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Leinstermann in Doorn: Roman vor historischem Hintergrund
Leinstermann in Doorn: Roman vor historischem Hintergrund
Leinstermann in Doorn: Roman vor historischem Hintergrund
eBook1.113 Seiten14 Stunden

Leinstermann in Doorn: Roman vor historischem Hintergrund

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Über dieses E-Book

Doorn, Niederlande, 1939:
Wenige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wird Holm Leinstermann Hofgärtner am Exilsitz des letzten deutschen Kaisers, Wilhelm II.
Er befindet sich auf der Flucht vor der eigenen Vergangenheit - und wird doch durch die Schikanen der einheimischen Arbeiter und den Briefwechsel mit seinem Bruder herausgefordert, sich der Realität zu stellen. Eine Realität, die sich durch den Einmarsch der Wehrmacht im 1940 dramatisch verändert. Denn die Besatzer beginnen auch in den Niederlanden ihr mörderisches Werk.
Holm selbst gerät immer tiefer in den Strudel aus Angst und Gewalt. Schließlich begeht er einen schwerwiegenden Fehler, als er ausgerechnet den Menschen verrät, der ihm in Doorn am meisten bedeutet. Der Kommandant der Wache und die GeStaPo nehmen die todbringende Spur auf.
Holm muss handeln: Mit dem Holländer Piet Beurtman an seiner Seite versucht er, durch alle Gefahren hindurch Kurs zu halten.
Doch das Wasser unter ihnen ist dunkel, kalt - und abgrundtief ...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. März 2022
ISBN9783347486683
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    Buchvorschau

    Leinstermann in Doorn - T. Janssen

    T. Janssen

    Leinstermann in Doorn

    Roman

    © 2022 T. Janssen

    Covergrafik von T. Janssen (Haus Doorn) und cottonbro @ pexels.com (Gesicht)

    Cover und Rückseite erstellt mit und unter Nutzung von Grafiken auf Canva.com

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.de abrufbar.

    ISBN Softcover: 978-3-347-48667-6

    ISBN Hardcover: 978-3-347-51642-7

    ISBN E-Book: 978-3-347-48668-3

    Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

    tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

    Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

    tredition GmbH

    Abteilung »Impressumservice«

    Halenreie 40-44

    22359 Hamburg

    Deutschland.

    Vorwort

    Am Mittwoch, den 28.11.1918 unterzeichnete Wilhelm II., Kaiser des Deutschen Reiches und König von Preußen, seine Erklärung zum Thronverzicht und dankte damit formell ab. Das geschah nicht in Berlin oder im ehemaligen militärischen Hauptquartier im belgischen Spa – sondern in Amerongen in den Niederlanden, wo Wilhelm Asyl gefunden hatte.

    Nicht lange danach kaufte der ehemalige Kaiser ein ganz in der Nähe gelegenes kleines Schloss mit weitläufigem Park, Orangerie, Dienstgebäude und einem großen Nutzgarten. Er gestaltete das Schloss nach seinen Bedürfnissen um und ließ am Eingang zum Gelände ein weiteres Bauwerk errichten: das Torgebäude mit Büros, Wache und Wohnungen.

    In Huis Doorn, wie die Einheimischen das Anwesen nennen, verbrachte Wilhelm II. seine letzten Jahre vom Einzug im Mai 1920 bis zu seinem Tode am 04.06.1941. Der ehemalige Kaiser erlebte dort sowohl den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als auch die Besetzung der Niederlande durch Nazi-Deutschland mit.

    Die folgende Geschichte um den Hofgärtner Holm Leinstermann und seine Mitstreiter spielt in und um Huis Doorn herum im Zeitraum von Anfang 1939 bis Sommer 1942.

    Ein Verzeichnis der wichtigsten auftretenden Personen befindet sich am Ende des Buches.

    Inhaltsverzeichnis

    1939 – Morgenrot 5

    1940 – Mittagssonne 231

    1941 – Sonnenuntergang 361

    1942 – Finsternis 547

    1952 – Epilog 682

    Personenregister 690

    Anmerkungen des Autors 694

    1939 – Morgenrot

    1

    »Ich bin Holm Leinstermann.«

    »Leinstermann? Der Name ist wohl eher selten?«

    »Ja, allerdings. Ich wüsste nicht, dass es außerhalb der Familie noch Namensträger gibt.«

    »Das kenne ich«, sagt der andere Mann über die Schulter hinweg und macht sich mit seinem Gepäck zum Umsteigen bereit. »Jedenfalls: Ohne das Gespräch mit Ihnen als Fachkollegen hätte ich diesen Teil der Reise wohl größtenteils verschlafen. Vielen Dank also!«

    »Ganz meinerseits. Wann werden Sie am Fährhafen ankommen?«

    »Ich hoffe, noch rechtzeitig für ein kleines Abendessen! Sie wissen ja: Nichts ist so unpünktlich wie die Eisenbahn. Das ist wohl überall gleich. Und Sie?«

    Holm hebt die Koffer aus der Gepäckablage. »Keine Stunde mehr. Dann wünsche ich Ihnen eine gute Weiterfahrt, Herr ...«

    »Osallus. Moritz Osallus.«

    »Auch kein besonders geläufiger Familienname.«

    »Das vereint uns wohl, neben dem Beruf. Aber ich kann Ihnen versichern, der Name ist durch und durch deutsch, wie unsere ganze Familie. Mein Bruder muss es wissen: Lennard ist bei der GeStaPo¹. Ein Hunderzehnprozentiger – wenn Sie verstehen, was ich meine.«

    Holm nickt.

    »Eine Frage noch, Herr Leinstermann: Wissen Sie zufällig, wer Ihr Vorgänger in Doorn war?«

    »Nein, warum?«

    »Ich dachte, es ist vielleicht jemand, von dem man schon einmal gehört hat. Manchmal ist es ratsam, sich mit den Wegen vertraut zu machen, die der Vorgänger beschritten hat – ohne notwendigerweise in seine Fußstapfen zu treten. Oder in die gleichen Fettnäpfchen!«

    Holm zuckt mit den Schultern. Der Gedanken hatte ihn bereits beschäftigt – mehr, als er sich eingestehen mag.

    »Vielleicht lerne ich ihn noch kennen«, entgegnet er, während er seinen Schal fester zieht und den Mantel zuknöpft.

    »Wir müssen jetzt raus«, sagt Osallus und schaut aus dem Fenster auf den Bahnsteig. Der Zug hält. »Nur Mut, Herr Leinstermann: Die Pflanzen im Garten des Kaisers werden schon weiterwachsen! Sie wissen ja: Das meiste macht die Natur ohne unser Zutun – wie von Zauberhand sozusagen.«

    Die beiden Männer sind eben aus der Tür in den Gang, da zeigt Osallus zurück ins Abteil und bemerkt:

    »Sie haben Ihre Kladde liegengelassen. Es ist wohl besser, Sie nehmen sie wieder an sich, bevor es ein anderer tut – und darin liest.«

    »Danke«, entgegnet Holm und greift nach dem Buch.

    Fast hätte er das nahezu jungfräuliche Tagebuch verloren, ohne einen einzigen Eintrag über den neuen Lebensabschnitt in Holland hineingeschrieben zu haben. Dieser Verlust wäre zu verschmerzen. Doch der Brief, der zwischen den leeren Seiten ruht, ist für Holm ungleich wertvoller. Er ist ein mühsamer, erster Schritt - zurück in die Vergangenheit wie voraus in eine Zukunft, die sich bestenfalls schemenhaft erahnen lässt.

    An diesem Tag wird sie beginnen.

    *

    28. Januar 1939

    Lieber Paul!

    Sicher wunderst Du Dich darüber, dass Du im neuen Jahr einen Brief von mir erhältst. Drei Jahre ist es jetzt her, dass ich zum letzten Mal direkten Kontakt mit der Heimat hatte. Wie es der Jahreswechsel manchmal mit sich bringt, habe ich mir vorgenommen, daran etwas zu ändern. Das klingt einfacher, als es wirklich ist, glaub mir. Ich kann niemandem außer Dir schreiben. Und ich frage mich, wie Du auf meinen Brief reagieren wirst. Wenn Du diese Zeilen liest, hast Du ihn zumindest geöffnet.

    Ich hoffe, es geht Dir gesundheitlich besser! Als ich ihn zuletzt sprach, sagte unser Vetter, dass es um Dich nicht gut stünde und Du im Krankenhaus wärst. Bei mir stellten sich Erinnerungen an die Besuche bei Dir in Friedrichsberg ein. Nie wieder möchte ich Dich in so einem Irrenhaus sehen, Paul! Deshalb hoffe ich, dass bei Dir Besserung eingetreten ist und Du zumindest wieder daheim leben kannst.

    Meine Zeit in Weener ist mit dem neuen Jahr zu Ende gegangen. Nachdem der alte Kommerzienrat Hesse vor zwei Jahren verstorben ist, ist das Interesse an meiner Arbeit im Park in Möhlenwarf kontinuierlich abgeebbt. Otto Luyken und seine Mitstreiter führen den Betrieb seit der Übernahme vor ein paar Jahren zwar im Sinne des Alten weiter, haben allerdings andere Schwerpunkte als den Park. Ich habe aber meine Hauptaufgabe abschließen können, weshalb ich ursprünglich zu den Hesse Baumschulen kam. Die letzten Eintragungen in dem Register der Pflanzen im Park habe ich am Altjahresabend gemacht – ein großartiges Gefühl! Der Bepflanzungsplan ist endlich fertig; im kommenden Jahr soll er in einem Fachblatt abgedruckt werden.

    Ein anderes Problem habe ich leider nicht lösen können: Seit einiger Zeit diskutieren und erforschen Fachleute eine neue Erkrankung bei Rhododendren. Wahrscheinlich wurde sie durch Importpflanzen eingeschleppt, aber das ist noch ungewiss. Bisher ist Hesse wenig betroffen, dennoch ist der Schaden deutlich erkennbar. Luyken, ein Kenner auf diesem Gebiet, weiß bisher auch keinen Rat. Ich hoffe, in meiner neuen Stellung weitere Erkenntnisse zu gewinnen.

    Die Landschaft um die Bauschule und den Park wird mir fehlen: Alles ist grün, aber wenig Wald, Winters wie Sommers unglaublich feucht, flach wie ein Pfannkuchen und fast leer. Genauso leer scheinen manchmal die Blicke und Gesichter der Einheimischen, aber ihre Gedanken sind es ganz und gar nicht. Sie binden nur nicht jedermann auf die Nase, was sie bewegt. Nenne es wortkarg, nenne es grantig – aber auf jeden Fall sind diese Menschen verlässlich.

    Natürlich merkt man auch in diesem Landstrich, der Rheiderland genannt wird, dass wir in bewegten Zeiten leben. Das Wort vom bald bevorstehenden Krieg macht die Runde. Die Braunhemden marschieren und brüllen ihre Parolen in die Welt – ob man sie nun hören möchte oder nicht. Den Kommunisten und besonders den Juden ist es hier nicht besser ergangen als anderswo. Die Arbeiter in der Baumschule meinten hinter vorgehaltener Hand, dass es trotz des hellen Flammenscheins nie eine dunklere Nacht in Weener gegeben hat als im vergangenen November. Ob ich das jedem abnehmen kann, weiß ich nicht. Ich war dort, und das ein oder andere erregte Gesicht kam mir reichlich bekannt vor.

    Das alles ist unfassbar und dennoch folgerichtig. Aus Bunde, einem Nachbarort, sind nach und nach fast alle Juden ausgewandert, so dass die Synagoge zwischenzeitlich schon verkauft worden war. Wenn das Leben unerträglich wird, gibt es nicht mehr viele Wahlmöglichkeiten. Aber nicht alle gehen und retten sich.

    Vereine und Verbände sind schon lange aufgelöst oder unter der Fahne von Hitlers Leuten versammelt. Im Rheiderland hat in den letzten Jahren ein gewisser Jacques Groeneveld den dicken Max gespielt und viele hinter sich bringen können. Die Älteren spotteten anfangs, wie jemand mit einem französischen Vornamen überhaupt in deutsch-nationalen Kreisen Karriere machen könne, das wäre ein Treppenwitz der Geschichte. In der Folgezeit ist den Spöttern das Spaßen vergangen, so auch den Pfaffen. Einem wurde vergangenes Jahr das Gehalt gestrichen – weil er für den Frieden beten wollte.

    Erinnerst Du Dich noch an Benjamin Eybeschütz, den jüdischen Kaufmann auf der Kleinen Freiheit? Du bist mit mir und Walter oft dort gewesen, um Vaters Kautabak zu kaufen, den man nur bei Eybeschütz bekommen konnte. Seit die Nazis am Ruder sind, ist es mit ihm immer weiter bergab gegangen. Es ging über Jahre, und zuletzt hat man ihm den Laden weggenommen. Einkaufen durfte dort ohnehin keiner mehr. Wenn ich daran denke, wie sehr er Filme geliebt hat ... Das war sein Leben: tagsüber der Laden, danach mindestens einmal in der Woche ins Lichtspielhaus oder ins Theater. Davon ist nun nichts mehr übrig! Ob er letztendlich geblieben ist, konnte mir unser Vetter nicht sagen.

    Ich weiß nicht, wie Du die Geschehnisse verfolgt hast; aber ich finde, besonders das letzte Jahr hat dem Ganzen den Rest gegeben. Das ist nicht mehr das Deutschland, das ich gekannt habe.

    Ab dem Februar werde ich nun eine neue Anstellung annehmen und in die benachbarten Niederlande emigrieren. Genaugenommen bin ich schon dabei, denn ich schreibe Dir diesen Brief aus dem Zug. Ich hoffe, das hat keine großen Auswirkungen auf meine ohnehin etwas ungeschliffene Handschrift. Diesen Brief für Dich aufzugeben, wird also das Erste sein, was ich in Holland tue!

    Von Hesse aus bestehen gute Kontakte in das holländische Baumschulgebiet Boskoop; bei einigen Firmen dort habe ich selbst Pflanzen eingekauft. Über diese Verbindung erfuhr ich, dass in Doorn am Exil-Hof des alten Kaisers ein Hofgärtner gesucht wird. Nachdem über das Büro Otto Luykens Empfehlungsschreiben versandt worden war, erhielt ich eine schriftliche Zusage – innerhalb von zwei Wochen! Das Zeugnis über meine Arbeit im Rheiderland wird also recht positiv ausgefallen sein.

    So werde ich jetzt zum Holländer! Meine neue Anschrift notiere ich Dir hinten auf der beigelegten Weener-Postkarte. Das tue ich, weil ich vielleicht auf eine Antwort von Dir hoffen darf.

    Ich wünsche Dir alles Gute, vor allem gesundheitlich!

    Viele Grüße,

    Dein Bruder Holm

    *

    Für Ende Januar ist es ein ungewöhnlich freundlicher, klarer Sonnentag. Holm blickt dem Zug nach, der die Gleise aus dem Bahnhof in Richtung Utrecht weiterkriecht.

    Da bin ich nun, denkt er.

    Vor seinem inneren Auge erscheinen Bilder von seiner Ankunft in Weener vor einigen Jahren. Es ist wie damals: ein Bahnhof, ein Zug, der weiterzieht, der sein Ziel noch nicht erreicht hat. Ein neuer Abschnitt, eine neue Aufgabe. Diesmal heißt der Bahnhof Driebergen-Zeist.

    Holm geht einige Schritte, überfliegt die Aushänge in holländischer Sprache, hört unverständliche, aber auf gewisse Weise vertraute Gesprächsfetzen. Menschen umarmen sich zur Begrüßung, Gepäck wird entgegengenommen. Eine junge Frau läuft eilig ihrer großen Liebe entgegen und springt dem Mann in die Arme. Das Pärchen küsst sich innig; sie zerdrückt dabei fast den Blumenstrauß, den er ihr noch gar nicht übergeben konnte.

    Holm findet die Treppe hinunter zur Straße und hebt seine beiden Koffer an.

    Leicht. Seltsam, wie leicht das Leben ist.

    Für einen Moment steht Holm noch still, lässt die Sonne in sein Gesicht strahlen und hört das Stimmengewirr.

    Das ist nun also Holland.

    An der Straße stehen kahle Lindenbäume, die Beete unten am Bahnsteig sind im Winterschlaf.

    Die letzten Stufen liegen noch vor ihm, als er auf einen drahtigen Mann mit schneidigen, südländischen Gesichtszügen aufmerksam wird. Er ist eben aus einem eleganten, silbernen Mercedes ausgestiegen und blickt suchend zur Treppe. Sein Gesicht wirkt mürrisch und wenig einladend. Er überquert zügig die Straße, ohne auf die anderen abfahrenden Fahrzeuge und Radfahrer zu achten.

    Als sich ihre Blicke treffen, haben beide den Gesuchten gefunden.

    »Herr Holm Leinstermann?«

    »Ja, angenehm!«

    Das Gesicht seines Gegenübers wirkt plötzlich viel freundlicher.

    »Nazzareno Spetti, herzlich willkommen! Werde Sie nach Doorn bringen.«

    Der Händedruck ist überwältigend – dieser Mann ist kein Schreibtischtäter.

    »Kommen Sie, helfe Ihnen mit dem Gepäck.«

    Schwungvoll packt Spetti beide Koffer und trägt sie über die Straße zum Auto. Beim Verladen fällt Holm auf, dass Spetti an den Fingern der linken Hand wohl eine schwere Verletzung erlitten hatte. Als wenn der die Blicke gespürt hätte, erklärt er lächelnd:

    »Ach, das! Keine Sorge – hab damals die Hand nicht mehr rechtzeitig aus dem Motorraum gekriegt. Wissen Sie, war nicht immer Aushilfsfahrer – bin eigentlich Mechaniker.«

    Die Fahrt ist kurz, so dass sie kaum sprechen. Als sie den Dorfkern von Doorn durchfahren, meint Spetti:

    »Ist noch viel Trubel im Haus! Der Achtzigste Seiner Majestät hat viele Gästen gebracht. Hatte alle Hände voll zu tun: holen, fortbringen, ins Dorf fahren, das ganze Gepäck! Das schaffen zwei Chauffeure nicht, da braucht es einen Spetti! Wird vielleicht etwas dauern, bis wir Sie überall bekannt gemacht haben, Herr Leinstermann.«

    »Das findet sich«, murmelt Holm halb abwesend.

    Seine Majestät ...

    Die Zeitungen und Illustrierten hatten in den ersten Jahren nach dem verlorenen Krieg noch regelmäßig über Wilhelm II. berichtet. Seit die Nazis am Ruder sind, scheint der Kaiser von der Presse-Landkarte wie ausradiert. Dafür sind die Prinzen umso mehr im Fokus der Öffentlichkeit, allen voran Kronprinz Wilhelm und August-Wilhelm, genannt AuWi. Richtig verfolgt hatte Holm die Schlagzeilen noch nie – Klatsch und Tratsch sind seine Sache nicht.

    »So, sind da.«

    Spetti hupt zweimal und hält den Wagen vor einem langgezogenen Backsteingebäude mit zwei Treppengiebeln und mehreren kleineren und größeren Türmen. In seiner Breite verdeckt das merkwürdig geschwungene Bauwerk zusammen mit den umstehenden Bäumen und Hecken das dahinter liegende Gelände. Nur durch das große Tor in der Mitte des typisch holländisch wirkenden Baus kann man eine Parkanlage mit einem schlossähnlichen Gebäude im Zentrum erahnen.

    Holm spürt Nervosität in sich aufsteigen. Während Nazzareno Spetti noch das Gepäck aus dem Kofferraum wuchtet, tritt ein Mann aus einer Seitentür im Torbogen. Er trägt sein Haar sauber nach hinten gekämmt und wirkt trotz einer gewissen formellen Steifheit sehr freundlich. Sein Alter ist schwer zu schätzen – Ende 40, vielleicht auch älter. Spetti und Holm begegnen ihm auf halben Weg zum Torgebäude.

    »Herr Leinstermann, herzlich willkommen in Doorn!«, ruft der andere Holm entgegen.

    Spetti lässt die beiden Koffer aus den Händen gleiten und stellt den bisher Unbekannten vor. Erneut ein kräftiger Händedruck, scheinbar allgegenwärtig in Doorn.

    »Darf vorstellen: Major Sigurd von Ilsemann, Flügeladjutant seiner Majestät.«

    Eben wollen sich die beiden Deutschen bekannt machen, als sie vom Langbroekerweg her durch ein dumpfes Knattern gestört werden. Als Holm sich umdreht, erblickt er ein unwirkliches Bild:

    Auf einer Mischung aus Dreirad, Fahrrad und Motorrad sitzt ein Mann mit Mütze, kupferfarbenem Schnauzbart und Holzklumpen an den Füßen. Hinter seinem Rücken, zwischen den Hinterrädern, thront ein großer Sperrholzaufbau auf der Ladefläche. Der Schriftzug darauf ist wie die Farbe darunter ausgeblichen und verwaschen, aber noch erkennbar: Flottweg, liest Holm mit zusammengekniffenen Augen. Er muss schmunzeln: Der Name scheint Programm zu sein.

    Als das Gefährt sie mit ohrenbetäubendem Lärm passiert, grunzt der Fahrer etwas in ihre Richtung. Der Flügeladjutant und Spetti bleiben regungslos stehen und folgen der Lärmquelle mit ihren Blicken.

    Nachdem der Mann auf seinem eisernen Ross im Park verschwunden ist, fragt Holm: »Was war das denn?«

    Der Major und der Italiener werfen sich vielsagende Blicke zu.

    »Das? Ist Ihr Vorgänger«, erklärt Spetti.

    »Naja«, wendet Ilsemann ein, »nicht direkt. Das war Piet Beurtman. Sie werden bald Gelegenheit haben, ihn kennen zu lernen.«

    Die letzten Worte klingen in Holms Ohren seltsam mehrdeutig.

    Spetti empfiehlt sich zurück zum Fahrzeug. Stattdessen übernimmt es Ilsemann, Holm auf einem Rundgang über das Gelände zu führen. Nachdem sie die Koffer im Büro im Torgebäude deponiert haben, machen sie sich auf den Weg durch den Park, der trotz zahlreicher immergrüner Rhododendren noch sehr winterlich-kahl ist.

    Majestätische Buchen säumen die Wege, die gut befestigt wirken.

    Hauptsache kein Schlamm, denkt Holm.

    Besonders nach übermäßigen Regenfällen im Winter hatten sie mit diesem Problem in der Baumschule und im Park häufig zu kämpfen gehabt. Als der alte Hesse das Hauptgelände angelegt hatte, war ein Hauptaugenmerk auf ein ausgefeiltes Entwässerungssystem gelegt worden. Trotz aller Vorzüge konnte dieses Konstrukt aus Gräben und kleinen Kanälen nicht verhindern, dass die Wege sich zuweilen als Rutschpartie entpuppten.

    Nach einigen Schritten Gesprächspause übernimmt Ilsemann die Initiative:

    »Ich freue mich, dass Sie sich auf den Weg nach Doorn gemacht haben. Hatten Sie eine gute Anreise?«

    »Danke, ja. Ich habe im Zug einen Kollegen kennengelernt. Haben Sie noch vielen Dank für das Abholen am Bahnhof.«

    »Keine Ursache«, erwidert Ilsemann. »Wissen Sie, Seine Majestät ist sehr froh, einen so erfahrenen Mitarbeiter in seinen Reihen zu wissen. Ihr Empfehlungsschreiben hat bei Seiner Majestät und dem Hofmarschall Eindruck hinterlassen, darf ich sagen.«

    Selbst gelesen hatte Holm es nicht. »Es freut mich, dass ich hier arbeiten kann. Pflanzen sind Leben – auch mein Leben.«

    Oder das, was davon übrig geblieben ist, fügt er in Gedanken hinzu. Zwei leichte Koffer.

    Da sie mehr marschieren als schlendern, bleibt Holm kaum Zeit, um neben dem Gespräch Eindrücke von der Bepflanzung des Parks zu sammeln. Insgesamt wirkt die gepflegte Anlage sehr durchdacht, auch wenn es in der Planung der Wege, Elemente und Sichtachsen im Laufe der Zeit Anpassungen gegeben haben muss.

    Sie halten sich links, passieren eine Weide mit einem mächtigen Taubenschlag und überqueren einen breiten Graben.

    »Seine Majestät lebt hier seit 1920. Das Haupthaus wurde schon im 18. Jahrhundert in seine heutige Form gebracht, so dass trotz zwischenzeitlicher Erneuerungen einige Umbauten nach dem Erwerb nötig waren«, erklärt Ilsemann. »Zum Haus gehören noch drei Bauernhöfe, sie sind langfristig verpachtet. Zwei liegen direkt hier in der Nähe, einer weiter draußen. Bei diesem letzten Hof ist vor einer Weile der Pächter verstorben; man muss abwarten, wie es dort weitergeht. Normalerweise werden Sie mit den Höfen jedoch nichts zu tun haben.«

    Holm hört es, ohne es wirklich zur Kenntnis zu nehmen.

    Sie kommen an ein langgezogenes Grün mit üppiger Rhododendronbepflanzung und langen Blumenbeeten an beiden Seiten. Von diesem Standpunkt liegt das efeubewachsene herrschaftliche Haus im Zentrum des Blickfeldes, als wenn hier in früheren Zeiten ein Hauptweg verlaufen wäre.

    Rhododendren.

    Holm wird sofort aufmerksam. Er hatte bereits im Vorfeld von den Händlern aus Boskoop erfahren, dass um das Haus Doorn eine äußerst vielfältige Bepflanzung unterschiedlichster Herkunft existiert.

    Ob es hier ähnliche Schädigungen an den Pflanzen gibt?, fragt er sich.

    Ilsemann bemerkt die Aufmerksamkeit seines Gegenübers für die Anlage.

    »Dies ist der Hermo-Garten, den Seine Majestät für seine zweite Ehefrau angelegt hat, die Prinzessin Hermine von Schönaich-Carolath.«

    Holm wendet sich schnell seinem Gesprächspartner zu. Es ist ihm unangenehm, dass er bei Themen, die seine Arbeit betreffen, immer wieder in Gedanken abgleitet und dann überrascht ist, dass er Gesprächen nicht folgen kann. Im Zug war es ihm bei den Begegnungen mit den anderen Reisenden ähnlich gegangen – bis er auf der letzten Etappe an den deutschen Gartenbauingenieur als Sitznachbar geraten war, dessen Gedanken sich in der gleichen Welt bewegten.

    Pflanzen sind mir vielleicht die angenehmere Gesellschaft, seufzt Holm innerlich und folgt Ilsemann weiter in den Park.

    »Hier links sehen Sie den Auguste-Viktoria-Rosengarten. Die alte Kaiserin lebte leider nur noch ein knappes Jahr in Doorn – nicht mehr lange genug, um den Garten in voller Blüte zu erleben. Seine Majestät hegt und pflegt die Anlage, als wäre sie sein zweites Herz.«

    Verschiedene Elemente, eine große Rosenlaube englischen Stils, eingefasst wiederum in Rhododendren-Hecken. Ein wahrhaft majestätisch wirkender Garten, auch jetzt im Winter.

    Was für ein Unterschied zur Blumenwiese für die zweite Frau, grinst Holm.

    Rosen zählten früher nicht zu seinem Spezialgebiet, doch hatte er im Rosarium des Hesse-Parks Gelegenheit gehabt, diese Wissenslücke zu schließen. Zum Abschied hatte Holm ein mächtiges Nachschlagewerk zu allen erdenklichen Aspekten der Rosenzucht geschenkt bekommen. Das Buch musste ein Vermögen gekostet haben – man war mit seiner Arbeit zufrieden gewesen. Persönlich mitgeteilt hatte ihm das nie jemand – dafür waren die Rheiderländer Holms Erfahrung nach zu wortkarg, besonders verlegen im Ausdruck von Lob. Dennoch: Das Buch und das positive Empfehlungsschreiben von Luyken sprachen ihre eigene Sprache.

    »Wie kommt es, dass es Sie nach Holland verschlägt?«, reißt ihn Ilsemann aus seinen Gedanken.

    Es wird ihm aufgefallen sein, dass ich nicht ganz bei der Sache bin, ärgert sich Holm. Schon wieder ...

    »Nun«, beginnt er zögernd, »es war ein Entschluss mit Vorlauf. Ich war einige Jahre bei den Späthschen Baumschulen in Berlin. Dort hing im Büro ein großes Foto von Prinz Eitel Friedrich, auf dem er eine Eberesche hier aus dem Park zum 200. Jubiläum der Firmengründung überreicht. Das Bild hat sich mir sehr eingeprägt. Außerdem gab es vor einer Weile einen interessanten Artikel in der Gartenwelt über Doorn; es ging um Tulpenzwiebeln.«

    Holm geht langsamer und schaut sich um, als wolle er im Geiste den Park kartografieren.

    »Und wenn ich die Anlage hier sehe, dann merke ich, dass ich hier richtig bin! Dieser Eindruck begleitet mich, seit ich von der freien Stelle als Hofgärtner erfahren habe.«

    Auch Ilsemann verlangsamt sein Marschtempo und geht ins Schlendern über. »Sie haben sich auf dieses Gefühl hin bei uns beworben?«, fragt er erstaunt. Aber Holm nimmt noch etwas anderes in seiner Stimme wahr, das er jedoch nicht deuten kann.

    »Letztendlich ist es für mich wohl nicht so wichtig, wo, und vielleicht auch, unter welchen Umständen ich arbeite. Mir ist wichtig, dass meine Arbeit gebraucht wird. Dass sie an dem Platz, wo ich sie tue, einen Wert hat.«

    »Das kann bei uns in Holland so sein?«, fragt Ilsemann nach.

    Holm beschleicht das Gefühl, dass ein preußischer Major nicht der richtige Gesprächspartner für solche Themen ist.

    »Ja, Herr Ilsemann«, antwortet er. »Und ich möchte mich in den kommenden Tagen möglichst umgehend mit den Aufgaben hier vertraut machen, um mit der eigentlichen Arbeit beginnen zu können.«

    »Ich verstehe«, entgegnet Ilsemann schmunzelnd auf den Themenwechsel. »Lassen Sie mich Ihnen noch versichern, dass Ihre Anwesenheit hier tatsächlich gebraucht wird. Insofern täuscht Sie Ihr Gefühl sicherlich nicht.«

    Sie kommen an einen freien Platz, an dem ein Holzschuppen mit allerlei Gerätschaften und Unmengen von säuberlich gespaltenem und gestapeltem Brennholz steht. Ilsemann runzelt gequält die Stirn, als sie – nun plötzlich wieder mit schnellerem Schritt – vorbeieilen.

    »Wie lange sind Sie schon hier in Doorn im Dienst?«, fragt Holm.

    Ilsemann atmet mit Blick zurück auf den Schuppen einmal tief durch, wie um die Fassung zu bewahren.

    »Fast zwanzig Jahre«, sagt er.

    Zwanzig manchmal sehr lange und mühsame Jahre, fügen seine Gesichtszüge unausgesprochen hinzu.

    Mit wachem Auge taxiert Holm während ihres Rundganges die Bepflanzung des Parks. Schließlich führt sie ihr Weg zu einer großen Ansammlung verschiedenster Nadelgehölze.

    Das also muss das Pinetum² sein, von dem die Kollegen aus Boskoop sprachen, schlussfolgert Holm.

    Der Major macht einige Bemerkungen, lässt seinen Gast jedoch die Zeit, selbst Eindrücke zu sammeln. Holm macht davon Gebrauch, denn er hat selten die Gelegenheit, eine solche Ansammlung unterschiedlicher Sorten zu begutachten. Um die Geduld seines Gegenübers nicht überstrapazieren zu müssen, belässt er es zunächst bei einem kurzen Überblick.

    Ilsemann lächelt zufrieden, bemerkt er doch, wie schnell sich Holm mit seiner Aufgabe auseinandersetzt.

    Obwohl er im Gespräch etwas verhalten ist, scheint er genau zu wissen, was er tun muss, beobachtet Ilsemann. Welch wohltuende Abwechslung!

    Die letzte Station ihres Rundgangs ist der große Nutzgarten, gelegen hinter dem Dienstgebäude, in dem Teile des Personals untergebracht sind. Alles liegt im Winterschlaf, doch erkennt Holm auf den ersten Blick, dass in Doorn viel Zeit und Energie für den Anbau von Gemüse und Obst verwendet wird. Er selbst würde ebenso viel Fleiß aufwenden müssen, um sich mit den Feinheiten dieser Fachrichtungen vertraut zu machen.

    In der äußersten Ecke des Nutzgartens befindet sich ein Holzschuppen mit Anbau. Sie passieren eine ganze Reihe von Beeten, bis sie das Gebäude erreichen; es scheint Holm schon etwas in die Jahre gekommen. Die Fenster in dem grüngestrichenen Erker wecken seine Neugier – und das Flottweg-Motorrad, das quer auf dem Weg davor geparkt ist.

    »Das ist unser Tuinhuis. Es ist der Treffpunkt der Gartenarbeiter. Hier nehmen sie üblicherweise auch ihre Mahlzeiten ein«, erklärt Ilsemann.

    »Nur die Arbeiter?«

    In der Baumschule in Weener gab es keinen Unterschied zwischen Arbeiter, Meister oder studiertem Botaniker. Nur die Mitarbeiter des Büros hatten ihre eigenen Räumlichkeiten; auf deren Gesellschaft legten die Arbeiter allerdings auch keinen gesteigerten Wert.

    Ilsemann kratzt sich umständlich am Hinterkopf. »Ursprünglich haben die Männer mit Ihrem Vorgänger in der Personalküche im Dienstgebäude gegessen. Irgendwann ist es Brauch geworden, dass die Holländer im Tuinhuis sitzen. Herr Esterberg hat es dagegen vorgezogen, mit dem deutschen Personal zu speisen oder sich in sein Büro in der Orangerie zurückzuziehen.«

    Der Tonfall des kaiserlichen Flügeladjutanten verrät eine gewisse Komplexität hinter der vordergründig einfachen Antwort. Holm beschließt, nicht weiter nachzufragen, sich diesen Zusammenhang jedoch zu merken.

    »Soll Spetti Sie und Ihr Gepäck zur Pension bringen?«, fragt Ilsemann nach Ende des Rundganges.

    »Ist es weit von hier?«

    »Nein, Sie sind daran vorbeigefahren. Gut hundert Meter, dort entlang«, sagt Ilsemann.

    »Dann nehme ich die Koffer selbst. Etwas Bewegung wird mir nach der langen Anreise guttun.«

    »In Ordnung.« Ilsemann zieht einen Umschlag aus seiner Manteltasche. »Ihren Brief bringe ich gleich auf den Weg.«

    Als er mit seinen Koffern aus dem Tor tritt, schaut Holm kurz zurück auf den Park.

    Das also ist mein neuer Platz, denkt er. Fast nicht zu glauben.

    *

    Die Pension Marijke, in der Holm untergebracht ist, liegt ein Stück die Straße hinauf in Richtung Ortskern.

    Die Sonne geht unter, die Straßen sind in angenehm orangenes Licht getaucht. Kälte kriecht die Jackenärmel und Hosenbeine hinauf, trotzdem geht Holm langsam. Ein seltsames, undefinierbares Hochgefühl macht sich in ihm breit. Schon häufiger hat er so empfunden, wenn er auf seinem Lebensweg an einem neuen Halt angekommen war: der Auszug aus bedrückender, emotionaler Enge in das eigene Zimmer im Studentenheim, der Umzug mit Sigrid nach Berlin, als er die Stelle bei der Baumschule Späth angenommen hatte. Die Flucht nach der Scheidung aus Hamburg nach Weener.

    Und jetzt Doorn.

    Er kann das Gefühl nicht beschreiben: eine Mischung aus Vaterstolz und dem Bewusstsein, dass neue Aufgaben auf ihn warten. Das Weiterreisen war wie ein angenehm kühler Luftzug in einem viel zu engen, stickigen Zugabteil, voll Staub und überfüllt von schwitzenden Menschen.

    Das eigentümliche Licht weckt Erinnerungen an die Winternachmittage mit seinen Brüdern und Freunden in den Gärten in Hamburg-Blankenese. Jedes noch so kleine bisschen Sonnenlicht wurde ausgenutzt, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machten. Die Hände waren oft so ausgekühlt, dass das Waschen mit warmen Wasser eine echte Qual war und die Haut in einen feuerroten, brennenden Belag verwandelte.

    Er denkt an Paul, den Brief, malt sich aus, wie es ihm jetzt gehen mag. Die letzten Jahre waren keine guten Jahre für seinen Bruder gewesen. Nach seinem Wegzug aus Hamburg hatte Paul versucht, von Wiesbaden aus seine Laufbahn als Musiker voranzutreiben. In seinen Briefen an die Eltern war immer wieder die Rede von großen Engagements, die angeblich gerade in Reichweite waren. Leider wurde nie etwas daraus, und so musste sich Paul als Pianist zu verschiedensten Gelegenheiten verdingen. Mehr als einmal mussten die Eltern finanziell aushelfen. Im Laufe der Jahre mehrten sich die Nachrichten, dass es Paul gesundheitlich schlecht ginge. Scheinbar war dem unbekümmerten, offenen und durch und durch sympathischen jungen Kerl eine Veränderung widerfahren, die sich eher in seelischen als in körperlichen Leiden ausdrückte. Nachdem Holm Hamburg verlassen hatte, gab es in Familiensachen nur noch gelegentliche Informationen über einen Vetter, der nicht weit von Weener kaserniert ist. Viel war nicht zu erfahren, zuletzt war aber die Rede von einem neuen Krankenhausaufenthalt.

    Auf den letzten Metern vor der verglasten Eingangstür ist Holm wieder in der Gegenwart angekommen. Links und rechts am Gebäude gibt es Anbauten mit großzügigen Fensterfronten, die mit hellen, leinenfarbenen Gardinen verhangen sind, durch die ein angenehmer Lichtschein leuchtet. Der Hauptgiebel mit zwei fast bodentiefen Fenstern zeigt zur Straße. Holm tritt ein paar Schritte zurück, um die Pension in ihrer vollen Größe zu betrachten. Zahlreiche beleuchtete Fenster erhellen den Bau, bis hinauf unter das Dach, wo Licht aus einem Aussteck scheint. Dieser Aussteck ist das einzige Element, das die ansonsten perfekte Symmetrie des Gebäudes stört. Da eine Unterbringung im Haus Doorn und den zugehörigen Gebäuden aufgrund der hohen Anzahl der Gäste derzeit nicht möglich ist, wird diese Pension vorübergehend Holms neue Bleibe sein.

    Beim Eintreten geht er durch einen Windfang und steht unvermittelt in einem Speiseraum, in dem etwa ein Dutzend Gäste ihr Abendessen einnehmen. Es duftet angenehm nach einem würzigen Eintopf, wenn Holm auch die Vielzahl der Nuancen nicht sicher zuordnen kann. Die Gäste sitzen stumm und zufrieden kauend an ihren Tischen, es scheint zu schmecken. Links hinten im Raum steht eine Tür offen, durch die eine Frau zwei große Kannen hereinträgt, die unmissverständlich den Duft von frischem Kaffee versprühen. Holm werden zwei Dinge bewusst: Zum einen hatte er den Tag über kaum Nahrung zu sich genommen, andererseits war er durch die Reise und die vielen Informationen während der Begehung des Parks stärker ermüdet, als er es an der frischen, kalten Luft wahrgenommen hatte.

    Irgendwo im Hintergrund spielt ein Radio-Apparat leise Musik. Kleine Lampen auf den von mächtigen, leinenfarbenen Gardinen umrahmten Fensterbänken tauchen den Raum in ein angenehmes Licht.

    »Goedenavond meneer, kan ik iets voor u doen?«

    Die Frau, die inzwischen den Kaffee ausgeschenkt hat und von Holm unbemerkt näher getreten ist, wischt ihre Hände in ihrer weißen Schürze ab und wirkt geschäftig. Zunächst ist er irritiert und unsicher, fehlen ihm doch die richtigen Worte, um in der Landessprache zu antworten. Dieses Problem hatte sich ihm bei den Begegnungen zuvor nicht gestellt.

    »Guten Abend! Holm Leinstermann ist mein Name. Herr von Ilsemann hat aus Haus Doorn mein Kommen angekündigt.«

    Die Frau nickt und bedeutet ihm mit den Händen, sich vorläufig nicht von der Stelle zu rühren. »Een moment, alsjeblieft.«

    Sie ruft etwas in Richtung der offenen Tür, was keinen der Gäste zu stören scheint. Da sie vergeblich auf eine Antwort wartet, macht sie auf dem Absatz kehrt und geht.

    Nach kurzer Zeit kommt sie mit einer weiteren Frau aus dem Raum, der offensichtlich die Küche beherbergt. Die andere ist groß gewachsen, sehr akkurat. Die beiden Frauen sprechen ein paar Sätze in ihrer Sprache, die Holm nicht versteht. Ilsemanns Namen und Huis Doorn hört er dennoch heraus. Die erste Frau wendet sich wieder den Gästen zu.

    »Herr Leinstermann, herzlich willkommen«, spricht ihn die große, schlanke Frau mit verhaltenem Lächeln an. »Herr von Ilsemann hat Sie bereits angekündigt, es ist alles für Sie vorbereitet.«

    Oft schon hatte Holm die Gärtner aus Boskoop mit mehr oder weniger starkem Akzent Deutsch sprechen hören. Die Klangfarbe, in der die Frau seine Sprache benutzt, lässt ihn schmunzeln. Andererseits ist er sich bewusst, dass er ihren Kenntnissen nichts entgegenzusetzen hat. Auf seiner imaginären Liste von zu bewältigenden Herausforderungen klettert die Sprachfrage um einige Positionen nach oben.

    Holm beginnt, sich unwohl zu fühlen. Zwar achtet keiner der Gäste auf den Neuankömmling; niemand scheint von ihm Notiz genommen zu haben. Trotzdem ist es ein höchst unwillkommenes Empfinden, das er, wann immer möglich, vermeidet. Um dem Zustand keinen Raum zu gewähren, konzentriert er sich auf das Gespräch.

    »Ich danke Ihnen sehr. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne mein Zimmer sehen und danach etwas essen.«

    »Wie Sie wünschen«, entgegnet die Frau, »heute gibt es Stamppot mit Rookworst. Nehmen Sie einen der freien Plätze, und wenn Sie noch einen Wunsch haben, sprechen Sie mich oder Gesa an.«

    Gut riechen tut es zumindest, denkt Holm, auch wenn die Speise auf den Tellern der anderen Gäste etwas undefinierbar bleibt.

    Nachdem sie die Modalitäten des Aufenthaltes geklärt haben, bringt Holm über eine für diesen Zweck unangenehm schmale Treppe sein Gepäck zu seinem Zimmer im ersten Stock.

    Es ist durchaus geräumig und beherbergt sogar einen kleinen Schreibtisch. Um die Zeit bis zum mit gemischten Gefühlen erwarteten, jedoch sehr benötigten Essen nicht zu weit auszudehnen, packt er zunächst nichts aus, sondern macht sich am Waschbecken frisch. Der Blick in den für ihn etwas zu hoch angebrachten Spiegel lässt Holm innehalten: Was er sieht, macht ihn aufgrund der gesunden Gesichtsfarbe, des noch vollen, blonden Haares und des für sein Alter tadellosen Gesamtzustandes zufrieden.

    Was er jedoch in seinen eigenen Augen erkennt, hinterlässt eine Vielzahl von unbeantworteten Fragen.

    Zufrieden legt er das Besteck ab – Stamppot steht den schmackhaften Eintöpfen in nichts nach, die im Möhlenwarfer Knotenpunkt serviert wurden. Nur die intensiven Gewürze, die Gesa und die andere Frau reichlich verwendet hatten, erscheinen ihm fremdartig, orientalisch.

    Seine Augen suchen nach etwas zu trinken, um den letzten Brocken des frischen Brotes herunterzuspülen, als eine weitere Person von draußen den Speiseraum betritt. Die Frau in den Fünfzigern, gekleidet in einen schwarzen Wollmantel mit passendem Schal und Hut, geht zielstrebig zur Garderobe, begrüßt einige Gäste und schaut sich nach einem freien Platz um. Sie reibt im Gehen kurz die Augen und kommt dann auf Holms Tisch zu. Sie wirkt elegant, aber schwungvoll wie ein junges Mädchen. Sie ist erschöpft, hat aber dennoch eine große Wachheit in den dunklen Augen bewahrt, die zwischen den schon ergrauten Haarsträhnen hindurch funkeln.

    Der Radioapparat, dessen Programm Holm zuvor nicht beachtet hat, spielt ein Stück, das er kennt: Solo Hop von Glenn Miller, einen von Pauls großen Favoriten.

    »Herr Leinstermann, darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«

    Holm weiß nicht, was ihn mehr überrascht: Erstens spricht ihn die Frau in lupenreinem Deutsch an, zweitens kennt sie seinen Namen, drittens – und dass wiederum ärgert ihn – war er wieder so in Gedanken versunken, dass er ihr Näherkommen nicht bemerkt hat. »Bitte, nehmen Sie Platz«, bringt Holm zustande. Er ist so perplex, dass er es versäumt, aufzustehen und ihr den Stuhl anzurücken – wohl auch, da er lange nicht in Gesellschaft einer Frau gespeist hat. Er hätte allerdings auch keine Gelegenheit gehabt: Denn ebenso zielstrebig, wie sie sich bisher im Raum bewegt hat, nimmt die Frau Platz und winkt Gesa zu, die eben aus der Küche schaut. Offenbar kennt man sich gut.

    »Ich sehe, die erste Mahlzeit in Doorn hat gemundet?«, fragt ihn die Frau freundlich, aber reichlich direkt. Holms Irritation wächst – war ihm etwas entgangen? Sein Gesichtsausdruck verrät allzu deutlich, dass er seine Tischpartnerin nicht zuordnen kann.

    »Oh, ich verstehe: zu viele neue Namen heute, was?« Er nickt. Sie steht auf und reicht ihm die Hand – er erwidert die Geste.

    »Anna Elisabeth Brandt. Wir haben uns vorhin kurz im Hofmarschallamt gesehen.«

    Holm ist froh, dass Sie es mit der Wahrheit ihm zuliebe nicht so genau nimmt: Ilsemann hatte sie einander vorgestellt. Ihre Nachsicht lässt sein Unbehagen weichen.

    »Holm Leinstermann, angenehm.« Er ringt sich zu einem Lächeln durch. »Aber das wissen Sie ja schon.«

    Gesa bringt das Essen für Fräulein Brandt. Die Frauen wechseln einige Worte in der Landessprache miteinander, die seine Tischnachbarin fließend beherrscht. Holm fällt auf, dass die Deutsche ganz in Schwarz gekleidet ist.

    »Machen Sie sich keine Gedanken, Sie sind heute erst angekommen«, sagt Fräulein Brandt zu Holm. »Sie sind nicht der Erste, der sich Namen und Strukturen im Huis Doorn erst einprägen muss.« Sie beginnt, mit Appetit zu essen.

    »Möchten Sie Kaffee?«, fragt sie und sieht sich, ohne seine Antwort abzuwarten, nach einer der Frauen um. Am Eingang zur Küche kommt es fast zum Zusammenstoß, als sich Gesa und die andere Frau gleichzeitig durch die Tür zwängen wollen. Offenbar ein häufig auftretendes Problem, lächeln sich die beiden doch kurz an und gehen dann ihres Weges. Die schlanke, sehr akkurat wirkende Frau kommt mit einer dampfenden Kanne an ihren Tisch. Wiederum folgen eine freundliche Begrüßung und ein paar kurze Sätze auf Holländisch. Holm bemüht sich, zumindest einige Worte zu verstehen, kann aber mit dem Gesprächstempo nicht mithalten.

    »Frau Scheepers haben Sie bereits kennengelernt?«

    Holm erhebt sich und holt die persönliche Begrüßung nach. Die Frau gibt ihm ebenfalls die Hand und mustert den wunderlichen Gast. Ihm ist das unangenehm.

    »Es tut mir leid, dass ich vorhin so abwesend war. Der Tag war sehr ereignisreich, das macht mich manchmal etwas ...« – er sucht nach dem richtigen Begriff, findet aber keinen – »... etwas tüdelig.«

    Die zwei Frauen sehen sich an, schmunzeln zunächst und beginnen dann leise zu kichern.

    In Holm trifft diese Reaktion einen wunden Punkt. Er runzelt die Stirn und beißt die Zähne aufeinander.

    Fräulein Brandt erkennt schnell, dass Holm verlegen ist.

    Sie erklärt: »Bitte entschuldigen Sie, den Ausdruck kannten wir noch nicht, weder auf Deutsch noch auf Holländisch.«

    Holm ärgert sich, dass er seine Reaktion nicht besser im Griff hatte. Was gewesen ist, sollte keine Auswirkungen mehr auf das Heute haben.

    Frau Scheepers ist froh, dass der Deutsche in Fräulein Brandt jemanden zur Seite hat, mit dem er sich verständigen kann. Der Mann wirkt, als könne er etwas Starthilfe brauchen.

    Nachdem er seine wenigen persönlichen Sachen im Zimmer verstaut hat, sieht er aus dem kleinen Fenster seiner neuen Unterkunft hinaus in den Nachthimmel. Die Sterne, die in dieser Nacht durch das Dunkel flimmern, haben ihn schon immer fasziniert. Er denkt zurück an die Begegnungen im Huis Doorn, wie der Sitz des alten Kaisers in der Landessprache genannt wird. Nach einer Weile greift Holm zu dem Notizbuch, das er noch in Weener erworben hatte. Einer seiner Entschlüsse für das neue Jahr ist, allabendlich seine Eindrücke und Gedanken des Tages zu ordnen und niederzuschreiben. Er blättert durch den Januar zurück bis zum ersten Eintrag am Altjahresabend. An diesem Tag hatte er das Register der Pflanzen im Hesse-Park in Möhlenwarf abgeschlossen. Es war ein feierlicher, aber gleichsam trauriger Moment. Als er das letzte Blatt aus der Schreibmaschine gezogen und seine Kladde zugeklappt hatte, wusste er: Dieser Abschnitt ist unwiederbringlich Geschichte. Dennoch hatte er etwas Bleibendes geschaffen: Wie die mächtigen Bäume und unzähligen Büsche und Blumen im Park noch lange Zeit Botanikern aus aller Welt Anschauungsobjekt sein werden, würde jeder stets seinen Namen lesen, der in den Unterlagen zum Park forscht.

    Er überfliegt seinen Eintrag und bleibt bei dem Vorsatz für das neue Jahr hängen.

    Nur zwei kurze Wörter: »Zu Haus«.

    Holm greift zu seinem Füller und beginnt, die Ereignisse des Tages niederzuschreiben.

    Die Zeit mit Fräulein Brandt hatte sich viel positiver gestaltet, als er es nach dem kleinen Aussetzer vermutet hatte. Sie ist bereits seit fast 15 Jahren in Doorn und damit nahezu so lange mit den Verhältnissen vertraut wie Sigurd von Ilsemann.

    Es wird ein ausführlicher Eintrag für einen ereignisreichen Tag.

    Holm findet keine Ruhe, als er sich tief in der Nacht schlafen legt. Er würde sich gerne einreden, dass der späte Kaffeegenuss seine Wirkung entfaltet. Doch er weiß, dass die Gedanken an den Tag ihn noch eine ganze Weile beschäftigen werden.

    Schließlich – endlich! – übermannt ihn die Müdigkeit.

    2

    Die ersten Tage in Huis Doorn vergehen wie im Fluge und folgen einem stetig wiederkehrenden Rhythmus: sich mit Menschen und Arbeitsumgebung bekannt machen, Aufgaben definieren und planen, zurück in die Pension, Abendessen mit Fräulein Brandt, gefolgt von einer meist unruhigen Nacht.

    Als Herausforderung stellt sich früh die Zusammenarbeit mit den holländischen Gartenarbeitern dar: fünf kernige Typen gemischten Alters, leider nicht alle mit brauchbaren Deutschkenntnissen. Ihr Sprecher Piet, mit Ende 40 einige Jahre älter als Holm, ist durchaus in der Lage, sich verständlich zu machen. Die wenigen fehlenden Begriffe gleicht er einfach durch Einwürfe in seiner Muttersprache und wilde Gesten aus.

    Die Sprache ist jedoch nicht der einzige Grund, der Holm über die Fruchtbarkeit der Zusammenarbeit zweifeln lässt.

    Recht ausgeschlafen macht er seinen Weg durch das Torgebäude, wo er morgens den Dienstantritt meldet, in Richtung des Holzschuppens, in der die nötigen Gerätschaften für die Holzarbeit im Winter lagern. Da der alte Kaiser mit Ischias-Problemen das Haus nicht verlässt und fast alle Geburtstagsgäste abgereist sind, stand in den letzten Tagen kein Holzhacken im Wald an. Überhaupt hatte Holm den alten Kaiser bisher nur aus der Ferne gesehen.

    Also Zeit, einige Pflegearbeiten durchzuführen, die Holms Vorgänger Esterberg noch in seinen gut sortierten und penibel geführten Unterlagen vorgeschlagen hatte.

    In den ersten Begegnungen mit den Arbeitern hatte Respekt und Zurückhaltung geherrscht, was Holm als sehr angenehm empfunden hatte. Er schätzt es nicht, wenn bei der Arbeit viel gesprochen wird oder gar Scherze gemacht werden – am allerwenigsten, wenn es Scherze auf seine Kosten sind. Doch, so sein Eindruck, genau das war in den letzten Tagen vermehrt vorgekommen. Immer wieder hat er das Gefühl, das hinter seinem Rücken getuschelt wird. In den Pausen ist er stets allein oder trifft sich mit Ilsemann oder dem Hausmarschall, Graf von Schwerin, um das weitere Vorgehen bei einigen Arbeiten abzustimmen. Auch nutzt er die Zeit, um im Büro Bestellungen zu tätigen. Kommt er zurück zu den anderen, kommt es ihm oft so vor, als würde allgemeine Heiterkeit herrschen – bis eben zu seinem Erscheinen. Er kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er selbst der Grund für diese Heiterkeit ist. Seine fehlenden Sprachkenntnisse verhindern, dass er sich unauffällig Gewissheit verschaffen kann.

    An diesem Tag aber scheinen die Dinge anders zu verlaufen. Piet, der jeden Morgen mit seinem alten Flottweg-Motorrad aus Amerongen kommt, erwartet ihn heute am Torgebäude und grüßt für seine Verhältnisse ungewöhnlich freundlich. Holm ist irritiert, umso mehr, als Piet ihm ein altes Fahrrad überreicht.

    »Das ist unser Dienstrad. Für Sie, Chef!« – das ist Piets Lieblingsanrede für Holm. »Dann kommen Sie schneller voran. Wir sollten die Wege kontrollieren; es hat viel geregnet letzte Nacht!«

    In der Tat, das Gelände ist weitläufig, und es kommt Holm entgegen, nicht mehr alle Wege zu Fuß machen zu müssen. Für Lasten steht ihnen neben einer Zugmaschine die treue Tine zur Verfügung, ein altgedienter Ackergaul.

    »Wo sind die anderen abgeblieben?«, hakt Holm bei Piet nach.

    Dieser erwidert mit dem unschuldigsten Lächeln, das er zu bieten hat: »Sie sind bei der Kapelle, Bäume beschneiden.«

    Holm ärgert sich, dass Piets Mitstreiter ohne Rücksprache mit ihm die Arbeit aufgenommen haben. Er schätzt es nicht, wenn man seine Kompetenzen unterwandert oder in Frage stellt. Er beißt die Zähne zusammen und schwingt sich mit Elan auf das Fahrrad. Auch im Rheiderland war er viel mit dem Rad unterwegs, fuhr auch die Wege zwischen der eigentlichen Baumschule, dem Park und seiner Unterkunft im Knotenpunkt immer mit dem Drahtesel. Daher ist er gut in Form und tritt kraftvoll in die Pedalen. Er muss seine Mütze mit einer Hand festhalten, damit sie vom auffrischenden Wind nicht davonweht.

    Als er den Weg in Richtung der Kapelle einschlägt, gerät sein Vorderrad plötzlich in tiefen Schlamm. Er beginnt zu schlingern und lässt seine Mütze los, um mit beiden Händen das Steuer zu packen. Aber zu spät: Holm gleitet aus und landet mit der kompletten linken Körperhälfte im braun-grauen Morast, das Fahrrad auf ihm.

    Aus Richtung der Kapelle hört er verräterisches Gelächter. Holm ärgert sich über den Sturz, über das Lachen – und er hat rasende Schmerzen am linken Arm und der Hand. Langsam, ganz langsam befreit er sich von dem Fahrrad, ohne einen Blick in Richtung der Kapelle zu wagen. Diese Genugtuung will er den Spöttern nicht geben!

    Eben beginnt Holm, seine Knochen zu sortieren und den Schlamassel auf seiner Kleidung zu begutachten, da mischt sich in das Gelächter eine weitere Stimme.

    »Mijnheer, heeft u hulp nodig?«

    Holm blickt hinter sich, um die Urheberin der weiblichen Stimme zu suchen.

    Eine junge Frau – ein Mädchen? – schiebt ihr Rad auf dem seifigen Rasen in seine Richtung. Sie ist vergleichsweise klein, was ihr jugendliches Aussehen unterstreicht.

    »Bent u gewond?«

    Holm versteht nicht, schüttelt trotzdem den Kopf.

    Die junge Frau blickt sich zur Kapelle um und kommt schnell zu dem Schluss, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Gelächter und dem Sturz des Unbekannten gibt. Sie ruft erbost einige kurze Sätze in Richtung der Kapelle, als sich Piet nähert.

    »Chef, Chef, alles in Ordnung mit Ihnen?«

    Holm beobachtet, wie die Frau böse Blicke in Piets Richtung sendet – offenbar kennt man sich. Der Holländer tritt trotzdem näher und versucht, Holm aufzuhelfen. Auch hat das Gelächter mittlerweile Beine und nähert sich stumm und mit gesenkten Häuptern dem Ort des Geschehens. Es sind die anderen Gartenarbeiter, die Holm beim Aufstehen unterstützen, sein Fahrrad aus dem Schlamm ziehen und hastig den Dreck von seiner Kleidung und vom Fahrrad entfernen. Sein Arm schmerzt, ansonsten ist Holm beim Sturz gut davon gekommen. Gesagt wird nichts, dazu sind die Rollen in diesem Spiel zu klar verteilt.

    Holm weiß nicht, ob er zornig oder dankbar sein soll. Er verabscheut die Schadenfreude, ist aber angetan von der Hilfe ohne viele Worte. Zuletzt reicht Piet ihm stumm das Fahrrad, daraufhin ziehen sich die Männer wortlos in Richtung Holzhackplatz zurück.

    »Ihre Mütze.« Die Frau schmunzelt, als sie Holm die völlig ruinierte Kopfbedeckung reicht, die sie zuvor aus dem Morast gefischt hat. Die Versuche, den Dreck abzuwischen, ändern an dem Befund nichts mehr.

    »Danke«, entgegnet Holm knapp, als er versucht, sich mit einem Tuch den Matsch aus dem Gesicht zu wischen. Einen Moment sieht die Frau ihm stumm zu; dann wendet sie auf dem Grün ihr Fahrrad und geht.

    Holm will noch etwas sagen, da kommt Ilsemann aus Richtung des Haupthauses gelaufen. Piet und seine Mitstreiter beschleunigen ihren Rückzug und suchen das Weite.

    »Herr Leinstermann, sind Sie in Ordnung?«, ruft der Major Holm entgegen.

    »Ja, ich denke schon. Mein Arm hat etwas abbekommen, sonst geht es.«

    So ein Mist!, fügt Holm in Gedanken hinzu. Und das in den ersten Tagen!

    »Ziehen Sie sich erstmal um. Und wenn die Schmerzen bleiben, lassen Sie sich bitte vom Arzt untersuchen.« Ilsemann begutachtet Holms verdreckte Kleidung und das ramponierte Fahrrad. Dann wird er sehr ernst und fragt:

    »Hat Ihnen niemand mitgeteilt, dass die Wege in diesem Teil des Parks nicht befestigt sind?«

    »Nein, ich habe allerdings auch in diese Richtung keine Fragen gestellt. Warum?«

    »Es sind schon vor Jahren Anweisungen erlassen worden, diese Wege im Winter auf keinen Fall mit Fahrrädern zu befahren. Eigentlich weiß das auch jeder.«

    Holm beginnt einiges klar zu werden, was den bisherigen Verlauf des Tages betrifft.

    »Wer hat Ihnen das Fahrrad gegeben und Sie auf die Reise geschickt?«, will Ilsemann in Erfahrung bringen.

    Holm überlegt kurz, reicht dem Flügeladjutanten dann unvermittelt die noch schmutzige Hand, die dieser mit leichtem Zögern ergreift.

    »Danke, diese Sache kläre ich lieber selbst«, erklärt Holm. Der Ehrgeiz reizt ihn, sich dieser Herausforderung zu stellen.

    Ilsemann ist überrascht. Zu häufig war er in den vielen Jahren mit Aussprachen über Konflikte, Meinungsverschiedenheiten und offener Feindseligkeit beschäftigt gewesen. Er ist sich sicher, dass Leinstermann und Piet die Sache unter sich regeln würden – Ausgang ungewiss ...

    Für diesen Tag meidet Holm den Kontakt zu den Arbeitern. Er für seinen Teil zieht sich nach dem dringend benötigten Kleidungswechsel in den großen Nutzgarten hinter Dienstgebäude und Garage zurück. Eine ganze Reihe Obstbäume fasst den Garten ein, dem er bisher kaum Beachtung geschenkt hat. In der entlegensten Ecke befindet sich das Tuinhuis, das Hauptquartier von Piet und seine Komplizen.

    Mit der Kladde seines Vorgängers Esterberg ausgerüstet, inspiziert er den großzügig angelegten Bereich. Sie enthält detaillierte, säuberlich festgehaltene Informationen über Fruchtfolgen, Probleme mit Schädlingen oder Mangelerscheinungen, Düngergaben und Ernteerträge. Das alles ist nicht Holms Metier, hatte er doch bisher wenig Berührungspunkte mit dem Gemüseanbau. In seinen Kindheitserinnerungen hatten er und die anderen Kinder die zarten Pflänzchen in den Nachbargärten beim Spielen zertrampelt und nahmen schnell die Beine in die Hand, wenn der Besitzer ihnen nachstellte.

    Das Mittagessen in der Personalküche fällt für ihn dieses Mal aus. Stattdessen macht er sich mit dem Fahrrad, das er vorläufig als eine Art Kriegsbeute betrachtet, auf ins Dorf, um sich für den Konflikt mit Piets Kumpanen zu rüsten. Zwar kommt er sich reichlich kindisch vor, sieht aber dennoch die Notwendigkeit, sich in dieser Sache einen kleinen Vorteil zu verschaffen.

    *

    Als Holm abends in der Pension ankommt, sitzt Fräulein Brandt bereits zu Tisch.

    »Sagen Sie,« beginnt Holm das Gespräch nach kurzer Zeit, »wie haben Sie so gut Holländisch sprechen gelernt?«

    »Oh, das hat sich im Laufe der Jahre so ergeben. Das meiste habe ich durch Zuhören mitbekommen.«

    »Sie haben die Sprache nie richtig erlernt?«

    »Doch. Aber das Lesen in Büchern und das Zuhören – vor allem aber das Sprechen – sind zwei völlig verschiedene Dinge!«

    Es entsteht eine kurze Gesprächspause, in der Holm seine Neuerwerbung aus dem Buchladen geräuschlos wieder in seine Arbeitstasche gleiten lässt.

    »Warum fragen Sie? Wollen Sie Holländisch lernen?«, fragt Fräulein Brandt halb belustigt, halb anerkennend.

    Holm weiß nicht recht, ob er sich ihr anvertrauen soll. Trotz der vergleichsweise häufigen Begegnungen an den Abenden in der Pension weiß er nicht viel von ihr. Sie ist freundlich und immer bereit, seine Fragen zu Huis Doorn, dem Umgang der Menschen dort und dem Leben im Ort geduldig zu beantworten.

    Er lenkt das Gespräch zunächst in andere Bahnen, um zu erfahren, ob sich der Vorfall bei der Kapelle bereits herumgesprochen hat. Wenn es bei Hesse Vorkommnisse gab, die sich für betriebsinternen Klatsch und Tratsch eigneten, war das Büro in der Regel zügig informiert und diente allen anderen als Nachrichtenzentrale. Im Laufe der Konversation zerstreuen sich seine Bedenken: Offenbar hat Ilsemann geschwiegen – und Piet würde sich gegenüber dem deutschen Personal sicherlich nicht mit dem Vorfall brüsten.

    Als die leeren Teller abgeräumt sind, fasst er sich ein Herz.

    »Ich brauche nochmal Ihren Rat, in einer anderen Sache.«

    »Nur zu! Worum geht es?«, ermuntert ihn Fräulein Brandt, während sie sich eine Tasse dampfenden Kaffee einschenkt.

    »Wie gut kennen Sie Piet Beurtman?«

    Zunächst zögerlich, dann immer lebhafter berichtet Holm von der schwierigen Zusammenarbeit und den Ereignissen von heute Morgen. Sie hört interessiert zu und kann sich an einigen Stellen ein Schmunzeln nicht verkneifen. Während Holm sein Erlebnis mit einer Mischung aus Entsetzen und Selbstironie schildert, scheint Fräulein Brandt wenig überrascht. Sie hört ihm bis zum Ende aufmerksam zu und ignoriert dabei die ein oder andere wütende Spitze in seinem Bericht.

    »Wissen Sie«, entgegnet sie schließlich, »Ihr Vorgänger Esterberg hat Piet zwar grundsätzlich mitgenommen, wenn er Pflanzen reklamieren musste oder sonstige schwierige Begegnungen mit Holländern bevorstanden. Er hat nicht viel von Land und Leuten verstanden, also brauchte er Piet – gewissermaßen. Ansonsten würde ich das Verhältnis eher ... schwierig nennen.«

    Das wundert Holm nicht.

    »Piet kann ein ziemlich harter Hund sein, Herr Leinstermann, aber er ist als Gärtner sehr erfahren.«

    Wieder Zustimmung – fachlich hat Holm über Piet nichts Negatives zu sagen.

    Er spricht aus, was er vermutet:

    »Kann es sein, dass er selbst gerne Hofgärtner geworden wäre?«

    Fräulein Brandt schweigt eine Weile, während Gesa eine Kanne frischen Kaffee bringt. Stirnrunzeln und ein angestrengtes Lächeln sagen nichtsdestotrotz einiges aus.

    Mit dem Gedanken an eine weitere unruhige Nacht würde Holm am liebsten auf eine weitere Tasse verzichten, weiß aber die für ihn unangenehme Stille nicht anders zu kaschieren. Nachdem Gesa gegangen ist, erklärt Fräulein Brandt:

    »Lassen Sie es mich so sagen: Es ist vielleicht nicht immer einfach mit Piet, aber im Grunde ist er ein guter Kerl. Wenn Sie mit Piet zusammen arbeiten wollen, müssen Sie ihn und seine Geschichte verstehen lernen.«

    »In Ordnung.« Holm nickt, ohne den Sinn der Antwort zu begreifen. Er zieht seine Neuerwerbung wieder aus der Tasche.

    »Ich hätte da noch ein paar andere Fragen, sprachlicher Natur.«

    *

    »Mal Arm beugen, junger Mann. Daaaaaankeschön! Zurück. Prima! Hast Schmerzen?«

    Nein, denkt Holm, eigentlich nicht. Er erwägt, ob es für seine Zwecke klug wäre, den Leibarzt Dr. Sortier dennoch vom Gegenteil zu überzeugen.

    »Aua, ja!«

    Der ältere, väterlich wirkende und sich ebenso verhaltende Bayer schürzt nachdenklich die Lippen, die größtenteils von seinem mächtigen Schnauzbart verdeckt werden.

    »Magst mal das Handgelenk drehen? Soooooo. Schmerzen?«

    Nein. Ja!

    »Aua!«

    »Hmmmm. Also, gebrochen hast nix. »

    Das wäre mir aufgefallen, entgegnet Holm wortlos.

    Der Leibarzt, der fast zeitgleich mit Holm in Doorn angekommen ist, beginnt, das Arztzimmer in der Orangerie nach etwas zu durchsuchen. Offenbar herrschen über die Ordnung unter den turnusmäßig wechselnden Leibärzten unterschiedliche Ansichten. Als sich der Doktor Holm wieder zuwendet, hält er einen noch verschlossenen Karton in den Händen.

    Das Klopfen an der Tür unterbricht ihn in seinem Tun. »Kommen’s nur n’ein.«

    Es scheint Zeit für das Frühstück zu sein, das der Arzt offenbar nicht im Speiseraum für das höhere deutsche Personal einnimmt. Gebracht wird es von der jungen Frau, die Holm gestern seine Mütze gereicht hat. Er ist mehr überrascht als sie, die ihm unauffällig zulächelt, um dann ohne Worte den Raum wieder zu verlassen.

    Schwungvoll reißt Dr. Sortier den Karton auf und wendet sich in Richtung Waschbecken.

    »Gehn ma auf Nummer sicher«, sagt er zu Holm und betrachtet die kleine Verpackung in seiner Hand.

    »Also, Bursch, packen ma’s!«

    Genau das, was ich brauche, denkt Holm zufrieden.

    Die Blicke der anderen Männer am Holzschuppen verraten keine Gefühlsregung. Es wird weder gescherzt noch gesprochen, und Holm macht keine Anstalten, die Situation aufzulösen. Stumm setzt er sich zu den Arbeitern und betrachtet, so demonstrativ es geht, das alte Fahrrad, mit dem er soeben gekommen ist. Selbst Piet bleibt heute Morgen ungewöhnlich sprachlos. Holm genießt still das Gefühl, die Waage ein wenig zu seinen Gunsten ausgeglichen zu haben. Nach einer Weile ergreift er das Wort: Ohne einen der Arbeiter anzusehen, verteilt er die Aufgaben für den heutigen Tag. Dabei orientiert er sich an den Unterlagen seines Vorgängers. Er hat eben solche Tätigkeiten ausgesucht, die von Esterberg als unerledigt geblieben notiert waren – und die Holm als Strafmaßnahme geeignet erscheinen.

    Mit seiner Theorie sollte er nicht falschliegen: Ohne, dass es Piets holländischer Erläuterungen bedürfte, entgleisen den Männern bei Holms Auflistung die zuvor versteinerten Gesichtszüge:

    Ausbringen von Kuhmist im Gemüsegarten. Reinigung des Taubenschlags. Und zu guter Letzt: Beginn der Befestigung der Wege an der Kapelle.

    Die Täter kehren immer zum Tatort zurück, frohlockt Holm still.

    Hatte er Protest erwartet, so wird er enttäuscht: Langsam, aber ohne Murren trotten vier der Männer los, während Piet bei Holm zurückbleibt und seine innere Ruhe offenbar verloren hat.

    »Chef, was gestern ...«

    Holm schüttelt nur stumm den Kopf und macht, schmerzverzerrtes Gesicht inklusive, eine ablehnende Geste – mit seinem eingegipsten linken Arm.

    Da er aufgrund seiner selbst auferlegten Behinderung keine körperliche Arbeit verrichten kann, zieht sich Holm mit seiner Neuerwerbung des gestrigen Tages in den Auguste-Rosengarten zurück. Um sein eigentliches Vorhaben zu tarnen, führt er zudem sein Nachschlagewerk über die Rosenzucht mit sich. Anfangs bleibt er in der Rosenlaube allein.

    Viele der Wörter in seinem Lehrbuch der niederländischen Sprache wirken vertraut, viel weniger fremd als das Französische, das er in seiner Schulzeit neben dem Englischen erlernt hat. Er blickt sich mehrmals um, sich versichernd, dass niemand zusehen und vor allem zuhören kann. Er versucht, den Klang der Sprache nachzuahmen:

    »Ik ben, je bent ...«

    Vorsichtig tastet er sich weiter – und kommt sich dabei vor wie ein Kind, das unsicher die ersten Schritte ohne den stützenden Halt der Eltern geht. Das klare Ziel gibt Holm die kindliche Energie und den Willen, diese Aufgabe zu bewältigen. Immer mehr vertieft er sich in das Buch und feiert innerlich jede halbwegs gelungen klingende Aussprache.

    Das Geräusch, das ihn aus seinen Gedanken reißt, kommt ihm sehr bekannt vor: ein kurzer Schrei, ein Scheppern, begleitet von einer Art Klimpern einer kleinen Glocke.

    Holm legt seine Literatur beiseite und schaut sich um.

    Aus Richtung Holzschuppen hört er ein leises Wimmern, wie von einem Kind. Er macht sich auf den Weg.

    Holm sieht weiter vorn eine junge Frau neben einem Fahrrad kauern und sich Hände und Knie reiben. Er geht schneller, kann er sich doch anhand seines Sturzes von gestern vorstellen, wie viel härter der Aufprall auf den hier befestigten Wegen für diese Person gewesen sein muss.

    Als er näher kommt, möchte er etwas sagen, ist aber kurz unschlüssig, wie er die Frau – das Mädchen? – ansprechen soll.

    Da wendet sich die Gestürzte um und blickt in sein Gesicht.

    Nein, er kennt sie nicht. Ihre Gesichtszüge wirken bekannt, aber in Mimik und Ausdruck eigentümlich und fremd.

    Sie hört auf zu wimmern und schluchzt: »Ich bin gefallen.«

    Sie umfasst mit ihren Armen die Knie, die offenbar keinen Schaden beim Sturz genommen haben. Dabei wogt sie sanft mit dem Oberkörper vor und zurück, wie das Schaukeln einer Wiege. Als die Bewegungen kaum mehr wahrnehmbar sind, passiert einen ewig langen Moment nichts. Schließlich zieht die junge Frau umständlich ein Tuch aus ihrem Mantel und schnäuzt sich geräuschvoll die Nase.

    Holm ist sich nicht sicher, wie er reagieren soll. Vor ihm auf der Erde kauert eine offenbar erwachsene junge Frau, die aber eine ganz andere Wirkung auf ihn entfaltet. Sie erscheint kindlich und ein wenig unbeholfen, aber in ihrer Ausstrahlung sehr liebenswert und gleichsam hilfebedürftig.

    Da er immer noch unsicher ist, welche Worte er wählen soll, tritt er noch einen Schritt näher und reicht ihr die gesunde Hand. Zögernd ergreift die Frau die Hilfe und steht auffallend ungelenk auf.

    Diese Augen ...

    Während Holm nach ihrem Fahrrad sieht, beginnt sie, aufmerksam ihre Kleidung zu begutachten. Sie wirkt betrübt, da zahlreiche Schäden erkennbar sind – es scheint nicht der erste Sturz an diesem Tag zu sein. Außer ein paar Kratzer an den Handballen ist sie selbst mit dem Schrecken davongekommen.

    »Hier, bitte«, bringt Holm hervor, als er ihr das Fahrrad anreicht. Die Frau zeigt ein fremdartiges, aber einnehmendes Lächeln und will sich wieder auf das Fahrrad schwingen. In dem Moment, als das Aufsteigen mit ihrem Rock vorerst an dem Fahrradsattel scheitert, ertönt aus Richtung Hauptgebäude eine besorgte, aber ebenso erboste Stimme:

    »Adini!« – die Frau zuckt erschrocken zusammen.

    »Adini!« – sie entscheidet sich, der Stimme kein Gehör zu schenken und auf alle Fälle die Fahrradtour durch den Park fortzusetzen.

    »Adini, bleib stehen!«

    Holm macht einen stämmigen Herren aus, der in feinster Uniform die letzte Kurve zu ihnen entlang rennt. Vor Anstrengung ringt er deutlich sichtbar mit dem Atem.

    »Ich will Fahrrad fahren!«, ruft die Frau mit entschlossenem, fast furchteinflößendem Blick dem Mann entgegen.

    Holm schüttelt ungläubig den Kopf: Es ist Eitel Friedrich, einer der Söhne des alten Kaisers, der sich die letzten Meter, deutlich langsamer werdend, in ihre Richtung schleppt. Im Vergleich zu den Fotos aus jüngeren Jahren ist der Prinz sichtbar gealtert. Silbrig glänzen die kurz gehaltenen Haare, der charakteristische Schnauzbart ist in Ehren ergraut. Geblieben ist die respekteinflößende Statur, wenn auch der gewachsene Umfang des adeligen Leibes die Proportionen etwas zu Ungunsten der Größe verändert hat.

    »A-le-xan-dri-ne! Bleib ... stehen! Du ... fällst!«

    Zu spät! Wie ein bockiges Kind will Adini den Sieg erzwingen und besteigt, so gut es eben geht, das Fahrrad. Einige wenige Meter kann sie die Balance halten. Auf Holm wirkt diese Szene absolut unwirklich und seltsam verlangsamt. Für einen Moment hat er das Bild eines übergroßen, ungelenken Vogels mit mächtigen Schwingen vor Augen, der sich langsam vom Boden abhebt und durch die kühle Luft majestätisch der Wintersonne entgegenfliegt.

    Die Vision dauert eben so lange, bis das allzu vertraute Geräusch eines Sturzes mit dem Fahrrad ertönt, gefolgt vom lauten Aufheulen der jungen Frau. Holm rennt sofort los.

    »Scheiße!«, entfährt es Prinz Eitel, dem die Puste für einen neuerlichen Lauf fehlt.

    »Da passt man einmal auf seine Nichte auf, und dann so was!«

    Nach Luft schnappend steht er da, vorgebeugt und die Hände auf die Knie stützend, den Kopf schüttelnd.

    »Mein Bruder wird alles andere als begeistert sein.«

    Im nächsten Moment richtet sich der Prinz auf und wischt sich den perlenden Schweiß von der Stirn.

    »Soll er doch das nächste Mal selbst aufpassen, der Blödmann!«, grantelt Eitel-Friedrich so leise, dass Holm es nicht hört.

    Als der Prinz mit der eigentümlichen Adini von dannen zieht, kommt Piet den Weg aus Richtung Holzhackplatz gelaufen. Er stellt sich zunächst wortlos zu Holm: Gemeinsam schauen sie dem ungleichen Paar nach. Der große, massige Prinz schiebt mit einer Hand das Fahrrad, mit der anderen Hand stützt – oder leitet? – er seine zierlich wirkende Nichte auf dem Weg zurück zum Haupthaus. Sie scheint geschlagen, aber nicht ohne Stolz.

    Die beiden Männer schweigen, aber es erscheint beiden nicht zwanghaft oder distanziert. Für den Moment sind die Waagschalen nahezu ausgeglichen.

    »Wenn der dicke Eitel und der fette Göring so weiter fressen, wird es nur ein kurzer Krieg – wenn es einen gibt«, meint Piet trocken.

    »Warum?«

    »Weil euren Soldaten bald der Proviant ausgeht.«

    Obwohl Holm es eigentlich nicht will, kann er sich ein leises Kichern nicht verkneifen.

    Beide wenden sich voneinander ab.

    Waffenstillstand?, denkt Holm.

    Wir werden sehen.

    *

    »Mit der Aussprache tun sich die meisten Deutschen anfangs schwer«, erläutert Fräulein Brandt zwischen zwei herzhaften Bissen. »Sie müssen dranbleiben und es immer weiter probieren.«

    Holm betrachtet die Muster, die die süße Sahne in den Kaffee zaubert. »Die Holländer sprechen

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