dem Gesicht. »Aber nach der nächsten Rechtskurve«, sagte er der inneren Stimme, »dann ist es Gegenwind!«

    Nach einer Weile bog er nach links auf einen geteerten Feldweg ab, dessen Einmündung mit einem großen Findling dekoriert war. Ein Schild wies darauf hin, dass der Weg für Kraftfahrzeuge und Motorräder gesperrt sei, ein anderes auf die Entfernung von drei Kilometern bis nach Wormersdorf.

    Dann nahm er die Querverbindung zur Parallelstraße, den Ahrweg. Dieser verlief wirklich bergauf, eindeutig, und Brecht schaltete mit gutem Gewissen den Rückenwind ein. Er befand sich jetzt zwischen Feldern und Wiesen, links wurde der Weg von Hecken gesäumt, rechts von Wald. Wenn Brecht nicht das unschöne Ziel, nämlich angeblich eine beträchtliche Anzahl an Leichen, vor sich gehabt hätte, wäre die Fahrt ein Wochenendvergnügen gewesen.

    Vor ihm tauchte ein weiterer Fahrradfahrer auf, ein sportlicher, mit enger Radlerhose, engem Trikot und Käppi. Wie eine Leberwurst mit Kopfbedeckung! Brecht drückte das Feld auf dem Display, das die elektrische Leistung erhöhte. Sein Rad ruckte nach vorne, trotz des Anstiegs. Die Distanz zwischen ihm und der Leberwurst verringerte sich zusehends, da schaute das Käppi nach links und bog auch in diese Richtung ab. Schade, dachte er. Den Triumph hätte er sich gerne gegönnt, die Leberwurst zu überholen und in das verdutzte Gesicht zu grinsen. Er reduzierte die Leistung wieder. Strom sparen. Aber jetzt war das Fahren deutlich anstrengender. Brecht schnaufte. Warum musste die Kirche auch auf einer Anhöhe liegen! Oder überhaupt in seiner Nähe! Hätte man die elf Leichen nicht auch in einer anderen Kirche finden können? Weiter weg, dann hätte er das Auto genommen.

    Brecht fuhr zwischen einem Sportplatz und Tennisplätzen hindurch und befand sich wieder in bewohntem Gebiet. Nachdem er zwei Straßenkreuzungen überquert hatte, überwogen links und rechts freistehende Einfamilienhäuser mit Garagen und gepflegten Vorgärten. In einem fiel Brecht eine riesige Uhr auf einer verzierten Säule ins Auge, die auf den Bahnsteig eines altehrwürdigen Bahnhofs gepasst hätte. Ob sie sogar die Zeit richtig anzeigte, entging ihm, denn er musste einer Autotür ausweichen, die in den Fahrweg hineinragte.

    »Tun Sie etwas für Ihre Gesundheit. «Diese Mahnung kam ihm wieder in den Sinn.

    Wahrscheinlich besaß sein Arzt gar kein Fahrrad, sonst wüsste er, wie gefährlich so eine Drahteselfahrt sein konnte. Der Transporter mit der offen stehenden Beifahrertür war auch noch entgegen der Fahrtrichtung geparkt worden. Zum zweiten Mal an diesem jungen Tag schüttelte Brecht den Kopf, ohne dass der Adressat es sehen konnte, denn das Fahrerhaus war leer.

    Er schaffte es dann doch, sein Ziel ohne Verschnaufpause zu erreichen. Vor ihm blockierte ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht die enge Straße. Er stieg vom Rad, lehnte es an eine Hausmauer und ging auf die kleine Kirche zu. »Sie können hier nicht durch!«, rief eine Stimme. Sie gehörte einem Polizisten in Uniform.

    »Ich kann«, antwortete Brecht, mit starker Betonung auf dem ersten Wort, und zog seinen Ausweis.

    »KHK Brecht, Sonderermittler!«

    Brecht genoss die Situation, wie jedes Mal. Was so eine kleine Plastikkarte ausmachte, dazu seine Position, selbstbewusst vorgetragen. Ähnlich hatte sich vermutlich der Polizist gefühlt, mit seinem Streifenwagen, dem Blaulicht, seiner Uniform und dem »Sie können hier nicht durch.« Eine Machtposition! Pech gehabt, dass er es nicht mit einem normalen Passanten zu tun hatte. Der Polizist tat ihm fast leid.

    »Das ist natürlich etwas anderes!«, sagte dieser gelassen. »Hallo, Kollege, da drin wartet man schon auf Sie.« Er zeigte mit dem Daumen hinter sich, in Richtung Kirche.

    Brecht war fast neidisch auf die ruhige, umgängliche Art des Polizisten. Der machte das gut. Hatte offensichtlich kein Problem damit, dass er, Brecht, sich gerade vielleicht ein bisschen arrogant gegeben hatte.

    »Danke!«, sagte Brecht. Danke war immer gut. Das kam an. Damit waren sie quitt. Er nickte dem Uniformierten noch einmal zu und ging weiter. In Filmen wurde den Ermittlern, die mit einem BMW oder einem Mercedes angerauscht kamen und aus dem Fahrzeug sprangen, das Absperrband hochgehalten, so dass sie sich nur wenig bücken mussten. Hätte ihm auch gefallen. Zu blöd, dass es hier kein Absperrband gab. Brecht besann sich und drehte sich noch einmal um.

    »Wenn Sie ein Auge auf mein Rad werfen könnten«, rief er dem Uniformierten zu. »Pedelec!«, gab er noch als kurze Erklärung hinterher. Zweitausendfünfhundert Euro, dachte Brecht, wollte den Preis aber nicht durch die Gegend posaunen. Hätte angeberisch wirken können.

    Die dunkle, schwere Holztür in der Mitte des Kirchturms stand offen, Brecht betrat das Gebäude. Seine Augen mussten sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Zwei Personen in weißen Schutzanzügen, eine mit einer Kamera in der Hand, knieten im Gang zwischen den Bankreihen auf dem Boden. Von Leichen aber keine Spur! Was war das jetzt? Brecht ging auf die beiden Schneemänner zu und räusperte sich. Der Weiße mit der Kamera blickte auf. Es war Knips von der SpuSi. Brecht kannte seinen richtigen Namen nicht, alle nannten ihn Knips, trotzdem zögerte Brecht, ihn mit Knips anzureden. Ob er von seinem Spitznamen überhaupt wusste?

    Brecht deutete auf den Fleck am Boden, vor dem die beiden hockten. »So kleine Leichen? Elf Ameisen vielleicht?« Was für ein blöder Scherz, schoss es Brecht sogleich selbst durch den Kopf. Aber nun war er raus.

    »Herr Brecht, grüße Sie!«, sagte Knips und richtete sich auf. »Ich überlasse Ihnen gleich das Feld, ich habe schon fast alles geknipst.« Auf den blöden Scherz ging er nicht ein, Brecht war erleichtert.

    »Nein, keine ölf Ameisen, ölf ausgewachsene Leichen«, sagte eine Stimme neben ihm, eine sehr angenehme Stimme. Der zweite Schneemann war eine Schneefrau, die sich jetzt die Kapuze von ihrem Kopf zog und ihr blondes Haar schüttelte. Brecht sah den Mittelscheitel mit den dunklen Ansätzen auf beiden Seiten. Aha, The Voice färbt ihre Haare, kombinierte er messerscharf. Hätte sie eigentlich nicht nötig, bei der Stimme.

    The Voice hielt ihm ihre Hand hin. »KK Przyleck«, sagte sie, »wir haben vorhin miteinander telefoniert.« Pschüleck? Brecht überlegte, wie man den Namen wohl schreiben würde, während er ihre Hand schüttelte. Fester Händedruck, angenehm.

    »Angenehm!«, sagte Brecht höflich. »Gut, dass Sie mich informiert haben, bei elf Leichen.«

    »Der O-S-t-A Haase hat das angeordnet«, antwortete The Voice, wobei sie die Abkürzung der Dienstbezeichnung in einzelnen Buchstaben wiedergab.

    »Der Osterhase leitet die Ermittlungen?« Brecht war nicht begeistert. Er konnte den Osterhasen, wie fast alle Kollegen Oberstaatsanwalt Haase intern nannten, nicht leiden. Ein unangenehmer Mensch! KK Przyleck lachte. Offenbar hatte sie den Spitznamen noch nicht gehört.

    »Seit wann sind Sie denn schon hier?«, fragte Brecht, der sich wunderte, dass die Organisation des Einsatzes anscheinend sehr schnell gegangen war.

    »Dazu kann ich nichts sagen«, antwortete KK Przyleck, »das muss der Gerichtsmediziner feststellen.«

    Missverständnis, dachte Brecht belustigt, wollte es aber nicht aussprechen, aus Sorge, eine seiner Äußerungen könnte wieder arrogant rüberkommen. Er hatte da schon seine Erfahrungen gemacht. »Nein, ich meine, wie lange Sie schon hier sind, also die SpuSi, nicht die Leichen.«

    The Voice lachte wieder und schaute dabei reflexhaft auf ihr linkes Handgelenk. Ihre Uhr war aber fest in dem Ärmel des Schutzanzuges verpackt.

    »Schätze, über eine Stunde«, sagte sie dann und ließ ihren Arm wieder sinken.

    »Und wo sind die Leichen?« Brecht ließ das Zahlwort bewusst weg. Knips zeigte in beide Richtungen auf die Bankreihen neben sich. Brecht trat näher an die Bank zu seiner Rechten heran. Auf der Sitzfläche lag ein längliches Paket, heller Leinenstoff. Die Umrisse deuteten auf einen menschlichen Körper. Davor lag halb auf dem Boden, halb auf der Kniebank ein weiteres, anscheinend identisches Paket. Brecht drehte sich um. In der Bank auf der anderen Seite des Ganges das gleiche Bild.

    Da waren es schon vier, dachte Brecht und spürte einen Schauder, der ihm den Rücken hinab lief. Er machte einen Schritt nach vorne, schaute nach links und rechts, wieder vier Pakete. Noch zwei Schritte, rechts Nummer neun und Nummer zehn, links nur ein Paket. Machte elf. Sicherheitshalber kontrollierte Brecht auch noch die Bankreihe davor, ging zurück und schaute auch in der letzten nach. Die waren wirklich leer, paketfrei.

    »Habt ihr schon alle …«, Brecht zögerte, »hm, Pakete überprüft?«

    »Nein«, antwortete Knips, »das sollen die Medizinmänner machen.«

    »Und wo sind die?«

    »Heute ist Samstag!«, sagte Knips in belehrendem Ton.

    »Ach so!«, rief Brecht aus und täuschte Überraschung vor. Ich bin doch auch schon hier, dachte er, sagte es aber nicht. Er würde jetzt auch viel lieber die Zeitung lesen, bequem in seinem Sessel sitzend, mit übereinandergelegten Beinen, einen Kaffee dabei trinken und einen geruhsamen Morgen verbringen. So, wie es sich seine Frau immer gewünscht hatte … vor der Trennung. Brecht schüttelte sich, um den Gedanken loszuwerden. »Ihr seid doch auch schon hier!«, sagte er dann.

    »Ja, wir!«, antwortete Knips und zog dabei das Personalpronomen in die Länge. Mehr sagte er nicht. Brecht grübelte nur kurz, was Knips damit wohl ausdrücken wollte. Dann trat er wieder an die vorletzte Bank heran und beugte sich über das Paket. »Wie sind die verschlossen?«, fragte er laut, ohne aufzublicken.

    »Alle ölf zugenäht«, sagte The Voice, »verlängert und zugenäht.«

    »Wie soll ich das verstehen?«, fragte er zurück. Er hörte, wie KK Przyleck auf seine Frage hin näher an ihn herantrat.

    »Es sind Schlafsäcke, am Kopfende um ein Stück Leinentuch verlängert und zugenäht.« Brecht verstand, musste sich aber konzentrieren, um sich nicht nur dem Klang der Stimme direkt hinter ihm hinzugeben. Er spürte ein Kribbeln im Rücken. Nicht unangenehm!

    »Schlafsäcke?« Er drehte sich um.

    KK Przyleck hatte ein iPad in der Hand. »Ja, einfaches Modell einer dänischen Firma. Cottoninlet.

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