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Die Isar kann sehr nass sein: Kommissar Oberlins letzter Fall
Die Isar kann sehr nass sein: Kommissar Oberlins letzter Fall
Die Isar kann sehr nass sein: Kommissar Oberlins letzter Fall
eBook292 Seiten3 Stunden

Die Isar kann sehr nass sein: Kommissar Oberlins letzter Fall

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Über dieses E-Book

Leopold Oberlin, Hauptkommissar im Münchner Morddezernat, ist seit einem Jahr mehr oder weniger arbeitslos. Ein missglückter Zugriff in einem Fall, der die Öffentlichkeit aufgewühlt hat - und schon ist er auf dem Abstellgleis gelandet. Er begehrt nicht gegen die ungerechte Behandlung auf, sondern zieht sich beleidigt in sein Schneckenhaus zurück. Wie zum Hohn wird ihm auch noch eine Assistentin zugeteilt, die als überfordert und inkompetent gilt. Außerdem ist sie hässlich, was Oberlin in seinem Schönheitsempfinden beleidigt. Um überhaupt irgendetwas zu tun, gräbt er einen alten Fall aus, den er zwar zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst hat, der ihn aber noch immer umtreibt. Und seine angeblich unfähige Assistentin Bernadette macht sich daran, ihn nach Kräften zu unterstützen. Schon nach kurzer Zeit ist eines klar: Nichts ist so, wie es scheint, und der "alte Fall" hält jede Menge lebensgefährliche Wendungen für die beiden bereit.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Nov. 2021
ISBN9783347482203
Die Isar kann sehr nass sein: Kommissar Oberlins letzter Fall
Autor

Hans-Peter Hohmann

Geboren 1948. Wohnort Unterhaching bei München. Gymnasiallehrer im Unruhestand. Nach 40 Berufsjahren endlich in der Lage, Geschriebenes nicht nur mit Rotstift zu bekritteln, sondern Eigenes dem kritischen Urteil der geneigten Leserschaft anzuvertrauen.

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    Buchvorschau

    Die Isar kann sehr nass sein - Hans-Peter Hohmann

    …zwei Jahre zuvor

    Noch ist nichts passiert. Und daran ändert sich vorerst auch nichts. Denn es ist September, irgendein Tag. Ein warmer Tag immerhin, um die Mittagszeit.

    Zwei junge Menschen haben auf einer Bank, die unter hohen Bäumen steht, Platz genommen. Sie liest in einem Buch. Er isst. So weit, so gewöhnlich.

    Doch plötzlich hebt sie den Kopf und schaut ihren Begleiter an. Dann sagt sie:

    „Die Wahrheit kann einen Menschen sehr einsam machen."

    „Äh, von dir?"

    „Leider nicht. Steht hier, habe ich gerade gelesen."

    „Aha. Lass mal sehen. Haruki Murakami. Die Ermordung des Commendatore. Spannend?"

    „Geht so. Manchmal zieht es sich."

    „Na dann."

    „Findest du, dass der Satz stimmt?"

    „Keine Ahnung. Vielleicht schon. Es gibt ja nicht viele, die die Wahrheit vertragen können."

    „Genau. Und wenn du einem was sagst, und dem passt das nicht, ist es schnell aus mit der Freundschaft. Nehmen wir mal dich, zum Beispiel. Du bist richtig fett geworden."

    „Spinnst du? Willst du mich beleidigen?"

    „Ich sage nur die Wahrheit."

    „Die will ich aber nicht hören. Schon gar nicht von dir, du blöde Kuh."

    „Ah, jetzt wird der Satz erklärt. Willst du wenigstens das hören?"

    „Ich dachte, das Buch ist langweilig."

    Manchmal. Manchmal aber auch nicht. Was ist! Willst du, oder willst du nicht?"

    „Na gut, lass schon hören, Nervensäge."

    „Also, die Person will damit sagen, dass man lieber darauf verzichten soll, die Wahrheit herauszufinden, wenn der Schaden, der dadurch angerichtet wird, größer ist als der Nutzen."

    „Klingt irgendwie logisch. Dass ich, ähm, zu fett bin, weiß ich selber. Das musst du mir nicht noch unter die Nase reiben, du mit deiner blöden Wahrheit."

    „Bist du noch sauer?"

    „Schon."

    Sorry. Andererseits, ein bisschen was auf den Rippen, das steht dir. Irgendwie."

    „Du kannst mich mal."

    Eigentlich ist das ja ziemlicher Unsinn."

    „Was?"

    Na, das mit dem Schaden und dem Nutzen."

    „Wieso?"

    „Wenn ich es demnächst als Polizistin mit einem Verbrechen zu tun kriege, dann will ich doch die Wahrheit herausfinden, oder? Wer ist der Täter. Warum hat er…"

    „oder sie!"

    „… ja, meinetwegen, hat er oder sie das Verbrechen begangen. Sowas. Wenn dann der Fall aufgeklärt ist, gibt es doch nur einen Nutzen. Und keinen Schaden."

    „Der Täter hat eindeutig einen Schaden erlitten und keinen Vorteil von der Aufdeckung seiner Tat."

    Und du hast einen Dachschaden. Das ist die Wahrheit."

    „Und du verträgst nicht, dass man dir widerspricht. Das ist auch die Wahrheit."

    „Du hast recht. Aber wenn es um die Wahrheit geht, ertrage ich keinen Widerspruch. Ich will halt immer die Wahrheit wissen."

    „Und wozu soll das gut sein?"

    Ich will Gerechtigkeit, ganz einfach. Zum Beispiel soll jemand, der ein Verbrechen begangen hat, bestraft werden. Damit Gerechtigkeit herrscht, muss die Wahrheit ans Tageslicht kommen. So einfach ist das."

    „Du bist halt eine hoffnungslose Idealistin, Bernie."

    „Und du bist ein Idiot."

    „Was isst'n du da? Thüringer Bratwurst? Lass mich mal abbeißen."

    „He, nicht alles!"

    „Zu spät. Sorry."

    1

    Ein möbliertes Zimmer – Bett, Tisch, zwei Stühle. Ein Schrank, der fast bis zur Decke reicht und der das Nötigste enthält, was man zum Leben braucht.

    Am Fenster ein Ohrensessel aus dunklem Leder, davor ein Beistelltischchen, das hübsche, gedrechselte Beine hat. Das Fenster geht zum Hinterhof, wo es ruhig ist und schattig. Von der Decke baumelt eine Lampe, deren grelles Licht den ganzen Raum ausleuchtet. In einer Nische Bad und Toilette, vom Zimmer durch einen verschlissenen Vorhang abgetrennt.

    Auf der nussbraunen, zerkratzten Holzplatte des Tischchens liegen alte Zeitungen, ein Krimi von Patricia Highsmith, Der talentierte Mister Ripley, und Erzählungen von Ingeborg Bachmann. Dazu ein amtliches Schreiben, geöffnet, und eine Brieftasche. Das Rotweinglas vom Vorabend steht nicht mehr da.

    Er hatte es vorhin gespült und abgetrocknet, in der winzigen Küche, draußen, im Flur, die sich alle Bewohner der Pension teilen. Dann hatte er das Glas zurück in den Schrank zu den zwei anderen gestellt. Die Brieftasche steckte er ein. Jetzt konnte er gehen.

    Frühstücken würde er im kleinen Café Zöttl in der Müllerstraße. Die Frau hinter der Theke, sie hieß Anni, den Nachnamen kannte er nicht, Frau Anni, wie sie angesprochen werden wollte, bediente ihn äußerst zuvorkommend. Sie nannte ihn beim Namen, sobald er die Tür öffnete und eintrat: „Schönen guten Morgen, Herr Oberlin."

    Sie fügte hinzu: „Wie immer?", und als er nickte, erhellte ein Lächeln ihr Gesicht und strahlte in den schummrigen Raum hinein.

    Vor knapp zehn Jahren war er ins Glockenbachviertel gezogen. Das hatte sich inzwischen vom Schmuddeleck der Münchner Innenstadt zur angesagten location gemausert. Nur die Müllerstraße, die streng genommen zur Isar-Vorstadt gehörte, hatte ihren leicht verranzten Charme in die neue Zeit hinübergerettet. Auf seinem täglichen Fußweg ins Zentrum erlebte Oberlin die Häutungen der Stadt so unmittelbar, als vollzögen sie sich an seinem eigenen Leib.

    Nach dem schlichten Frühstück – ein Cappuccino, eine Semmel mit Butter und etwas Erdbeermarmelade, ein Croissant – ließ er sich noch ein wenig durch die Gässchen nördlich der Sendlinger Straße treiben. Mit dem trotz seiner Leibesfülle tänzelnden Schritt, dem hellgrauen Staubmantel, den er auch heute, an einem sonnig-kühlen Märztag, aufgeknöpft trug, mit den graumelierten Haaren, die ihm inzwischen fast wieder auf die Schultern fielen, hätte man ihn eher für einen Flaneur halten können als für einen Beamten, der auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte war.

    Unter dem Mantel war er leger gekleidet: ein alter, unverwüstlicher Lodenjanker, ein kariertes Hemd ohne Krawatte, eine ausgeleierte Jeans. Seine schwarzen Haferlschuhe waren sorgfältig gepflegt. Auf den Gehstock, den er gelegentlich benutzte, wenn der Rücken sein Körpergewicht nicht mehr alleine tragen wollte, hatte er heute verzichtet; er fühlte sich beschwingt, das ruhige Wochenende hatte ihm gutgetan.

    Man erkannte ihn hier und da auf den morgendlich frischen Straßen, ein herzliches „Grüß Gott", ein Winken. Einer älteren Dame half er, ganz Kavalier der alten Schule, über die kaum befahrene Straße – die gute Tat des Tages, dachte er, das konnte er also abhaken.

    Kurz nach acht Uhr dreißig war er fast am Ziel. Er bog in die Ettstraße ein, durchquerte den Hof, wich zwei eiligen Einsatzfahrzeugen aus und betrat das schmutzig-grüne Polizeipräsidium.

    „Tach, Herr Hauptkommissar", begrüßte ihn der Pförtner Ludwig, deutete eine salutierende Geste an und schlug im Geist vielleicht sogar die Hacken zusammen. Oberlin quittierte den Empfang mit einem freundlichen Nicken.

    Gelegentlich, wenn der Gruß besonders zackig ausfiel, ließ er sich zu einem ironischen „Rühren! hinreißen, worauf Ludwig zuverlässig „Danke, Herr Hauptkommissar! Keine besonderen Vorkommnisse! antwortete.

    Oberlin wusste, dass an dieser Stelle, nach dem Passieren der Eingangsloge, der erfreulichste Teil seines Arbeitstages bereits hinter ihm lag. Auf ihn warteten in den endlosen Fluren des Präsidiums nur noch knappe, allenfalls höfliche Begrüßungen, meistens jedoch verlegenes Schweigen oder hastig sich schließende Türen.

    Außer dem Portier wartete nur eine einzige Person auf ihn: seine Assistentin Bernadette Rösler, die ihm erst vor wenigen Wochen zugeteilt worden war. Er hatte nicht darum gebeten, doch eines Tages saß sie da, als er kam, mit durchgestrecktem Rücken und einem wässrigen Blick aus blauen, durch eine groteske Brille unnatürlich vergrößerten Augen.

    Er hatte sie unhöflich begrüßt, daraufhin war sie rot geworden und hätte fast angefangen zu weinen. Sie hatte dann den Kopf gesenkt, so dass er auf ihr struppiges, glanzloses braunes Haar starren musste. Er hatte sich eine Entschuldigung abgerungen, hatte etwas von Überarbeitung gemurmelt, was eine glatte Lüge war.

    Sie hatte währenddessen ein Papiertaschentuch zwischen den Fingern zerkrümelt und anschließend die Teile in ihre Manteltasche gestopft. Dabei war sie erneut feuerrot geworden, nicht zum letzten Mal an jenem belanglosen Tag.

    In der Zwischenzeit hatte er sich an sie gewöhnt, notgedrungen, denn sie erschien jeden Morgen auf die Minute pünktlich und wartete darauf, dass etwas geschah.

    Auch heute saß sie an ihrem penibel aufgeräumten Schreibtisch und schaute ihn erwartungsvoll an, als er den kleinen Raum betrat, in den man ihn abgeschoben hatte. Oberlin seufzte, allerdings nur innerlich, schließlich wollte er die junge Frau nicht schon zu dieser frühen Stunde entmutigen. Sie hatte mehrere Stationen im Präsidium schneller als vorgesehen durchlaufen, denn jedes Mal war sie eiligst weitergereicht worden, „mit wärmsten Empfehlungen", bis sie bei ihm, auf dem Abstellgleis, gelandet war.

    Zwei Entsorgungsfälle, dachte Oberlin und setzte sich auf seinen Stuhl. Der knarzte, sobald der massige Körper des Kommissars mit ihm Kontakt aufgenommen hatte. Drei Entsorgungsfälle, präzisierte Oberlin und musste grinsen. Dieses jämmerliche Kabuff, fensterlos und nur auf verschlungenen Wegen erreichbar – im Vergleich dazu wohnte er in seiner Pension geradezu luxuriös, wenn nicht sogar herrschaftlich.

    „Eine neue Woche liegt vor uns, Bernadette. Was steht an?, fragte er, eine Spur zu forsch, er wusste ja, dass nichts anstand, was sie ihm auch bestätigte: „Nichts, Herr Hauptkommissar. Und nach einer kurzen Pause: „Tut mir leid, Herr Hauptkommissar. Den letzten Satz hatte sie dahingehaucht und war dabei wieder rot geworden, als trüge sie persönlich die Schuld daran, dass erneut kein Kriminalfall den Weg zu ihm gefunden hatte. Sie übergab ihm die Kladde mit den Ein- und Ausgängen. Seit dem Beginn ihrer Zusammenarbeit, falls man ihr untätiges Herumsitzen so nennen konnte, hatte sie Buch geführt. Hatte mit ihrer sorgfältigen Jungmädchenschrift das Datum eingetragen, die Posten „eingehende Fälle und „abgeschlossene Fälle jeweils mit einem zarten Strich markiert, „Keine besonderen Vorkommnisse als Fazit des Tages notiert und eine kringelige Unterschrift daruntergesetzt: Bernadette Rösler, dreiunddreißig Mal, Zeile für Zeile akkurat mit identischem Schriftbild.

    „Danke, Bernadette", antwortete Oberlin und schaute sie prüfend an. Dass es ihr leid tat, ihn jeden Tag wieder enttäuschen zu müssen, war neu. Wollte sie, dass er sich gegen die Missachtung, die ihm widerfuhr, zur Wehr setzte? Wollte sie ihn vielleicht zu einer heroischen Tat anstacheln – das Zimmer des Leitenden Kriminalrats stürmen, eine der herumliegenden Akten mit den unerledigten Fällen an sich reißen, rascheste Aufklärung versprechen – etwas in dieser Richtung?

    „Danke, Bernadette, wiederholte Oberlin, „Sie können jetzt…

    Er wusste für den Bruchteil einer Sekunde nicht weiter, „…äh, jetzt Mittagspause machen."

    Bernadette schaute auf ihre Armbanduhr. Es war acht Uhr fünfundfünfzig. So früh war sie noch nie in die Mittagspause geschickt worden. Bisher hatten sie wenigstens immer ein paar Worte gewechselt. Der Kommissar hatte sie ausgefragt, woher sie komme, was sie zur Polizei geführt habe, ob sie anständig untergebracht sei, ob sie ihre Familie vermisse.

    Smalltalk, nicht mehr, aber sie hatte gewissenhaft Auskunft gegeben. Und sie hatte mit sichtbarer Erleichterung registriert, dass ihr neuer Vorgesetzter, der sechste oder siebte, ein Mindestmaß an Interesse für sie aufbrachte. Offenbar waren ihm inzwischen die Fragen ausgegangen, oder er hatte heute keine Lust auf ein Gespräch.

    Bernadette erhob sich zögernd, ging zur Tür, drehte sich um und schaute noch einmal demonstrativ auf die Uhr. Dann nestelte sie verlegen an ihrem Armband. Sie hoffte vielleicht, dass ihr Chef doch eine Bitte äußerte, einen Wunsch, den sie erfüllen könnte.

    Vielleicht glaubte sie auch, dass er noch ein freundliches Wort für sie übrig haben würde, eine kleine Geste der Zuwendung. Oder wenigstens einen Abschiedsgruß, „Bis später, zum Beispiel, oder „Erholen Sie sich gut!.

    Aber der Kommissar schaute mit leerem Blick auf die vergilbte Tapete an der Wand, die zum Innenhof ging. Da seine Assistentin den Ausgang versperrte, wäre ein Fenster an dieser Wand die einzige Fluchtmöglichkeit gewesen. Doch dieses Fenster gab es nicht. Hier, wo es hätte sein können, lehnte sich eine magere Birke von draußen an das Gebäude. Oberlin wusste das, denn sie war der letzte Baum, der sich dem energischen Entgrünungsprogramm der Direktion widersetzte.

    Wo er, Oberlin, bis vor einem Jahr sein Büro hatte, in der Hansastraße, wurde man vom Grün des angrenzenden Parks fast zugewuchert. Sein Lieblingsbaum, eine libanesische Zeder, ließ ihre Äste in Richtung seines Fensters besonders kräftig austreiben, so dass sie, wenn der Wind ging, zärtlich über die Scheiben zu streifen schienen. Eichhörnchen waren auf den filigranen Zweigen bis zum Fenster balanciert und hatten neugierig die Schreibarbeiten des Kommissars beobachtet. Als Belohnung für diese lobenswerte Aufmerksamkeit hatte Oberlin immer ein paar Nüsse oder getrocknetes Obst auf den Sims gelegt.

    Petrik, sein schreckhafter Assistent, war jedes Mal in Panik geraten, sobald er das Kratzen der Krallen auf dem Holzimitat des Fensterbretts hörte. Um seine empfindsamen Nerven zu schonen, war er irgendwann ins Präsidium gewechselt, wo er seinen wie mit der Axt gezogenen Seitenscheitel nun im Dunstkreis der Eliten spazieren tragen durfte.

    Wenn er jetzt zufällig seinem früheren Vorgesetzten über den Weg lief, bemerkte Oberlin, dass Petriks Gesicht stets von feinen Schweißperlen überzogen war. Die ganze Welt hätte bezeugen können, welch schier unmenschliche Verantwortung der junge Mann auf seinen schmalen Schultern trug.

    Oberlin hatte keine Veranlassung zu schwitzen. Im Gegenteil. Ihn hatte man ja kaltgestellt, er musste keine Verantwortung mehr tragen. Dabei hatte er jahrelang zu den erfolgreichen Ermittlern der Stadt gezählt – gründlich, methodisch sauber, dazu persönlich korrekt, was keine Selbstverständlichkeit war. Ab und zu hatte er geradezu genialisches Gespür bewiesen, bei vertrackten Fällen, die dank seiner unorthodoxen Ansätze gelöst werden konnten.

    Natürlich hatte er keine hundertprozentige Aufklärungsquote vorzuweisen, anders als seine ehemaligen Kollegen Batič und Leitmayr, deren Ruf fast schon legendär war. Die ließen das gemeine Fußvolk allerdings auch spüren, dass sie etwas Besonderes waren, mit geradezu überirdischen Fähigkeiten gesegnet.

    Oberlin hatte das kalt gelassen. „Die einen stehen halt im Licht, und die im Dunkeln sieht man nicht", war sein üblicher Kommentar gewesen, und mehr gab es dazu seiner Meinung nach nicht zu sagen.

    Noch unbeliebter als die zwei „Unzertrennlichen" war nur Meuffels gewesen. Hanns Meuffels bzw. Hanns von Meuffels, aber das „von hatte man ihm schon früh ausgetrieben im Kommissariat. Oberlin hatte sich mit dem „Baron immer gut verstanden. Sie hatten den gleichen trockenen Humor und einen ähnlichen, ironischen Blick auf die Gesellschaft. Und auf Hanns‘ Freundin Constanze hatte auch Oberlin ein Auge geworfen. Aber er hatte keine Chance gesehen, bei ihr landen zu können, also ließ er es sein.

    Seit Hanns mit Constanze nach Hamburg gezogen war, hatte Oberlin ihn nur noch zwei, drei Mal getroffen. Bei diesen seltenen Gelegenheiten hatten sie gewohnheitsmäßig eine Partie Schach im Café Münchner Freiheit gespielt, hatten über dies und das gesprochen, nichts Weltbewegendes.

    Irgendwann war der Kontakt eingeschlafen. Hanns jedoch hätte ihm bestimmt beigestanden, vor einem Jahr, bei jenem verwünschten Fall, dessen desaströsen Ausgang man Oberlin in die Schuhe schob und der letztlich zu seiner Strafversetzung ins Präsidium geführt hatte.

    Der Kommissar blickte um sich. Bernadette hatte den Raum verlassen. Wo ist sie?, dachte er mit leichter Besorgnis. Und warum war sie nicht mehr da? Dann fiel es ihm wieder ein, er selbst hatte sie ja weggeschickt. In die „Mittagspause". Das Wort war ihm spontan eingefallen, aber dass er es ausgesprochen hatte, war mehr als peinlich. Was würde sie jetzt von ihm denken? Sein schlechtes Gewissen rührte sich. Vielleicht könnte er sie ja einladen, überlegte er. Als eine Art Wiedergutmachung.

    Er hatte für heute Abend zwei Opernkarten zurücklegen lassen, Lucia di Lammermoor, im Nationaltheater. Petrenko würde dirigieren, die fabelhafte Diana Damrau gab die Lucia. Er würde Bernadette fragen, ob sie ihn begleiten wollte. Sein Opernfreund Achim hatte gestern, kurz vor Mitternacht, „mit größtem Bedauern abgesagt. Gleich, wenn sie aus ihrer „Mittagspause zurückkam, würde er sie fragen. Falls sie zurückkam. Und falls sie sich überhaupt etwas aus Opern machte.

    2

    Es war spät geworden. Erst kurz nach Mitternacht hatten die letzten Besucher das Nationaltheater verlassen. Die Ovationen für die Stars hatten kein Ende nehmen wollen, also mussten sich auch Oberlin und Bernadette gedulden, bis sie ins Freie hinaustreten konnten. Es hatte geschneit, die Straßen waren glatt.

    Von der oberen Treppenplattform konnte man gut die Verrenkungen der älteren Herrschaften verfolgen, die zur Straßenbahn schlitterten und auf den vereisten Pflastersteinen mehrmals hinzufallen drohten, bis sie endlich in das wartende Fahrzeug eingestiegen waren.

    Oberlin verkniff sich eine süffisante Bemerkung, er fürchtete, Bernadette könnte sie ungnädig aufnehmen. Er schaute zu ihr hinüber. Sie kramte gerade in ihrer Handtasche. Ob es ihr gefallen hatte? Das hätte er gern gewusst. Sie hatte applaudiert, wie man das eben tat, aber nicht so enthusiastisch, wie es die meisten in dem bis auf den letzten Platz gefüllten riesigen Saal zu tun pflegten. Allerdings hatte es auch nicht wie Pflichtapplaus ausgesehen. Ihm hatte die Vorstellung insgesamt gut gefallen. Über gewisse Dinge, die sehr gewöhnungsbedürftigen Regieeinfälle zum Beispiel, musste er noch nachdenken.

    Nachdenken musste er auch über seine Begleiterin. War das die gleiche Person wie jene Frau Rösler, die ihm tagtäglich gegenübersaß und so aussah, als wollte sie jeden Augenblick im Boden versinken? Vor Scham, vor Schüchternheit, vor Bedeutungslosigkeit, was wusste er? Mit ihrer riesigen Brille, ihrer altmodischen Kleidung und mit den glanzlosen braunen Haaren, die zur immer gleichen „Frisur" gebunden waren, wirkte sie wie eine graue Maus, die in ihrer beider Abstellkammer genau am rechten Ort war.

    Nachdem er sich vor Beginn der Vorstellung an der verabredeten Stelle eingefunden hatte, etwas später als ausgemacht, und als weitere zehn Minuten verstrichen waren, wurde er allmählich unruhig, denn er konnte Bernadette nirgends entdecken.

    Dass sie zu spät kommen würde, war eigentlich ausgeschlossen, und inzwischen hatte sich die Schar der Wartenden deutlich ausgedünnt.

    Der schönen jungen Frau, die ein paar Schritte entfernt stand, schien es wie ihm zu gehen. Sie schaute unentwegt in Richtung Straßenbahn, der ihre Begleitung offenbar entsteigen sollte. Mit ihren dunklen, glänzenden Locken und dem bodenlangen schwarzen Kleid, das mit funkelnden Pailletten besetzt war, ähnelte sie der „Königin der Nacht" die er vor zwei Wochen hier im Haus bewundert hatte. Er zögerte, ob er der eleganten Dame ein Kompliment machen sollte, gab sich dann aber doch einen Ruck, trat zu ihr und sagte: „Nur schade, dass heute nicht Die Zauberflöte auf dem Programm steht. Sie hätten die Hauptrolle sicher gehabt."

    Dabei lächelte er verlegen, denn es stand zu befürchten, dass die junge Frau seine Anspielung nicht verstehen würde.

    Sie wandte sich zu ihm um, er erkannte sie, sie ihn ebenfalls. Sie wurde purpurrot und rief aus: „Gott sei Dank, Herr Hauptkommissar, ich dachte schon, ich hätte Sie verpasst!"

    Bernadette – die „Königin der Nacht"! Oberlin konnte nicht fassen, was er da zu sehen bekam. Ihr war kalt, das immerhin bemerkte er, denn sie trug über dem Kleid nur eine dünne Stola um die Schultern. Deshalb schob er seine Assistentin rasch ins Foyer, wo man sie zur Eile mahnte, denn es hatte bereits dreimal geläutet. Das Orchester saß im Graben und wartete nur noch auf Kirill Petrenko, damit das dramma tragico beginnen konnte.

    In den Pausen schwiegen sie – Oberlin, weil es vorläufig nichts zu sagen gab, Bernadette, weil sie, wie er annahm, zu benommen war von den flirrenden Eindrücken, die auf sie einstürzten. Er hatte ihr in der ersten Pause ein Glas Sekt spendiert, an dem sie sich festhielt, weil sie nicht wusste, wohin mit ihren Händen. An der lauwarmen Brause hatte sie nur genippt, und als es Zeit war, wieder in den Saal zu gehen, hatte sie das fast volle Glas auf einem Tischchen abgestellt. Dabei war sie dunkelrot angelaufen.

    Die zweite Pause verbrachte sie größtenteils mit dem Anstehen vor der Toilette, weshalb Oberlin einige Bekannte begrüßte. Friederike Michalek zum Beispiel, eine Freundin seiner Frau, beziehungsweise Ex-Frau, und Inhaberin einer Großbäckerei mit siebzehn Filialen im Stadtgebiet. Sie hatte, wie er wusste, nah am Wasser gebaut und folgerichtig Tränen in den Augen.

    „Du weinst jetzt schon, Fritzi?", fragte er, nachdem er zu ihr getreten war und von einer Parfümwolke eingenebelt wurde.

    „Du kennst mich ja, Leo, antwortete sie und schnäuzte sich kräftig in ein Taschentuch, „ich denke halt das schlimme Ende immer schon mit.

    „Hier hast du noch eine Packung Tempos, du Ärmste. Du wirst sie brauchen", lachte Oberlin, verabschiedete sich und tänzelte weiter durch das Stimmengewirr.

    Von weitem sah er den Polizeipräsidenten, wie immer umringt von einer Schar halb verblühter Verehrerinnen. Er trug Galauniform. Das wäre dem Kommissar nie eingefallen. Er hielt Beruf und Freizeit

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