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Die dunkle Seite der Wahrheit
Die dunkle Seite der Wahrheit
Die dunkle Seite der Wahrheit
eBook295 Seiten4 Stunden

Die dunkle Seite der Wahrheit

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Über dieses E-Book

Hanna, die Hauptfigur des Romans, lernt 1938 den jungen SS-Mann, Manfred von Siegstein kennen und lieben. Ihre Beziehung hat eine Schwangerschaft zur Folge. Aber Manfred fällt in Polen. Der Plan einer Heirat ist damit gescheitert. Hanna kann ihren Sohn Siegfried in einem "Lebensbornheim" zur Welt bringen, in einem der Heime, die für uneheliche Mütter die den germanischen Vorbild entsprechen müssen (wie auch die Väter) von Reichsführer SS Heinrich Himmler eingerichtet worden sind. Hanna wird nach Manfreds Tod gezwungen ihren Sohn zur Adoption freizugeben. Wegen Aufsässigkeit wird sie an die Ostfront geschickt.
Sie erlebt Krieg, Verwundung, Flucht, wird nach ihrer Heimkehr Trümmerfrau, heiratet einen Heimkehrer und beginnt ein bürgerliches Leben. Sie verdrängt ihre Vergangenheit und ihre Schuld. Sie bringt 2 Kinder zur Welt. Ihre Tochter verlässt früh das Haus zum Studium und kommt als Übersetzerin auf Kongressen in viele Länder. Auf einer Konferenz über Gentechnologie lernt sie den Wissenschaftler Alf Cazador kennen und heiratet nach Amerika.
Hannas Mann ist verstorben, sie lebt allein, ist inzwischen 66 Jahre alt und hat nicht mehr erwartet Grossmutter zu werden. Aber ihre 36-jährige Tochter Sonja wird durch künstliche Befruchtung doch noch schwanger. Mit diesem Ereignis bricht in Hanna die lang unterdrückte Vergangenheit auf. Ihre Freundin Bertha überredet sie, nach ihrem Sohn Siegfried von Siegstein zu suchen. Alle Spure verlieren sich in den wirren des Kriegsendes.
Hanna fliegt kurz vor der Geburt ihres Enkelkindes zu ihrer Tochter nach Amerika. Während ihres Aufenthaltes entdeckt sie schreckliches und kehrt überstürzt nach Deutschland zurück. Nur ein vor dem nationalsozialistischen Euthanasieprogramm geretteter Zwerg vermag die Wahrheit auszusprechen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum12. Dez. 2012
ISBN9783844233612
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    Buchvorschau

    Die dunkle Seite der Wahrheit - Sigrid Ammer

    Wahrheit.jpg

    Die dunkle Seite der Wahrheit

    ROMAN

    Sigrid R. Ammer

    ***

    ______________________________

    Copyright: © 2012 Sigrid R. Ammer

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.com

    ISBN 978-3-8442-3361-2

    ______________________________

    ***

    Titelillustration: Gerda Kazakou „Sappho auf Levkas" (Ausschnitt)

    ***

    Mein Dank gilt ganz besonders Frau Gerda Kazakou, die die Entstehung des Romans in vielen Gesprächen mit Ratschlägen, Ideen und kreativer Kritik begleitet hat.

    ***

    Ich danke auch Frau Doris Gentz, die freundlicherweise das Manuskript in den Computer geschrieben und mit viel Geduld Korrekturen und Änderungen vorgenommen hat.

    ***

    1935 wurde in Berlin der „Lebensborn e.V." gegründet. In seiner Satzung heißt es u.a., dass der Lebensborn die Aufgabe hat:

    1.  Rassisch und erbbiologisch wertvolle, kinderreiche Familien zu unterstützen.

    2.  Rassisch und erbbiologisch wertvolle werdende Mütter unterzubringen und zu betreuen, bei denen nach sorgfältiger Prüfung der eigenen Familie und der Familie des Erzeugers durch das Rasse- und Siedlungshauptamt SS anzunehmen ist, dass gleich wertvolle Kinder zur Welt kommen;

    3.  für diese Kinder zu sorgen;

    4.  für die Mütter der Kinder zu sorgen.

    In Wahrheit wurden in den Heimen hauptsächlich ledige, „arische Mütter und ihre Kinder unterstützt, vornehmlich um Abtreibungen entgegenzuwirken. Allerdings wurden ledige Mütter nur dann in den Heimen aufgenommen, wenn sie den rassischen Anforderungen entsprachen und damit zur „Vermehrung des guten Blutes beitrugen.

    Folgerichtig wurden nicht nur die Eltern streng auf ihren „erbbiologischen Wert untersucht, sondern auch die in den Heimen geborenen Kinder. „Auch sie wurden geprüft, bewertet und `aussortiert´, wenn sie nicht ins arische Raster passten. (Dorothee Schmitz-Köster: „Deutsche Mutter, bist du bereit ..." Alltag im Lebensborn, Aufbau-Verlag, Berlin 1997). Die Folge war im Rahmen der Aktion T4 die Einweisung in eine der Tötungsanstalten, z.B. in die Brandenburger Landesheilanstalt Görden oder in der Heil- und Pflegeanstalt Hadamar (10.072 Tötungen)

    Es ist bekannt, dass die Lebensbornheime wie die Gesundheitsämter in die „Euthanasie-Aktionen" eingebunden waren.

    In Deutschland bestanden neun Lebensbornheime, die meisten davon bis Kriegsende, im besetzten Ausland 13 weitere.

    James Watson, Biochemiker: „Genetiker müssen sich als Diener der Menschen betrachten. Nie wieder dürfen sie zu Dienern politischer und sozialer Planer werden."

    Genau dieses Gebot aber ist mit dem Eingriff in die Keimbahn in Gefahr. Zum einen liegt es im Wesen dieser Methode, dass andere – Eltern, Ärzte oder der Staat – über die Genausstattung künftiger Menschen befinden. Der Einzelne ist dem Urteil seiner Schöpfer ausgeliefert.

    Zum anderen eignet sich die Keimbahnmanipulation geradezu ideal, um die uralte Utopie von der gezielten Verbesserung des Menschen zu verwirklichen – und damit wird sie zum Instrument der Macht.

    „Zucht setzt einen „Züchter voraus, der eugenische, rassische Ziele verfolgt.

    (aus Der Spiegel, Nr. 39, 1999, S. 316)

    „… Die Probleme der Gentechnik treffen uns in einer Situation, in der viele geglaubt hatten, die Moral zu einer Privatsache erklären zu können oder sich auf rechtliche Regelungen zu beschränken. Nun entdecken wir, dass die Moral der „Preis der Moderne ist, wie Otfried Höffe sagt. Die Menschheit hat Jahrtausende gegen den Widerstand der Natur angekämpft, diesem Widerstand sein Leben abgerungen. Nachdem der Widerstand der Natur in wichtigen Teilen weggefallen ist, droht der Mensch nach vorne zu fallen und zu stolpern. Nicht mehr die Natur setzt ihm Grenzen, er muss sich selbst Grenzen setzen.

    (aus der Spiegel, Nr. 39, 1999, S. 318)

    ***

    … zunächst einmal ist der Mensch Kreatur und steht der Wahrheit durchaus als Feind gegenüber. Und in der Tat ist ja die Wahrheit niemals so, wie man sie sich wünschen und wählen würde, aber immer ist sie unerbittlich.

    Hermann Hesse

    ***

    In Wahrheit ist die Macht der Vergangenheit

    eine der schwersten, die auf dem Menschen lasten

    und ihn zur Trübsal niederbeugen.

    Maurice Maeterlinck

    ***

    Es ist im Leben wie im Schachspiel: wir entwerfen einen Plan:

    dieser bleibt jedoch bedingt durch das,

    was im Schachspiel dem Gegner, im Leben dem Schicksal,

    zu tun belieben wird.

    Die Modifikationen, welche hiedurch unser Plan erleidet,

    sind meistens so gross, dass er in der Ausführung

    kaum noch an einigen Grundzügen zu erkennen ist.

    Arthur Schopenhauer

    ***

    1

    Sie stellte die schwere Gießkanne mit dem frischem Wasser ab und dachte: ´Der Malermeister Hausmann, der also auch. Und 56 Jahre, wie mein Mann. Sie gehen einfach. Wir kommen und gehen, und dann kommen die nächsten und wieder welche und die drängen dich weg, und irgendwann bist du vergessen, und wenn du hören könntest, dann würdest du eine piepsige Stimme fragen hören: Wer ist denn der Onkel da, der Werner Helmers? Und die Mutter oder der Vater würde überlegen und dann vielleicht sagen: Ja, Werner Helmers, der war, glaube ich, so was wie ein Künstler. Frage: Und was für ein Künstler? Ja, ich glaube, der hat so schöne Schränke und Sachen gemacht. Man nennt das Kunstschreiner. Aber vielleicht war das auch sein Bruder … das ist alles lange her … Und jetzt sind sie tot, der Onkel und sein Bruder? Ja, die sind jetzt im Himmel. Im Himmel? Ich meine, also … Und wenn du dann auch noch sehen könntest, dann würdest du das nachdenkliche Gesicht des kleinen Jungen oder des kleinen Mädchens sehen, wie sie zu ihrer Mutter oder ihrem Vater hochschauen, und du könntest ihre Gedanken lesen: Ach Papa, ach Mama, du hast ja keine Ahnung.´

    Sie nahm die Kanne wieder auf und ging ein paar Gräberreihen weiter bis zu dem Grab mit den Namen Erich Helmers 1952-1972 und Werner Helmers 1920-1976. Ohne die Kanne abzustellen, goss sie die fünf frisch gepflanzten Reihen von Stiefmütterchen und das Grün der Grabumrandung. Sie trug die Kanne zurück zum Brunnen, schnitt danach ein paar verwelkte Rosen von dem Busch, den sie 1976 für ihren Mann auf dem Familiengrab der Helmers angepflanzt hatte. Dann setzte sie sich, ein wenig außer Atem, auf die Bank, die die Friedhofsverwaltung erfreulicherweise gerade gegenüber dem Helmerschen Grab aufgestellt hatte.

    `Wo war ich das letzte Mal stehen geblieben, Werner Helmers?´ fragte sie sich oder auch ihren verstorbenen Ehemann. `Ja, bei dem Brief von Sonja. Also, Werner, gute Nachrichten: Unsere Sonja ist doch endlich schwanger geworden. Sie hat es lange genug versucht. Aber sie hat einen Arzt gefunden und der hat irgend etwas gemacht, so was Modernes. Sie reist jetzt nicht mehr so viel in der Weltgeschichte herum von Kongress zu Kongress und Alf hat eine neue Stelle an irgend so einem Institut bekommen, außerdem ist er Dozent an der Universität dort. Ja, der Alf, ein erfolgreicher Junge! Und unser Erich liegt da neben dir, unser armer Junge.´

    Hanna Helmers zerdrückte ein paar Tränen zwischen ihren langen Wimpern, die sie seit ein paar Jahren schwarz tuschte, weil ja nun ihr Haar grau geworden war und da passten schwarze Wimpern, dachte sie. `Damals´, und Hanna schloss die Augen, `waren sie blond und dicht und meine Augen nicht grau, sondern blau und strahlend´. Sie sah sich im Spiegel, im schweren Goldrahmenspiegel, der in ihrem Elternhaus als einziges Erbstück der Mutter in der Diele hing und in dem sie damals, ja damals, sich oft betrachtet hatte. Sie sah sich in ihrer blauen BDM-Uniform davor stehen und ihre blonden Zöpfe bewundern.

    „Musst du schon wieder zum Dienst?", fragte Hannas Vater, der die Diele betreten hatte. Sie hörte wie immer aus dem leicht unwirschen Ton sein Unverständnis heraus und antwortete voller Stolz, indem sie die Enden ihres Halstuches durch den Lederknoten zog:

    „Ja, Papa, schon wieder. Übrigens habe ich den Heimabend ganz alleine vorbereitet. Wir werden ..."

    „Schon recht, Hanna, mach nur. Aber dass mir die Schule nicht zu kurz kommt! Und komm nicht zu spät nach Hause! Hilf deiner Mutter mehr! Die Zeiten sind schlecht, und wir …"

    „Wieso? Die Zeiten sind prima! Ich habe den Sturmbannführer Brandtner für einen Vortrag zum Thema Die Aufgaben der Frau im Nationalsozialismus gewinnen können. Ist das nicht toll?"

    „Wir müssen wohl neue Sachen lernen, weil uns neue Aufgaben gestellt werden in diesem Land."

    „Richtig, Papa. Wir schaffen eine neue Welt und es ist phantastisch dabei zu sein. Also tschüss!"

    „Nicht zu spät kommen!"

    „Ich bin 16, Papa!"

    `Papa muss damals schon seine Bedenken gehabt haben. Und nach 1937, wo sie das neue Beamtengesetz erlassen haben, hat er kaum noch den Mund aufgemacht. Er hatte da schon Angst. Die hat ihn zuletzt aufgefressen. Bei mir ist die viel später gekommen, viel später. Das war eine andere Angst als du im Krieg gehabt hast, Werner. Papa hatte Angst um seine Stelle, Mama vor einem Krieg, nur ich war Feuer und Flamme für den neuen Staat und Hitlers Ideen. Damals.´

    Hanna spürte, wie sie an etwas zu rühren begann, was hinter den dichten Schleiern der vergangenen Jahrzehnte lag. Sie zog ihre Gedanken in sich zurück, wie eine Schnecke, die unversehens einen Gegenstand berührt hat, ihre Fühler. Sie sprang nach vorn in die Gegenwart.

    `Also Sonja ist schwanger, und ich hätte dir ja wirklich gewünscht, dass du Opa wirst. Ich hatte es schon aufgegeben und Sonja wohl auch. Und jetzt ist es doch passiert. Ich freue mich auf das Kleine. Ich hätte es dir so gegönnt. Ist ja fast ein Wunder. Aber mit den modernen Methoden, mit Hormonen oder so was. Ich werde Sonja fragen. Sie hat sich verändert. Sie hat zuletzt nur noch Stippvisiten bei mir gemacht. Aber jetzt plötzlich ruft sie nach ihrer alten Mutter und will mich in Amerika haben! Stell dir vor, ich fliege über den großen Teich, auf meine alten Tage, Werner! Da muss ich für Stupsi einen Platz finden, den will nämlich Alf auf keinen Fall im Haus haben. Was macht mein Pudelchen ohne mich? Also ich muss mir das noch schwer überlegen. Du würdest ja nicht mitkommen, das weiß ich schon. Du hast deine Hölzer und Hobel und Möbelbeizen nie allein lassen können. Wann sind wir schon mal verreist? Du hast ja angeblich genug gesehen im Krieg: Jugoslawien, Ungarn, Griechenland, Kreta. Wir sind nur mit Erich und Sonja an die Nordsee gefahren. Österreich war dir schon zu weit. Und jetzt soll ich nach Amerika, weil Sonja ein Kind kriegt und ich Oma werde.´

    Hanna fröstelte, die Sonne stand schon tief und die Feuchtigkeit stieg aus der Erde. Sie schüttelte die Schultern, stand auf und sagte leise:

    „Tschüss Werner, ich komm bald wieder, wenn´s Neuigkeiten gibt. Ich freu mich auf das Kleine. Das Leben geht eben weiter."

    Hanna machte sich auf den Weg durch den parkähnlichen Friedhof langsam zurück zum Tor, entlang an der kleinen neugotischen Kirche. Dort erreichte sie wieder der Straßenlärm, dem sie noch für ein paar Minuten in die Kirche entfloh, nicht wegen einer religiösen Anwandlung, sondern vielmehr, weil sie die Kanzel immer wieder bestaunte, die Werner nach dem Krieg geschaffen hatte und an der sogar die Schnitzereien von ihm stammten. `Seiner Hände Arbeit´, dachte sie jedes Mal, `seiner Hände Arbeit.´ Erst dann machte sie sich getröstet und froh auf ihren Heimweg. Zu Fuß erreichte sie ihr kleines Reihenhaus, grüsste nur kurz Frau Güstow von nebenan und hörte schon das freudige Bellen von Stupsi, als sie den Schlüssel im Schloss drehte. Als der Hund an ihr hochsprang, küsste sie ihn wie immer auf sein rechtes Hängeohr, macht sssss, woraufhin sich der Hund brav setzte, und hängte ihren Mantel in die Garderobe. Sie ging in die Küche, braute sich einen Früchtetee und setzte sich mit ihrer geblümten Henkeltasse, die sie noch vom Krieg hatte, ins dunkle Wohnzimmer und schaute durch das große Fenster hinaus in die hereinbrechende Nacht.

    Sie nahm Sonjas Brief vom Beistelltischchen, zog ihn aus dem Umschlag und glättete ihn auf ihrem Schoß; immer wieder strich sie über das seidige, hellblaue Papier. `Schwanger´, dachte sie `ich war dreimal schwanger, Sonja wird nie mehr schwanger werden, jetzt ist sie 36, das ist das erste und letzte Kind. Ich war 18, damals, ja damals. Vielleicht erzähle ich Werner einmal von dieser Zeit.´

    Wieder stand Hanna vor der grauen Wand, hinter die sie eine Zeit ihres Lebens verbannt hatte, hinter die sie nie mehr hatte schauen wollen und die sich doch wieder zeigte und danach drängte durchstoßen zu werden. Und seit Sonja schwanger war, meldete sich die Vergangenheit immer häufiger.

    Draußen gingen die Straßenlaternen an. Hanna sah die Feuchtigkeit der Luft wie Nebelschwaden die Straße hinunterziehen. `München´, dachte sie, `im Herbst, der Wind, die Blätter trieben über die Straße, und der Nebel war dichter. Ich habe ihn ja erst im letzten Moment kommen sehen. Damals, ja damals ... Wieder so ein Vortrag beim BDM.´

    Hanna erinnerte sich an ein paar Wörter und Sätze: Relikte, Reste aus einer lange verdrängten Zeit: Sein oder Nichtsein unseres Volkes ... Deutschland muss wieder Kinderland werden … Zwischen Verheirateten und ledigen Frauen ist in der Mutterschaft kein Unterschied … außereheliches Verhältnis wird geduldet … Gut ist, was dem Volk nützt, schlecht ist, was dem Volk schadet … Heilig ist uns jede Mutter guten Blutes …

    Manfred von Siegstein kam durch den Herbstnebel auf sie zu, reichte ihr einen Strauß weißer Rosen, die sie schnell hinter ihrem Rücken in Sicherheit brachte, denn er breitete die Arme aus und umschloss sie mit einer festen Umarmung. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter, ihre Stirn lag auf dem Kragenspiegel mit der SS-Rune.

    Das Schrillen des Telefons riss Hanna aus dem Bild der Vergangenheit und sie war erleichtert darüber. Trotzdem fand sie sich in der Dunkelheit nicht sogleich zurecht. Das Geklingel ging ihr auf die Nerven. Sie tastete sich zum Lichtschalter, eilte in den Korridor und hob ab. Es war Sonja, die sich aus Amerika meldete.

    „Hallo, Sonja, wie geht es dir?"

    „Mama, alles ist o.k. hier. Wir sind alle gesund und du?"

    „Ich war heute bei Werner, ich meine, auf dem Friedhof, habe ihm erzählt, dass er bald Opa wird."

    „Mama, ich wollte dir nur sagen, dass Alf in Kürze nach Europa kommt, er muss einen Kollegen vertreten, der schwer erkrankt ist. Er wird auch auf einem Kongress in Stuttgart sprechen und wollte dich von dort aus besuchen, bevor er nach Stockholm weiterreist. Er hätte da ein, zwei Tage Zeit. Was meinst Du?"

    „Aber Sonja, du weißt, dass Alf jederzeit mein Gast sein kann. Ich hab ihn doch schon seit drei Jahren …"

    „… zwei Jahren, Mama!"

    „… also seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Ich freu mich sehr, wenn der Junge vorbeischaut."

    „ Der Junge ist allerdings 46 Jahre alt, Mama!"

    „Also lass mich wissen, wann das alles sein soll."

    „Ich schick dir ein Telegramm, Mama. Tschüss!"

    „Tschüss Sonja und liebe Grüße an Alf. Und sag ihm, dass ich mich freue!"

    „Mach ich, tschüss noch mal."

    „Tschüss, Sonja!"

    Hanna hängte nachdenklich ein, weil da wieder Klopfzeichen aus der Vergangenheit zu hören waren, die Hanna rasch mit der Fernbedienung ihres Fernsehers übertönte. Was als erstes auf dem Bildschirm erschien, waren zackig marschierende Soldaten, begleitet von einem Marsch aus der grauen Vorzeit. Hanna wusste nicht, sollte sie oder sollte sie nicht? Sie überlegte nur kurz und beschloss dann, dass nein. Sie wollte etwas anderes anschauen. Sie stieß bei einem Sender auf einen Dokumentarfilm über Zugvögel. Da hielt sie an und dachte: `Die fliegen hunderte, vielleicht tausende von Kilometern und immer wieder hin und zurück, Frühjahr und Herbst, und sie finden immer ihren Weg an dieselbe Niststelle.´ Hanna schlief vor dem Fernseher ein. Die monotone Stimme des Sprechers hatte sie schläfrig gemacht und das viele Denken müde. Erst das markerschütternde Geschnatter einer Gruppe von Gänsen weckte sie wieder, und da war auch schon der Abspann. Sie griff zur Fernbedienung, schaltete ab und ging nach oben in ihr Schlafzimmer.

    Am Tag nach Sonjas Anruf ging Hanna wieder auf den Friedhof, um sich – wie sie zu sich selbst sagte – mit Werner Helmers zu beraten. Es gab nichts zu gießen und nichts zu richten auf dem Familiengrab der Helmers. So setzte sich Hanna gleich auf die Bank gegenüber und versuchte, ihre Gefühle zu ordnen, damit sie mit Werner darüber konferieren konnte.

    `Also, Werner, der Alf kommt bald aus Amerika. Er hat in Europa zu tun, und da will er mich besuchen. Ich freue mich wirklich, ihn wiederzusehen. Er war mir von Anfang an sympathisch, auch wenn er manchmal ein bisschen kühl wirkt und man nichts über seine Kindheit erfahren kann. Da ist er zugeknöpft bis oben hin, als gäbe es ein Geheimnis. Also ich habe irgendwie gemischte Gefühle, wenn ich daran denke, dass ich ein paar Tage ganz allein mit ihm verbringen soll. Vielleicht ist das aber andererseits eine Gelegenheit mal zu sprechen. Ich fahre mit ihm zum Café Kaiser ins Schloss Sonnenbühl. Auf der Terrasse gibt’s eine schöne Aussicht über das Kessertal, was meinst du? Da waren wir doch auch einmal. Wie viele Jahre ist das her?´

    Hanna saß mit Werner auf der Terrasse von Schloss Sonnenbühl. Er lächelte sie an, hielt ihre Hand, die seine weit über den Tisch gestreckt und sagte:

    „Schön, dass du mich raus gefahren hast. Ich danke dir. Ich brauch mal frische Luft. Die Beizen in meiner Werkstatt reizen meine Nase und Lungen. Bis Samstag ist der Eichenschrank für die Bergers fertig. Das war ein hartes Stück Arbeit, aber zufrieden bin ich. Er ist eins meiner schönsten Stücke, oder nicht?"

    „Er gefällt mir sehr gut, Werner, die Bergers werden zufrieden sein, da bin ich sicher."

    „Sie wollen ihn in ihre große Diele stellen, neben eine alte Ritterrüstung. Kannst du dir das vorstellen? Mich wundert, wo er diesen Eisenmann gefunden hat. Allerdings war der Berger ja Schrotthändler nach dem Krieg, da hat der sein Geld gemacht und ist reich geworden."

    Werner Helmers sprach weiter vor sich hin, aber Hanna hörte nicht mehr zu. Sie hatte ein Bild vor Augen, das ihr Mann heraufbeschworen hatte: Eine Ritterrüstung neben einem schweren alten Eichenschrank. Sie schaute in die Landschaft hinaus, sah aber nicht, wie sich der Fluss silbern in der Sonne glänzend durch das Tal schlängelte, sah nicht die bunten Herbstwälder mit ihrem feurigen Rot, dem Gold der Buchenblätter, vielmehr befand sie sich in einer ziemlich dunklen Diele in einem Herrenhaus in München. An einer Wand stand ein fast schwarzer, alter und schwerer Eichenschrank, daneben eine Ritterrüstung. Sie ging auf Zehenspitzen an der Hand von Manfred von Siegstein durch die dunkle Diele auf eine breite Treppe zu, die zu den oberen Räumen führte, wo Manfreds Zimmer lag.

    „Hörst du mir überhaupt zu, Hanna?"

    „Ja … nein, entschuldige, mir ist nur grad was eingefallen. Ich muss morgen unbedingt die Mäntel von der Reinigung abholen. Es kann ja jeden Tag das Wetter umschlagen."

    Hanna zog ihre Jacke enger um die Schultern, ihr war plötzlich kalt geworden. Werner schüttelte ein wenig den Kopf, lächelte aber seine Frau an und sagte:

    „Na ja, jeder hat so seine eigenen Sorgen. Sonst hast du dich mehr für meine Arbeit interessiert. Aber du hast recht, Hanna, sagte er friedlich, „lass uns gehen, mir wird auch ein bisschen kalt.

    Werner bezahlte, während Hanna ihren alten VW vom Parkplatz holte. Sie fuhren schweigend nach Hause, jeder hing seinen Gedanken nach, wobei Hanna es strikt vermied, die dunkle Diele in Gedanken noch einmal zu betreten. Sie löschte das Bild. Sie verbannte es wie alle Bilder aus ihrer Jugend in die hinterste und verschlossenste Ecke ihres Gedächtnisses. Eine Weile hielt sich ein auffälliges Gefühl der Unsicherheit. Aber schließlich musste sie sich auf die Straße konzentrieren, und als sie die Werkstatt ihres Mannes betrat, um den beinahe fertigen Eichenschrank zu bewundern, was ihr nicht schwer fiel, war sie wieder völlig in der Gegenwart angekommen.

    Hanna dachte: `Ich weiß ja nicht, ob sich Alf für unsere Heimatlandschaft interessiert, wo doch Südamerika sicher fantastischere Landschaften aufzuweisen hat. Und sicher sehnt man sich immer nach der Landschaft seiner Kindheit, früher oder später. Egal, ich fahre mit ihm ins Schlosscafé. Gut, Werner?´ Hanna war froh, dass sie wenigstens einen Nachmittag mit Alf verplant hatte und war sicher, dass ihr noch andere Möglichkeiten, die Zeit mit ihrem Schwiegersohn zu verbringen, einfallen würden. Sie erhob sich zufrieden, verabschiedete sich wie immer von Werner Helmers und schlenderte nach Hause.

    Zehn Tage später quetschte sich Alf, ein wenig mitleidig lächelnd, in den alten VW seiner Schwiegermutter. Die Begrüßung war herzlich gewesen mit fester Umarmung, wenigstens war es Hanna so vorgekommen.

    „Erzähl ruhig, Alf, ich kenne die Strecke vom Flughafen nach Hause gut. Wie war der Flug, wie geht es Sonja?"

    Hanna dachte, dass Alf ihre Frage vielleicht nicht gehört hatte, wiederholte sie und bemerkte dann, dass er sie stumm von der Seite her anschaute, und wieder nach vorn.

    „Findest du, dass ich zu riskant fahre, Alf?"

    „Aber nein, Hanna …"

    „Also, sag wie der Flug war und wie es Sonja geht!"

    „Ich bin die Fliegerei gewöhnt und schlafe die meiste Zeit."

    „Du hast keine Angst vor dem Fliegen?"

    „Wenn ich Angst hätte vor dem Fliegen, Hanna, dann müsste ich meinen Job aufgeben. Unsereins lebt im Labor und auf Konferenzen in aller Welt, weißt du?"

    „Mhm. Und Sonja?"

    „Ihr geht´s prima und dem Jungen auch."

    „Dem Jungen? Woher weißt du …"

    „Das lässt sich heute wissenschaftlich nachweisen durch …"

    „Ach so, ja, schon gut … ihr Wissenschaftler …"

    „Hanna, nimm lieber die nächste Einfahrt, das hier ist eine Einbahnstraße!"

    „Ach, ich Schussel, entschuldige, du hast Recht."

    Hanna steuerte schwungvoll den Wagen wieder in die Straße zurück, und schließlich kamen sie wohlbehalten bei ihrem Reihenhäuschen an. Sie hielt an und Alf nahm seinen Koffer und seine Aktenmappe vom Rücksitz und wartete lächelnd, bis seine Schwiegermutter den VW durch die enge Einfahrt in den Hinterhof geschleust hatte. Hanna kam zurück und sah bewundernd, wie gut Alf in seinem teuren Kaschmirmantel, den eleganten Schuhen und dem modischen Hut, den er in der Hand hielt, aussah. Ihr Blick streifte den teuren Lederkoffer. Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, begann Stupsi zu bellen.

    „Ach Gott!, entfuhr es Alf, „du hast ja einen Hund. Kannst du den vielleicht in ein anderes Zimmer bringen?

    Hanna schaute ihren Schwiegersohn erstaunt an, ging aber hinein und sperrte den Pudel unter dessen Protest in die Gästetoilette. Dann erst erschien Alf im Haus und Hanna fragte:

    „Hast du eigentlich Angst vor Hunden oder was?"

    „Hunde sind schmutzig, liebe Hanna, Mikrobenträger."

    Hanna antwortete nicht, dachte aber: `Ich bin an keinem meiner Hunde gestorben.´ Sie war ein wenig enttäuscht.

    Es dauerte ein paar Stunden, bis sich Alf so richtig wohl fühlte bei seiner Schwiegermutter, aber dann absolvierte er das gesamte Programm, das sie sich liebevoll ausgedacht hatte, ging sogar mit ihr in den Zoo, ein Programmpunkt, der ihm ziemlich schwer fiel, Tiere waren nicht seine Sache.

    Hinterlistig hatte sie schon vorher herausgefunden, wo Tiere aus Südamerika im Zoo zu finden waren. Vor dem Gehege der Lamas verwickelte Hanna dann ihren Schwiegersohn in ein Gespräch über seine Heimat, um endlich ein wenig Klarheit über seine Herkunft zu bekommen. Ihre Ausbeute war nicht sehr groß, vielmehr biss sie auf Granit. Er erzählte, was sie sowieso schon wusste. Dass seine Eltern aus Deutschland ausgewandert seien, dass er in Buenos Aires geboren sei und dass sein Vater eine Bullenzucht

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