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Otto Murr. Kinderhölle: Das Tagebuch. Das Kinderheim. Das FinanzCasino. Ein politischer Kriminalroman
Otto Murr. Kinderhölle: Das Tagebuch. Das Kinderheim. Das FinanzCasino. Ein politischer Kriminalroman
Otto Murr. Kinderhölle: Das Tagebuch. Das Kinderheim. Das FinanzCasino. Ein politischer Kriminalroman
eBook466 Seiten5 Stunden

Otto Murr. Kinderhölle: Das Tagebuch. Das Kinderheim. Das FinanzCasino. Ein politischer Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Zweiter Band in der Reihe: Politische Kriminalromane mit dem Journalisten Otto Murr (49). Neuer Schauplatz: Hamburg. Murr findet Spuren jahrzehntelanger sexueller Gewalt in Kinderheimen. Zwei Hamburger Kommissare enthüllen eine Mordserie. Die Finanzkrise spiegelt sich in einem obszönen Fest. Hamburger Akteure der Finanzwelt feiern in einem Hamburger Bordell eine Party: Sex meets Finanzcasino.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Aug. 2021
ISBN9783347349476
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    Buchvorschau

    Otto Murr. Kinderhölle - Bernhard Nette

    Das Tagebuch

    Kapitel 1

    Wen interessiert heute noch Forsmann? Hamburg, 2010

    „Lebenslänglich für den Nylonstrumpfmörder. Der unbekannte Zweite fehlte auf der Anklagebank".

    Die Titelseite des Hamburger Abendblatts vom 13. August 1964 versprach Auflage. Mit dem Nylonstrumpfmörder konnte an diesem Tag nicht einmal der dritte Jahrestag des Berliner Mauerbaus Schritt halten.

    „Der verurteilte Wulf O. hat nach Überzeugung des Gerichts seinen Schwager, den 28jährigen Manfred Forsmann, getötet. Wulf O. stritt bis zuletzt entschieden ab, etwas mit dem Mord zu tun zu haben. Daher stützte sich die Anklage ausschließlich auf Indizien, einen Zeugen und auf zwei Sachverständige. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft fasste der Hamburger Wulf O. zu Jahresbeginn den Entschluss, seinen Schwager zu beseitigen. Manfred Forsmann habe gewusst, dass Wulf O. krumme Geschäfte auf St. Pauli betrieb, und habe versucht, ihn zu erpressen. Wulf O. habe anfangs erwogen, so das Gericht in seiner Urteilsbegründung, seinen Schwager in dessen Bremer Wohnung zu töten und die Leiche in einem Koffer beiseite zu schaffen. Nach einem anderen Plan sollte ein Verkehrsunfall vorgetäuscht werden. Schließlich habe Wulf O. aus einem faustgroßen Stein, einer Holzlatte und einem Nylonstrumpf einen Totschläger hergestellt, um Manfred Forsmann von hinten nieder zu schlagen. Am 31. Januar 1964 habe er ein Stadttelegramm im Bremer Hauptbahnhof aufgegeben und mit seinem Schwager einen Treffpunkt am Bremer Rathaus vor dem Roland verabredet. In einem gemieteten Leihwagen – der Besitzer der Leihwagenfirma erkannte Wulf O. vor Gericht wieder – sei er mit seinem Schwager und einem unbekannten zweiten Täter weggefahren, vermutlich an die Weser. Auf der Fahrt sei Manfred Forsmann vom Rücksitz aus mit dem Totschläger angegriffen und mit einem Schuss aus einer Bundeswehrpistole hinter das rechte Ohr getötet worden. Die Leiche wurde in einen Plastik-Regenmantel gewickelt, mit Steinen beschwert und in die Weser geworfen. Sie schwemmte am 15. Februar bei Vegesack an. Die Gerichtsmedizin hatte den Hergang der Tötung rekonstruieren können.

    Der Angeklagte Wulf O. bestritt während des ganzen Verfahrens die Bluttat. Er sei lediglich der Fahrer des Mietautos gewesen. Laut den beiden Gutachtern wurde er aber durch Indizien schwer belastet. Außerdem hat Wulf O. sich beharrlich geweigert, den Namen des Mittäters preiszugeben.

    Das Schwurgericht verurteilte ihn daher wegen Mordes zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe.

    Besonders tragisch ist das Schicksal der sechseinhalb Monate alten Tochter des Mordopfers. Sie hat in kurzer Zeit beide Elternteile verloren. Ilse Forsmann, die Mutter des Säuglings, war zu Beginn des Jahres bereits bei der Geburt ihres Kindes verstorben. Nachdem nun auch der Vater in dem Mordfall ums Leben gekommen ist, sucht jetzt die Kinderfürsorge eine Bleibe für den Säugling."

    Die alte Frau nahm dem Mann den vergilbten Zeitungsartikel aus der verkrümmten Hand und warf das Papier in den lodernden Kamin. „Über 50 Jahre her, sagte sie. „Das hättest du schon längst wegwerfen sollen, Kinderkralle.

    Er betrachtete das Feuer. „Verbrennen nützt nichts. Das Hamburger Abendblatt hat ein Internet-Archiv, kann man alles neu ausdrucken."

    „Ja, sagte sie, „vielleicht, aber wen interessiert heute noch Manfred Forsmann?

    Kapitel 2

    Pater Henricius in Münster, 1976

    „Noch eine Beichte gefällig, Pater Henricius?"

    „Bei Ihnen etwa? Gott bewahre!"

    „Oh, mein lieber Pater, das Gedicht kennen Sie doch noch: Ich war in den Dornen der Sünde verstrickt,/ da hat mich im Abgrund die Gnade erblickt,/ da war mir zum Leide, was ich getan,/ es fing mich im Herzen zu reuen an."

    „Das sollten besser Sie selber beherzigen."

    „Zehnmal dieses Gebet, Paterchen, und Sie erhalten glatte 300 Tage Ablass vom Höllenfeuer."

    „Beschmutzen Sie nicht das heilige Sakrament der Beichte."

    „Kennan Sie Sonja Forsmann?"

    „Äh, wen? Jaja, natürlich kenne ich sie. Ein schwieriges Mädchen mit einer schlimmen Vergangenheit. Ein Trotzkopf." Er rüttelte an den Fesseln, mit denen er auf dem Stuhl an Armen und Beinen festgebunden war.

    „Sie haben das schwierige Mädchen verprügelt."

    „Nein, hab ich natürlich nicht. Definitiv nein."

    „Haben Sie sie verprügelt, weil sie nicht mehr zu Ihnen in den Beichtstuhl kommen wollte?"

    „Die Beichte ist ein Sakrament, da kann man nicht einfach sagen, da geh ich nicht mehr hin. Das wäre eine große Sünde. Ich habe das Mädel nur auf den richtigen Weg zurückgeführt."

    „Prügel. Ja oder nein?"

    „Nur ein Mal eine leichte körperliche Strafe, die sie vor dem göttlichen Gericht bewahren sollte."

    „Nächste Frage: Haben Sie sie im Beichtstuhl missbraucht?"

    Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen. „Wer behauptet das?"

    „Ich stelle hier die Fragen."

    „Darauf antworte ich gar nicht."

    „Noch einmal: Wurde das kleine Mädchen, der kleine Trotzkopf, von Ihnen, ihrem Beichtvater und Hallelujagockel, im Beichtstuhl vergewaltigt?"

    „Ich? Von mir? Nein! Niemals!"

    „Vielleicht ja doch, denken Sie mal nach."

    „Niemals. Das sagte ich schon."

    „Vorsicht, Sie stehen gleich vor Ihrem Herrgott, und der soll ziemlich rachsüchtig sein, wenn man im letzten Augenblick noch lügt."

    „Hören Sie, machen Sie keinen Fehler, es war Möller, der Schulleiter und Vorsteher des Heims, ich habe ihn dafür intern getadelt. Mehrmals! Habe ihn auch zur Rede gestellt!"

    „Das wird den alten SS-Mann ja so richtig beeindruckt haben."

    „Aber ich habe doch dafür gesorgt, dass Sonja in ein anderes Heim kam, weg von Möller. Ich habe mich doch um Sonja gesorgt."

    „Nun gut. Letzte Frage: Bereuen Sie, was Sie in ihrem Sündenschnüffelstuhl getrieben haben?"

    „Hören Sie, wenn in unserem Heim ´Sonnenland´ etwas Unpädagogisches geschehen ist – wie gesagt, wenn – werde ich diesbezüglich sofort eine Untersuchung anberaumen. Glauben Sie mir, ich bin genauso bestürzt über Möller wie Sie."

    „Das Kind, Pater Henricius, sagte aber, Sie seien es gewesen, Sie, der stellvertretende Heimleiter."

    „Aber Sie sagen es doch selbst, Sonja ist noch ein Kind. Das ist doch alles nicht glaubhaft. Vielleicht war da sowieso gar nichts und alles hat sich nur in der Phantasie des Kindes abgespielt. Vielleicht hat die kleine Sonja Erlebnisse aus ihrem früheren häuslichen Umfeld auf das Heim übertragen."

    „Das Kind lügt also. Ich bitte Sie, Pater, fällt Ihnen noch eine Perversität ein?"

    „Nun ja, ich kann mir natürlich auch eine leichte Überreaktion des Personals auf gewisse kindliche Provokationen vorstellen."

    „Aha, das Kind hat nicht nur gelogen, sondern das Ganze auch noch provoziert."

    „Naja, provozieren ist vielleicht ein zu hässliches Wort, vielleicht, ich sage ausdrücklich: vielleicht, war das Mädchen ja auch etwas frühreif und hat es bei dem Lehrer Möller darauf angelegt. Sie wissen sicher, was ich meine. Sehen Sie es doch mal so."

    „Das war´s mit Ihrer Beichte, Pater Henricius. Folgt mein ´Te absolvo´." Ein Holzkasten wurde auf den Tisch gestellt.

    Pater Henricius erstarrte. Er stammelte: „Gott vergisst nicht seinen Diener in der Not!"

    „Vorsichtig, guter Mann, sie drohen doch wohl nicht mit dem allerhöchsten Zorn des Chefs? Wo steht eigentlich geschrieben, dass Padres Kinder quälen dürfen?"

    „Mein ist die Rache, spricht der Herr."

    „Ja, das kommt euresgleichen immer so leicht über die Lippen, wenn es um andere geht. Nun denn. Ich bin vielleicht sein Werkzeug. Jetzt sehen Sie es doch mal so. Ich bin seine Rache."

    Der Pater starrte auf das ihm wohlbekannte Bolzenschussgerät. Wie immer in dem alten Holzkasten. Ein obszön plumper Lauf, die geriffelte Oberfläche gerade richtig für das Umfassen durch eine von groben Gummihandschuhen geschützte Hand. Der Bajonettverschluss wurde aufgehakt und eine gelb gezeichnete Platzpatrone eingelegt. „Gelbe Markierung, sehen Sie, für Kälber und Schafe. Und für Schweine natürlich, Schweine aller Art. Die Metzger wollen den Tieren unnötiges Leid ersparen."

    Der Schlagbolzen wurde per Hand zurückgezogen und rastete ein. Das Gerät berührte kalt seine Schläfe. Er versuchte voller Todesangst den Kopf wegzureißen. Er fiel mit dem Stuhl, auf dem er festgebunden war, zu Boden. Er röchelte. „Agnus Dei, qui tollis peccata mundi: miserere nobis."

    „Was reden Sie denn da?"

    „Lamm Gottes, Du nimmst hinweg die Sünden der Welt: Erbarme Dich unser", schrie er in höchster Not.

    „Halt jetzt mal für einen kleinen Moment die Klappe, du verdammter Heuchler! Nicht für das Lamm habe ich einen extra spitzen Bolzen gewählt, sondern für den ehrwürdigen Pater Henricius. Du hast doch nichts gegen eine schnelle Penetrierung?"

    Der lange Abzugshebel, der den Schlagbolzen freigeben sollten, wurde langsam und sorgfältig nach innen gedrückt. Der Pater hörte die knackenden Geräusche. „Nicht!", schrie er.

    Beim zweiten Abdrücken funktionierte das Gerät. Der Bolzen durchbohrte knirschend die Stirn des Paters.

    Der Bajonettverschluss wurde wieder gelöst und die leere gelbe Platzpatrone entnommen. Dann wurde der Bolzen aus einem erstaunlich kleinen Loch im herabgesunkenen Kopf des Paters mittels einer schmalen Verdrahtungszange herausgezogen, mit einem großen dreckigen Lappen abgewischt und zurück in den Lauf eingeführt, was nicht ganz ordnungsgemäß war. Der gefüllte Lauf und der leere Zündaufsatz wurden voneinander getrennt und jeder für sich in von Blut und Hirn gefleckte Lappen eingerollt, verschnürt und zusammen mit der Zange und den Gummihandschuhen zurück in den alten Holzkasten verstaut.

    „Siehst du, ging ganz schnell zum Schluss. Grüß mir den Alten da oben. Frag ihn, ob die Kanakenbuben jemals auf Leute wie dich gewartet haben. Ach was, vergiss es, du kannst ihn ja gar nicht fragen! Wir sehen uns in der Hölle wieder."

    Kapitel 3

    Hamburg-Bergedorf 2010

    Auf dem Küchentisch steht eine runde Kristallvase. Sie hat einen kleinen Boden. Wirklich sehr klein, darüber ein obszön ausschwingender Körper. Ein funkelnd durchsichtiger, umgedreht stehender Rock. Grüne Stängel ragen aus dem gläsernen Trichter. Eingezwängt drängeln sich sieben Beinchen auf dem Glasboden, streben befreit nach oben, lehnen sich leicht in alle Richtungen auf das geschliffene Vasenrund und senken ihre verblühenden Köpfchen in einem melancholischen Todeskreis. Die trocken gekräuselten Blütenblätter der rotgeäderten gelben Tulpen rascheln, als er sie berührt. Ich sollte Wasser nachgießen, denkt er. Aber warum? Sie sind längst tot, obwohl abgeschnittene Blumen ja manchmal weiter wachsen. Eine schwärzlich verfärbte Blätterspitze glüht plötzlich. Die rotgeäderten gelben Totenköpfchen prasseln auf. Seine weit aufgerissenen Augen näheren sich dem Flammenkreis. „Nicht!" Er reißt die Hände hoch. Die Kristallvase zerplatzt lautlos.

    Otto Murr wachte auf. Es war neun Uhr. Das einsame Rotweinglas von gestern Nacht lag zersprungen am Boden. Er musste es im Schlaf heruntergestoßen haben. Zum Glück war es leer gewesen. Ich sollte auf Splitter achten, dachte er, stand auf und tappte durch seine neue Wohnung in Hamburg Bergedorf. Er fand nichts im Kühlschrank. Seufzend ging er an den Umzugskartons vorbei zurück, zog sich an, schleppte einen Stuhl in den Flur, setzte sich und zog Straßenschuhe an. Er ging nach unten, zur Garage, nahm das Fahrrad heraus und fuhr durch den kleinen Schlosspark zum City Center Bergedorf.

    Den Edeka-Supermarkt Halmschlag kannte er von früher. Der Laden war 2009, also vor einem Jahr, umgebaut worden, der Eingang unter der Glaskuppel öffnete sich fast auf ganzer Front. Niedrigschwellig, dachte er, sehr verkaufsfördernd. Er schnappte sich einen Einkaufswagen, warf Fidelini pasta di semolo di grano duro a lenta essiccazione hinein, dünnes gerolltes Nudelgeflecht, das aussah wie Vogelnester, drei Minuten Kochzeit. Darauf plumpsten zwei Gläser Barillo Bolognese-Sauce, zehn Tomaten aus den Vierlanden, die er in einer dünnen Plastiktüte, losgefummelt von der Abreißrolle, verstaute. Dazu Hansano-Milch und Hansano-Joghurt, zwei Fischdosen, ein Stück eingeschweißten Hartkäse, eine Sauerkirsch Konfitüre „extra gut und günstig", eine Flasche italienischen Rotwein und zwei Pakete geschnittenes Schwarzbrot. Das Übrige, dachte er, besorg ich auf dem Markt, der zwei Mal pro Woche in der Nähe seiner neuen Wohnung aufgebaut wurde.

    An der Kasse wartete er hinter einer älteren Bergedorfer Dame. Sorgfältig räumte sie alle eingescannten Waren in zwei große Plastiktüten von Karstadt. Die junge Kassiererin hatte ihr schon längst den zu zahlenden Betrag gesagt: 27 Euro 31. Die Dame suchte das Portemonnaie in ihrer Handtasche. Jetzt kramte sie darin herum. „Sie brauchen doch sicher Centstücke, lächelte sie der geduldigen Kassiererin zu, „ich habe es vielleicht in klein. Einfach Scheine hingeben, das Wechselgeld einstecken und umgehend den Weg frei machen, das wäre doch mal was Neues, dachte Otto Murr.

    Er war endlich drangekommen und hatte alles mit einem zerknitterten Fünfzig-Euro-Schein bezahlt, als er feststellte, dass er nichts zum Einpacken hatte. „Das macht noch fünf Cent, sagte die junge Kassiererin und reichte ihm eine Plastiktüte „Fünf Cent? Warten Sie, das hab ich sicherlich klein. Er öffnete mit dem Daumen der rechten Hand noch einmal sein Portemonnaie, ließ aber mit der linken Hand die neu erworbene Tragetasche nicht los. Da klappte das Geldfach seines nur lose gehaltenen Portemonnaies unvermutet ganz auf, veränderte das Gleichgewicht und ein silberner und kupferner Münzstrom ergoss sich zwischen die Waren auf der Metallplatte hinter der Kasse. Er ließ die Plastiktüte los, griff panisch nach dem Portemonnaie und stieß dabei die vor ihm liegenden Lebensmittel um. Die scharfe Kante des verschweißten Käses bohrte sich in den dünnen Aluminiumfoliendeckel des Joghurtbechers, der daraufhin seinen weißen Inhalt träge fließend in die Freiheit entließ. Shit! Hektisch grabbelte er ein Tempotaschentuch heraus, wischte in dem Joghurt herum. Die junge Kassiererin überblickte das Chaos. „Kein Fünf-Centstück, stellte sie fest. Sie nahm sich ein heruntergefallenes Zwanzig-Centstück und gab ihm den Rest heraus. Dann umwickelte sie den halb ausgelaufenen Joghurt-Becher mit Plastikfolie und klingelte. „Bitte jemand an Kasse zwei. Mit Tuch und Eimer. Und einen Joghurt mit Vanille. Die Kassiererin lächelte ihn freundlich an, „Da kommt Ihr neuer Joghurt schon. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen. Seien Sie heute vorsichtig."

    Als nächstes lege ich den jungen Dingern an der Kasse gleich mein offenes Portemonnaie hin, damit sie darin rumkramen, wie bei alten Omis und Opis, dachte Otto Murr erbost und sammelte stumm seine Siebensachen ein.

    Draußen regnete es. Seine Regenjacke leckte im Schulterbereich.

    Klitschnass zu Hause angekommen – wo hatte er bloß den Umzugskarton mit den Handtüchern hingestellt? – kochte er sich die Pasta. Er hatte vergessen Zwiebeln zu kaufen und Hack und Olivenöl gab es auch noch nicht in der Küche. Er trank den Wein aus einem alten Senfglas und lehnte sich seufzend zurück.

    Durch die Küchentür blickte er in eines seiner drei großen Zimmer hinein. Die ganze Bodenfläche war von einem kompakten Würfel bedeckt, über zwei Meter hoch. Lauter Umzugskartons. Man konnte sich gerade eben noch, wenn man sich dünn machte, drum herum quetschen. Alles Bücher, dachte er, weit über hundert Kartons, die Umzugsleute hatten auf „dreiviertel voll" bestanden. 30 Jahre Erwachsenenleben, erst Studium, Geschichte und Deutsch, dann Lehrer und jetzt seit langem Journalist. Das musste man ihnen lassen, die Umzugsleute hatten die Kartons klaglos in den ersten Stock geschleppt und sorgfältig gestapelt. Gut gefugt, wie für die Ewigkeit, dachte er. Er sollte sie gar nicht auspacken. Zimmer abschließen, Schlüssel wegschmeißen und ein neues Buchleben beginnen. Er dachte an Manuel Vazquez Montalbán. Sein spanischer Detektiv Pepe Carvalho verheizte seine Bücher der Reihe nach im Kamin. Hab ich aber nicht, sinnierte er, keinen Kamin und auch keinen Ofen. Die hatte irgendein Vorbesitzer mal rausgerissen.

    Die große dreistöckige Villa war zehn Jahre vor dem Ersten Weltkrieg erbaut worden. Seine Wohnung lag im ersten Stock, in der der Belle Ètage aus kaiserlich-wilhelminischen Zeiten, Pitchpine-Holzfußboden, in der Küche Terrazzo-Boden, zwei kleine Balkone, einer nach vorn und einer über Auffahrt zu den Garagen. An den Zimmerdecken verstaubten großzügige Stuckgirlanden.

    Beim Einzug hatte er im Erdgeschoss des geräumigen Treppenhauses seinen neuen Nachbarn getroffen, der unter ihm wohnte. Otto Murr stellte sich vor.

    „Herzlich willkommen in unserem schönen Haus. Gestatten, Ziernagel, Gerd-Heinrich Ziernagel." Sein Nachbar zeigte unwirsch auf ein Jugendstilfenster aus buntem Glas, das merkwürdig weit nach außen gedrückt war. Die Söhne des Voreigentümers von Otto Murrs Wohnung hätten leider die Unart besessen, sich von ihren Freundinnen auf dem Fensterbrett vor der einhundert Jahre alten Glaspracht stürmisch zu verabschieden. Jetzt sei einer der jugendlichen Lümmel ein bekannter Rock-Sänger, klagte Gerd-Heinrich Ziernagel, und das Fenster sei hin.

    Die Ehefrau des neuen Nachbarn hatte in ihrer Wohnungstür im Erdgeschoss Posten bezogen. Otto Murr begrüßte sie höflich: „Guten Tag, Frau Ziernagel."

    „Ziernagel-Neumann, Herr Murr, Ute Ziernagel-Neumann. So viel Zeit muss sein. Man hat ja auch seinen Stolz, als Frau, sozusagen. Sie lächelte mit verblühten Lippen, ihre Augen blieben kalt und sie fragte kurzatmig: „Haben Sie Kinder? Jetzt im traulichsten Honigton, die Frau konnte blitzschnell umschalten, dachte Otto Murr, wie hielt das Gerd Heinrich nur aus? Man hätte sie früher im Übrigen als vollschlank bezeichnet, kam es ihm in den Sinn. Merkwürdige Bezeichnung, dachte er.

    Dann antwortete er liebenswürdig: „Ja, gewiss doch, Frau Ziernagel-Neumann, aber sie wohnen nicht hier."

    Aufatmen der korpulenten Dame. „Sehr gut. Und, bittschön, auch beim Einzug muss die Nachtruhe eingehalten werden. Ab

    22 Uhr herrscht bei uns im Haus nächtlicher Frieden! Das hat die Eigentümerversammlung schon vor Jahren beschlossen."

    „Natürlich, klar, die Eigentümerversammlung", murmelte Otto Murr.

    „Über Ihnen wohnt übrigens ein Bankmanager mit Gattin und Tochter und einem reizenden Hund, meldet sich der Gatte der Dame Ziernagel-Neumann zu Wort. Hast du in Gegenwart deines vollschlanken Lieblings auch was zu sagen, dachte Otto Murr und bemerkte halblaut: „So, mit Gattin und Hund, naja, warum nicht? Hoffentlich kein stinkender Riesenköter.

    In seiner Wohnung angekommen, setzte er sich auf das rote Sofa im zweiten, dem freien Zimmer und stellte den Fernseher an. Etwas störte ihn. Genauer, etwas tat seine Augen weh. Besagte jugendliche Lümmel hatten die Wände farbsatt bepinselt, in Dunkelgrün.

    Im Fernsehen gab es eine langweilige Diskussionsrunde über die Finanzkrise. Immer wieder Griechenland und immer wieder Sparen. Er schaltete den Fernseher aus und ging zu Bett

    Das zweite Mal Schlafen in der neuen Wohnung. Man hat mich hinausgeworfen, dachte er. Seien wir ehrlich, die Süddeutsche Zeitung hat mich geschasst. In gegenseitigem Einvernehmen, so hieß es, was zumindest eine erkleckliche Abfindungssumme bedeutete, vermutlich aus Steuergeldern. Trotzdem habe ich versagt, dachte Otto Murr. Ich hätte drauf bestehen müssen. Die Ehre des Journalisten! Kannst du es denn nicht begreifen, hatten sie zu ihm gesagt, die Sicherheit der westlichen Welt steht auf dem Spiel und du möchtest doch sicherlich auch durch unsere Bahnhöfe gehen, ohne dich ständig umsehen zu müssen? Sogar Jochen Schwarz, sein Freund in der Redaktion der Süddeutschen, hatte gemeint: „Michael Kohlhaas bringt nichts. Du kämpfst gegen Windmühlenflügel, Otto. Vergiss Kreta."

    „Das mit den Windmühlen war nicht Kohlhaas, Jochen, sondern Don Quixote von la Mancha."

    „Keine literarischen Spitzfindigkeiten, hatte sein Freund geantwortet. „Du stehst auf verlorenem Posten, mein Lieber. Du bist mit einer simplen geheimdienstlichen Verwarnung noch erstaunlich glimpflich davon gekommen. Halt einfach mal die Schnauze. Verkrümel dich. sonst stehst du zwischen allen Fronten, und zwar dort, wo es am heißesten ist.

    „Vielleicht könnte Wikileaks …", hatte Otto Murr angefangen.

    „Vergiss Wikileaks, du siehst doch, wie die ihre Quellen hochgehen lassen. Selbst wenn dein Verdacht stimmen sollte, willst du der nächste sein? Such dir schon mal eine lateinamerikanische Botschaft in London aus, für ewigen Hausarrest! Viel Spaß! Aber dein internationaler Atomterrorismus ist sowieso nur verschwörungstheoretischer Stuss! Nicht mal Moskau würde dich dafür in Sibirien aufnehmen!"

    Er hatte die ansehnliche Abfindung – fünfhunderttausend Euro – akzeptiert. Jetzt fand er, man hätte vielleicht noch mehr rausholen sollen. Er hatte aber unterschrieben, nirgends seine Rechercheergebnisse aus Kreta zu verbreiten. „Nicht einmal träumen sollten Sie davon", hatte ihm ein hochrangiger Vertreter des BND mit auf den Weg gegeben. Sein Schweigen würde den Steuerzahler sowieso schon Geld genug kosten.

    Er hatte akzeptiert. Er war ohne Arbeit, hatte einen mittelgroßen Batzen Geld, ein schlechtes Gewissen und eine sauschlechte Laune.

    Im Übrigen war er gerade 50 geworden und sah, wie sein Vater sich ausgedrückt hätte, noch recht passabel aus. In der Rubrik „Heiraten und Bekanntschaften könnte über ihn stehen: „Mehrere Katastrophen, daher Neubeginn. Recht attraktiv, meist ziemlich sympathisch, finanziell unabhängig, 180, eher noch schlank, einige graue Haare, zur Zeit unbeweibt und ledig, vor kurzem noch 49, Sinn für fremde Kinder, lacht und redet viel, wenn man ihn lässt, liebt, wenn er kann, ansonsten reist er und streitet gern. Außerdem bin ich zutiefst pessimistisch und romantisch, was vermutlich auf dasselbe hinausläuft, dachte er.

    Immerhin, über die sogenannte Goldene Pietà hatte die Süddeutsche Zeitung ja berichtet. Die Pietà wird im Archiv in Heraklion bleiben, dachte Otto Murr. Das kretische Nationalmuseum stellt nur höchst selten neue Funde aus. Es war selber museal, was noch die netteste Umschreibung seines unhaltbaren Zustandes war. Er hatte allerdings gehört, dass es modernisiert werden sollte. Vielleicht bis 2019, hatte sein bisheriger Arbeitgeber, die Süddeutsche Zeitung, in demselben Artikel über die Piéta berichtet.

    Er war von München zurück in seine Heimatstadt Hamburg gezogen, genauer, in die kleine östliche Vorstadt Hamburg Bergedorf, in diese alte Villa mit ruhebedürftigen Nachbarn unter ihm und einem hundebesitzenden Banker samt Gattin und Tochter über ihm. Die ganz normale Kleinbürgeridylle hatte ihn wieder.

    In der nächsten Woche müsste er mal Albert kontaktieren, Albert Wagenbauer. Und was war mit Maria Blumendanck? Sie wohnt in Eppendorf, eine halbe Stunde mit der S- und U-Bahn. Nein nein! Keine Maria mehr! Nicht nach Charlotte. Oder? Vielleicht später. Er schlief ein.

    Kapitel 4

    Hartwig Möller in Münster, 1977

    23 Jahre zuvor, es war das Jahr 1977, hatte es bei Hartwig Möller geklingelt. Es waren zehn Monate nach dem plötzlichen Ableben von Pater Henricius vergangen, was Hartwig Möller aber nicht erfahren hatte, den die katholische Kirche hatte eine Nachrichtensperre erhoben gehabt.

    Energisch machte der ehemalige Soldat, genauer, der ehemalige SS-Mann, die Tür zu seiner Münsteraner Neubau-Wohnung auf. Sie lag in der Nähe des Doms und besaß nur zwei Zimmer, ein Bad mit Toilette und eine kleine Küche, in dem zwei spanische Stühle und ein weiß lackierter Tisch mit einer Resopalplatte standen. Die Stühle hatte er aus Spanien mitgebracht, wo er von 1946 bis 1964 gelebt hatte. Als ihm die Anstellung als Lehrer und Leiter des katholischen Waisenheims „Sonnenland" von guten Freunden, die ihm nach dem Krieg die Flucht nach Spanien ermöglicht hatten, vermittelt wurde, war er nach Deutschland zurückgekehrt, zumal die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ihm mitgeteilt hatte, dass er keine Anklage mehr wegen seines Kriegsdienstes in der Einsatzgruppe befürchten musste, die 1941 bis 1942 im ukrainischen Raum im Sinne der großdeutschen Entjudung tätig gewesen war.

    Möller bat den Besuch in seine Küche. Er hatte ihn erwartet, weil er ihm vom Bischofsamt angekündigt worden war. Eine finanziell besonders wichtige Persönlichkeit, war ihm mitgeteilt worden. „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Richtigen Filterkaffee? Der Stolz auf „richtigen deutschen Kaffee war ihm von seinem Spanienaufenthalt geblieben, obwohl das in Deutschland nun wirklich nichts Besonderes mehr war. Wir sind schnell wieder auf die Beine gekommen, dachte er, schneller als die Spanier und viel schneller als die verdammten Russkis, falls die sich jemals von unserem „Feldzug" erholen würden. Er hatte extra seinen Melitta-Kaffeefilter aus innen geriffeltem Steingut herausgeholt, einen papierenen Filtereinsatz hineingedrückt und mit gemahlenem Kaffee gefüllt. Er musste nur noch den Wasserkessel auf den Herd stellen.

    „Sehr gütig, Herr Möller, aber vielen Dank, nein. Mein Besuch dauert auch nicht lange."

    Hartwig Möller stellte das Melitta-Arrangement in die Spüle, drehte sich zum Tisch herum und setzte sich. An der Wand gegenüber hing ein Bild von Generalíssimo Francisco Franco neben einem Werbeplakat mit dem Adenauer-Mercedes. Er hatte kurze Zeit die hochwertigen Autos der deutschen Luxusmarke in Spanien verkauft, war aber von einem Kameraden aus dem Geschäft gedrängt worden, der als Luftwaffen-Leutnant in der Legion Condor gedient und sich exzellente Kontakte zur spanischen Elite erworben hatte. Das Wichtigste aber: Dem ehemaligen Flieger haftete kein Ludergeruch an, den Möller wegen der „jüdischen Angelegenheiten" intern durchaus nicht los wurde. Jederzeit konnte die DDR Möllers Einsatzgruppen-Vergangenheit öffentlichkeitswirksam aufwärmen, was der Firma Mercedes Daimler-Benz nicht besonders willkommen gewesen wäre.

    „Nun?", fragte er in die entstandene Stille hinein.

    Der Besuch stellte ein eingewickeltes Paket auf den Boden. Hatte wohl vorher noch Einkäufe erledigt, dachte Möller.

    „Sie sind Lehrer", stellte sein Besuch fest und sah sich um. An der Wand neben der Balkontür hing, unter Glas, das Vereinsgebet des Paderborner Bonifatiusvereins, verziert mit dem Kunstdruck des Jesusknaben von Murillo.

    Der Besuch stand auf, stellte sich davor und las halblaut den Text: „Göttlicher Heiland, du hast einst die Kinder in deine Arme geschlossen und sie gesegnet. Lasset die Kleinen zu mir kommen, denn für solche ist das Reich Gottes. Blicke gnädig herab auf die verlassenen Kinder in unserem Vaterlande und schließe sie in Dein göttliches Herz ein, damit sie vor Sünde, Abfall und dem ewigen Verderben bewahrt werden."

    „Sehr hübsch, sagte der Besuch und setzte sich wieder. „Sind Sie Mitglied des Bonifatiusvereins?

    Hartwig Möller nickte. „Äh, ja, bin ich. Ich arbeite mit bei der katholischen Diasporakinderhilfe. Wir tragen mit Mitgliedern aus allen deutschen Gauen die Frohbotschaft in die Nacht des Heidentums und der Kirchenferne, trotz der kommunistischen Glaubensfeinde, die auch in Mitteldeutschland mit Hilfe der bolschewistischen Horden Gewalt ausüben."

    „Sehr brav. In irgendeinem Verein muss man ja aktiv sein, verliert sonst die Übung, oder?"

    Hartwig Möller warf einen schnellen Blick auf sein Gegenüber. Er hatte plötzlich einen kalten Hauch verspürt. Sei auf der Hut, ermahnte er sich im Stillen. Blitzschnell reagieren, das konnte er, das hatte er gelernt. Einmal hatte in Lemberg ein jüdisches Mädchen – bildhübsch im Übrigen, das hatte ihn abgelenkt – versucht, ihm seine Walther aus der Pistolentasche zu reißen. Sie hatte keine Chance, natürlich nicht, er war schneller. Ihr Pech, nicht wahr, dass ihr Tod dann etwas langsamer ausfiel, langsamer als normal. In der Tischschublade unter seinem Stuhl lag jedenfalls seine Astra 400, für alle Fälle, eine spanische Ordonnanzpistole.

    Hartwig Möller nickte. „Ja", sagte er gedankenverloren, fast mechanisch, „man verliert sonst die Übung.

    „Lehrer! Was für ein herrlicher Beruf! Immer mit jungen Leuten um sich herum, das muss schön sein, oder?"

    „Ja, natürlich, antwortete er. „Auch hier gilt natürlich, Übung macht den Meister. Er lachte etwas scheppernd. „In einem Waisenheim ist es freilich etwas schwieriger als sonst."

    „Und Sie sind richtig als Lehrer ausgebildet, nicht wahr?"

    „Ja, aber dann kam der Krieg dazwischen." Verdammt, dachte er, warum muss ich Hornochse immer wieder selber mit dem Krieg anfangen?

    Aber der Besuch schien nichts zu merken und nickte nur. „Und es bringt Ihnen Spaß", fuhr er leichthin fort.

    „Ja, wie ich schon sagte. Es macht wirklich Spaß mit den Kindern, zumal sie ja beide Eltern verloren haben und unserer besonderen Fürsorge bedürfen."

    Was will sein Besuch, fragte er sich. Das Bischofsamt hatte ihm etwas von einem Vertreter einer wohltätigen Einrichtung gesagt, die das Heim unterstütze. Man wolle die Lehrkräfte und speziell den Leiter kennenlernen, hieß es.

    „Das verstehe ich sehr gut, Herr Möller. Sein Gegenüber lächelte entwaffnend. „Und sicherlich macht es Ihnen besonderen Spaß, kleine Mädchen und Jungen zu quälen, oder?

    Hartwig Möller erstarrte. Immer noch dieselbe lächelnde Fratze da drüben auf der anderen Seite seines Resopaltischchens, immer noch sehr höflich.

    „Zumal Sie keine Angst vor Strafen haben müssen, weil, wie Sie richtig anmerkten, beide Elternteile tot sind und nicht mehr dazwischenfahren können." Jetzt war es eine kühle Stimme, beinahe etwas sarkastisch. Diese Art zu sprechen kannte er, die hatte er schließlich selber benutzt, wenn er dem jüdischen Zahnarzt, aus Hamburg deportiert, den Befehl gab, allen deutschen und russischen Juden, bevor sie erledigt wurden, das Gold aus dem Zähnen zu holen. Fiel immer auch ein bisschen für mich ab, erinnerte er sich plötzlich. Kühle Stimme, genau! Die kühle Stimme der Macht. Wer bist du da drüben?

    Die DDR, dachte er plötzlich, Hauptverwaltung Aufklärung, HVA! Einer von Markus Wolfs Schergen! Sitzt hier ganz gemütlich an seinem Küchentisch, verdammt! „Was wollen Sie?", quetschte er heraus und zog langsam die Schublade auf.

    Der Besuch richtete eine Walther P 1 auf ihn. „Hände auf den Tisch!"

    Wohltätige Einrichtung, da kann ich ja nur lachen, dachte Hartwig Möller, mit einer Walther! Er hatte sich überrumpeln lassen. „Schöne Grüße von Markus? Oder sollte ich sagen, von Mischa?", fragte er betont munter.

    „Schöne Grüße von Sonja", antwortete sein Besuch leise. Das Lächeln war endgültig verschwunden.

    Sonja? Wer zum Teufel war Sonja? Er guckte fragend in die Mündung der Walther. Wie häufig hatte in der Ukraine seine Walther gezogen und Gnadenschüsse verteilt? Verdammt, welche Sonja? „Sonja, die russische Partisanin?"

    „Was redet er nur für einen Unsinn, mein kleiner Nazi-Strolch. Sonja Forsmann."

    Ach die! Die kleine Nutte, dachte er. Klar, Sonja, sie sträubte sich immer so nett. „Eine meiner ehemaligen Schülerinnen, sagte er erleichtert. „Meinen Sie die? Wie geht es ihr?

    „Das Opfer eines perversen Kinderfickers."

    Verflucht, es war doch noch nicht vorbei. Woher weiß sein Besuch das mit Sonja? Früher suchte man sich jede Woche die hübschesten Jüdinnen heraus und erschoss sie hinterher. Keine Ansprüche, keine Überraschungen, keine dummen Fragen. Und heute darf man sich nicht mal mehr amüsieren. Man wird sofort von einer Walther bedroht! Schöne Demokratie, das!

    „Ich verstehe Sie nicht ganz, und das tut mir außerordentlich leid, sagte er dann. „Kann ich Ihnen irgendwie sonst noch behilflich sein?

    „Kannst du, ja. Sein Besuch stand auf. „Leg dich langsam auf den Boden, auf deinen dicken Bauch, und streck deine Vergewaltigerpfoten über deinen Hintern.

    Er starrte sein Gegenüber an.

    „Wird´s bald? Oder soll ich erst böse werden?" Sein Besuch kam um den Tisch herum. Ein Schuss zerfetzte hinter ihm Francos rechtes Auge. Der Querschläger heulte durch seine Küche. Erschrocken ließ er sich auf den Boden sinken. Auf dem Bauch liegend sah er die dicken dreckigen verschimmelten Essensreste unter der Spüle, wo der Mülleimer stand, den er manchmal verfehlte, wenn er seinen Teller ausleerte. Er streckte seine Hände über seinem Rücken nach oben, was ihm sichtlich schwer fiel. Eine Schlinge riss sie schmerzhaft zusammen. Mit einem Ruck warf er sich herum auf den Rücken und strampelte wild mit den Beinen gegen seinen Besuch. Der stand schon wieder zwei Meter entfernt, hatte jetzt in der einen Hand das Ende des Stricks, in der anderen die verfluchte Walther und lachte.

    „Sehr witzig, so ohne Hände. Wie wäre es ohne Eier?"

    Sein Gast befestigte den Strick an der Klinke der offenen Tür zum Wohnzimmer. Als Hartwig Möller einen eher albernen Versuch unternahm, mit schräg gestellten Knien auf die Beine zu kommen, wurde die Tür zugeschlagen, so dass er

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