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Alle meine Mörder: Kriminalroman
Alle meine Mörder: Kriminalroman
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eBook225 Seiten3 Stunden

Alle meine Mörder: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Professor und Autor Ben Berstecher wird bei seinem täglichen Spaziergang am Bahndamm von einem Zug überfahren. War es Mord oder Selbstmord?
Die Liste der Verdächtigen ist lang: Von anderen Autoren, die nicht wie er auf Bestsellerlisten gelandet sind bis zu einer Hochschulkollegin, die bei den Studenten mit ihrer einschläfernden Art keine Bewunderung wecken kann. Auch seine Ehefrau fehlt auf der Liste nicht, denn Berstechers hatte einige junge Affären...
Doch obwohl es genügend Neider in seiner Umgebung gibt, die als Mörder verdächtigt werden, werden auch Stimmen laut, die ihm einen Selbstmord zutrauen würden.
War der erfolgreiche Berstecher möglicherweise doch nicht so zufrieden, wie es den Anschein hatte? Hat sich selbst vor den Zug geworfen? Die Aussagen des Lokführers erschweren die Ermittlungen für Kommissar Hans-Jürgen Mannhardt...

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum27. Nov. 2014
ISBN9783957641243
Alle meine Mörder: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Alle meine Mörder - Horst (-ky) Bosetzky

    ERSTER TEIL

    Vorspann

    Berlin im Frühjahr 2000, eine Stadt im Kreißsaal der Geschichte. Wir stehen am Empfangsgebäude des U-Bahnhofs Wittenbergplatz, das am Ende der Tauentzienstraße wie ein griechischer Tempel in den Abendhimmel ragt. Aus dem nahen KaDeWe kommen zwei Männer von etwas über zwanzig Jahren mit kurz geschorenen Haaren: Silvio und Thorsten. Unter der Tafel, auf der alle KZs aufgelistet sind, bleiben sie stehen. Ganz offensichtlich warten sie auf einen Dritten. In diesem Augenblick kommt Berstecher aus der U-Bahn. Die beiden mustern ihn feindselig, als er an ihnen vorübergeht.

    Thorsten: Kennste den?

    Silvio: Nee ...

    Thorsten: Mann, det ist der Berstecher, diese linke Zecke ...

    Silvio: Steht der ooch bei euch uff da Liste?

    Thorsten: Logisch, und zwar ziemlich weit oben.

    Exposition

    Tot ist, wer vergessen wird.

    Wir werden immer an ihn denken.

    Prof. Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. hc

    Benedikt (Ben) Berstecher

    * 14. 3. 1948 † 18. 4. 2000

    Professor Dr. Berstecher war ein äußerst engagierter und beliebter Hochschullehrer, der mit seiner wissenschaftlichen Arbeit hohes nationales und internationales Ansehen gewinnen konnte.

    Als herausragendem Essayisten und Romancier gelang es Ben Berstecher in seinem Werk („Gefrorene Glut, „Der Kapaun) in einmaliger Weise, Intellekt und Poesie miteinander zu verschmelzen.

    Dieser große Mann ist für immer von uns gegangen, unfassbar für uns alle.

    Wir sind tief erschüttert über diesen Verlust.

    Wer dies mit der wohl größten Aufwallung las, war Berstecher selbst. Das heißt, er las es nicht, er stellte sich nur vor, wie die trauernde Nachwelt diese schlimme Nachricht wohl zur Kenntnis nehmen müsste. Es wurmte ihn, dass weder dem Schriftsteller Ben Berstecher noch dem Psychologen Prof. Dr. Benedikt Berstecher in dieser Sonntagsausgabe eine einzige Zeile gewidmet war, während um so viele namenlose Hanseln ungeheuer viel Aufhebens gemacht wurde. Sie standen in der Zeitung, er nicht. Einige nur, weil sie gestorben waren. Als sei das ihr Verdienst.

    Berstecher warf die Zeitung auf den Tisch, trat auf die Terrasse hinaus und begrüßte seine Nachbarn, die gerade dabei waren, ihren Rasen, der wie ein mottenzerfressenes Fell aussah, in ein perfektes green zu verwandeln, auf dem die besten Golfer der Welt gern eingelocht hätten. Vater Rönnefahrt zog den quietschenden Vertikulator am Jägerzaun schwitzend hin und her, während Oma Rönnefahrt das herausgetrennte Moos zusammenharkte und zur großen Birke zog, wo die beiden Rönnefahrt-Kinder bereitstanden, um es in einen Plastiksack zu stopfen.

    „Viel Arbeit, was ...?", fragte Berstecher.

    „Naja, antwortete der Nachbar. „Schon. Aber Sie wissen doch: Ist die Nuss auch noch so hart, es knackt sie sicher Rönnefahrt.

    Unternehmensberater war er, und schon deswegen hasste Berstecher ihn nach Kräften. Aufgeblasene Absahner in blauen Anzügen und mit minderem Intellekt, die das auswendig lernten und den Leuten für viel Geld verkauften, was er und seine Kollegen erforscht und in mühsamer Arbeit niedergeschrieben hatten – für ein paar lumpige Mark. Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb er bedauerte, dass er damals, als der Neubau hochgezogen worden war, seinem Impuls nicht nachgegeben und Rönnefahrt eine Ladung Dynamit unters Fundament gelegt hatte. Jetzt einfach auf den Knopf drücken ... Denise war ja nicht zu Hause.

    Sicher, Rönnefahrt hatte ihm die 650 Quadratmeter Grund und Boden in Heiligensee zum Marktpreis abgekauft – und dennoch war er für ihn nichts weiter als ein Landräuber, ein Besatzer. Einst hatten Berstecher und seiner Frau die ganzen 1500 Quadratmeter Grundstück gehört, doch nach der Scheidung hatte er sie auszahlen und deshalb die vordere Hälfte über einen Makler verkaufen müssen. Was er nun noch besaß, war ein lumpiges Hammergrundstück mit einem alten Haus, das immer mehr vergammelte und für das er schon zwei Hypotheken aufgenommen hatte, denn trotz seines Professorengehalts und der Romanhonorare wuchsen seine Schulden von Jahr zu Jahr. Drei Kinder studierten, und der Unterhalt für Ingeborg gab ihm den Rest.

    Berstecher holte sein Rad aus dem Keller. Er liebte es, allein und in gemächlichem Tempo durch die Straßen zu rollen, um die Welt auf sich einwirken zu lassen. Wie der Habicht über ihm nach Beute, so suchte er nach Assoziationen, wenn er Menschen sah und reden hörte. Was konnte er für seine Romane verwenden, was für den Hörsaal? Es war immer etwas dabei, obwohl hier oben im Berliner Norden vergleichsweise noch immer jene biedermeierliche Idylle vorherrschte, die Georg Hermann in seinem Roman Jettchen Gebert so eindrucksvoll beschrieben hatte. 1308 war Heiligensee erstmals urkundlich erwähnt worden, und es hatte anfangs jenem Adelsgeschlecht gehört, dem Willibald Alexis – auch ein Vorbild Berstechers – mit seinem Roman Die Hosen des Herrn von Bredow ein bleibendes Denkmal gesetzt hatte. Die glanzvollste Zeit seiner Geschichte aber sollte es ab 1383 erleben, als in der von Raubrittern zerstörten Kirche von Wilsnack die Hostien zu bluten anfingen und die Gläubigen scharenweise begannen, dorthin zu pilgern.

    Den alten Ortskern gab es noch immer, doch inzwischen waren die Felder und Wiesen ringsum mit Siedlungshäuschen bebaut, nicht immer eben vornehm, denn ein Teil davon war für die Arbeiter der Borsigfabriken in Tegel und der AEG nebenan in Hennigsdorf errichtet worden.

    Berstecher wäre schon gern in eine Gegend gezogen, die etwas nobler war, Dahlem vielleicht, Schlachtensee, Frohnau oder Lichterfelde-West, doch das Schicksal hatte es gefügt, dass seine damalige Gattin gerade hier 1500 Quadratmeter Bauland geerbt hatte. Kurz und gut, sie hatte im ehelichen Pokerspiel nicht nur diese Sandwüste als Ass im Ärmel gehabt, sondern auch zwei zuteilungsreife Bausparverträge und die stärkeren Nerven.

    Berstecher kam aus dem Süden Berlins, und es fiel ihm noch immer schwer, sich hier im Norden richtig heimisch zu fühlen. Nicht nur, dass man die Berliner in die Schubladen Ost und West sortieren musste, auch in der geographischen Vertikalen gab es eine „unsichtbare Mauer in den Köpfen. Fragte man jemanden, wo denn da die Unterschiede lagen, so schwieg er verunsichert, und auch Berstecher musste lange nachdenken, um eine Antwort zu finden: „Das ist der Tribalismus, der tief in unserm Innern eingelagert ist, das heißt, nur da, wo mein Stamm zu Hause ist, ist die Welt schön und wichtig. Mein Dorf, mein Kiez, meine Straße über alles in der Welt. Weil unser Hirn und unsere Psyche nur begrenzte Kapazitäten aufweisen, müssen wir die Komplexität unserer Umwelt zwangsläufig reduzieren, und ein erheblicher Teil dieser Reduktion von Komplexität geschieht durch die Überbewertung des Milieus, in dem wir aufgewachsen sind. So dozierte Berstecher, wenn ihn Journalisten zu diesem Thema befragten.

    Ben Berstecher liebte es, mit dem Rad die Gegend zu durchstreifen. Ein Mann seines Alters konnte eigentlich nicht auf dem Rad oder mit einem Hund an der Leine unterwegs sein und den Leuten in den Gärten zusehen, ohne entweder für einen potenziellen Einbrecher oder – schlimmer noch – einen Kinderschänder, auf der Pirsch nach seinem nächsten Opfer, gehalten zu werden. Seine Beobachtungen ließen sich auf einen Nenner bringen, nämlich dass in Berlin offensichtlich ausschließlich Menschen lebten, die durchweg glücklich waren. Ob sie nun ihre Rasen mähten, ihre Autos wuschen, ihre Dachrinnen reparierten, Tischtennis spielten, auf den Terrassen saßen oder ihre Blümchen begossen – in keinem Falle ließen sie Zeichen von Leid oder Schmerz erkennen, niemand schrie oder weinte, niemand jammerte, niemand lag tot im Rosenbeet. Also waren sie glücklich, wenn denn Glück die Summe des Unglücks war, dem man entging. Berstecher neidete ihnen ihr Glück, so klein es ihm auch erschien. Er bezeichnete dieses Phänomen in seinen Veröffentlichungen als „LH-Syndrom". LH stand für Leberecht Hühnchen, den Helden des gleichnamigen Romans von Heinrich Seidel, einen Lebenskünstler voll heiterer Genügsamkeit, der auch dem ödesten Alltag noch jenes Glücksgefühl abzugewinnen vermochte, das andere erst hatten, wenn sie im Lotto gewannen oder die große Liebe in die Arme schlossen.

    Als Berstecher an einem der schnurgeraden Heiligenseer Entwässerungsgräben entlangrollte, hatte er das Gefühl, verfolgt zu werden. Zwar sah er niemanden, wenn er in seinen Rückspiegel blickte, doch ein archaischer Instinkt sagte ihm, dass da jemand sein musste. Wahrscheinlich einer dieser Glatzköpfe, die aus dem Brandenburgischen nach Berlin gekommen waren. Er wusste, dass sie ihn auf dem Kieker hatten, seit er bei Vorlesungen sowie in Zeitungsaufsätzen gegen die Xenophobie zu Felde zog. Abrupt hielt er und drehte sich um. Aber es war weit und breit niemand zu sehen. Nun war er also auch schon paranoid ...

    Er versuchte, seine diffusen Ängste niederzukämpfen und sich wieder dem Strom seiner Gedanken hinzugeben. Bald schon hatte er sie so druckreif in Worte und Sätze gefasst, wie er sie für den Hörsaal oder den nächsten Roman gebrauchen konnte, wobei er mit der linken Hand das Diktiergerät an den Backenknochen presste und mit der rechten lenkte.

    „Hallo, Ben!"

    Er fuhr herum. Hinter einer Hainbuchenhecke kniete Prof. Dr. Christiane Mitterlechner, die Fachkollegin, die vor nicht allzu langer Zeit auf eine der vakanten C-3-Stellen des KLI berufen worden war, des Kurt-Lewin-Instituts.

    „Was machst du denn da ...? Berstecher sprang vom Rad. „Habt ihr bei Durchsicht eures Haushaltsbuches festgestellt, dass ein zu Ostern verstecktes Schokoladenei noch nicht gefunden und gegessen worden ist ...? Das bezog sich auf die Sparsamkeit, die man ihr nachsagte – wenn ihr nicht ausgeprägter Geiz bescheinigt wurde. Obwohl ihr Mann als selbständiger Baustatiker nicht schlecht verdiente, klagte sie ständig, dass sie kein Geld hätten. Ihre Mutter war als Flüchtlingskind aus Ostpreußen nach Berlin gekommen, und sie schien sich vorgenommen zu haben, dieser Mutter auch als Wohlstandsmensch aufs Haar zu gleichen: Klein und verhärmt sah Christiane Mitterlechner aus, ihre Garderobe wie aus dem Sonderangebot beim Billigheimer. Sie war eine der wenigen Frauen, die seine erotische Phantasie nicht zu beflügeln vermochten.

    Die beiden Mitterlechner-Kinder spielten ausgezeichnet Cello, wie nicht zu überhören war, und strebten froh ihrem Einser-Abitur entgegen. Wenn er da an seine eigene total zerrüttete Familie dachte ...

    „Du sitzt ja gar nicht am Computer und schreibst."

    „Ich quäl mich schon seit Tagen mit 'ner Selbstmordszene herum und komm nicht so recht zu Potte ..." Hin

    und wieder liebte er den Wechsel von der elaborierten zur restringierten Sprache, auch wurde er gern drastisch. „Vielleicht sollte ich mir mal Gedanken über die Bahngleise machen. Besser vom Zug erfasst als vom Verfassungsschutz, würde Bosetzky sagen."

    „Fährst du rüber nach Frohnau zu ihm?"

    „Nein, der hat ja jetzt seine Sportkolumne im Tagesspiegel und ist gerade bei irgendeinem Hockeyspiel der Frauen. Wahrscheinlich nur der kurzen Röcke wegen ..." Warum er in Wahrheit auf Horst Bosetzkys Gesellschaft keinen großen Wert legte, mochte er ihr nicht auf die Nase binden. Sowohl dessen Kriminalromane als auch die Familiensaga der Bosetzkys verkauften sich wesentlich besser als Berstechers Romane, obwohl dieser Literatur schrieb und von der Kritik bejubelt wurde, während man Bosetzky gern ignorierte.

    Christiane Mitterlechner wechselte das Thema. „Ich hab gerade deinen Artikel über Astrologie gelesen und diese unsägliche Madame Ploemeur ... Gut, wirklich gut."

    Berstecher wiederholte geschmeichelt den Titel: „Warum die Sterne immer lügen. Ein Leben lang im Joch eingebildeter Vorherbestimmungen."

    „Besser Astrologie, um mit seinem Leben klar zu kommen, als Alkohol und Drogen."

    „Hast du schon mal was von der Aufklärung gehört?"

    „In meinem Horoskop steht heute: ,Sie sollten Ihr Glück wieder einmal auf die Probe stellen.‘ Wann spielen wir denn wieder 'ne Runde Skat?" Aufgewachsen in einer skatbegeisterten Familie, hatte sie beschlossen, den Männern die Vorherrschaft auch auf diesem Sektor streitig zu machen.

    „Freitag in einer Woche."

    „Sehr schön ... Dann will ich mich mal wieder meiner Familie widmen."

    „Auf dass dir deine dankbaren Kinder dann zum Muttertag eine Widmung ins geschenkte Kochbuch schreiben: Der besten Mutter der Welt."

    „Du bist ja nur neidisch, dass du keine werden kannst..."

    „Ja, sicher ... Berstecher lachte und besann sich auf den Spruch seiner Tante aus alten BDM-Tagen: „Nur eine Mutter weiß allein, was Heben heißt und glücklich sein. Damit winkte er ihr zu und schwang sich wieder in den Sattel. „Bis morgen dann im Institut."

    Sein Weg führte ihn zur Havel. Vor dem Restaurant Dannenberg schloss er sein Rad an und ging durch den Garten zum Wasser hinunter. Er stellte sich an den Steg und erinnerte sich an die Zeit vor der Wende, als drüben am anderen Ufer die Mauer verlief und man in der Psychiatrie gelandet wäre, wenn man behauptet hätte, dass die Dampfer bald wieder zum Lehnitzsee fahren würden, nach Oranienburg hinauf.

    Es kam kein Dampfer, und da er keine Lust auf ein Bier hatte und auf ein Mittagessen schon gar nicht, fuhr er weiter. Auf der Heiligenseestraße, die einen schönen Radweg hatte, ging es Richtung Tegel, Humboldtschloss. Alexander von Humboldt, Wilhelm von Humboldt – das waren Namen, und wer war dagegen schon ein Benedikt Berstecher, auch wenn er oft im Internet und auch schon mal im Lexikon zu finden war. Je älter eine Kultur wurde, desto größer war die Zahl der Namen, die man sich zu merken hatte – und umso geringer die Chance des Einzelnen, vom Normalbürger gespeichert zu werden. Er hoffte trotzdem – in der Regel vergebens –, dass sich die Leute im Café oder auf der Straße nach ihm umdrehten und ehrfürchtig darum baten, ein Exemplar von Gefrorene Glut signiert zu bekommen.

    Er erreichte die Grenze Heiligensees und damit das Stück des Tegeler Forstes, das zwischen S-Bahn-Strecke beziehungsweise Beyschlagsiedlung und Konradshöhe lag. Zu Zeiten, da sie noch einen Hund gehabt hatten, war er hier fast jeden Tag herumgestromert und kannte jedes Jagen mit seinen Besonderheiten. Am meisten liebte er die kleinen Hügel, aus denen der lehmgelbe märkische Sand herausgequollen kam. Da ließ er sich dann nieder, um wie ein Kind zu buddeln, Türmchen, Gänge und Murmelbahnen zu bauen. Er wusste aber auch, wo im Mittelalter die Meiler der Köhler und die Öfen der Teerbrenner gestanden hatten, und kannte den Platz der alten Knochenmühle. Sein nächster Roman sollte hier in dieser Gegend spielen und einen Zeidler oder Beutner zum Helden haben, einen Waldbienenzüchter also, der in den Sog der Pilger zum Wunderblut von Wilsnack gerät und dann vor Ort mit aufklärerischem Eifer gegen die Betrüger kämpft, denn was der naiv gläubige Pfarrer Johannes Cabbuez da auf drei seiner Hostien vorgefunden hatte, war nicht etwa das Blut des Heilands, sondern ein Schimmelpilz mit Namen Bacterium predigiosum, der mit bräunlich roter Färbung wunderbar auf feuchtem Brot gedieh. Der Zeidler aus dem Tegeler Wald sieht in Wilsnack die Waage, wo die Wundergläubigen ihre Sünden mit Schinken, Speck und anderen Leckerbissen aufzuwiegen haben, wittert die betrügerische Geschäftemacherei dahinter und entdeckt schließlich auch den unterirdischen Gang, der Wilsnack mit Havelberg verbindet, der Bischofsstadt. Dort werden die Pilger, bevor sie nach Wilsnack weiterziehen, von falschen Mönchen ausgefragt, die sofort einen Boten durch diesen Gang nach Wilsnack schicken – und erreichen die Pilger schließlich Wilsnack, wissen die Kuttenträger schon alles über sie und können sie mit ihrer vermeintlichen Seherkraft ausnehmen. Veitstänze der Wundergläubigen gab es und einen Prediger, der die Hostien verbrennen wollte – also Stoff genug für einen großen Roman, nur tat sich Berstecher schwer, einen passenden Titel zu finden. Er grübelte schon seit Wochen darüber, und er konnte nicht mit dem Schreiben beginnen, ohne ihn gefunden zu haben. Bacterium predigiosum hätte gepasst, aber zu viele Leser abgeschreckt, weil es irgendwie eklig klang und an die öden Chemie- und Biostunden in der Schule denken ließ. Das Wunderblut erweckte Assoziationen an die Schwarzwaldklinik, nicht aber an erlesene Hochliteratur, wie er sie verstand. Und Der Bienenmann landete in den Buchhandlungen womöglich unter „I wie „Imkerei.

    Nachdem er sich ergebnislos das Gehirn zermartert hatte, setzte er sich enttäuscht auf sein Rad und fuhr in Richtung Nordost, bis er auf den Bahndamm stieß. Sofort sah er das Bild vor sich, wie er dort oben mit seiner Frau spazieren ging, Hand in Hand, die Kinder vorneweg. Kein Zug war zu befürchten, die Strecke war seit Jahren stillgelegt. S-Bahn-Betreiber war die DDR, und deshalb boykottierten die Westberliner seit dem Mauerbau die S-Bahn. Das war nun schon wieder Ewigkeiten her, und seit dem Dezember 1998 gab es zwischen Tegel und Hennigsdorf wieder S-Bahn-Verkehr.

    Immer wenn Berstecher keine Termine hatte und zu Hause arbeitete, ging er nun abends zu den S-Bahn-Gleisen und stellte sich neben die Stromschiene, um auf den Zug zu warten. Erst wenn er dicht vor ihm war und seine beiden unteren Lichter ihn erfassten wie die Augen eines Lindwurms, trat er einen Schritt zurück. Es war für ihn wie das Einschlafritual eines kleinen Kindes.

    Berstecher kletterte den Damm hinauf, wo die gelb verkleidete Stromschiene wie ein Geländer wirkte. 800 Volt ließen ihn erschaudern. Zugleich hörte er die Stimme der „Tante im Heim: „Wer da anfässt, der wird von mir windelweich geprügelt. Das hatte sich tief ins Gedächtnis des kleinen Benedikt eingegraben, und er dachte noch heute mit einem angstvollen Schaudern an diese Prügelpädagogin mit ihren Drohungen, die sie in breitestem Berlinisch ihren Zöglingen entgegenschleuderte, zurück. Damals hatte er nur

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