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Judasse: Astro-Zwillinge mit verhängnisvollem gleichen Schicksal
Judasse: Astro-Zwillinge mit verhängnisvollem gleichen Schicksal
Judasse: Astro-Zwillinge mit verhängnisvollem gleichen Schicksal
eBook833 Seiten11 Stunden

Judasse: Astro-Zwillinge mit verhängnisvollem gleichen Schicksal

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Über dieses E-Book

Die Chef-Lektorin des Hamburger Verlages Cicero³ steht vor einem Rätsel, als ihr ein zweites Manuskript »Judasse« vorgelegt wird und sie herausfindet, dass die Biografien der beiden »Judasse«-Autoren nahezu deckungsgleich sind. Seltene, sogenannte astrologische Zwillinge vermutend, eine epochale Sensation witternd, bringt sie die Autoren am Ammersee zusammen, nachdem Verlags-Chef Doktor Michels entschied, das neue »Judasse«-Werk zu verlegen. Diesem lag ein Vermarktungs-Konzept bei, dessen morbider Reiz ihn dazu verlockte.
Beim explosiven Treffen der »Judasse«-Autoren am Ammersee werden indes keine Rätsel gelöst, sondern verstörende, neue geschaffen.
Atemberaubend temporeich, entwirrt Autor Riminian Geheimnis-Knäuel und führt die LeserInnen zu Schauplätzen an Wörther- und Ammersee, Mallorca, nach Triest, München, Hamburg und in die Saarpfalz. Riminians Parforcejagd mit außerordentlichen Frauen, spirituell intensiver Liebe, abgrundtiefem Hass und kaum fassbaren Wahrheiten gibt auf über 600 Seiten prickelnd Einblicke in die Genres Esoterik, Erotik, Astrologie und Psychologie und beleuchtet das Profil einer weltweit organisierten Frauen-Detektei, an deren Spitze die geheimnisvolle Janja Lujzer, eine Art »James-Bondin«, steht.
Bald liegen dem Cicero³-Verlag Vorab-Buchbestellungen im Wert von einer Millionen Euro vor, während Auftragskiller versuchen, die »Judasse«-Veröffentlichung zu verhindern. Birmanns aufsehenerregendes Promotion-Konzept kostete da schon mehrere Menschenleben, schoss aber den Cicero³-Verlag, wenn auch moralisch bedenklich, in den Erfolgs-Himmel. Als die Lage weiter eskaliert und die Branche rebelliert, trifft Dr. Michels eine folgenschwere Entscheidung.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Feb. 2020
ISBN9783749721436
Judasse: Astro-Zwillinge mit verhängnisvollem gleichen Schicksal

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    Buchvorschau

    Judasse - Roman Riminian

    Prolog

    Beginn der Aufzeichnung.

    Es ist kaum zu fassen, was Daniel de Hinnes — letztlich ein NoName-Autor — hier auf die Beine stellt. Der Andrang zu seiner Lesung ist so groß, dass der Prachtbau eines Finanzdienstleisters im westpfälzischen Zweibrücken aus allen Nähten zu platzen droht.

    Irritiert, ja aufgewühlt, bemühe ich mich um Unauffälligkeit; auch, weil man mir nachsagt das ultimative Gegenteil zu sein.

    Ich bin Dr. Marija Masson, Cheflektorin des »Cicero3-Verlages« und indirekt daran schuld, dass Daniel de Hinnes noch kein Bestseller-Autor ist. Seit bei uns der Hammer für ihn fiel, geht er mir deshalb nicht mehr aus dem Kopf. Zu seiner Buchvorstellung reiste ich auch deshalb an. Seinen vor Ironie triefenden Einladungsbrief fischte ich aus dem Papierkorb von Verlags-Chef Dr. Michels. Mein Entschluss stand da aber schon fest. Jetzt kläre ich noch ein paar Details, dann grätsche ich Daniel de Hinnes zum zweiten Mal in seinem Leben relativ brutal in die Parade. Das Mirakel, mit dem ich ihn konfrontiere, ist von einer Größenordnung, an der selbst Hartgesottenere zerbrechen können. Einerseits. Andererseits könnte er zu jenem Star-Schreiber avancieren, der er nur nicht ist, weil ich sein brillantes Manuskript »Judasse« verwarf.

    Inzwischen produziert und verlegt er seine Werke selbst — die neuen, digitalen Drucktechniken machen es möglich — und, weil er es als Schriftsetzermeister, Drucktechniker und Werbefachmann kann. Wie auch immer wird es spannend; vielleicht aberwitzig; vielleicht epochal; sogar sensationell ist möglich; spektakulär wird es allemal.

    Ich wohne zwei Nächte im Hotel »Europas Rosengarten am Park«, wo mir der Regio-Selfmade-»Star« sogar über den Weg laufen könnte? Daniel de Hinnes wurde 1949 hier geboren, ist aber seit 2000 am bayerischen Ammersee zu Hause. Zur Präsentation seines neuen Buches »Wildwest. Raubtiere. Aff(är)en.« kam er — »back to the roots« — heim in seine Geburtsstadt. Darin geht es um den Happypark, der einst hier um die Ecke, von Landräten absurd massakriert wurde, statt Furore als einzigartiger Freizeitpark zu machen. Der visionäre Park-Gründer wurde sogar zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Für Daniel de Hinnes — damals der junge Werbeberater des Freizeitparks – war es ein schändliches Urteil, als Krönung einer unfassbaren Skandalkette. 35 Jahre danach, erinnert er mit besagtem Buch an die Dramen von einst. Verschwurbelt (bewusst?) bezeichnet er sein Werk als »Doku-Roman«. An Phantasie mangelt es ihm so wenig wie an Charisma. Oder fußt das überwältigende Publikums-Interesse auf Mitleid? Der Autor ist durch einen schweren Schlaganfall deutlich gezeichnet. Daran zweifle ich indes, weil de Hinnes‘ Bücher Format haben. Er formuliert eigenwillig, aber unterhaltsam. Angewidert war ich nur von seinen Ausrutschern ins Obszöne mit den zwei »F«-Worten, gegen die ich allergisch bin.

    Die von überall zur Lesung angereisten Happypark-Künstler-Veteranen sind beeindruckend, ja atemberaubend. Co-Moderator des Abends, Baldur Grank – als Bub selbst Happypark-Artist – stellte Einige als Intro zur Lesung vor. Das einstige Star-Ensemble des Happyparks fand sich zur Lesung ein, wie zu einem Klassentreffen. Der eigentliche Conférencier des Events, der saarländische Landtagsabgeordnete Lutz Oesl, führt im Outfit eines Zirkus-Direktors kurzweilig durchs Programm. Zur stimmigen Buch-Präsentation passt auch die Performance des Autors, der lässig gekleidet an einem kleinen Tisch sitzt, wohl, weil er nicht lange stehen kann. Daniel de Hinnes‘ Vortrag ist eine Inszenierung. Mit angenehmer Stimme gestaltet, ja zelebriert er immer neue Sprach-Szenen. Seine Schwerbehinderung – eine halbseitige Lähmung links – offenbarte sich erst am Ende, als er sich kurz erhob.

    In der Pause lud der Direktor des Finanzdienstleisters zu Sekt und anderen Getränken ein. Nach der Lesung wartet ein warmes Büffet auf die Gäste. Daniel de Hinnes hat scheinbar gute Freunde in seiner alten Heimat. Er selbst, wusste sein spendabler Gastgeber – dem ich mich als freie Journalistin vorstellte – sei arm wie eine Kirchenmaus, seine karge Rente würde mittels Grundsicherung aufgestockt. Das war der Moment, als ich ein zweites Mal zusammenzuckte. Ich bin gespannt, wie es nach der Lesepause weitergeht. De Hinnes zieht einem in seinen Bann. Dass ich Größeres mit ihm plane, ist auch so gesehen gerechtfertigt. Bleibt die Frage, wie und wann ich es ihm schonend vermittle? Immerhin sagte Didrich Birmann schon zu.

    Ende der Aufzeichnung. Ich stehe hinter dem prächtigen Rundbau, verdeckt durch eine Hecke.

    Beginn der Aufzeichnung.

    Meinem denkwürdigen Abend schloss sich eine adäquate, sowohl denk- als auch merkwürdig Nacht an. Das heißt, ich werde sie nie vergessen und sie mir merken. Nein, ich hatte keinen One-Night-Stand mit »Mister Universum«, sondern las in Daniel de Hinnes‘ Buch und schaute mir die Bilder darin an. Ich bin noch immer geplättet. Das wäre auch ein Buch für den »Cicero³-Verlag« gewesen.

    Schluss. Ich schließe mein Diktiergerät und breche auf zum Frühstücksbuffet. Ich bin hungrig.

    Ende der Aufzeichnung.

    Als Doktor Marija Masson das Paar jenseits der Glasscheiben an einem Tisch im Freien sah, steuerte sie die Terrasse an, statt das Buffet. Ingrith Vock und ihr Bruder Bert Gautschy schauten der imponierenden Gestalt irritiert entgegen, die sich zielstrebig ihrem Tisch näherte.

    „Darf ich mich einen Moment zu ihnen setzen?, rief ihnen Marija Masson zu. „Ich kenne euch von gestern Abend. Ihnen widmete Daniel de Hinnes sein Buch, wandte sie sich an Ingrith Vock. „Ich las es heute Nacht quer. Ich bin freischaffende Journalistin, blieb sie ihrer Zweibrücker Lüge treu. Als Bert Gautschy sie mit einer Geste einlud Platz zu nehmen, zog sie einen Stuhl vom Nachbartisch heran und setzte sich. „Daniel de Hinnes ist ihr großer Fan, Frau Vock. Lasen sie schon, was er über sie schrieb?

    „Nein, lächelte sie klein. „Wann denn? Dazu habe ich später im Zug auf der Rückreise Gelegenheit.

    „Sie reisen schon wieder ab?"

    „In zwei Stunden. Ich fliege noch heute Abend von Zürich aus nach Thailand, erklärte es Bert Gautschy. „Der Flug ist unaufschiebbar und meine Schwester will alleine nicht mehr reisen.

    „Ohne Begleitung hätte ich gar nicht kommen können, erklärte diese. „Jetzt bin ich glücklich, dass ich dabei war. Es war einmalig. Werden sie über das Buch schreiben?

    „Über den Autor", wich die Lektorin lügend aus.

    „Sie wollen ihm aber nicht wehtun?", fragte die Schweizerin mit plötzlich abweisender Miene.

    „Aber nein", schüttelte Marija Masson den Kopf. „Eher das Gegenteil.

    „Eher? Sie wissen es nicht?"

    Ich weiß es ja wirklich nicht, durchzuckte es die Lektorin. Dann rückte sie für sich gerade, dass sie ihm zwar nicht wehtun wollte, ihm ihr Vorhaben aber wehtun könnte.

    „Da kommt er übrigens, sagte Ingrith Vock, und aus ihrem gerade noch gezwungenen, wurde ein herzliches, leuchtendes Lächeln. „Wir sind zum Frühstück verabredet, bevor uns seine Freundin zum Bahnhof nach Homburg fährt.

    Marija Masson drehte sich um. Am Arm seiner Managerin, Kümmerin und Freundin – so hatte er Estelle Myller am Schluss der Lesung lobend vorgestellt – trat er gerade aus der Terrassen-Tür. Verhalten lachend winkte er ihnen zu, wünschte laut einen guten Morgen und fragte, ob sie gut geschlafen hätten. Marija Masson nickte er lässig zu und sagte:

    „Gnädige Frau. Waren sie gestern Abend nicht auch dabei? Kennen wir uns?"

    „Ich kenne sie. Schön, dass ich sie treffe. Ich bin Hotelgast und wollte sie ohnehin kontakten. Darf ich mich vorstellen?, fuhr sie fort und nickte de Hinnes‘ Begleiterin zu. „Ich bin Doktor Marija Masson, freie Journalistin. Frau Myller? Bravo, eurem gelungenen Abend. Eindrucksvoll. Ein Highlight.

    Daniel de Hinnes‘ Mimik wurde augenblicklich neutral, fast abweisend, als er die Hand vom Unterarm seiner Begleiterin nahm und nach seiner Krücke griff, die sie in ihrer Rechten hielt. Es war, als würde er Unheil wittern.

    „Um was geht es?", fragte er knapp.

    „Das möchte ich ihnen gerne unter vier Augen sagen."

    „Aha. Geht es auch unter sechs Augen?"

    „Wenn sie darauf bestehen. Oder … wann sind sie denn wieder am Ammersee?"

    „Keine Ahnung. Wann bin ich denn wieder am Ammersee?", gab er die Frage an Estelle Myller weiter.

    „Wenn du dich schickst, kannst du bleiben so lange du willst", erhielt er zur Antwort.

    „Jetzt wissen sie Bescheid", sagte de Hinnes schief grinsend zu Marija Masson. „Entweder ich schicke mich, oder ich werde geschickt. Warum wollen sie das überhaupt wissen?"

    „Weil ich demnächst in München bin und sie am Ammersee treffen könnte. Dann muss ich sie jetzt nicht behelligen."

    Daniel de Hinnes nickte. „Was war gleich noch mal ihr Anliegen?"

    „Ein Exklusiv-Interview. Sie sind hoch interessant, Daniel de Hinnes. Sogar die »Deutsche Schlaganfall-Hilfe« widmete ihnen in ihrem Verbands-Magazin einen großen Artikel. In ihrem neuen Buch wenden sie sich gegen das regionale Establishment. Sie wären ein moderner Savonarola, notierte ein Kollege auf seinen Schmierzettel, dem ich gestern Abend über die Schulter linste. Er schreibt wohl für eine Tageszeitung."

    „Savonarola? Wie schmeichelhaft. Nahm der nicht im Mittelalter die Medicis samt Papst auf die Hörner?"

    „Stimmt. Ich googelte es zur Sicherheit. Savonarola kritisierte seinerzeit vehement den Papst und das unsittliche Treiben hinter den Vatikan-Mauern. Die von ihm attackierten Mächtigen bereiteten ihm deshalb ein düsteres Ende und ließen ihn hängen."

    „Das wäre dann weniger nachahmenswert", kommentierte de Hinnes es lakonisch.

    „Ich könnte dazu beitragen, dass sie ihr verdientes Happyend bekommen", wollte sie seine Neugier schärfen. „Haben sie eine Visitenkarte mit ihren Telefonnummern? Dann kontakte ich sie Anfang November wegen eines konkreten Termins. Ansonsten fürchte ich, besagter Schreiberling will ihnen mit seinem Bericht nicht schmeicheln …"

    Der Artikel erschien einen Tag später in der »Palatia« und war auf den ersten Blick in der Tat weder für Daniel de Hinnes, noch für sein ambitioniertes Buch schmeichelhaft. Die Artikel zum gleichen Thema in den Konkurrenz-Blättern »Pfalzmerkur« und »PS-Zeitung« standen im krassen Gegensatz dazu.

    „Irre! Hinter den Kulissen wirken offensichtlich noch die gleichen Seilschaften, wie vor vierzig Jahren, befand der Autor nüchtern, weil er auf Schlimmeres vorbereitet war. „Fragt sich, wer den Armleuchter für seinen armseligen Bericht geschmiert hat? Wobei der trotz seiner Dämlichkeit werbewirksam ist, gab er drei Tage später an seinen Schondorfer Nachbarn und Freund Theo Kroner weiter, der die de Hinnes-Homepage verwaltete. „Kaum war der Artikel erschienen, kamen im Minutentakt online-Bestellungen. Die Erstauflage ist so gut wie verkauft", führte Daniel weiter aus.

    Ob er keine Reaktionen von ihm angepinkelter Politiker erwarte, war er von westpfälzischen Insidern im Vorfeld gefragt worden.

    „Doch, hatte er geantwortet und geunkt: „Aber was soll mir schon passieren? Alles, was einem in diesem beschissenen Leben zustoßen kann, kenne ich – ich war sogar schon tot.

    Er irrte sich, denn Dr. Marija Masson hatte er nicht auf seiner Agenda.

    Als sie fünf Wochen nach der Buchpräsentation wie eine Fata Morgana in Schondorf bei ihm auftauchte, geriet das Leben von Daniel de Hinnes nicht nur in Schieflage, sondern kippte in der Folge sogar noch einmal komplett um. Dabei hatte er mit der Frau, die sich ihm auf der Terrasse des Rosengarten-Hotels als Journalistin vorstellte, schon gar nicht mehr gerechnet.

    Daniel de Hinnes

    Kapitel 1: Dr. Marija Masson mit Schock-News am Ammersee

    Durch die breite Fensterscheibe sah er sie vor seinem Schreibplatz in einem weißen Porsche 911 mit Münchener Kennzeichen vorfahren – ein Leihwagen, mutmaßte er. Mit Parkscheibe könne sie eine Stunde parken, hatte Daniel ihr am Telefon erklärt.

    Trotz des riesigen Flachbildschirms vor ihm, konnte er beobachten, was sich gut zehn Meter von ihm entfernt auf dem Gehweg neben der Straße tat. Diese führt zum malerischen Westufer des Ammersees mit reizvollem Blick auf das Ostufer, samt der Wallfahrtskirche des Klosters Andechs auf Bayerns heiligem Berg.

    Daniel de Hinnes‘ Domizil ist das 40 Quadratmeter-Souterrain eines ursprünglich kleinen Hauses, das nach Nerv tötendem Umbau nun ansehnlich war. Es ist von einer mit Blumenrabatten und Büschen verzierten leicht abschüssigen Wiese umschlossen, in dessen Mitte sich ein knorriger Apfelbaum zu ducken scheint. Im Frühjahr und Sommer bestaunen oft Passanten das Idyll. Am Holzzaun zum Grundstück stehend, riechen sogar manche an den Rosen, die sich dort hochranken. Daniel de Hinnes fühlte sich wohl in seiner niedrigen, bescheidenen Schreib-Höhle, wie er sein Mini-Quartier nannte.

    Als Dr. Marija Masson fast schneidig aus dem Sportwagen stieg und gleich darauf das niedrige Gartentürchen öffnete, kippte sein Wohlgefühl zum fundamentalen Unbehagen. Hinterher fragte er sich, ob er da schon ahnte, dass ihm seine vertraute Welt gleich um die Ohren fliegen würde? Beim Aufstehen erkannte er, dass sie in ihrem hellblauen Jeansanzug überragend aussah – eine rassige Erscheinung mit ultrakurzen, pechschwarzen Haaren. Als sie sich im Zweibrücker Hotel vorstellte, war es ihm entgangen; oder sie war neu gestylt? Wenig später begrüßte er sie, ohne Gehhilfe in der Tür stehend, per Handschlag und bat sie herein. „Als erstes muss ich sie um Verzeihung bitten, sagte sie zerknirscht, ihm dabei in die Augen schauend. „Ich bin keine Journalistin. Wir machen kein Interview.

    Einen Moment lang wirkte Daniel de Hinnes irritiert. „Whow! Die attraktivste Lügnerin, die mir je begegnete, reagierte er dann geschmeidig. „Heißt es nicht Lügen hätten kurze Beine? Ihre sind ziemlich lang.

    „Es war ja auch eine Notlüge. Verzeihen sie mir und ich lade sie zum Essen ein. Bitte, Herr de Hinnes. Ich weiß, dass sie mich verstehen."

    „Davon bin ich weit entfernt. Weil nämlich Schwerbehinderte auch Notlügen Scheiße finde. Okay. Wer sind sie dann? Eine Schnüfflerin, im Auftrag des Pirmasenser Landrates?"

    Sie schüttelte den Kopf. „Quatsch. Aber entspannen sie sich erst einmal. Ich leite das Lektorat des Cicero³-Verlags in Hamburg. Wir hatten schon miteinander zu tun."

    „Du liebe Scheiße!", entfuhr es Daniel de Hinnes. „Sie waren das? Die Textpertin mit der Fotzen- und Ficken-Allergie? Auweia! Droht ihnen jetzt ein Anfall, weil ich ihre Pfui-Worte zitierte?"

    „So schlimm ist es auch nicht. Sie dürfen mich ausnahmsweise beschimpfen und sogar zotig sein. Nehmen sie meine Einladung an?"

    „Später. Aber nur, weil sie meiner Lesung beiwohnten. Erst will ich von ihnen wissen, was ihre Scharade soll. Kommen sie. Wir gehen in meinen … Konferenzraum", fügte er ironisch an.

    „Ja, ich schulde ihnen eine Erklärung", nickte sie und folgte ihm durch den niedrigen Mini-Flur mit billig holzvertäfelter Decke.

    „Das Bett bedeutet nichts", merkte er bissig an, als sie ihm durch einer Art Küchenbüro folgte und durch eine offenstehende Tür den Raum mit besagtem leidlich gemachtem Bett, betrat. Zur Ausrichtung zählten ferner ein kleiner Kleiderschrank mit Milchglas-Schiebetüren, ein von drei Stühlen umstandener weißer, quadratischer Lack-Esstisch, und zwei gelbe Stehlampen. Tisch und Stühle standen auf einem knallig bunten Teppich. Die Wände zierten Ankündigungs-Plakate von Daniel de Hinnes‘ Lesungen und ein Riesenbild mit einem skurrilen Motiv – Bäume, die sich sturmgepeitscht zu einem Meeresstrand herunterbeugten. Zwischen den Bäumen ging eine Frau im paradoxen Winkel zu den Bäumen einen Gehweg entlang. Das Foto mutete an wie das Ölgemälde eines Malers, dem die Perspektiven durcheinandergerieten. Als Daniel ihren Blick bemerkte, grinste er.

    „Grotesk, ich weiß; aber diese Aufnahme ist das Narrativ meines Lebens: keiner blickt durch, es ist aufregend und eine Frau läuft aus dem Bild. In diesem Fall übrigens Frau Myller, irgendwo auf Mallorca. Das Bild schoss ich selbst."

    „Eindrucksvoll", bestätigte Marija Masson.

    „Hoffentlich war ihnen mein Hinweis auf das Bett nicht zu sexistisch", grinste er dann leicht verzerrt.

    Gerade noch fast lausbübisch, dachte Marija Masson. „Jetzt aber halblang", reklamierte sie unsicher, ihr forsches Auftreten damit konterkarierend.

    „Pardon. Sie klingen übrigens, als wüssten sie, dass mir das Scherzen gleich vergehen wird", tat er ihren Tadel ab. „Möchten sie einen Kaffee? Ich kann ihnen einen mit Pads kredenzen. Ich bin der Kaffee-Chef in dieser Abteilung."

    „Nach dem Essen. Übrigens … Kompliment. Ihr Atelier hat Charme und ist innovativ gestylt." Sie wies auf das Poster mit dem Happypark-Buch-Titel. „Hingen sie das selbst auf?"

    „Schön wär’s. Nein, das ist Estelle Myllers Werk, nachdem sie mich letzte Woche zurückbrachte. Setzen sie sich doch. Und dann sagen sie mir endlich, was los ist."

    Sie nahm Platz auf dem Stuhl am breiten Fenster, das den Blick auf den oberen Teil der Wiese, den Lattenzaun und Häuser auf der anderen Straßenseite frei gab.

    „Vorab, Herr de Hinnes. Ich bin privat unterwegs, wie bei ihrer Lesung auch. Der Cicero³-Verlag ist außen vor. Es ist ein Alleingang."

    Daniel de Hinnes runzelte die Stirn. „Wie mysteriös. Eine notlügende Alleingängerin", höhnte er dann, ohne dass es danach klang; eher kleinlaut, fast ängstlich.

    In ihr erneutes Nicken hinein, entschied sie sich kurzerhand doch noch für die Holzhammer-Methode. „Herr de Hinnes, uns liegt ein zweites »Judasse«-Manuskript vor."

    „Was … was … heißt das?", fragte Daniel. Seine Augen flackerten und Doktor Marija Masson seufzte.

    „Das heißt, es gibt von einem definitiv anderen Autor ein zweites »Judasse«. Das Manuskript – ähnlich gebunden wie ihres – erreichte uns im April auf dem Postweg. Abweichend ist, dass es in einer anderen Schrift als ihres, nicht auf weißes, sondern auf farbiges Papier ausgedruckt ist. Weil auch der Schreibstil von ihrem abweicht, war ich sicher, dass nicht sie der Autor sind. Umso auffälliger ist, dass auch dieser Schreiber fäkal die Begriffen Fotze und ficken einsetzt. Das ist absurd genug, aber der Hammer ist, dass es haargenau ihre Geschichte ist. Was heißt haargenau … ähnlich halt. Zu ähnlich. Und das ist doch zumindest … seltsam. Oder?"

    „Ja … das ist es wohl, sagte Daniel gedehnt. Als er danach die Backen aufblies, wirkte er wie verloren. „Wissen sie wer der Autor ist?, fragte er schließlich.

    „Ein Saarländer namens Didrich Birmann, aus der kleinen Stadt Homburg, erwiderte Marija Masson. „Und jetzt ist es gut, dass sie sitzen. Er ist am gleichen Tag wie sie geboren, ist Schriftsetzer-Meister, und war Fußballprofi und Jugendnationalspieler. Alles wie sie. Sie atmete tief aus. „Überhaupt scheint er ihr Klon zu sein. Anders ausgedrückt … der Mann ist quasi … sie. In einer zehn Jahren jüngeren Ausgabe."

    Daniel de Hinnes Gesicht war fahl geworden, als er erneut die Backen aufblies. Er rang sichtbar nach Fassung. „Aha, sagte er schließlich kraftlos. „Dieser Mann ist also … ich? Ist er auch halbseitig gelähmt?

    „Nein, er ist gesund", flüsterte Marija Masson kaum hörbar.

    „Dann ist er nicht einmal quasi ich. Und zehn Jahre älter ist er ja auch", fügte er verloren an.

    „Nein, zehn Jahre jünger."

    „Wie auch immer, haben sie natürlich recht. Das ist schon ein Hammer. Ein Zuschlag-Hammer sogar. Schließlich straffte er sich. „Aber, danke, dass sie mich einweihen. Und sein Manuskript landete im April bei euch?

    „Am dreizehnten."

    „Dreizehn. Ausgerechnet. Meine Glückszahl. Was meinen sie? Bringt mir das Glück? Aber ernsthaft. Könnte dieses Mysterium mit meinem neuen Buch zu tun haben?"

    „Das ist eine komische Frage. Woher soll ich das wissen? Halten sie das denn für möglich?"

    „Nicht wirklich, aber das hat nichts zu bedeuten. Ich hielt nie für möglich, was mir Unfassbares geschah. Das müsste ihnen bekannt sein, wenn sie mein »Judasse« lasen. Oder lasen sie es gar nicht?"

    „Daniel de Hinnes. Bitte."

    „Dass ich als Krönung zwei Wochen tot war, wissen sie aber nicht. Also, so leicht bin ich nicht zu schocken."

    „Ich will sie auch nicht schocken, sondern informieren."

    „Ich bedankte mich ja schon." Er schlug sich an die Stirn. „Ach, so. Mir geht ein Licht auf. Sie sind hier, um mir zu verklickern, dass ihr die neue »Judasse«-Version druckt. Stimmt‘s?

    Marija Masson machte eine unbestimmte Geste. „Birmann lieferte zum Manuskript ein Vermarktungs-Konzept, das Doktor Michels faszinierte. Birmann ist nämlich auch Marketing-Profi, wie sie. Unterm Strich ist das – bitte schön – völlig verrückt. Genau wie die Tatsache, dass ich hier bin und mich auch noch von ihnen beschimpfen lasse."

    „Übertreiben sie nicht, wehrte Daniel de Hinnes lahm ab. „Kennen sie meinen … Plagiator?

    „Wenn sie Birmann meinen, nein. Der ist Chefsache. Aber Plagiator? Das Manuskript ist alles Mögliche, nur kein Plagiat."

    „Was ist es dann?"

    „Deswegen bin ich auch da. Finden sie es heraus! Kann es übrigens nicht sein, dass sie schon von ihm hörten? Didrich mit DID und Birmann ohne E."

    Daniel de Hinnes schüttelte den Kopf. „Dazu fällt mir adhoc überhaupt nichts ein. Und mein Manuskript kann er nicht bei euch geklaut haben? Im Safe hattet ihr es ja bestimmt nicht."

    „Doch, da war und ist es. Und sie hören jetzt bitte auf so garstig zu sein. Ich bin auch da, um ihnen ein Angebot zu machen."

    „Hoppla. Sie mir? Es wird immer rätselhafter. War ihnen eigentlich das Szenario schon in Zweibrücken bekannt?"

    Marija Masson nickte. „Ich war auch dort, um mir ein Bild über ihre Verfassung zu machen. Von ihrem Schlaganfall erfuhr ich ja erst in ihrem Einladungs-Flyer. Seit ich Birmanns »Judasse« checkte, spukt mir nämlich eine Projekt-Idee im Kopf herum, die indes nur realisierbar ist, wenn sie nervenstark genug sind."

    Daniel de Hinnes prustete zynisch. „Ich? Da sind sie ja goldrichtig. Ich habe Nerven wie Drahtseile. Blödsinn! Meine Nerven sind dünner als Zahnseide."

    „Blödsinn!, äffte Marija Masson ihn mild nach. „Sie waren bei ihrer Lesung megacool. Mit den Zuhörern kokettierten sie regelrecht. Die über zweihundert Leute waren mucksmäuschenstill und sie nicht die Spur nervös.

    „Das meinen sie."

    „Darum geht es. Dass ich sie mental stark genug finde. Weil ich ihnen nämlich anbiete Mit-Autor eines garantierten Bestsellers zu werden. Zusammen mit Didrich Birmann."

    Daniel, jäh geplättet, schwieg. Sein Mund stand halboffen. „Sorry, sagte er schließlich. „Sie reden von einem Bestseller, als könnte man ihn backen wie einen Kuchen; man nehme … sie wissen doch, dass das niemand kann. Außer diesem Birmann natürlich. Sorry, zum zweiten.

    Sie überhörte seinen Spott. „Ja. Aber diese … eure Geschichte kann nur ein Bestseller werden."

    „Die erste Story über literarische Astro-Zwillinge."

    „Was sagen sie da?, flüsterte sie entgeistert. „Herr de Hinnes! Sie kennen das Phänomen? Sind sie kompetent in Sachen Astrologie?

    „Ich bin kein Experte, hatte aber einmal ein geniales Gespräch mit dem Autor des Bestsellers »Die Akte Astrologie« und …"

    „Was? Wie kamen sie denn an Gunter Sachs?", unterbrach ihn Marija Masson, fast schreiend.

    „Ihm gehörte temporär des berühmte »Schloss am Wörthersee« und als ich beruflich länger am selbigen Teich zu tun hatte, lernte ich ihn kennen."

    „Und? Wie war er so?"

    „Er war faszinierend. Ich hätte nie gedacht, dass sich so ein Typ die Kugel geben könnte."

    „Was wissen sie über »astrologische Zwillinge«?, bohrte Marija Masson weiter. „Wie es aussieht, könnten sie einer sein …

    „Bislang weiß ich nur, dass die Astrologie so Menschen definiert, die in der gleichen Stunde im gleichen Gebiet geboren sind. Wer in Zweibrücken auf die Welt kam – wie ich – wird beispielsweise Saarbrücken zugerechnet – wie auch alle Saarländer. Also auch Homburger. Idealerweise sind astrologische Zwillinge aber in der gleichen Minute geboren. Das berühmteste Astro-Zwillingspaar waren Abraham Lincoln und Charles Darwin, beide an einem 12. Februar geboren – Wassermänner, wie Birmann und ich. Er grinste düster. „Vielleicht lösen er und ich sie ja ab?

    „Mein Lieber. Lincoln und Darwins Leben verliefen nicht annähernd so kongruent wie ihres und Birmanns. Die Astro-Szene wird verrückt, wenn sie sich dem Mirakel widmet. Unabhängig der Tatsache, dass Birmann zehn Jahre jünger ist. Ich fand heraus, dass das Genre auf so eine Geschichte schon lange wartet."

    Daniel de Hinnes nickte. Sein Widerstand schien sich in Wohlgefallen aufzulösen. „Sollte ihre Untersuchung stimmen, Dottore, und es wird seriös publik, bleibt in dieser Causa kein Stein auf dem anderen."

    „Da beißt ja einer an", rief Dr. Masson scheinbar ehrlich erfreut, denn es klang kein bisschen sarkastisch.

    „Wird das verlagsseitig professionell inszeniert, brennt sogar in Rom der Baum."

    „Und wieso in Rom?"

    „Ich meine den Vatikan, wo die Herren Päpste, Kardinale und Bischöfe gewaltig in Schwulitäten kämen, ob schwul oder nicht. Deren krudes, minimalistisches Denkschema beißt sich mit der Astro-Logik, das meinte übrigens auch Gunther Sachs; und wenn man es auch noch belegen kann …"

    „Und wie sehen sie das?"

    „Mich inspiriert Astrologie, solange sie nicht in alberne Vulgär-Horoskopie ausufert. Seriöses Sternendeuten lässt meines Erachtens hoffen. Wie der Buddhismus, der sich blendend verträgt mit der Sternenkunde. Beides ist weitgehend undogmatisch und lässt dem gefrusteten, geistig limitierten Homo sapiens wenigstens ein paar Spiel-, beziehungsweise Denk-Räume für eigene Betrachtungen. Ich sehe dabei das Firmament, das Universum, als unendliche, variable Projektionsfläche, auf der virtuell alles Daseins-Wesentliche festgehalten ist. Sternen-Konstellationen sind für mich Formeln, mit denen man unter anderem alles, was uns Menschlein betrifft, berechnen kann. Leider ist unser irdisches Hirn zu limitiert, um die genauen Zusammenhänge zu erkennen. Im Moment jedenfalls. Vielleicht wird’s ja noch."

    „Herr de Hinnes! Sie sind ein Philosoph!, rief Marija Masson hörbar beeindruckt. „Schreiben sie ein Buch darüber.

    „Ich denke sie … äh … wir machen das?"

    „Da geht es nur um sie und Didrich Birmann – um eure nahezu identischen Lebensläufe.

    Wie ging es eigentlich weiter mit ihrem Buch in Zweibrücken? Waren sie zufrieden mit dem Verkauf?"

    „Das können sie laut sagen. Auf meine Möglichkeiten runtergebrochen, ist es ein Bestseller. Merkwürdig war nur der »Palatia«-Artikel, dessen Entstehung sie ja mitbekamen. Der war aber so dämlich daneben, dass er den Buchverkauf sogar forcierte."

    „Ja, der Text war fragwürdig. Als er erschien, war ich noch in Zweibrücken. Was machte er mit ihnen?"

    Daniel de Hinnes lächelte. „Nichts. Der Verfasser war kein »Palatia«-Journalist, sondern ein Pressebüro-Inhaber, den man offensichtlich mit der Gage in eine bestimmte Richtung drehen wollte. Provinz halt: Einfalt statt Vielfalt. Aber wie auch immer, gab mir mein selbst inszeniertes Abenteuer einen Kick. Nach diesem Motivations-Schub komme ich mir vor wie Popeye nach einer Spinat-Kur."

    „Aha. Was hat sie am meisten bewegt, an ihrem … Premium-Abend?"

    Diesmal grinste Daniel de Hinnes breit, als er spottete: „Von wegen kein Interview …

    Wobei es Premium-Abend bestens trifft. Es war bewegend. Alles. Alleine, was die Happypark-Veteranen an Reise-Strapazen und -Kosten auf sich nahmen, um dabei zu sein. Darüber könnte ich ein weiteres Buch schreiben."

    „Die reizende Frau Vock?"

    „Vor allem Ingrith. Ja. Sie kam sogar mit einem blauen Auge, das sie sich vorher bei einem Sturz eingehandelt hatte."

    „Sie haben sie geliebt", stellte Marija Masson mehr fest, als zu fragen und schien keine Zweifel zu haben.

    „Vielleicht. Irgendwie. Platonisch. Auf jeden Fall habe ich sie verehrt."

    „Lieben sie auch ihre Frau Myller?"

    Meine Frau Myller? Frau Doktor. Sie bringen mich ja in die Bretagne."

    Sie fiel darauf herein und korrigierte ihn nachsichtig lächelnd: „Bredouille, meinen sie bestimmt."

    „Damit wollte ich ihnen sagen, dass sie das überhaupt nichts angeht."

    Sie überhörte es und erwiderte: „Sagten sie nicht, sie wäre ihre Managerin? Dann geht es mich sehr wohl etwas an, wenn wir miteinander ins Geschäft kommen."

    „Privat werde ich nicht gemanagt", befand Daniel de Hinnes knapp.

    „Auch platonisch?", ließ die Chef-Lektorin nicht locker.

    „Also wirklich jetzt …"

    „In der Lese-Pause war ich ungewollt Mäuschen, als Leute über die Art eurer Beziehung spekulierten. Der Begriff platonisch fiel da nicht und würde meines Erachtens auch nicht zu ihnen passen. Sind sie nicht eher das, was man landläufig unter einem Lustmolch versteht? Las ich nicht irgendwo sogar, sie betrachten sich als geläuterter Ex-Macho?"

    Daniel de Hinnes lachte. „Sehen sie. Was war und was ist … irgendwo zwischen meinem ersten und zweiten Leben … da liegt die Wahrheit. Ansonsten hoffe ich, dass jedermann und jederfrau – wenn es angesagt ist – stressfrei zwischen platonischer und körperlicher Liebe wechseln kann. Vielleicht sind sie ja eine platonische … Lustmolchin?"

    „Das geht sie nichts an, grinste Marija Masson. „Nur eins: ich bin weder verklemmt, noch prüde.

    „Dann Gratulation. Jetzt fehlt nur noch, dass sie ein Fan meines Lieblings-Autoren John Irving sind …"

    Sie schüttelte heftig den Kopf. „Gott bewahre. Für mich ist Irving ein Pornograf. Kein Wunder, dass sie den mögen."

    Pornograf Irving ist einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten und Kult. Seine Fans – vor allem Frauen – liegen ihm zu Füßen."

    „Möchten sie auch, dass ihnen ihre Leserinnen zu Füßen liegen?"

    „Gott bewahre", äfft er nun sie nach. Mir reicht, wenn sie meine Bücher mögen. Den Ehrgeiz habe ich allerdings immer noch."

    „Ihr Auftritt in der alten Heimat … was konnten sie davon an den Ammersee mitnehmen?"

    „Gute Frage. Nun, meine Besuche dort sind immer emotional, aber diesmal wurde ich auch ziemlich nachdenklich."

    „Wie? Trotz ihres riesigen Erfolges, fanden sie Haare in der Suppe?"

    „Nicht in der Suppe, aber gewissermaßen neben dem Teller. Eingeladen hatte ich mit zweihundertfünfzig persönlich gehaltenen Briefen, die ich in Tag und Nacht-Aktionen mit Herzblut gestaltete, schrieb, einzeln ausdruckte, signierte, faltete, kuvertierte und frankierte."

    Marija Masson runzelte die Stirn. „Und? Die Adressaten reagierten nicht erwartungsgemäß?"

    „Teils, teils. Auffällig war, dass alle Eingeladenen mit CDU-Hintergrund absagten oder kommentarlos nicht kamen. Darunter ein Bundestagsabgeordneter und eine Schulkameradin, die Stadträtin ist."

    „Und das heißt für sie?"

    „Dass es eine kommunalpolitische Stallorder gab?"

    Marija Masson strich sich über das Kurzhaar. „Geheimnissen sie da nicht zu viel hinein? Vielleicht lehnen die christlichdemokratisch Orientierten schlicht ihren mitunter vulgären Schreibstil ab?"

    Daniel de Hinnes feixte. „Wie sie? Sind sie auch christlichdemokratisch orientiert?"

    „Kein Kommentar; und ich verstehe ihre Verwunderung nicht. Wie ich das sehe, reklamieren sie schon immer unpolitisch zu sein, mischten sich aber in alles ein. Dieser Journalist bezeichnete sie ja nicht zufällig als Savonarola. Ich sah mir ihr »Judasse« übrigens noch einmal an. Es ist – wie ihr Buch über den Happypark – sehr wohl politisch. Und da wundern sie sich über adäquate Reaktionen?!"

    „Ich wundere mich nicht, übersehe aber auch nichts. Meine Einmischerei war übrigens immer philosophischer Natur."

    „Dann sind sie also ein Linker. Stimmt’s?"

    „Wieso?"

    „Weil linke Politik gerne als Philosophie verkauft wird."

    „Rechte nicht? Übrigens … legt man seine Bergpredigt zugrunde, war auch Jesus ein Linker. Den heutigen scheinheiligen Gesinnungs-Christen mit dem C im Partei-Logo hätte er vollspann in die meist fetten Ärsche getreten. Aber Heuchler gibt es in allen Parteien."

    „Aha. Zum Beispiel?"

    „Ober-Politik-Strolch Gerhard Schröder. Gegen seinen Verrat an der Sozialdemokratie war Judas‘ Verrat an Jesus ein Kavaliersdelikt."

    Marija Massons fröhliches Grinsen machte sie noch attraktiver. „Mir gefällt, wie sie sich echauffieren. Dass sie damit polarisieren, dürfte ihnen aber klar sein."

    „Ich weiß, wie meine Außendarstellung interpretiert wird. Aber ich echauffiere mich nicht. Nicht mehr. Ich bin bestenfalls … enthusiastisch."

    „Wie auch immer, mir gefällt es. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit. Mit ihnen und Birmann wird das ein Fest. Die bockigen Judasse-Autoren im Doppelpack."

    „Früher liebte ich Feste."

    „Das kann man sich denken", erwiderte Marija Masson trocken. „Ihre Judasse", sagte sie dann gedehnt. „Sind durch ihr Happypark-Buch welche betroffen?"

    „Nicht, dass ich wüsste. Und Birmann ist kein Schlaganfall-Patient?", wechselte er schnell das Thema.

    Marija nickte. „Er ist gesund, aber das scheint auch der einzige Unterschied in euren Lebensläufen zu sein. Wobei er den Eindruck erweckt kurz vor einem Zusammenbruch zu stehen. Können sie ihm mit ihrer Kompetenz nicht ins Gewissen reden, um ihn vor ihrem Schicksal zu bewahren?"

    „Lebt er ungesund und säuft?"

    „So sieht es aus und so sieht er auch aus."

    Daniel de Hinnes‘ Stirn umwölkte sich, bevor er nachdenklich nickte. „Sollte er wirklich mein Astro-Zwillings-Bruder sein, läge es auf der Hand, dass er akut gefährdet ist. Und weil ich 2003 zum »Jahr der Behinderten« anlässlich eines Autoren-Wettbewerbs den Essay »Nachschub kommt«, schrieb, in dem ich Präventionshilfe versprach, mache ich das."

    „Kann ich diesen Essay haben?", fragte Marija Masson.

    „Sogar in Form einer selbstgemachten Broschüre."

    „Es ist beeindruckend, was sie trotz ihres Pechs auf die Beine stellen. Aber lassen sie uns jetzt über mein Projekt reden, das ich als Jahrhundert-Chance betrachte. Für mich. Für sie. Für den Cicero³-Verlag."

    „Nicht zu vergessen, für Didrich Birmann", fügte Daniel mokant an, und dann: „Ich hatte übrigens kein Pech. Es war pure Dummheit von mir."

    „Das steht in ihrer Homepage. Birmann wird übrigens schon mit »Judasse« abräumen. Mein Projekt ist in erster Linie ihre Chance", stellte Marija Masson fest.

    „Ich verstehe. Birmanns dann frischer Ruhm, soll zum Promotion-Motor für unseren flotten literarischen Dreier werden?"

    „Zweier. Ich bleibe außen vor. Es geht nur um Birmann und sie. Euer Buch wird man uns aus den Händen reißen. Der Plot ist ein perfekter Mainstream-Mix aus Spektakel und Mirakel – bessere Bestseller-Zutaten gibt es nicht."

    „Außer einem Bestseller-Autoren-Namen. Dann nickte Daniel de Hinnes mehrmals. „Als glühender Collins/Lapiere-Fan wäre ein Autoren-Duo der Clou für mich, fuhr er nachdenklich, fast feierlich, fort.

    „Das wollte ich hören. Sie glauben gar nicht, wie ich mich freue. Aber wer ist Collins/Lapiere?"

    „Das wissen sie nicht? Aber klar, das war lange vor ihrer Zeit. Collins/Lapiere ist ein Autoren-Duo der 80iger Jahre. Berühmt wurde es mit romanartigen Dokumentationen. »Um Mitternacht die Freiheit« – da geht’s um Indien und Gandhi – und »Oh, Jerusalem« – da geht’s natürlich um das Werden Israels. Außerdem schrieben sie »Oder du wirst Trauer tragen« – die Vita des wohl berühmtesten Toreros aller Zeiten, El Cordobes. Einen beachtlichen – verfilmten – Roman schuf das Duo auch: »Der fünfte Reiter«.

    „Danke. Das heißt also, sie sind mit von der Partie?"

    „Vorausgesetzt, ich mag den Kerl. Sollte er mich an mich erinnern, sehe ich allerdings schwarz. „Bringen sie ihn her, damit ich mir ein Bild machen kann."

    „Das ist schon in der Mache, Herr de Hinnes. Erst führe ich noch ein Vieraugen-Gespräch mit ihm. Wie jetzt mit ihnen."

    „Dann noch eine Vorab-Frage: Wie sieht es bei ihm an der Frauen-Front aus?"

    „Chaotisch wie bei ihnen … und überhaupt nicht platonisch."

    „Noch ein Lustmolch", seufzte Daniel de Hinnes gekünstelt.

    Diedrich Birmann

    Vorwort?

    So was Ähnliches…

    Pass auf und lies, LeserIn!

    Du begleitest mich jetzt gefälligst bis zum letzten Wort durch dieses Buch. Es ist eine Art Spiel, bei dem du außer Erkenntnissen aber nichts gewinnen kannst. Der Text ist eine Beichte und soll dir helfen herauszufinden, welche Details so fatal zusammenwirkten, dass mein Leben zu einer erst atemberaubenden und dann halsbrecherischen Achterbahnfahrt wurde. Die Erkenntnis hilft dir dann (vielleicht) zu einem besseren Leben, als es meins war. Das heißt, ich helfe dir (vielleicht) deinen Arsch zu retten.

    Es ist die Nacht zwischen dem siebenundzwanzigsten und achtundzwanzigsten August 2001. Draußen ist es trostlos schwarz. Ich tippe Buchstaben zu einem Buch, mit dem ich vorsätzlich gegen Tabus verstoße, damit es ein Bestseller wird. Indem ich selbst zum Verräter werde – zum Judas – decke ich den stinkenden Abfallhaufen meines Lebens auf. Skrupellos berichte ich über Absurditäten, Perversionen, Obsessionen und hinterhältige Hass-Aktionen, mit denen man mich gezielt zum Schweigen bringen wollte. Mit Buchstaben, Silben, Wörtern und Sätzen zerre ich gnädige Mäntelchen der Nächstenliebe – oder besser der Feigheit? – von den Leichen im Keller.

    Seht euch die Kadaver an! Riecht sie! Berührt sie!

    Gott, jetzt schrieb ich tatsächlich von Nächstenliebe. Da lache ich mich ja tot!

    Welche Überleitung. Ungewollt, jedoch passend. Sobald ich den letzten Buchstaben getippt habe, bringe ich mich nämlich um. Irgendwie. Ans Totlachen dachte ich allerdings nicht. Warum? Lachen und Tod passen nicht zusammen. Was passt, ist, dass Bücher verblichener Autoren eher Bestseller werden als die von lebenden; zumal, wenn sie relativ unbekannt sind, wie ich. Werde ich nach meinem Ableben posthum ein Bestseller-Autor?

    Noch bin ich Marketing-Experte. Einer jener Strolche, die Vance Packard in seinem Weltbestseller »Geheime Verführer« nannte. Nein, deswegen töte ich mich nicht. Ich sage ade, weil meine Trauer über mein abgefucktes Leben noch größer ist, als meine Zukunft perspektivlos. Ohne Liebe. Und dann diese grässliche Wut auf mich selbst – Auto-Aggression sagen Psychologen dazu.

    Dieses Buch ist auch ein Bericht, in dem du vom Grusel erfährst, von fast ganz oben, bis fast nach ganz unten durchgereicht zu werden.

    Obwohl nur No-Name-Autor, bin ich doch leidlich erfahren, denn es ist nicht mein erstes Buch, fachmännisch übrigens Werk. Bei diesem wird die letzte Seitenzahl über sechshundert liegen und durch sechzehn teilbar sein – ein buchbinderischmathematischer Kniff der »Jünger Gutenbergs« und ich bin einer. Mutmaßlich einer der letzten Schriftsetzermeister aller Zeiten, denn just nach meiner Meister-Inthronisierung starb mein und Gutenbergs Beruf den ruhmlosen Tod des Fortschritts.

    Nein, mein Buch, dieses Werk, wird nicht so dick, weil ich meinen Suizid hinauszögern will. Ich habe die Schnauze derart voll vom Leben, dass ich mich auch gleich, also jetzt in diesem Moment, um die Ecke bringen könnte. Ich war zu viel – die ganze Scheiß-Palette von berühmt bis berüchtigt. Mal verdiente ich Unsummen, mal nagte ich am Hungertuch. Mal rief man »Hosianna«, mal »kreuzigt ihn«. Darüber wurde ich unglaublich zornig, aber der Zorn verpuffte und meine Kraft ist aufgezehrt von den alptraumhaften Kämpfen gegen die ruchlosen, elenden Judasse. Die sortierten mich aus wie Aschenputtel schlechte Erbsen: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Dabei war ich eine gute Erbse. Oder war ich eine gute Bohne oder eine gute Linse? Auf jeden Fall war ich naiv, dumm, eitel und chaotisch. Und ewig geil auf Flittchen, die sich teuflisch als Engel inszenierten und auch so aussahen – nur ohne Flügel.

    Ich war … ach, mach dir doch dein eigenes Bild, Leser. Passe aber gut auf beim Lesen! Du wirst dich gruseln und du wirst lachen. Wobei dir das Lachen im Halse stecken bleiben könnte und ich will nicht, dass du auch krepierst.

    Damit das klar ist: dies ist kein Buch des Wehklagens oder der Jammerei. Ich lege schlicht Zeugnis ab von Freunden, Freundinnen, Brüdern und Schwestern, Ehefrauen und Geliebten, die eines gemeinsam haben: sie verrieten und verkauften mich für einen Judaslohn. Dreißig Silberlinge soll Judas Ischariot im Jerusalemer Garten Gethsemane für den Verrat an seinem Meister kassiert haben. »Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen«, wusste er schon vorher.

    Nur drei Mal? Mir geschah es öfter. Für weniger, aber auch für mehr Silberlinge. Aber ich bin auch nicht Jesus, und nach mir wird nie mehr ein Hahn krähen. Auch wenn es so klingt … das ist kein Selbstmitleid, sondern die nackte Wahrheit.

    In meinem Geburtshoroskop steht unter anderem: »Zeit ihres Lebens sind sie Opfer von Intrigen« und: »von außen kommen Herausforderungen auf sie zu, die nur mit größter Anstrengung zu bewältigen sind«.

    Das hört sich nach unentrinnbarem Schicksal an; nach Kismet, nach einer Art astrologischer, unvermeidbarer Naturkatastrophe. Das ist mir zu einfach. Nicht das Schicksal bringt mich schließlich um, sondern ich mich – selbst ist der Mann. Ich halte es mit dem Sprichwort eines römischen Konsuls, nachdem jeder seines Glückes Schmied ist – fabrum esse suae quemque fortunae …

    Gestern war ich beim Sozialamt, denn der Ernstfall ist nah und dann ist Feierabend für den notorischen Dauer-Kämpfer. Ich trat ja sogar gegen Windmühlen an – Didrich Don Quichotte, der dämliche. Das Sozialamt bezuschusst mir eine Sozialwohnung mit dreihundert und ein paar Mark, wurde ich belehrt.

    Ich scheiß‘ euch drauf, ihr Armleuchter! Eine irdische Bleibe ist nicht mehr nötig. Um es poetisch auszudrücken: mein Mietvertrag mit dieser Welt läuft ab. Ich kündige und ziehe um: in die Hölle.

    „Endlich. Gott sei Dank!", werden diverse Schweinepriester jubeln.

    Doch nur keine falschen Hoffnungen, ihr Deppen. Ihr Arschgesichter! Ihr Judasse!

    Dort treffen wir uns nämlich alle wieder, in der Hölle. Da kommt ihr nämlich auch hin.

    Auf Wiedersehen!

    Didrich Birmann, in der Nacht vom 27. zum 28. August 2001

    Didrich Birmann.

    Kapitel 1: Weichenstellen beim Cicero³-Verlag

    Cicero³-Verlags-Chef Dr. Andreas Michels ließ entgeistert das Manuskript-Blatt sinken, schüttelte wild den Kopf und sagte hörbar verärgert: „Die Ankündigung ihres Selbstmords als Prolog? Schlagen sie sich das aus dem Kopf. Wir sind doch kein Revolverblatt, das mit marktschreierischen Headlines Verkaufszahlen puschen will. Oder gar muss."

    Didrich Birmann verbarg, dass er geschockt war. Mit betont unbeteiligter Miene antwortete er kühl: „Darf ich sie zitieren, Doktor Michels? Wir wollen einen laut detonierenden Kracher, statt immer nur Knallerbsen. Dann deutete er auf sein Konzeptpapier in Michels Hand. „Das ist ihre Anti-Knallerbse.

    „Quod erat demonstrandum", erwiderte der Verleger schärfer, als er beabsichtigt hatte.

    „Sie sollten mir vertrauen, grinste Birmann verzerrt. „Das ist der Anfang meines Lateins, nicht das Ende, spielte er dann auf Michels Zitat an. „Sie zitierten gerade Euklid. Der alte Grieche kannte sich auch nur mit Zahlen aus. Die sind zwar wichtig, ersetzen aber keine Ideen, Kreativität und das Näschen für das, was man ein Momentum nennt."

    „Brotlose Kunst, kann man auch dazu sagen, konterte Michels, und dass er den Cicero³-Verlag in eine erfolgreiche Zukunft führen wolle, nicht in den Abgrund. Als er sah, wie Birmann zusammenzuckte, wollte er die ungewollte Schärfe seiner Worte weglächeln. Er hatte überreagiert und als lupenreiner Hanseat hasste er es die Contenance zu verlieren. „Verstehen sie mich nicht falsch, legte er nach. „Unsere Öffentlichkeitsarbeit war immer …"

    „Zu bieder, um nicht zu sagen hanebüchen. Das erwähnten sie schon bei unserem ersten Gespräch, fiel Birmann dem Mann ins Wort, der ihm als Autor und Marketing-Profi eine Chance gab, mit der er nie und nimmer rechnen konnte. Jetzt sah er aus heiterem Himmel seine Felle davonschwimmen. „Tut mir leid, ruderte er zurück.

    Plötzlich saßen sich zwei Männer gegenüber, die über sich selbst erschraken. Dann lenkte auch der Verleger ein. „Ich wollte nur verdeutlichen, dass wir uns in der Vergangenheit am Markt zwar zu brav präsentierten, aber doch mit einem gewissen Stil."

    Birmann schöpfte neue Hoffnung und murmelte: „Wer mit Stil stirbt, ist auch tot."

    Michels wusste, dass Birmann Recht hatte, wollte aber seinem neuen Autor nicht noch mehr Zucker in den Hintern blasen. Seine Entscheidung, gegen den Rat des Lektorats »Judasse« zu verlegen, war verwegen genug. Erstmals in der Geschichte des Cicero³-Verlags setzte ein Verantwortlicher alles auf eine Karte, und das war kein kaufmännisches Kalkül mehr, sondern Lotterie. Oder Harakiri, wie Marija Masson beißend unkte. Rückendeckung – aber das war mehr als nur ein kleiner Trost – bekam er von seiner spanischen Ehefrau Elsa. Marija Masson aber war drauf und dran gewesen, ihm den Bettel hinzuwerfen.

    „Hinter der musischen Fassade ist sie eine Technokratin", meinte Elsa dazu, die Feuer und Flamme für Birmanns Promotion-Konzept war. „Es ist kühn, vielleicht aberwitzig, aber machbar. Es kann gar nicht schiefgehen. Riskiere es, Don Andreas. Ich, deine Mallorquinerin Donna Elsa, rühme dich dafür und die ganze Branche wird aufhorchen. Für deinen Alleingang wird man dir die 47er Füße küssen. Das gab es doch noch nie in der langweiligen Szene, schwärmte sie. „Ein Autor, der zum Manuskript das Vermarktungskonzept mitliefert, muss belohnt werden. Das ist mindestens genial.

    Nur wusste da meine selbst mindestens geniale Elsa noch nichts von Birmanns umgeschriebenem Prolog, seufzte Michels in Gedanken.

    „Wer Suizid begeht, ist aber auch tot, sagte er, von neuem erbost. „Man kokettiert nicht literarisch mit seinem Tod. Das ist nicht innovativ. Das ist morbid.

    Die Arme verschränkend, kniff Birmann die Lippen zusammen.

    Verteidigungsmodus, interpretierte Michels die Körpersprache und spitzte die Ohren. „Der Prolog ist Teil des Romans innerhalb fiktiver Realität. Ist Realität morbid?", hörte er Birmann sagen.

    „Fiktive Realität? Gehen ihrer Kreativität jetzt die Gäule durch? Das ist ja wie virtuelle Materie. Und was ist ihr Suizid? Fiktiv oder real?"

    „Das überlasse ich der Phantasie meiner Leser. Das ist der besondere Kitzel", erwiderte Birmann seelenruhig.

    „Die Ankündigung ihres Selbstmords mit Echtnamen lässt keinen Spielraum für Phantasie. Mein Lieber. In ihrer Heimat, dem Saarland, leben rund eine Million Menschen, von denen nicht wenigen ihr Name ein Begriff ist. Geht ihr »Judasse«-Konzept auf – wovon wir ja ausgehen – ist für tausende Leser ihr Avis bare Münze und zwar im Kontext mit dem Cicero³-Verlag. Ich sehe schon die Schlagzeilen: Cicero³-Verlag als Steigbügelhalter des Todes … und dergleichen."

    Birmann gelang es zu grinsen. „Es gäbe Schlimmeres, aber nichts Besseres. Das wäre kostenlose Promotion in Millionenauflagen. Wer mich kennt weiß außerdem, dass mir der Cicero³-Verlag die Chance meines Lebens bescherte und ich nicht Trübsal blase, sondern das Gegenteil. Der Prolog ist mein ultimativer Appell an Verzagte, auch in scheinbar aussichtslosen Situationen nie aufzugeben. Aus Birmanns Grinsen wurde ein verlegenes Lächeln: „Das ist nicht morbid, das ist Human-Marketing vom Feinsten. Er krauste die Stirn. „Aber gut, wenn sie nicht wollen … gestalte ich den Text wieder um. Obwohl der Verlag ja außen vor wäre. »Judasse« ist mein Roman. Ich decke auf, ich klage an, ich sage meinen Selbstmord an. Der Verlag half mir in den Sattel, aber ich reite! Dann bringe ich mich halt um, bin authentisch und der Cicero³-Verlag hat kein Stil-Problem."

    Michels schnitt eine Grimasse, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. „Das Stil-Problem haben sie, mit ihrer aufsässigen Polemik. Der Prolog ist Geschmackssache. Ja. Aber es gibt auch noch die Story und am Ende den Epilog. Na, schön. Dann bleibt es wie es ist, sie schreiben noch viele Bücher für uns und vermarkten sie auch."

    „Vertragsgemäß", erinnerte Birmann erleichtert. Unter seinem schwarzen Versace-Wollpullover war er klatschnass geschwitzt.

    Auch Dr. Michels war zufrieden. „Ich schicke meiner Frau noch eine Kopie, aber die … nein, gut. Ende der Diskussion. Und sonst? Gibt es Neuigkeiten?"

    „Gleich. Vorher noch eins, Herr Doktor. Ihre Bedenken kann ich verstehen, aber sie sind überflüssig. Das Konzept ist mein Masterplan, die Summe meiner Erfahrung aus fast drei Jahrzehnten professioneller Marketing-Selbstständigkeit. Dass ihr Verlag davon profitiert, ist mein Geschenk. So."

    Didrich Birmann, plötzlich fast spitzbübisch, streckte sich in seinem Sessel aus und sah sich erstmals seit seiner Ankunft um.

    Michels Refugium war ein Eckzimmer mit raumhoher Glasfront und atemberaubendem Blick auf den Hamburger Hafen. Neben der Sitzgruppe aus weißem Leder, wo sie sich gegenübersaßen, badeten in von grellweißen Wänden reflektiertem Licht Hydropflanzen unterschiedlicher Größe. Auch der Teppichboden war weiß. An der Wand hinter Michels Schreibtisch aus rot gemasertem Holz, hing riesig das Schwarzweiß-Porträt eines lächelnden Mannes – die Ähnlichkeit mit Andreas Michels ließ auf dessen Vater schließen.

    Birmanns Blick wanderte nach draußen, wo im dunklen Hafenwasser ein Frachter das Verlagshochhaus passierte. Als hätte er es im Schlepptau, folgte ihm keilförmig ein silbriges Wellenband.

    „Der Ausblick ist schon speziell für eine Landratte wie mich, murmelte er, nach unten zeigend. „Ja, es gibt Neuigkeiten, straffte er sich dann. „Die erste Morddrohung. Aber außerplanmäßig. Eigentlich wollte ich sie gar nicht damit behelligen. Der Schweinepriester ist der Geliebte meiner Freundin Veronika Laport … Birmann zögerte, bevor er es fortfuhr. „Es ist kein offizieller Judas. „Es ist … Branco Susic.

    „Der Kriegsverbrecher? rief Michels erschrocken, und als Birmann knapp nickte, entgeistert: „Das ist jetzt nicht wahr.

    „Doch, aber das kläre ich intern."

    „Intern? Sie haben mir vertragsgemäß alles zu melden, was innerhalb ihres Konzeptes passiert. Wer ist denn diese Veronika? Ich glaub‘s ja nicht … sie sind mit einer Frau befreundet, die mit einem weltweit gesuchten Killer liiert ist?"

    „Ja, aber das ändert nichts an der Gemengelage. Ich kläre das und dann nimmt alles seinen geplanten Lauf."

    „So? Was heißt das überhaupt konkret … Morddrohung?"

    „Er will Geld, sonst … heißt das."

    „Geld? Wieviel denn? Sie haben kein Geld. Oder verstand ich da etwas falsch?"

    „Nein, seufzte Birmann. „Ich bin wirklich ärmer als eine Kirchenmaus und Veronika weiß das. Aber die beiden könnten meinen, dass mich der Autorenvertrag über Nacht zum Millionär macht. Es kann aber auch sein, dass Susic ganz profan eifersüchtig auf mich ist?

    „Eifersüchtig?, rief Michels und verschränkte, bemüht nicht aus der Haut zu fahren, die Finger über der Silber-Weste auf dem flachen Bauch, streckte sich aus und schaute demonstrativ an die Decke aus Palisander-Paneelen. „Eine Morddrohung aus Eifersucht?, sagte er schließlich.

    „Das ist Spekulation. Ich kläre es aber. Versprochen."

    „Hätte dieser …. Mensch … denn Grund zur Eifersucht?"

    Als Birmann nur die Schultern zuckte, schüttelte Michels seufzend den Kopf. „Dann will ich über diese Dame mehr wissen. Unglaublich. Liiert mit einer angeblichen … Bestie. Und sie sind mit ihr befreundet."

    „Das ist eine längere Geschichte."

    „Egal wie lang. Erzählen sie sie. Jetzt …

    Daniel de Hinnes

    Kapitel 2: Die Cheflektorin denkt nach und liest

    Marija Masson lag entspannt auf ihrem Bett im Pasinger »Econtel«, ihrer Bleibe, wann immer sie in München zu tun hatte. Das Abenteuer mit zwei außerordentlichen, sich mysteriös gleichenden Autoren, war zum Greifen nah. Gleichzeitig würde nicht länger wie ein Damokles-Schwert über ihr schweben, dass sie seinerzeit Daniel de Hinnes‘ »Judasse«, ablehnte. Damals steckte der Cicero³-Verlag in einem Dilemma. Sie grinste. Wir waren in der Bretagne, fiel ihr de Hinnes‘ Bredouille-Verballhornung ein. Welch ein Kerl. Physisch gebrochen, aber psychisch wie Quecksilber. „Ich bin behindert, aber nicht bescheuert, hatte er seine Performance erklärt. Aus ihrem Grinsen wurde ein warmes Lächeln.

    Die Sitzung, als sie über das ominöse Manuskript den Stab brach, war exemplarisch für den Zukunfts-Konflikt des Cicero³-Verlags verlaufen. Sollte man mehr wagen, oder nach alter Väter Sitte seriös, sprich langweilig weiter agieren, was schnell zum Siechtum führen konnte? Etwas zu wagen, hieß Bücher mit mehr Erotik und Thrill zu verlegen. »Judasse« von de Hinnes hätte gepasst wie die Faust aufs Auge, votierten intern vier der fünf Lektoren, die unter ihrer Leitung agierten.

    „Zu sexistisch", war Marija Masson unerbittlich geblieben.

    „Dann ist Benoit Groult‘s Bestseller »Salz auf unserer Haut« Hardcore-Pornografie, war ein Kollege deutlich geworden. „Aber die Französin ist halt weiblich, hatte er weiter geätzt und hämisch gefragt, warum man sich nicht gleich auf Märchenbücher und Feministinnen-Literatur kapriziere?

    Marija Masson hatte geschäumt. In der Literaturszene galt sie als streitsüchtige Kämpferin für die Gleichberechtigung, aber auch als Lektorin mit Gespür für Literatur-Talente.

    „In erster Linie ist sie Feministin", behaupteten ihre Kritiker. Als sie auch bei Birmanns »Judasse« intervenierte, wurde es Dr. Michels zu bunt. Schon 1995, als Lisa Fitz‘ »Flügel wachsen nach« bei Wilhelm Heyne erschien und in die Charts kam, hatten ihre Kontroversen begonnen. Die Autorin machte seinerzeit mit ihrem Buch eine neue Art von Fäkal-Erotik-Sprache quasi hoffähig. Statt von ihrer Fotze sprach sie von einer … Fud. (Groult war stolz auf ihre Möse gewesen). Es war das Ende von Dr. Marija Massons Rolle als Verweserin weiblicher Betroffenheit, angesichts sexistischer Macho-Sprache. Die Entwicklung beschleunigte Daniel de Hinnes, der nach dem Erhalt des üblichen Verlags-Absagebriefes, völlig außer sich, bei ihr anrief. Das Telefonat lief dabei so aus dem Ruder, dass er hinterher wutentbrannt ein vor Zynismus triefendes Faxschreiben an Michels schickte.

    Jetzt war die Angelegenheit endlich erledigt, sogar mit der Chance Großes zu schaffen.

    Auf ihrem Schoß lag die Broschüre, die de Hinnes ihr mitgab.

    »Stroke. Nachschub kommt. Kurzgeschichte eines

    Schwerbehinderten als Appell an Gesunde«.

    Den Platz auf der Titelseite teilten sich die Zeilen mit der abstrakten Grafik eines Rollstuhls.

    Tief durchatmend begann sie zu lesen. Ihr Herz schlug hart, laut und schnell. Daniel de Hinnes löste diffuse Gefühle bei ihr aus. Das hatte sie schon in Zweibrücken verblüfft registriert.

    Daniel de Hinnes

    Stroke. Nachschub kommt

    Pfingstsonntagnacht 2001

    Ich hörte auf zu schlafen und es war wie immer. Das Kopfkissen duftete nach Berta, draußen begannen Vögel ihr Frühkonzert und um mich herum war alles eingetaucht in den Dämmer des frühen Morgens: von gelben Vorhängen gefilterte, goldene Sonnenstrahlen.

    Nein! Etwas war fremd. Feindlich. Unstimmig. Ich? Es war mein Körper! Schwer und leicht zugleich, schien er mir auf grauenvolle Weise verändert. Was ist das? Kaltes, feuchtes Gummi?! Das müsste mein Bein sein. Welches? Das rechte oder das linke?

    Ich will mich bewegen und kann nicht. Ich will denken, aber es gibt keine Gedanken. Stattdessen ist da ein übler Hauch Entsetzen und dann wird der Verdacht zur Gewissheit: Total-Blockade. Systemversagen. Eine Stimme aus einer anderen Welt befiehlt alternativlos: Berta anrufen! Acht, sieben, acht, sechs! Raus aus dem Bett! Aber wie? Irgendwie! Du musst! Acht, sieben, acht, sechs!

    Ein Jahr später ließ ich die Strecke zwischen Bett und Telefon messen; es sind knapp drei Meter, also zwei, drei rasche Schritte für einen gesunden Menschen. Doch für ein Kriechtier ist das unendlich weit und als ich aus dem Bett fiel, war ich zum Wurm geworden.

    Zwei Wochen zuvor legte ich die gleiche Strecke in tiefer Nacht auf den Knien zurück. Die Zeitungsseiten harrten ihrer Fertigstellung am Computer, denn die Druckerei in Landsberg wartete auf die Druckvorlagen. Als ich aus hastigem, unerquicklichem Schlaf aufstand, knickten meine Beine ein, als wären sie aus Gummi. Konfus, alternativlos, rutschte ich auf den Knien los. Am Ziel angekommen, konnte ich mich wie in Trance am Bürosessel hochhieven und Platz nehmen. Wenig später war alles wieder in Ordnung, gehorchten mir meine Glieder und ich vergaß den Vorfall.

    Diesmal zielte alles ins Leere. Ich war … ohne mich. Aus dem schmalen Bett fiel ein Nichts mit Körper, kroch bäuchlings los, ferngesteuert vom menschlichen Urinstinkt des Überlebenwollens. Meine Wange spürte Splitter im Holzfußboden, in den ich meine Fingernägel krallte und krümmte. So zerrte ich mich Millimeter für Millimeter voran.

    Drei Monate später wusste ich, dass ich nur mit meiner Rechten zog – mit meiner einst sanften Streichel- und jetzt starken Kampfhand. Mit dem rechten Fuß half ich nach. Mich stoßend, schiebend, drückend, ziehend, war ich unterwegs. Mein Unterbewusstsein navigierte mich mit einer Nummer: acht, sieben, acht, sechs!

    Als ich Monate später die Szene beschreiben wollte, fiel mir das Reh ein, das vor meinen Augen verendete. An einem frühen Morgen kam es in elegantem Bogen über blühende Büsche am Waldrand geflogen, landete auf der Motorhaube meines Ford, schien mich braunäugig durch die Windschutzscheibe hypnotisieren zu wollen und prallte von dort aus grausam plump auf die Straße, wo sein gerade noch eleganter Körper zerbrach und sich die Läufe zuckend verbogen: Bambis Todeskampf.

    An jenem Pfingstsonntagmorgen, war ich in meinem Wohnbüro Zeuge und aktiv Beteiligter zugleich. Diesmal beobachtete ich kein sterbendes Reh, sondern wie der Wurm den Schreibtisch erreichte, das Telefon mehr ahnte als es sah, und der Mensch im Wurm schließlich am Kabel zerrte. Der Apparat polterte vom Tisch, knallte mir gegen die Schläfe und fiel zu Boden. Dann wählte und sprach ich im Reflex-Modus automatisch und ohne Erinnerung.

    Dafür brannte sich mir die nächste Szene für immer in mein Gedächtnis. Als ich sie den Ärzten schilderte, lächelten sie hochmütig mild: wie der Wurm weiterkroch, weil dem Menschen in ihm einfiel, die Haustür öffnen zu müssen; wie der Wurm deshalb weiterzappelte und der Mensch in ihm das Kriechen unterbrach, die Finger über einer imaginären Tastatur schweben ließ und virtuell tippte; und wie selig der Mensch im Wurm war, weil es funktionierte. Was auch geschehen sein mochte, redete er sich ein, war halb so schlimm: der Menschenwurm konnte noch schreiben. „So war es, ich schwöre."

    „Meineid!, grinsten die mir lauschenden Ärzte. „Aus medizinischer Sicht ist das unmöglich.

    Trotzdem setzte ich meinen Bericht fort, und erzählte wie der Wurm und ich lächelnd weiterkrochen.

    Gut, ihr Halbgötter in Weiß. Vielleicht träumte ich die Szene auch, oder ich hatte Halluzinationen. Dem Wurm Gewordenen – mir – war schließlich im Kopf eine Ader geplatzt und aus dem Leck ergossen sich nach und nach fünfzehn Kubikzentimeter Blut ins Gehirn. Synapsen und Zellen wurden irreversibel zerstört; nie mehr würden an den Bruchstellen in diesem Schädel Neuronen ausgetauscht. Die Folge: meine linke Seite, von der Schläfe bis zum kleinen Zeh, war gelähmt, weil sie sich nicht mehr befehligen ließ.

    Mit letzter Kraft erreichte ich nach tausend Jahren die Tür, reckte den rechten Arm hoch und sperrte auf.

    Ich war Jugendnationalspieler und Fußballprofi, doch dieser Kriechgang jenseits von Zeit und Raum, war meine größte sportliche Tat aller Zeiten und der Beginn eines vierzehntägigen Kampfes gegen den Tod: Koma.

    Zufrieden, mein Ziel erreicht zu haben, blieb der Wurm quer zur Tür liegen und wurde zum Hund, der sich mit eingezogenem Schwanz dem neuen, unerbittlichen Dompteur fügte.

    Drei Jahre später …

    Ich schiebe meinen Bürostuhl nach hinten und stemme mich an der Tischplatte aus ihm hoch. Es ist der Tisch, von dem ich das Telefon am Kabel herunterriss. Damals, als der Schlaganfall, auch Stroke, Apoplex oder Insult genannt, mein erstes Leben beendete und mich zu einem neuen mit grotesken Handicaps zwang.

    Dass ich an diesen Tisch, ehedem mein Arbeitsplatz – und ein bisschen ist er es immer noch – zurückkehren konnte, ist ein Wunder und mir deshalb Verpflichtung. Darum schrieb ich auch diese Kurzgeschichte, aus der ich am liebsten ein Buch in epischer Breite machen würde. Mit folgender Botschaft an junge, talentierte, mit den Hufen scharrenden Ehrgeizlinge: Ja, strebt nach dem Erfolg und greift auch nach den Sternen. Gerne auch nach den ganz hohen, am hellsten funkelnden. Aber um Gottes Willen nicht wie ich!

    Würde mir jemand zuhören? Natürlich nicht. So wenig, wie ich die Warnungen ernst nahm.

    Das Drama »Anfang vom Ende« wird unterschiedlich erfahren, ist aber für jeden Menschen gleichermaßen böse. Meines begann, als ich beim trunkenen Griff nach besagten hohen Sternen ins Straucheln kam. Nach Halt suchend geriet ich an die Flasche und aus dem Workaholic wurde auch noch ein Alkoholic. Solcherart Betroffene glauben in der Regel sie hätten das im Griff. Das stimmt nicht einmal annähernd. Es gibt definitiv mehr dumme als kluge Zeitgenossen und es werden immer mehr. Längst sind es Millionen, die fahrlässig – wie ich – permanent nicht weniger als ihr Leben aufs dumme Spiel setzen. Ihr (selbst)mörderischer Stress ist in der Regel ein Gemisch aus Fastfood-Ernährung, schlaflosen Nächten, Alkohol, Designerdrogen und Bewegungsmangel. Was in gewissen Kreisen gerne sogar als cool bezeichnet wird, heißt in Wirklichkeit den falschen Göttern zu opfern – bis man plötzlich selbst das Opfer ist.

    Kinder, ihr seid auf dem falschen Dampfer! Ihr seid keine Titanen! Ihr seid auf der Titanic!

    Doch noch ist Zeit! Steigt um und sei es in ein Schlauchboot. Oder weniger allegorisch: jede Schlaganfall-Vorsorge, und sei sie noch so unpopulär, schmerzhaft, zeitraubend, oder in der Hölle stattfindend, ist einem Schlaganfall vorzuziehen. Schon ein durchschnittlich schwerer ist die Hölle hoch zehn. Beim überdurchschnittlichen geht man zusätzlich zehntausend Jahre durch Fegefeuer. Wer Glück hat, stirbt – wie statistisch jeder fünfte Schlaganfall-Patient. Googelt es!

    Ein Bekannter von mir lag elf Jahre im Wachkoma. Seine Ehefrau »durfte« die ganze Zeit zwangsläufig eine Art Mutter Theresa sein. Wollt ihr das euren Frauen zumuten?

    Zurück zum Beginn meiner Kurzgeschichte in meinem Wohnbüro, den vierzig Quadratmetern im Erdgeschoß eines alten, typisch bayerischen

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