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Eine Chronik aus dem 20.ten Jahrhundert: Tagesnotizen, Briefe, Erinnerungen ab 1933
Eine Chronik aus dem 20.ten Jahrhundert: Tagesnotizen, Briefe, Erinnerungen ab 1933
Eine Chronik aus dem 20.ten Jahrhundert: Tagesnotizen, Briefe, Erinnerungen ab 1933
eBook352 Seiten4 Stunden

Eine Chronik aus dem 20.ten Jahrhundert: Tagesnotizen, Briefe, Erinnerungen ab 1933

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Über dieses E-Book

Der Lebenslauf eines Mannes vor dem Hintergrund von Ost und West im Deutschland des 20.ten Jahrhunderts wird mit all seinen Höhen und Tiefen wiedergegeben.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum20. Jan. 2015
ISBN9783738692990
Eine Chronik aus dem 20.ten Jahrhundert: Tagesnotizen, Briefe, Erinnerungen ab 1933
Autor

Klaus Klamroth

Es gehört zum guten Ton der Journalisten in allen Medien, den Themen, über die sie berichten oder schreiben ein Gesicht zu geben. Wohlan, hier ist meines und es steht für einen Lebenslauf in Deutschland im 20ten Jahrhundert. Der Spross einer angesehenen Familie aus Halberstadt wird im ersten der 12 Hitlerjahre geboren und mit den Erwartungen und dem Pathos der Nazizeit empfangen. Der Großvater setzt ihn als Erben seines Anteils an der Familienfirma ein. Das Abitur legt er ab als Mitglied der FDJ. Dann wechselt er über West-Berlin nach Hannover in „den Westen“, weil die DDR ihn als Unternehmersohn nicht studieren lässt. Er macht nach dem Ingenieurstudium an der Technischen Universität Berlin Karriere im mittelständigen Maschinen- und Apparatebau und steigt auf in das Management eines amerikanischen Konzerns. Als 1990 die Treuhandanstalt nach Managern sucht, bewirbt er sich und wird Direktor der Niederlassung Halle der Treuhandanstalt. Zur gleichen Zeit lässt er das Firmenvermögen der Familienfirma reprivatisieren, um daraus die Renovierung des denkmalgeschützten Hauses der Großeltern zu finanzieren. Er gerät in den Treuhandskandal und braucht 5 Jahre für seine juristische Rehabilitierung.

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    Buchvorschau

    Eine Chronik aus dem 20.ten Jahrhundert - Klaus Klamroth

    Tatsachen.

    1. Stammhalter

    Eintrag im Elterntagebuch von meinem Vater Kurt Klamroth am 11.11.1933

    „Groß war die Freude, als Du nach einer langen Nacht bangen Wartens und einem Morgen voller Schmerzen endlich 20 min vor 11 Uhr gesund und kräftig Dein Dasein auf dieser Erde begannst. Ein strammer Junge bist Du, wogst beinahe 7 1/2 Pfund und hast einen großen runden Dickkopf mit energisch ausgeprägter Nase.

    Eine ernste Zeit ist es, in die Du hinein geboren wirst. Am 12. November ruft uns der Führer des deutschen Volkes, unser Reichskanzler Adolf Hitler zu der gewaltigsten Kundgebung, die je ein Volk in einen einheitlichem Willen zusammen schloss und die wohl auf Jahre hinaus unsere Politik bestimmen wird, wenn Du, zum Manne gereift, an all den Fragen selbst teilnimmst, die uns jetzt bewegen."

    Damit beginnt meine dokumentarische Biographie. Sexualität lasse ich darin nicht vorkommen, obwohl sie mich in diesem Leben hin und her geworfen hat.

    Darüber zu schreiben fehlen mir der Mut, die Schamlosigkeit und die literarischen Ausdrucksmöglichkeiten.

    Ich schreibe so, wie ich ein Leben lang gearbeitet habe, mit möglichst wenig Schnörkeln.

    Ich bin Linkshänder. Das Verhältnis von Rechts- und Linkshändern in der Normalbevölkerung ist etwa 9 zu 1. Das soll seit zwei Millionen Jahren so sein und hat demnach der Evolution widerstanden, scheint aber trotz aller neurologischen Erkenntnisse nicht einfach zu erklären zu sein.

    Ein möglicher Vorteil, den die Linkshändigkeit bringen könnte, wird auf Linkshänderseiten im Internet betont. Dort hält sich das Gerücht, Linkshänder seien intelligenter als Rechtshänder, aber Wissenschaftler schütteln die Köpfe darüber.

    Meine Mutter Ilse, geborene Loesener schreibt auf als sie 70 wird:

    Schwiegermutter Gertrud hatte uns eine Wohnung in Halberstadt eingerichtet, Möbel aus den Elternhäusern waren zusammen gestellt, ein funkelnagelneues Esszimmer, sehr schön in Mahagoni, war unser ganzer Stolz. Wir hatten als junges Ehepaar vier Zimmer und einen Nebenraum in der schönsten Strasse Halberstadts, mit ein paar Schritten im Grünen und in den Spiegelsbergen, nah am Bismarckplatz und nicht weit von der Innenstadt.

    Kurt hatte ein kleines Anwaltsbüro und sollte hauptsächlich die Familien-Firma J.G. Klamroth juristisch vertreten. Seine Arbeit im Büro füllte Kurt nicht ganz aus, so konnte er die Kultur in Halberstadt mit seiner Musik beeinflussen. Er leitete das collegium musicum, spielte oft Streichquartett und sang im Chor. Leider übersah er oft die Mitmenschen, die ihn freundlich auf der Strasse grüßen wollten, er war immer in Gedanken. Da er seinem älteren Bruder Hans Georg sehr ähnlich sah, bekam dieser oft von Bekannten zu hören, er grüsse sie wohl nicht mehr. Für eine Familie, die von allen Seiten beobachtet wird, war diese Eigenschaft von Kurt nicht gerade förderlich. Kurt nahm eine Stelle als Regierungsrat im Kultusministerium in Berlin an, das neu gegründet worden war.

    Inzwischen war unser Klaus erschienen, und ein Junge, das war etwas für die Familie Klamroth.

    Mein Vater hatte schon als Student begonnen Gedichte zu schreiben. Meine Mutter lernte ihn kennen bei einem Chorbruder der Freiburger Rhenanen, mit dessen Schwester in Berlin sie befreundet war. Kurts musische Vorzüge haben sie beeindruckt, denn ein Tänzer war er zu ihrem Kummer nicht. Und beim Scherz der Freunde „Ilse, was stöhn´sten, Du hast doch den schön´sten, war ein Fünkchen Ironie nicht zu überhören.

    1934 schrieb er für mich: „Meinem Jungen"

    Lerne Lachen, mein Junge!

    Die Höhen des Lebens sind steil.

    Lachend gewinnst Du im Sprunge,

    was keinem Seufzer zuteil.

    Lerne Singen, mein Junge!

    Singen macht frei und weit,

    trägt Dich mit Flügelschwunge

    über der Erde Leid.

    Lerne Beten, mein Junge!

    Über der Erde Weh

    rühmt die eherne Zunge

    der Glocken Gott in der Höh.

    Und lernest Du leiden, Knabe,

    erdulde den Ritterschlag!

    Über dem offenen Grabe,

    ruft Dich der kommende Tag.

    Reife zum Manne in Kämpfen,

    dem keine Not und kein Schlag

    Freude und Sieglust zu dämpfen

    oder zu töten vermag.

    Mein Vater ist 1927 an der Universität Göttingen promoviert worden mit einer Dissertation über „Staat und Nation bei Paul de Lagarde", der, 1891 verstorben, Kulturphilosoph und Mitglied der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften war, und veröffentlichte die Arbeit als Beitrag zur Geschichte der politischen Ideenlehre im 19. Jahrhundert.

    Drei Monate vor mir war eine Cousine zur Welt gekommen und wuchs in der oberen Etage des Großelternhauses in der Familie des älteren Bruders meines Vaters auf. Das war eine andere Welt im gleichen Hause am Bismarckplatz. Unten und oben hielten Abstand von einander, man traf sich gelegentlich in der ersten Etage, die sich die Jungen oben und die Akten unten geteilt hatten. Die breite und sehr schön getäfelte Treppe, die von dort nach unten zu den Wohnräumen meiner Großeltern führte, durften die Enkel nur an Sonnund Feiertagen benutzen. Ob man als Mädchen an vierter Stelle mit zwei großen Schwestern und einem sieben Jahre älteren Bruder oder als erstgeborener Junge seinen Lebensweg beginnt, macht einen Unterschied. Ich hatte deshalb nicht mit dem Schicksal zu hadern.

    An dieser Stelle ist schon alles beisammen, was mich, vielleicht auch pränatal, am Anfang geprägt haben kann. Am zweiten Weihnachtstag wurde ich in der Liebfrauenkirche in Halberstadt getauft. In dieser Kirche sind viele meiner Vorfahren konfirmiert und getraut worden.

    Großvater Kurt Klamroth am Brunnen im Garten seines Hauses am Bismarckplatz in Halberstadt mit den Enkeln des Jahres 1933

    Mein Vater sprach nach der Taufe von dem Ringwall der Paten, die mich behüten möchten. Da sind die beiden Großmütter dicht bei mir, die beiden Onkel etwas weiter entfernt, Hans

    Georg und Walter, der ältere Bruder meiner Mutter, vorgesehen, mich später in das Arbeits- und Berufsleben einzuführen. Die Brücke zu anderen nahe stehenden Menschen sollten zwei Freunde der Eltern schlagen.

    Meine Eltern hatten im Jahr darauf in Berlin - Lankwitz in der Gluckstrasse ein Reihenhaus gefunden. Es hatte drei Stockwerke und eine Wendeltreppe, die meine Mutter erst etwas ängstlich machte, weil ich nun ein Krabbelkind war. Jenseits der Strasse vor dem Haus fuhren die Züge der Deutschen Reichsbahn.

    Das muss unüberhörbar gewesen sein, aber im zweiten Lebensjahr eines Jungen macht das den Wohnort interessanter. In der ersten Zeit nach dem Umzug blieb ich noch bei den Großeltern in Halberstadt am Bismarckplatz, denen ich mit „meinem lieben, schelmischen Wesen viel Freude gemacht haben soll".... Aber ich sei ein kleiner Quirl und nicht lange bei einer Sache zu halten, schreibt mir mein Vater Weihnachten 1934 ins Kindertagebuch. Bis zum 12. Lebensjahr hatte ich häufig und ab 1943 für längere Zeit dieses Privileg unter allen Enkeln, direkt bei meinen Großeltern zu wohnen und durfte dort auch täglich die Sonntagstreppe herunter gehen.

    Im Sommer 1935 kam gesund und kräftig mein Bruder Lutz dazu. Die Eltern hatten nun Anna Prause, die als Hausmädchen bei uns lebte, zur Hilfe. Sie liebte uns Jungens abgöttisch und wir sie auch.

    Mein Vater Kurt schreibt am 26.10.1935 in das Kindertagebuch:

    unser Klausemann hat sich zu einem strammen, gesunden Bengel entwickelt. In Haus und Küche weiß er ganz genau Bescheid, am liebsten fegt er mit dem Besen, wischt Staub oder rührt mit dem Löffel im Topf. Dagegen ist er körperlich ein kleiner Tollpatsch, er wird wohl noch manches lernen müssen, bis er so ist, wie unser Führer Adolf Hitler sich die deutschen Jungens wünscht: flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl. Da müssen Vater und Mutter aufpassen, dass er nicht allzu sehr verwöhnt wird, sondern bald lernt, hart mit sich zu sein, und Mut und körperliche Gewandtheit zu entwickeln. Aber wir müssen bedenken, dass unser Großer ja einstweilen man noch ein recht kleiner Kleiner ist, der zwar einen gewaltigen Dickkopf hat, aber auch einen recht lieben, goldigen Kindskopf.

    Meine Mutter schreibt am Montag, 28. April 1941 in mein Tagebuch :

    Du schreibst, mein Klaus, Du kannst schon eigene Karten und Briefe schreiben und tust das auch ganz gern. Wir leben noch immer im Krieg, und Du bist auch gar nicht dafür, dass er bald beendet sein möge, Deine Splitterkiste ist Dir noch nicht voll genug, trotz Deiner 150 Granatsplitter. Selbst ein echt englischer Bombensplitter ist dabei. Im Radio hörst Du abends mit Begeisterung die Frontberichte, auch alle Sondermeldungen begeistern Dich mit uns. Ich denke daher, Du wirst Die großen Heldentaten unserer Wehrmacht immer im Gedächtnis behalten. Unser Großer liest sogar schon Zeitung. Eines Tages, als ich mit den beiden Kleinen in Wernigerode war, unterhält sich Klaus mit seinem Vater am Frühstückstisch:

    Klaus: „Vati, bald werden die Engländer wohl kaputt sein. Vati, „wieso?

    Klaus: „Na, mit unserem neuen Bomber Focke Wulf."

    Vati: „Woher weißt Du das" ?

    Klaus: „Mensch, hast Du das denn nicht in der Zeitung gelesen"?

    2. Kriegskind

    Nach den Erinnerungen meiner Muter hatte mein Vater oft Ärger im Ministerium. Dort hatten die Parteigenossen mehr und mehr das Sagen und verlangten von den Juristen, Erlasse zu schreiben, die nicht zu vertreten waren. Sein oberster Vorgesetzter und Minister Bernhard Rust trat bereits 1922 der NSDAP bei.

    Am 2. Februar 1933 wurde er kommissarischer preußischer Kultusminister und 1934, als das Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung gebildet wurde, in Personalunion Reichsminister. Er war damit völlig überfordert, verfiel dem Alkohol und überließ den Funktionären das Feld. Die machten den Beamten preußischer Prägung in seinem Ministerium die Arbeit zur Qual.

    Die Eltern bekamen die Miete für das Einfamilienhaus von den Großeltern Klamroth bezahlt, sonst wäre der Haushaltsetat überfordert gewesen. Da es keine Luxusartikel mehr gab, man hausbacken kochte und die Grundnahrungsmittel sehr billig waren, kamen wir über die Runden. Für die Kleinkinder wurde alles selbst gekocht. Möhrensaft und jedes Breichen mühselig selber hergestellt, Windeln gewaschen und nicht so oft die Wäsche gewechselt, das sparte einiges.

    Im Februar 1939 kam mein Bruder Hans Gottfried auf die Welt. Nun war die Mutter reichlich ausgefüllt mit drei kleinen Jungen, alle gesund und lebhaft.

    Für die größer gewordene Familie wünschte sich mein Vater ein eigenes Haus. Er bat seinen Vater um sein Erbteil und fand in Berlin Lichterfelde Ost eine Siedlung, in der gerade mehrere Einfamilienhäuser gebaut wurden. Dort kaufte er eines davon am Resselsteig 18 mit kleinem Garten. Es waren unten in dem Haus drei Räume, Terrasse, Küche und Gästeklo, darüber eine Etage mit vier Schlafzimmern, eins für die Eltern, zwei für die Kinder und eins für Anna, das Hausmädchen. Dazu ein Badezimmer und im Keller war ein Luftschutzraum für Fliegerangriffe eingerichtet. Die Diele war so geräumig, dass ein Esstisch hinein passte.

    Dort hing auch das Bild des Führers Adolf Hitler.

    Ich sehe noch den Patenonkel Hans Georg im Garten dieses Hauses in Offiziersuniform vor mir stehen. Daneben meinen Vater, der zu seinem Bruder aufblickte, wie er das immer getan hatte, obwohl er doch hier der Hausherr war. „Kannst Du schon eine Decke richtig zusammenlegen", fragte er und ich ärgerte mich über diese herabsetzende Frage an einen Achtjährigen. Es ist das die einzige persönliche Erinnerung an ihn, den ich später aus den Spuren, die er im Unternehmen J.G. Klamroth hinterlassen hat, als tüchtigen Kaufmann und investitionsfreudigen Unternehmer wahrnahm, bevor alles zu Grunde ging.

    Ich sehe aber auch noch heute ein älteres Ehepaar vor mir, auf dem Wege zur Bushaltestelle in unserem Viertel, beide unübersehbar gezeichnet mit dem knallgelben Judenstern. Die sahen mich freundlich an, was mit der grellen Warnung so gar nicht zusammen passte.

    Mein Vater schreibt am 19. April 1942 in mein Kindertagebuch:

    Ein recht gewaltiges Jahr war es wieder, an dem Du in Deinem Jungensleben auf Deine Weise Anteil nehmen konntest. Etwa vor einem Jahr erlebten wir den Einmarsch unserer Truppen in Griechenland und Jugoslawien, es folgten die Tage, in denen Kreta durch unsere tapferen Fallschirmjäger genommen wurde. Und dann kam der schicksalhafte Tag, an dem die Nachricht kam, dass der Krieg nunmehr auch über die russische Grenze hinweg in das weite Russland getragen wurde. Wieder hast Du oft mit uns am Radio die gewaltigen Siegesmeldungen gehört, die von den großen Umfassungsschlachten berichteten. Du hast Dir sogar ein Formular für Sondermeldungen entworfen, in dem Du die Zahl der Gefangenen, der vernichteten Panzer, erbeuteten Geschütze auf führtest. Allerdings glaubten wir wohl alle nicht, dass der Krieg im Osten so furchtbar schwer und blutig sein würde und uns diesen schweren Winter bereiten würde.

    In Deinem eigenen Kinderleben trat durch die Geburt unserer lieben Annegert eine wichtige Veränderung ein. Da kam der Augenblick, wo Lutz und Du in Wernigerode zum ersten Mal Euer Schwesterchen besehen konntet. Als die Sommerferien um waren, kamst Du zu mir nach Berlin und dort in die Schule zurück, während Mutti, Friedel und Annegert noch in Wernigerode blieben.

    Meine Mutter schreibt im Juni 1943 in mein Tagebuch :

    Nun habe ich doch schon manchmal einen vernünftigen, verständigen Sohn, der recht helfen kann. Er bastelt sehr geschickt. Schiffe und Tanks, Flugzeuge aus Papierbogen hast Du geklebt.

    Wenn etwas entzwei ist, kann man Klaus schon anstellen, es wieder ganz zu machen.

    Nur eines ist lästig, seine große Ungeduld, dann geht es mit ihm durch und das Gebrüll durch das Haus ist schlimm.

    Vati hat Freude an Dir, da Du vor einem Jahr Klavierspielen gelernt hast. Du spielst leicht und mit geschickten Händen.

    Deine größte Sehnsucht ist jetzt, Pimpf zu werden und Fanfare zu blasen. Dein großer Freundeskreis hier ist Dir treu geblieben, immer ist der Garten bevölkert mit Jungen jeden Alters, die mit Dir spielen wollen.

    Leider haben Dir die schweren Fliegerangriffe geschadet. Du bist nervös und ängstlich und sobald die Sirene ertönt hellwach. Auch in Halberstadt, wo Du zwei Monate wieder bei den Großeltern warst, brauchtest Du lange Zeit, heimisch zu werden, alles Wirkungen der bösen Zeit, in der wir leben.

    Eine Freundin meiner Mutter beschreibt im August 1943 einen Bombenangriff auf Berlin:

    „Kurz vor Mitternacht holte mich die Sirene aus abgrundtiefem Schlaf, dass ich mit wankenden Knien in die Kleider fuhr. Wir gingen in unseren Luftschutzkeller. Vorläufig war kaum etwas los. So ging es eine halbe Stunde und wir dachten alle schon beruhigt, es sei wieder ein Alarm wie die letzten in Berlin, wo kaum ein Schuss fiel. Dann aber tobte die Hölle los. Pausenlos war die Luft vom Geheul der herab sausenden Bomben und Phosphorkanister erfüllt. Bei jedem Einschlag bebte das Haus. Man hatte ununterbrochen das Gefühl, dass sich das alles unmittelbar über dem eigenen Keller abspielte und erwartete ständig den Volltreffer. Während der ganzen Zeit wurde kaum ein Wort gesprochen, weil alle nur dem infernalischen Brausen in der Luft lauschten. Ich hatte eine barbarische Angst. Endlich, endlich, ließ es etwas nach und die Luftschutzwarte meldeten uns, dass der Seitenflügel unserer Schule in hellen Flammen stünde. Beim Löschen kamen sie nicht weit. Die Phosphorkanister schlagen bis zum Boden durch und sind nicht zu bekämpfen.

    Zudem gab es kein Wasser mehr. Auch das Licht war nach den ersten Angriffsminuten ausgegangen und wir saßen bei Kerzenstümpfen. Um halb drei Uhr war der Höllenzauber vorbei und wir konnten wieder zurück in unsere Wohnung. Von den vielen Bränden war es taghell. Ruß und Funken zogen in dichten Schwaden durch die Luft. Das Haus war wie durch ein Wunder unversehrt."

    Ich erinnere mich:

    In der Nähe unseres Hauses in Berlin Lichterfelde Ost stand ein großer Luftschutzbunker, einer der Klötze, die man vereinzelt noch wie Fossilien in unseren Städten stehen sieht. Da hinein rannten wir fast jede Nacht, wenn die Sirenen wieder heulten und brauchten etwa Fünf Minuten für den Weg dorthin. Dieses schauderhafte Geräusch und die damit aufkommende Angst habe ich noch heute in den Ohren und im Magen.

    Die Zuflucht war bitter nötig, ganze Bombenteppiche fielen ab 1943 auch auf die Vororte von Berlin. Oft verlor unser Hausdach durch den Luftdruck Ziegel und hatte große Lücken. Fensterscheiben waren zersprungen und wir waren trotz allem erleichtert, dass das Haus keinen Treffer erwischt hatte. Beim Aufräumen und Ausbessern der Schäden konnte ich schon mithelfen, was mich dann wieder stolz machte.

    Und das war ich auch, wenn ich einen besonders großen Bombensplitter gefunden hatte und meinen Schulkameraden zeigen konnte.

    Bald sprach man öffentlich von „Evakuierung", Frauen und Kinder sollten Berlin und die gefährdeten Großstädte verlassen, jedem war klar geworden, dass die deutsche Luftwaffe die Hoheit über dem Heimatland verloren hatte. Die Eltern entschlossen sich zur Trennung. Mein Vater blieb in Berlin, meine Mutter zog mit den drei Geschwistern im August 1943 nach Wernigerode am Harz zu ihren Eltern und ich zu den Großeltern nach Halberstadt. Dort absolvierte ich die vierte Grundschulklasse und kam dann auf das ehrwürdige Halberstädter Domgymnasium, das schon der Vater und der Großvater besucht hatten. Den Klavierunterricht wollte ich aber nicht wieder aufnehmen. Ich lernte nun das Geigenspielen, das mein Vater so gut beherrschte, war aber weit davon entfernt, es ihm jemals nachtun zu können. Dann bekam ich einen Geburtstagswunsch erfüllt und das erste kleine Akkordeon. Das war ein Instrument, mit dem ich mich schnell befreunden und bald mit Volksliedern glänzen konnte.

    Daneben hatten es mir die Fanfarenbläser des Jungvolks angetan, aber dafür war ich noch zu jung.

    Am 6. März 1943 bekam mein Vater einen Brief des Gaupersonalamtes der NASDAP Berlin in der Herman-Göring-Str.14, Hauptstelle „Führernachwuchs":

    „von der zuständigen Volksschule erhalten wir die Mitteilung, dass Ihr Sohn gegebenenfalls für die Oberschule der Reichsschule Feldafing der NSDAP in Frage kommt. Bevor wir hierzu eingehend Stellung nehmen, bitten wir Sie, Ihren Sohn mit den letzten drei Schulzeugnissen zu einer Vormusterung zur Gauleitung der NSDAP zu schicken. Mein Vater vermerkt auf dem Schreiben drei Tage später „ablehnend beantwortet. Auch in Halberstadt hatten zwei Abgesandte der Partei wenig später mit dem gleichen Anliegen den Großvater aufgesucht und sich eine Abfuhr abgeholt.

    Den 20. Juli 1944, der für die große Familie nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Adolf Hitler zum Schicksalstag wurde, erlebte ich in Wernigerode bei der Mutter, ihren Eltern, die wir Opa und Oma nannten, und den Geschwistern. Mein Bruder Lutz hatte Geburtstag. Weil ich schon als Kind gerne die Nachrichten verfolgte, hörte ich die Sondermeldung vom Sprengstoffanschlag im Führerhauptquartier. Mir fuhr der Schrecken durch Mark und Bein. Ich war ja ein Schüler, der bis dahin im so genannten gesunden deutschen Volksempfinden aufgewachsen war. Vom Opa bekam ich einen Rüffel, als ich Näheres zu den Umständen des Attentats wissen wollte, Kinder hatten sich da heraus zu halten.

    Hin und wieder hatten sich meine Eltern gestritten über die politische Einordnung von Geschehnissen und manchmal übersehen, dass ich dabei war.

    Die Mutter äußerst skeptisch und abschätzig über die braune Gesinnungsflut, die bald alles überspült hatte, der Vater idealistisch und immer noch an Blut und Boden glaubend. Mit zehn Jahren konnte ich nicht Partei ergreifen. Nach dem 20. Juli 1944 sprach in meiner Gegenwart dann niemand mehr über Politik.

    Heute weiß ich, dass sich unter den Offizieren im Besprechungsraum, in dem Graf von Stauffenberg den Sprengstoff explodieren ließ, mit Generalfeldmarschall Keitel ein angeheirateter Nachkomme der Familie Tölke aus Halberstadt befand. Seine Frau Lisa Keitel, war Enkelin von Carl Tölke, dessen jüngste Schwester Bertha mein viermaliger Urgroßvater Ludwig Klamroth am 30. Juni 1835 geheiratet hatte. Generaloberst Schmundt, der Adjutant des Führers war ein Vetter meiner Mutter, der Sohn der Schwester ihrer Mutter. Keitel überlebte und unterschrieb danach die Todesurteile der Militärgerichtsbarkeit. Schmundt starb Tage später und erhielt ein Staatsbegräbnis.

    Mein Patenonkel Hans Georg, dem Mitwisserschaft an der Verschwörung vorgeworfen wurde, wurde vor das Freislersche Volksgericht gestellt und im August 1944 hingerichtet. Mein Vater wurde in das berüchtigte Strafbataillon Dirlewanger gesteckt, eine Truppe, die ursprünglich aus Kriminellen zusammengestellt, dann mit Insassen aus Konzentrationslagern aufgefüllt und hauptsächlich als Kanonenfutter gedacht war. Mein Großvater versank nach dem 20. Juli 1944 in Demenz. Meine Cousine Wibke Bruhns hat in „Meines Vaters Land", herausgegeben im Econ Verlag 2004, beschrieben, wie unser Land und unsere Familie dieses Schicksal mit heraufbeschworen hat.

    Wieder zurück bei den Großeltern in Halberstadt gab es nur Schweigen über das, was geschehen war.

    In das Domgymnasiums von Halberstadt ging der ein Jahr ältere Alexander Kluge, aber 1945 war er Pennäler wie alle anderen auch und erlebte den Schulalltag in der Vorharzstadt wie Generationen vor uns, trotz des Krieges, bis am Sonntag, am 8. April 1945 eine britische Bomberflotte Halberstadt am helllichten Tag in Schutt und Asche legte. Er hat 1977 darüber geschrieben und seinen Bericht im Suhrkamp Verlag unter dem Titel „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 veröffentlicht. Es war ein Terrorangriff im Sinne des Wortes, ausgeführt, als der Krieg längst entschieden war. Er löschte die Stadt zu über zwei Dritteln aus. Dieses Ereignis hat die Menschen weit über die Stadt hinaus erschüttert und bewegt, so abgestumpft und fatalistisch sie auch nach dem über zwei jährigen Bombardement auf die deutsche Zivilbevölkerung schon waren.

    .

    Es war ein Sonntag, ein strahlender Frühlingstag, ich war wie häufig am Wochenende bei meiner Mutter und meinen Geschwistern in Wernigerode.

    Plötzlich erschienen am Himmel Geschwader von feindlichen Bombern, die über uns hinweg

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