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Irgendwie nach Westen: Von Breslau nach Frankfurt
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Irgendwie nach Westen: Von Breslau nach Frankfurt
eBook356 Seiten4 Stunden

Irgendwie nach Westen: Von Breslau nach Frankfurt

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Über dieses E-Book

Aus der Heimat zu flüchten, aus dem angestammten Lebensumfeld vertrieben zu werden – rund 14 Millionen Deutsche mussten diese Erfahrung am Ende des Zweiten Weltkriegs machen. Dabei wurden monatelang Durchhalteparolen ausgegeben und der Rückzug in sicheres Gebiet verboten.

Die „Große Flucht“ begann im Oktober 1944 und wurde im Januar und Februar 1945 auch in Schlesien zu einer Massenbewegung, die Tausende in den Tod führte. Vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen versuchten sich bei eisigen Temperaturen in Sicherheit zu bringen.

Ulrich Leuschner beschreibt mit fundiertem historischen Hintergrundwissen in beeindruckender Weise die Fluchterlebnisse und jahrelange Heimatlosigkeit der Familie Loschwitz. Er schildert nüchtern und zugleich leidenschaftlich die Erlebnisse des jungen Georg Loschwitz. Das Leben im eigenen Land erweist sich als fremd, die Unwissenheit über den Verbleib der restlichen Familienmitglieder belastet das Familienleben. Vater, Onkel und andere Verwandte, die nicht rechtzeitig fliehen können, hat der junge Loschwitz nie wiedergesehen. Nach jahrelanger Flucht findet die Familie in Frankfurt am Main 1950 eine neue Heimat. Die Zeit von Trümmern, Hunger und Not nimmt dennoch erst im Oktober 1952, fast acht Jahre nach dem Weggang aus Breslau, mit einer eigenen Wohnung ein vorläufiges Ende. Endlich waren sie im Westen angekommen.
SpracheDeutsch
HerausgeberHenrich
Erscheinungsdatum10. Nov. 2013
ISBN9783943407181
Irgendwie nach Westen: Von Breslau nach Frankfurt

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    Buchvorschau

    Irgendwie nach Westen - Ulrich Leuschner

    Ulrich Leuschner

    IRGENDWIE

    NACH WESTEN

    von Breslau

    nach Frankfurt

    Erzählung

    Irgendwie nach Westen

    von Breslau nach Frankfurt

    ISBN 978-3-943407-18-1

    © 2013 Henrich Editionen, Frankfurt am Main

    eBook 01/2013

    Alle Rechte vorbehalten.Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Lektor: Balthasar Haußmann

    Gesamtherstellung und Verlag:

    Henrich Druck + Medien GmbH, Frankfurt am Main

    Layout: Saskia Burghardt, Sabine Wendt

    Titel-Foto: @ James Homer, gettyimages

    www.henrich-editionen.de

    Logo_Henrich_Editionen

    An Vergangenem rühren –

    ein Auge verlieren.

    Vergangenes vergessen –

    beide Augen verlieren.

    Russisches Sprichwort nach Alexander Solschenizyn,

    „Der Archipel Gulag"

    Nicht die Stimme ist es,

    die der Erzählung gebietet.

    Es ist das Ohr.

    Italo Calvino,

    „Die unsichtbaren Städte"

    Gewidmet den

    tapferen Frauen der Familie

    Bevor ich erzähle

    Ich erzähle hier die Geschichte einer vormals weitverzweigten Familie, wie sie mir berichtet wurde. Manche äußeren Umstände und Ereignisse mögen dabei einer kritischen Prüfung vielleicht nicht standhalten, aber das interessiert mich nicht. Für die Fa­milie ist die Wahrheit das, was, und vor allem, wie sie es erlebt hat. Auch sei daran erinnert, dass es kein Erzählen ohne gleichzeitige Interpretation gibt, und Interpretieren ist immer etwas Subjektives.

    Damit meine Erzählung aber nicht im historisch leeren Raum steht, habe ich an wenigen Stellen versucht, die zeitgeschichtlichen Hintergründe anhand moderner Quellen zu skizzieren, keinesfalls ausführlich darzulegen oder gar zu diskutieren. Verwendet wurden dabei ausschließlich Quellen, die von Historikern, Politikern und von Augenzeugen stammen, deren Aussagen als verlässlich gelten. Viele Details aus dem belagerten Breslau habe ich der von Horst G.W. Gleiss im Natura und Patria Verlag, Wedel (Holstein), 1986 erschienenen Dokumentensammlung „Apokalypse Breslau 1945 entnommen, die Berichte über die Eroberung des schlesischen Kreises Namslau den Aufzeichnungen von G. Röchling, Dr. E. Heinrich und G. Zolker, publiziert im „Namslauer Heimatruf Nr. 35, 36 und 69, 1951. Wenige Informationen allgemeiner Art, die in eigenen Worten in den Text integriert wurden, stammen aus „Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Band 1, erschienen 2004 (dtv), und „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bände 1 – 10/2, erschienen 1979 – 2008 (DVA). Hinweise auf das Schicksal der 609. ID (Infanteriedivision) finden sich unter http://www.lexikon-der-wehrmacht.de und in dem genannten Werk von Horst Gleiss. Der ganz überwiegende Teil des Textes über die Kriegsereignisse stammt aber vom Erzähler. Da er mir die Geschichte in der Ich-Form berichtet hat, gebe ich sie auch so wieder. Die im Familienbesitz befindlichen Briefe und Dokumente wurden unverändert wiedergegeben. Alle Namen, mit Ausnahme der der Divisions- und Regimentskommandeure, wurden geändert.

    Frankfurt am Main, Frühjahr 2013

    Prolog

    Am 6. Dezember 2001 stürmte morgens ein heftiger Wind, ­während die Nacht und der Vortag ruhig waren. Mich erreichte der Anruf meiner Schwester, meiner Mutter ginge es nicht gut. Sie habe früh aufstehen wollen, um mit ihrer polnischen Hilfe zu frühstücken, habe sich dann aber wieder hingelegt, da sie noch müde sei. Als ich ankam, hatte sich der heftige Wind ­gerade gelegt, es herrschte Windstille. Alles war still, kein Geräusch. Meine Mutter war tot, sie musste soeben gestorben sein. Nachmittags setzte der Wind wieder heftig ein und blies und stürmte den ganzen Tag und die ganze Nacht.

    Breslau 1945, eine Flucht ins Ungewisse

    „Ich heiße Lisa Loschwitz, bin aus Breslau, Gabitzstraße 136, ich heiße Georg Loschwitz, bin aus Breslau, Gabitzstraße 136, ich heiße Barbara Loschwitz, bin aus Breslau, Gabitzstraße 136". Nochmal, nochmal, und nochmal, bis ihrs könnt, könnt ihrs jetzt, dann kanns ja losgehen. Sicherheitshalber hatten wir alle noch ein Schildchen um den Hals gehängt und unter den Mantel gestopft bekommen, auf dem die genaue Adresse stand. Und falls einer von euch verloren geht, was natürlich überhaupt nicht zu erwarten ist, dann zurück in die Gabitzstraße.

    Wir nickten. Wir sagten nichts, was sollten wir auch sagen. Meine Mutter schnallte sich einen grünen Rucksack mit ein paar Lebensmitteln um, nahm den kleinen Koffer in die rechte und meine Schwester Barbara mit ihrer Büchertasche an die linke Hand. Mein Vater trug Lisa, die auf dem glatten Schnee nur ausgerutscht wäre, und den großen Koffer. Ich hatte meine Bücher­tasche auf dem Rücken und hielt mich rechts an meiner großen Schwester fest. Meine Mutter schloss die Wohnung sorgfältig ab, wir gingen die paar Stufen zur Straße hinab, und dann sollte es losgehen. Viele Jahre später schrieb meine Mutter mit zittriger Schrift in ein dünnes Schulheft, das nicht mehr als vierzehn Seiten hatte und den Titel „Unsere Flucht trug: „Und so ging ich mit Euch dreien mit Angst, wehem Herzen und Tränen einer ungewissen Zukunft entgegen. So begann am 19.1.45 unsere Flucht. Die Fluchtroute hatten wir vorher abgesprochen.

    Die Straßenbahn überfüllt, Menschen mit Koffern, Kindern, verschnürten Bündeln, Rucksäcken und Pappkartons. Manche Leute hatten sogar Bettzeug mit. Irgendetwas Neues, völlig Unbekanntes, vor allem aber Unsicheres schien sich zu entwickeln. Wir flüchteten also vor den Russen, wo waren sie denn, was wollten sie von uns, würden sie uns umbringen, vielleicht in die Oder schmeißen?

    Wir fuhren bis zur Gartenstraße, verließen die Bahn und liefen Richtung Freiburger Bahnhof, von dem die Züge Breslau in Richtung Riesengebirge verließen. Der Bahnhofsvorplatz war voller Menschen, Leiterwagen, voll mit Fluchtgepäck, Schlitten, Kinderwagen mit ihren zerbrechlichen Rädern. Mädchen vom BDM, Frauen vom Roten Kreuz und der NSV versuchten mit Bahnbeamten vergeblich Ordnung zu halten. Hinter uns, am Nikolaistadtgraben, zogen vereinzelte hochbeladene Bauernwagen eines Flüchtlingstrecks, die wohl auf der Gräbschener den Anschluss an ihr Dorf suchten. Die Temperatur betrug dreizehn Grad unter Null. Der Frost zwickte mir in die Nase, und meine Finger waren kalt.

    In der Vorhalle blökten die Lautsprecher, dass es keinen Grund zur Aufregung gäbe, alles sei nur eine vorübergehende Notmaßnahme, man könne bald wieder nach Breslau zurück. Ruhe bewahren. Dann kam schon wieder die nächste Durchsage, die man wegen des allgemeinen Lärms aber nicht verstand. Mein großer Vater bahnte uns einen Weg durch die Menge. Jetzt nur nicht Barbaras Hand verlieren, nicht loslassen. Abgedrängt, gestoßen und wieder zusammengeschoben kamen wir alle gemeinsam an der Sperre an, vor der sich Militärpolizei postiert hatte, die meinen Vater, der damals gerade Oberfähnrich geworden war und die Uniform im langen graugrünen Militärmantel trug, sofort herauswinkte. Im Gedränge gab es keine Zeit für eine Verabschiedung, eine Umarmung war nicht möglich, er bückte sich nicht zu mir herunter, um mir vielleicht noch etwas zu sagen, wir konnten gerade mal mit der Hand winken und uns etwas zurufen, was im allgemeinem Lärm und den kreischenden Durchsagen aber unterging, dann wurde ich durch die Sperre gewirbelt, richtig gedreht, vorne sah ich den grünen Rucksack meiner Mutter, hinterher, nicht aus den Augen verlieren. Und so sah ich nur, dass mein Vater die Hand hob und die Lippen bewegte.

    Wir gelangten auf den ebenso überfüllten Perron. Zwischen herumrennenden, heulenden Kindern, aufgeregten Müttern und vor sich hin stierenden Alten, die aber wohl alle nicht ins Riesengebirge nach Jannowitz wollten, sie wollten vielleicht nach Görlitz, nach Chemnitz oder Dresden, wurden wir zu einem bereitstehenden Zug geschleust und in einen Waggon geschoben, in dem wir noch Platz fanden. Da ich damals mit meinen sechseinhalb Jahren noch klein war, erlebte ich alles nur in der Unterwelt, zwischen Koffern, abgestellten Kinderwagen, Kartons, Hosenbeinen und dunklen Wintermänteln, die mich manchmal turmhoch überragten und nur gelegentlich einen kleinen Ausschnitt des Bahnsteigdaches freigaben. Das Dach war verglast und ließ in der Mitte der Gleise einen Streifen Himmel frei. Beim Einsteigen, erzählte mir später Barbara, die drei Jahre älter war und somit auch größer, habe sie weit hinten an der Bahnsteigsperre noch mal die Brillengläser meines Vaters aufblitzen sehen, ich habe nichts gesehen.

    Das schmächtige Pflichtjahrmädchen Erna blieb in ihrer BDM-Uniform mit Ali, unserem Hund, vor dem Wagen stehen. Meine Mutter fragte sie noch, ob sie nicht schnell nach Hause laufen, ein paar Sachen einpacken und mit uns mitkommen möchte. So bald würde der Zug nicht abfahren. Zuerst kämen sicher die Flüchtlingszüge nach Westen dran, unserer sei ja ein regulärer ins Riesengebirge, der müsse sicherlich warten. Sie würde alle entstehenden Kosten übernehmen. Erna wollte in Breslau bleiben, bei den Eltern. Bevor sie, Ali an der Leine hinter sich herziehend, in der Menge untertauchte, drehte sie sich nochmal um, hob den Arm und winkte uns lange zu, dann war sie verschwunden. Sie blieb in Breslau, erlebte die Belagerung und Besetzung durch die Russen und erlitt unter den Polen ein schreckliches Schicksal.

    Der überfüllte Zug sollte den Freiburger Bahnhof gegen Mittag verlassen. Am Abend, als es schon lange dunkel war, setzte er sich endlich langsam, fast unmerklich in Bewegung. Als er eine Nahtstelle zwischen den Schienen passierte, machte es klack, ­wieder klack, klack-klack, dann rumpelte er langsam über eine Weiche, einige Masten glitten am Fenster vorbei, und kaum dachten wir, jetzt geht es los, blieben wir mit leise quietschenden Bremsen stehen.

    Wegen der Feindflieger funzelten von der Decke nur zwei oder drei blaue Lampen. Aus der Wagenmitte drang das Murmeln einiger Leute, die sich unterhielten, die man im Dämmerlicht aber nicht sah. Sonst herrschte Totenstille. Mein Vater, Erna und Ali warteten fünf Stunden bis zur Abfahrt des Zuges an der Sperre. Dann dachte er, wir seien auf der Fahrt nach Jannowitz zu Tante und Onkel Rüdiger, in die Sicherheit, drehte sich um, bahnte sich einen Rückweg durch die ständig anwachsende Menge und verließ die Station.

    Wieder dauerte es eine Ewigkeit bis sich der Zug in Bewegung setzte. Keine Trillerpfeife vom Bahnbeamten, kein schriller Pfiff der Lokomotive, noch nicht mal das angestrengte Puffen des Dampfes aus dem Schornstein der Lokomotive war zu hören. Wir trieben einfach davon, völlig lautlos, wie ein Floß, das sich unmerklich vom Ufer gelöst hat und der Strömung folgte. Wir kreuzten einige Bahngleise, die Lohewiesen, wo Walli, unser früheres Dienstmädchen, seit einigen Tagen Panzergräben schippte, und glitten in die dunkle Nacht hinaus. Die ganze Stadt war ver­dunkelt, die schweren Schatten plumper Gebäude lagen wie lauernde Ungeheuer neben dem Bahndamm in der schwarzen Nacht. Darüber das matte Licht des nächtlichen Himmels. Der Zug schleppte sich durch das verschneite Land. An den Fenstern liefen ­Wassertropfen herunter, man konnte sie mit dem Finger aufhalten. Ließ man sie ihren Weg ziehen, dann verschwanden sie im Fensterschlitz neben dem Lederriemen. Ich zählte die Löcher im Riemen, es waren acht. Wenn man es geschickt anstellte, ließen sich die Tropfen sogar mit der Fingerspitze in die Bahn eines ­anderen überleiten, um dann gemeinsam im Fensterschlitz zu verschwinden. Wir hielten auf freier Strecke. In der Tiefe des ­Wagens fragte jemand, wo wir sind, Stille, dann ging es weiter. Am Bahndamm erkannte man grauen Schnee. Ich war müde und schloss die Augen.

    Nach langsamer Fahrt hielt der Zug erneut. Kein Haus, nur Bäume. Auf einer schmalen Rampe, wohl ein Bahnsteig, stand das verschneite Schild „Jannowitz". Wir rafften unser Gepäck zusammen und kämpften uns aus dem überfüllten Wagen nach draußen. Es war eiskalt. Der Perron des kleinen unbedachten Bahnhofs war leer, niemand war mit uns ausgestiegen. Meine Mutter nahm uns bei der Hand und wir gingen in das Bahnhofsgebäude, sie fragte einen Mann mit Bahneruniform, wo das Haus Waldheim der Familie Rüdiger sei. Er wusste es nicht. Wir könnten aber unweit vom Bahnhof in einem kleinen Hotel übernachten. Es war kurz vor Mitternacht. Der Mond färbte den Schnee blau, der unter unseren Schritten knarrte. Wir waren ganz alleine, nichts rührte sich, noch nicht mal ein Windhauch war zu spüren.

    Meine Mutter schrieb mit unsicherer Schrift in ihren spärlichen Notizen: „Wir vier waren die Einzigen, die in Jannowitz aus dem Zug stiegen. Es war dreiundzwanzig Uhr und wir waren so allein, so ausgestoßen, wir hatten kein zu Hause mehr. Da war er wieder, dieser schmerzhafte, dumpfe Druck in der Herzgegend, den ich schon beim Abschied von zu Hause spürte. Es war eine eisig kalte Nacht, als wir uns auf den Weg zum Gasthof machten. Alles war so still und dunkel."

    Der bescheidene Gasthof, den man nach wenigen Gehminuten erreichte, stand linker Hand vom Bahnhofstor unter großen Bäumen, wie der Ort überhaupt wohl nur aus verstreut stehenden Häusern zu bestehen schien. Denn nirgends sah man ein Haus, einen Hof, kein einziges Licht, nur schwarze Baumstämme und verschneite Büsche. Wir wurden von der Wirtin in einen ungeheizten Saal oder eine Art Turnhalle geführt, wo etwa hundert vermummte Personen auf dem Boden lagen und schliefen. Keiner kümmerte sich um uns Neuankömmlinge, alle lagen wie tot zwischen ihrem Gepäck auf der Erde. Die Wirtin gab uns ein Feldbett. Wir stellten unsere Koffer und Taschen ab, sanken erschöpft auf die Liege und schliefen trotz eisiger Kälte sofort ein. „Im Gasthof gab es zum Schlafen nur nackte Holzpritschen und den Fußboden in einem ungeheizten großen Raum. Wir bekamen jeder eine Decke. Ihr legtet Euch in völliger Kleidung hin und schlieft gleich ein. Ich zog meinen Pelzmantel aus und hüllte Lisa darin ein. Ich saß die ganze Nacht weinend auf der Pritsche und fror fürch­terlich."

    „Feldpost, H. Loschwitz, Breslau, Bahnhofstr. 51. An Frau Käthe Loschwitz bei Stadtbaumeister Hermann Rüdiger, 8 Jannowitz i. Riesengebirge, „Haus Waldheim. (8) Breslau 1, 22.1.45-16. Br. 21.1.45. ... Mir fiel ein Stein vom Herzen, als Euer Zug abfuhr. Kein Fliegeralarm! Erna und ich sind nach Hause gelaufen, weil keine Straßenbahn mehr kam. Unterwegs erfuhren wir, dass alles, was zu Fuß gehen kann, die Stadt nach Westen u. Süden verlassen soll. Wie gut, dass wir alles vorbereitet hatten u. Ihr fort ward. Aber was sollte mit den Eltern werden? Sie sind beide geblieben. Sie können doch bei der Kälte nicht auf die Landstraße. Ich war nach Eurer Abfahrt bei Deiner Mutter, dann auf dem Gen. Kdo, wo man mir sagte, ich müsse sofort nach Bln. Um 9 Uhr abds. lief ich zu Elli, wo ich die Eltern ver­mutete. Haus geschlossen. Küßchen den Kindern. PS: „Danke Gott, dass Du draußen bist. Tinka ist beim Opa. – Ich konnte nicht mehr abfahren. Bin in Rosenthal.

    Er sollte nämlich nach Berlin zur Schulung, aber es klappte nicht, er musste in Breslau bleiben.

    Die Familie

    Über die Familie Loschwitz weiß ich nur wenig Eigenes zu be­richten, da ich im Jahre 1945, als ich meinen Vater und die Großeltern zum letzten Mal sah, gerade mal sechs Jahre alt war, und sich unsere Familie nach dem Krieg im Westen Deutschlands auseinandergerissen wiederfand. Keiner besaß ein eigenes Auto, die Eisenbahn war viel zu teuer, und die Großeltern wurden auch immer älter und konnten beschwerliche Reisen nicht mehr auf sich nehmen.

    Mein Vater, Gustav Fritz Heinrich, geboren im Dezember 1905 in der schlesischen Kleinstadt Striegau, wurde in der Familie nur Heini genannt. Sein jüngerer Bruder hieß Heinrich Oskar Fritz, geboren im Juli 1908 in Stettin. Er wurde Fritz genannt. Viel Phantasie hatte seine Mutter also nicht gehabt, und die Schwester, sie war die Mittlere, hieß Anna Maria Elisabeth, bei uns Tante Elli, geboren im Juni 1907 in Breslau.

    Heini, Fritz und Elli waren die Kinder von Karl Heinrich Oskar Fritz Loschwitz, Spediteur, geboren 1873 in Oels bei Breslau, und seiner Ehefrau Maria Margarete Kruse, ohne Beruf, katholisch, geboren 1872 in Hagen in Westfalen. Die Hochzeit fand 1905 in der Lutherkirche zu Breslau statt, die die deutsche Wehrmacht genau vierzig Jahre später wegen ihrer kompakten neugotischen Bauweise erst nach dem dritten Versuch in die Luft zu sprengen vermochte. So stark war damals noch die Kirche. Die Ur- und Urur-Großeltern der Kruse-Linie stammen alle aus Westfalen, und alle waren katholisch. Loschwitzes dagegen waren alle evangelisch.

    Großvater Loschwitz war zeitweise erfolgreicher Spediteur, zeitweise nicht. Von 1914 bis 1918 kämpfte er in Russland für Kaiser und Reich, anschließend bei Annaberg gegen Polen, diesmal mehr für Schlesien, als das wiedergeborene Polen die Beschlüsse von Versailles und auch die Abstimmung des Jahres 1921 mit Gewalt zu seinen Gunsten verändern wollte. Die Wallfahrtskirche St. Anna in Annaberg galt damals als besonderes Symbol schlesischen Selbstbehauptungswillens, und Großvater Loschwitz gehörte damit zu den tapferen Rückeroberern des besetzten Heiligtums.

    Schon vor seinem Einsatz auf dem Annaberg erhielt Groß­vater Fritz als Vizefeldwebel des Preußischen Grenadierregiments „König Wilhelm III. (2. Schles.) Nr. 11, 2. Kompanie, eine Dienst­auszeichnung II. Klasse und von Generalleutnant von Friedeburg das schlesische Bewährungsabzeichen, den „Schlesischen Adler, Stufe I und II, einen schwarzen Adler mit silbergefassten Flügeln, dem liegenden silbernen schlesischen Halbmond auf der Brust und in den Krallen den Spruch „Für Schlesien. 1921 hatte er aber wohl von Weimar und Annaberg endgültig genug und quittierte den Dienst. Aber auch der Führer Adolf Hitler hat sich nicht lumpen lassen: „Im Namen des Führers und Reichskanzlers. Dem Spediteur Fritz Loschwitz in Breslau ist auf Grund der Verordnung vom 13. Juli 1934 zur Erinnerung an den Weltkrieg 1914/1918 das von dem Reichspräsidenten Generalfeldmarschall von Hindenburg gestiftete Ehrenkreuz für Kriegsteilnehmer verliehen worden. Breslau, den 21 März 1935, Der Polizeipräsident. Denn schließlich war Hitler ja selbst sehr stolz auf seine Kriegsteil­nahme und das einsame Bonbon an seiner Jacke und hoffte durch den Ordenssegen eine ihm geneigte Solidargemeinschaft und eine historische Kontinuität zwischen Kaiserreich und Drittem Reich zu schaffen.

    Das Leben eines Kriegsmannes war sicher angenehmer als das eines Spediteurs, und so kam es bald, wie es kommen musste, das Unternehmen machte pleite, was bei der herrschenden Geldentwertung aber wohl niemandem weiter auffiel, außer den Betroffenen. Schuld war natürlich der Hauptverwalter, ein Jude, der schon viele Jahre, auch während des Krieges und der drei polnischen Aufstände, den Betrieb geleitet hatte. Er hatte ihn zugrunde gerichtet. Kein Zweifel. Maria Margarete und Mitarbeiter waren zwar anderer Ansicht, Großvater Fritz hätte einfach verpasst, den Pferdebetrieb auf die sich damals rasant entwickelnde Motorisierung umzustellen, aber nein, er hatte ja den Polen den Annaberg abnehmen müssen! Die Zeit sei an ihm vorübergegangen, und das blieb dann auch die offizielle Familienmeinung, der sich schließlich auch der Gardefüsilier beugte.

    Die beliebtesten Ausflüge führten die meisten Breslauer natürlich ins Riesengebirge, nach Bad Warmbrunn, nach Krummhübel, und wenn man zufällig in der Nähe war, fuhren Loschwitzes zum Stadtbaumeister Hermann Rüdiger und seiner Ehefrau Helene nach Jannowitz, unweit von Hirschberg. Helene war die Schwester unserer Großmutter Maria Loschwitz. Rüdigers waren, wie es in der Familie hieß, steinreich. Als Stadtbaumeister hat Hermann geplant, gebaut und verdient, und in irgendeiner Stadt soll es eine Straße gegeben haben, die nicht nur seinen Namen trug, sondern die er auch besaß. Konnte Hermann Fritzens sterbendes Fuhrunternehmen nicht vielleicht noch retten? Und tatsächlich, Schwager Hermann war großzügig, er half. Eine kräftige Geldspritze führte nochmal zum Aufflackern des Speditionsbetriebes, dann zerrann Fritz der Goldsegen schnell wieder zwischen den Fingern, und die Firma ging mit wehenden Fahnen endgültig unter. Das Geld war weg, einfach futsch. Seitdem sprachen Hermann und Fritz nie wieder ein Wort miteinander und haben sich zeit­lebens auch nicht mehr gesehen. Besuche in der Villa Waldheim verschwanden zwischen den Seiten der Familienchronik.

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    Als mein Vater und meine Mutter sich zum ersten Mal trafen, war Heinrich noch mittellos. Da man sich aber bald verlobte, bat Käthe ihren Vater, einen Konditor, um finanzielle Unterstützung, die ihr natürlich gewährt wurde. Von Loschwitzes kam nichts. Da mein künftiger Vater aus einer gerade nicht liquiden Familie stammte, kam auch nach der Hochzeit, als das Einkommen des jungen Assessors noch dürftig war, alles vom Schwiegervater. Aber nicht nur diese finanzielle, sondern wohl auch andere materielle Unterstützung hielt das junge Paar und die beiden Familien damals zusammen. Kam man abends vom Tanzen, von Einladungen oder Theaterbesuchen zurück, so schlich man sich schnell noch in Konditorvater Wilhelms Backstube, sammelte Streusel, Plätzchen und vom Tage übriggebliebene Tortenstücke zusammen, wickelte sie rasch in schönes weißes Papier und brachte sie zu Loschwitzes in die Marienstraße 4. Natürlich zu Fuß, so sparte man das Geld für die Elektrische.

    Man muss sagen, dass die Schwiegereltern Loschwitz der jungen Schwiegertochter mit Zurückhaltung begegneten, denn schließlich entstammte sie ja nur einer Handwerkerfamilie, die in den Wirren der Nachkriegszeit und in der Inflation zu Geld gekommen war, wo doch alle anderen ihr Geld verloren hatten! Das kennt man ja, na ja! Opa und Oma berührte das wenig, wahrscheinlich wussten sie es gar nicht, denn eines Tages packten sie selber große Kuchenpakete und legten sie im Geschäft an prominenter Stelle aus, sodass die allabendlichen Abholer sie keinesfalls übersehen und sofort in die Marienstraße liefern konnten. Um der Wahrheit Genüge zu tun, muss man einräumen, dass der Konditor und seine Frau den ehemaligen Spediteur und sein Eheweib für Bankrotteure hielten, die nicht mal in der Lage waren, ihr Fuhrunternehmen anständig über die Inflation zu retten. Da muss man eben mal bisschen arbeiten! Und so kam man gut miteinander aus. Der Bankrotteur mit dem einfachen Inflationsgewinnler.

    Gegen Mitternacht war die Marienstraße erreicht, leise wurde die Wohnungstür geöffnet, da ging auch schon im Schlafzimmer das Licht an. Maria Loschwitz saß aufrecht und erwartungsvoll im Bett, das hat heute aber lange gedauert, konntet ihr nicht etwas eher kommen, empfing das Kuchenpaket mit größter Selbstverständlichkeit, öffnete es gleich und begann zu essen. Heini, bring´ mir doch bitte noch die Kuchengabel, es ist doch schade um die vielen Krümel. Kann man denn Kuchen nicht mit weniger Krümeln backen. Früher ging das doch auch. Bäckersleute konnten ja doch ganz nette Leute sein.

    39811.jpg

    Meiner Geburtsurkunde ist zu entnehmen, daß von der Käthe Elsbeth Loschwitz, geborene Hellner, am 17. Juni 1938 um 5 1/2 Uhr ein Knabe geboren worden sei. Das war ich, der Erzähler. Beinahe wäre ich aber gar nicht geboren worden. Jedenfalls nicht in der Stormstraße. Denn als die schwangere Käthe die Wehen spürte und feststellte, dass außer dem ältlichen Dienstmädchen Ida niemand im Hause war, machte sie sich zu Fuß ins Elisabethen-Krankenhaus in der Gräbschener Straße auf und informierte den diensttuenden Arzt. Dort wurde sie aber nicht für ernst genommen. Mit dem Hinweis: Gute Frau, das dauert noch ein paar Tage, gehen Sie ruhig nach Hause, trat sie den Heimweg an. Zu Hause verlangte die Natur ihr Recht. Nur unser oben erwähntes Dienstmädchen und meine Schwester Barbara waren in der Wohnung. Ida musste in aller Eile eine Hebamme in der Stormstraße 2 alarmieren, und ich war da. Am 7. September des Jahres unterzeichnete der Standesbeamte meine Geburtsurkunde. Damit hatte ich offiziell meinen Namen, Georg Fritz Heinrich, und ich war vollwertiges Mitglied des Deutschen Reichsvolkes. Damals hieß nämlich alles „Reichs", zum Beispiel Reichsjägermeister, womit der Reichsmarschall Hermann Göring und nicht etwa das Schnäpschen gemeint war, es gab einen Reichsjugendführer, eine Reichsklaviergroßmutter, das war des Führers Adolf Hitlers Lieblings­pianistin Elly Ney, und bald auch eine Reichskristallnacht, von der ich allerdings nichts mitbekommen sollte. Nur drei Monate vor meiner Geburt als Reichsjunge hatte der Führer Deutschland um seine alte treue Heimat Österreich vergrößert, sie lechzte danach, nachdem ihr die Versailler Siegermächte den Anschluss zweimal verboten hatten, und sechzehn Wochen später würde er das gleiche mit dem Sudetenland tun. Das war zwar nicht seine Heimat, und als er es wieder abgeben musste, musste er auch unsere damalige Wohnung in der Stormstraße abgeben, das heißt das, was von ihr noch übrig war, nämlich ein kleiner rauchender Trümmerhaufen. Seit der vollständigen Zerstörung am Ende des Krieges stehen dort nun sozialistische Plattenbauten, schäbige Tankstellen und verkommene Industriegebäude. Das Pflaster auf der kreuzenden Gräbschener Straße ist holprig, die Straßenbahnschienen sind eingesunken oder buckeln sich himmelwärts, die Elektrische schüttelt ihre Fahrgäste jaulend auf ausgeleierten Gleisen von rechts nach links und von oben nach unten.

    Mit meinen goldenen Engelslocken und meinem Milchbauch verbrachte ich die ersten Wochen wie üblich zwischen Elternarmen, Kinderbett und Kinderwagen. Ich erinnere mich nur, dass mich meine Schwester Barbara Elisabeth, die schon im Juni 1935 geboren, dann wie ich in der Trinitatiskirche getauft worden war und somit einen erheblichen Erfahrungsvorsprung hatte, mit ihren großen dunklen Augen über den Kinderwagenrand begut­achtete, und dass es mir äußerst unangenehm war, wenn beim Einkaufen andere Mütter in meinen Kinderwagen blickten und entzückt ausriefen: „Ach wie ist die Kleine süß, und schon so wunderschöne blonde Locken. Hat sie die schon mit auf die Welt gebracht?" Warum merkten sie nicht, dass ich ein Junge war, ein echter Reichsjunge, warum sagten sie nicht, dass ich wie ein kleiner Cherub aussah, wie ein echter germanischer Held, zumindest wie ein heranwachsender Kreuzritter aus dem Bilderbuch?

    Im Dezember 1939 wurde meine zweite Schwester Lisa Maria in der Privatklinik von Dr. Burkstein in der Oranienstraße geboren und in der Johanniskirche getauft. Jetzt war ich also von einer älteren und einer jüngeren Schwester umrahmt. Mädchen hatten in unserer Familie zwei Vornamen, ich als Junge aber drei. Fritz und Heinrich hieß in unserer Familie jeder, Tradition, Tradition. Wilhelm, wie mein Opa mütterlicherseits hieß, klang den Namensgebern zu altmodisch, und Georg war eine Art Notlösung, da sich der Familienrat nicht einig wurde. Aber irgendwas Modernes sollte der Junge schon haben. Die Familie war jetzt fünfköpfig, und da meine Mutter kein Interesse am Mutterkreuz am weiß-blauen Bande hatte, wurde die Produktion eingestellt, obwohl doch der Führer diesen Gebärverdienstorden gerade in Lisas Geburtsjahr gestiftet hatte und meine Mutter beim nächsten Kind zumindest Anwärterin gewesen wäre. Dazu kam jetzt noch Walli Kohl aus Jungfernsee, unser neues Dienstmädchen, und wir zogen in die Gabitzstraße 136, schräg gegenüber der Kürassierkaserne. Im März 1939 hatten wir gerade das Protektorat Böhmen und Mähren gegründet, und am 6. Oktober des ersten Kriegsjahres gab sich auch Polen dem Führer geschlagen.

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