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Die unendliche Lust am Leben: Aus dem Briefwechsel meiner Mutter 1925–85
Die unendliche Lust am Leben: Aus dem Briefwechsel meiner Mutter 1925–85
Die unendliche Lust am Leben: Aus dem Briefwechsel meiner Mutter 1925–85
eBook544 Seiten7 Stunden

Die unendliche Lust am Leben: Aus dem Briefwechsel meiner Mutter 1925–85

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Über dieses E-Book

Ihre Kindheit in gutbürgerlichen Verhältnissen war geprägt vom Kaiserreich und dem Ersten Weltkrieg. Die Weimarer Republik eröffnete ihr neue persönliche Freiheiten sowie die Chance, Chemie zu studieren. Während des Dritten Reiches brachte sie vier Kinder zur Welt und verlor ihren Ehemann in Stalingrad. Die sowjetische Besatzungsmacht erzwang die Enteignung der Textilfabrik, den Verlust des Wohnhauses und des Vermögens. In der DDR ernährte sie ihre sechsköpfige Familie als Straßenbahnschaffnerin und Taxifahrerin in Dresden und litt unter der flächendeckenden Überwachung der Stasi. Am Ende klang ihr Leben in relativer Behaglichkeit in der Bundesrepublik aus, wo sie 1985 starb.

In Renate Böttgers Briefen spiegelt sich das von Katastrophen geprägte 20. Jahrhundert: zwei Weltkriege und fünf verschiedene politische Systeme, die sich jeweils konträr zu den vorangegangenen definierten. Die umwälzenden zeitgeschichtlichen Ereignisse und ihre unbändige Lebenslust aller Widrigkeiten zum Trotz prägen diesen Briefwechsel. Ihr außergewöhnlicher Schreibstil macht die Lektüre dieser Dokumente, sorgfältig von ihrer Tochter Barbara Böttger editiert, zu einem großartigen Leseerlebnis, die die Zeitläufte in einem ganz besonderen Licht erscheinen lässt.
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum31. Jan. 2024
ISBN9783910732193
Die unendliche Lust am Leben: Aus dem Briefwechsel meiner Mutter 1925–85

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    Buchvorschau

    Die unendliche Lust am Leben - Barbara Böttger

    Prolog

    Kurz vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches habe ich mein Leben ein zweites Mal geschenkt bekommen. Hätte sich der Bruder meiner Mutter Renate durchgesetzt, wäre es mir so ergangen wie seinen fünf Kindern. In der Nacht vor dem Einmarsch sowjetischer Soldaten tötete Joachim Römer seine gesamte Familie und sich selbst. Diese Katastrophe hatte ich als dunkles, unerklärliches Ereignis in meiner Erinnerung abgelegt. Erst ein halbes Jahrhundert später, nachdem meine Mutter gestorben war und uns Kartons voller Briefe hinterlassen hatte, erfuhr ich, dass mein Onkel auch ihr geraten hatte, seinem Beispiel zu folgen. Und ich fragte mich, wie sie dem damals allgegenwärtigen destruktiven Sog der Nazielite hat widerstehen können. Die Lektüre dieser handschriftlichen Quellen, im Moment des Geschehens rückhaltlos offen geschrieben, hat mich in die Seele einer Frau blicken lassen, die ich so noch nicht kannte.

    Großenhain bei Dresden, März 1945: Die Rote Armee hatte die Oder überquert und drang unaufhaltsam nach Westen vor, die Amerikaner marschierten ostwärts und standen kurz vor der Elbe, die sächsische Kleinstadt befand sich also genau zwischen den Fronten. Folgender Brief von Herta Römer, der Ehefrau von Joachim an meine Mutter, bezeugt ihre Gefühlslage unmittelbar vor der Ankunft der sowjetischen Truppen:

    »Endlich komme ich dazu, Dir innig für die beiden süßen Kleider zu danken, die vor einer Woche wohlbehalten hier ankamen. Es ist doch heute so, dass man alle Liebe doppelt tief und dankbar empfindet. Angesichts von Tod und Untergang lebt man tausendmal intensiver mit allen Gefühlsregungen. Wie gern würde ich mal wieder mit Dir zusammensitzen und all die vielen Dinge besprechen, die einen in bange Zweifel stürzen. Vielleicht, vielleicht ist es noch mal möglich, wenn nicht, werden wir aufrecht sterben und uns nicht läppisch ans Leben klammern, wenn es nur Schande, Schmerz, Schmach und Quälerei sein kann. (…) Joachim sagt, es hat keinen Zweck, alles Flüchtlingselend auf sich zu nehmen. Der Rest der Bevölkerung, im westlichen Deutschland zusammengedrängt, verhungert dort ohne weiteres. Die anderen kommen durch die Bolschewisten und amerikanische Bomben um.«

    In den frühen Morgenstunden des 22. April 1945 erschoss der SS-Obersturmführer Joachim Römer acht Menschen, seine fünf Kinder, seine Frau Herta und deren Mutter, seine Privatsekretärin und zuletzt sich selbst. Die zweite derartige Tragödie in unserer Familie ereignete sich am 8. Mai 1945, jenem Tag, an dem Deutschland die Kapitulationsurkunde unterzeichnete. Diesmal betraf es Renates Schwester. Als in Sachsdorf, einem kleinen Ort in der Nähe von Meißen, der Kanonendonner der anrückenden Roten Armee eine regelrechte Panikstimmung auslöste, richtete Joachims Freund, der Wissenschaftler Hermann Locke seine Pistole auf seine Frau Gerda, sein drei Monate altes Baby und dann auf sich. Auch bei Renates jüngerem Bruder Eberhart hatte Joachim Römer die Begeisterung für die nationalsozialistische Ideologie entfacht. Als stolzes Mitglied von Hitlers Leibstandarte hatte der 22jährige Frankreich erobern wollen, stürzte jedoch in einem gepanzerten Fahrzeug auf einer Brücke in Metz in die Mosel. Beide Brüder hatten sich dem grassierenden nationalistischen Wahn ergeben, aber auch ihre Schwester Gerda war aus Angst vor den Folgen einer Niederlage mit Mann und Kind bereit, ihr Leben zu beenden.

    Renate behielt als einzige der Geschwister ihren Lebensmut. Sie hatte versucht, Joachim davon zu überzeugen, dass er zwar über sein eigenes Lebensende entscheiden könne, aber kein Recht habe, ein solches Urteil über seine unmündigen Kinder zu fällen. Sie bot ihm an, gemeinsam mit einer Cousine seine fünf Kinder zusätzlich zu den eigenen vier zu übernehmen – und das in schweren Kriegszeiten. Vergeblich. »Wir müssen leben, beide, eines um des anderen willen«, schrieb sie ihrer verzweifelten Mutter Hildegard. Diese fand Trost in ihrem Glauben, Renate orientierte sich eher an der Philosophie der Stoiker als an christlichen Lehren.

    Dieses Geschehen am Ende des Zweiten Weltkrieges war ein besonders tragisches Kapitel im Leben von Renate, in dem sich glückliche Zeiten mit schwierigsten Phasen abwechseln. Auf der Suche nach unserer Vergangenheit habe ich mich zuerst mit meinen Vorfahren mütterlicher- und väterlicherseits beschäftigt, die beide über mehrere Generationen hinweg Textilunternehmen im Rheinland und in Sachsen besaßen. Für diesen Erzählstrang gibt es hervorragende private und öffentliche Quellen. So erregte zum Beispiel die verrückte Begebenheit, dass ein Großonkel wegen einer Liebesaffäre auf einer Asienreise drei Fabriken der Römers in die Insolvenz getrieben hatte, meine Fantasie. Wie konnte das geschehen? Mithilfe von Briefen, Zeitzeugenberichten und Archivmaterialien entstand schließlich ein Dokumentarfilm¹, der sowohl die Familiengeschichte als auch die Entwicklung der Textilindustrie behandelt. Wir stießen dabei u. a. auf eine verfallende hochherrschaftliche Villa, ein stattliches Wohnhaus mit neuen Bewohnern und filmten ein umgebautes Werk mit einem neuen Eigentümer. Erst während der Montage dieses Films wurde mir bewusst, dass ich eigentlich einen Film über meine Mutter gedreht hatte.

    Was für ein Mensch ist Renate gewesen? Eine selbstbewusste Dame aus großbürgerlichen Verhältnissen, die sich nach dem Verlust ihres Vermögens nicht zu fein war, fremde Leute in einem volkseigenen Taxi herumzukutschieren und, wenn nötig, den reparaturanfälligen Wagen mit ölverschmierten Händen wieder zum Laufen zu bringen. Eine Frau, die Zeit ihres Lebens von Männern umschwärmt war, nach dem Tod ihres Ehemannes nicht mehr geheiratet und uns vier Kinder unter schwersten Bedingungen allein durchgebracht hat. Noch auf ihrem Sterbebett bat sie mich, ihr die Liebesbriefe eines Mannes vorzulesen, der sie seit ihrer Studienzeit verehrt hatte.² Ein außergewöhnlicher Mensch, der sich die »entsetzliche Lust am Leben« nie hat nehmen lassen und andere damit angesteckt hat. Eine Schulfreundin, die später am Bauhaus in Weimar studierte, schrieb ihr einmal: «Du hast mich reich gemacht mit Deinen Briefen!«

    Dieses Buch ist der Versuch einer Annäherung aus großem zeitlichem Abstand – und keine Hommage einer Tochter an ihre Mutter. Denn vieles habe ich nicht akzeptieren können, beispielsweise ihre Abwehr, den Zweiten Weltkrieg als größenwahnsinniges Verbrechen zu bezeichnen. Sie empfand ihn eher als eine schicksalhafte Katastrophe. Ihr Mann war freiwillig in den Russlandfeldzug gezogen, obwohl er als Mitinhaber einer Fabrik, die Uniformstoffe herstellte, dazu nicht verpflichtet war: »Ich kann doch nicht zuhause herumsitzen, während die anderen ihren Kopf hinhalten!« Renate hat diese im Wortsinne fatale Entscheidung gegen seine Familie – er ist im selben Jahr in Stalingrad gefallen, als ich geboren wurde – nicht verhindern können. Dabei war er ein liebevoller Ehemann und Vater, seine Briefe und Zeichnungen für die Kinder von der Front belegen dies eindrucksvoll.

    Um die Biografie eines Menschen nicht aus der heutigen Perspektive zu beurteilen, die die Folgen früherer Handlungen kennt, sondern sie im Sinne von Ernst Bloch aus dem »Dunkel des gelebten Augenblicks heraus«³ zu verstehen, sind Tagebücher, Briefe und Fotos aus der damaligen Zeit die sichersten Quellen. Renate hat ihre Briefe aus sechzig Lebensjahren aufbewahrt. Sie eröffneten mir einen neuen, unverstellten Blick auf meine Mutter, aber auch darauf, wie stark das Zeitgeschehen unsere Familie durcheinandergewirbelt hat. Und sie ermöglichen eine tiefere Sicht auf ihre Persönlichkeit als ein Film, mit überraschenden, berührenden, zuweilen auch verstörenden Aspekten. Briefe sind aufbewahrte Zeit in der Sprache der Zeit. Auch die Erinnerung kann täuschen. Wie wir aus der Gedächtnisforschung wissen, ist unsere Erinnerung durchaus fehlerhaft, sie wird sowohl durch andere Berichte über die jeweiligen Ereignisse als auch durch eigene Verdrängungen verändert, ohne dass uns dies bewusst ist. Briefe geben viel genauer Auskunft über die Schreibenden und ihr gesellschaftliches Umfeld. Darüber hinaus sind handschriftliche Texte Zeugnisse eines Modus der Verständigung, der im Untergang begriffen ist. Wer nimmt sich heute noch Zeit, sich hinzusetzen und mit Füllfederhalter oder Kuli auf Briefpapier über das nachzusinnen, was einen bewegt, um es anderen mitzuteilen? Briefeschreiben ist zu einer sterbenden Kulturtechnik geworden. Meine Mutter hat uns damit einen Schatz hinterlassen.

    Für Renate war das sorgfältige Formulieren ihrer Gedanken an ihre Freundinnen und Freunde, an Bekannte und Verwandte, an Schriftsteller und Professoren und natürlich auch an ihre Liebhaber eine überaus wichtige Ausdrucksform – in gewisser Weise ihr Zugang zur Welt. In einer Zeit ohne elektronische Medien, oft auch ohne Telefon, waren Briefe die zentrale Form der Kommunikation mit Menschen außerhalb des engsten Lebensbereichs. Da Renate eine umfängliche Bildung genossen hat, über einen schönen Stil verfügte und überdies interessante Briefpartner hatte, die ebenfalls gut schreiben konnten, war es ein großes Vergnügen, sich darin zu vertiefen – trotz schwer zu lesender Handschriften, oft sogar in Sütterlin. Durch die ungewohnte bisweilen hochgestochene Sprache bekommt man ein Gefühl für die Stimmungen und die Atmosphäre der jeweiligen Epoche. Dass sich unsere Biografien später so präzise rekonstruieren lassen, scheint mir äußerst fraglich. Nicht zuletzt ist diese Korrespondenz vor dem Hintergrund aktueller Kriege und zunehmender Verführungen durch nationalistisches Gedankengut eine zeitgeschichtlich wertvolle Quelle.

    Geboren im Jahr 1906, gehörte Renate Böttger einer besonders hart betroffenen Generation an. Zwei entsetzliche Kriege hat sie erleiden müssen und fünf verschiedene politische Systeme erlebt, die sich jeweils konträr zu den vorangegangenen definierten. Ihre Kindheit war geprägt vom Kaiserreich und dem Ersten Weltkrieg. Die Weimarer Republik eröffnete ihr neue persönliche Freiheiten sowie die Chance zu studieren. Das Dritte Reich verklärte Mutterschaft und Männlichkeit bis zum Exzess und verursachte den Zweiten Weltkrieg, in dem sie ihren Ehemann verlor. Die sowjetische Besatzungsmacht erzwang ihre Enteignung und Deklassierung, im Arbeiter- und Bauernstaat der DDR ernährte sie unsere Familie als Schaffnerin und Taxifahrerin. Am Ende klang ihr Leben in relativer Behaglichkeit in der Bundesrepublik aus, wo sie im Alter von 78 Jahren starb.

    Dieses Konvolut von Briefen bietet der Leserin und dem Leser unterschiedliche Dimensionen des Verständnisses an: historische, politische, soziologische und individualgeschichtliche. Wie spiegelt sich dieses von Katastrophen geprägte 20. Jahrhundert im Leben einer Familie wider? Eine Geschichte des 1945 geteilten Deutschlands im Miniaturformat. Sozialer Abstieg des Bürgertums bei gleichzeitigem Aufstieg der Arbeiterklasse in der DDR, Wirtschaftswunder und Restauration in der Bundesrepublik. Zeitgeschichte wird durch die Ausschnitte aus den Briefen lebendig. Wer weiß heute noch, welche Folgen die Niederschlagung des Aufstands 1953 in der DDR oder der Mauerbau in Berlin 1961 für die Bevölkerung hatte? Wer kann im Westen wirklich nachvollziehen, was die flächendeckende Überwachung der Staatssicherheit bei den Einzelnen angerichtet hat? Renates ältester Sohn Lutz wurde 1982 zusammen mit seiner Frau wegen »staatsfeindlicher Hetze« von der Stasi eingesperrt, weil sie westliche Literatur an Freunde verliehen hatten. Die Briefe dokumentieren sowohl die positiven Aspekte des Lebens in der DDR als auch das kräfteverschleißende Rennen um wirtschaftlichen Wohlstand in Westdeutschland in den fünfziger Jahren.

    Darüber hinaus wird die Persönlichkeit von Renate aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Wie mit einem Spotlight habe ich Szenen ausgeleuchtet, die man sich gut vorstellen kann. Die eine zeichnet die Entwicklung einer »Tochter aus gutem Hause« zu einer modernen emanzipierten Frau nach, die sich auch während des Naziregimes nicht auf ihre Mutterrolle beschränken lassen wollte. Eine andere beschreibt den Überlebenskampf einer Witwe mit vier kleinen Kindern in der Nachkriegszeit und zugleich die Lebensfreude und Liebesbeziehungen einer unabhängigen Frau. Eine dritte Perspektive widmet sich der Repression in einer Diktatur. Und schließlich geht es um alternative Lebensformen im Westen. Bei den letzten beiden Themen kommt vor allem die nächste Generation zu Wort.

    Barbara Böttger, September 2023

    1Barbara Böttger: »Umstürzende Neuerungen – eine sächsische Industrie- und Familiengeschichte«, 97 Minuten, 2017, gefördert von der Kulturstiftung des Freistaats Sachsen und der SLM – Sächsische Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien.

    2Die Identität ihrer Freunde und Liebhaber wurde aus Gründen der Diskretion und des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.

    3Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, S. 338–49, Frankfurt am Main 1959.

    1 »Wild wie ein Junge«

    Eine Kaserne in Dresden Anfang 1918: Leutnant Paul Römer sitzt an einem ungehobelten Tisch und schreibt an seine Frau Hildegard. Der Erste Weltkrieg neigt sich seinem Ende zu, gerade sind die Bedingungen für einen Waffenstillstand von US-Präsident Wilson bekannt geworden. Paul möchte die Geburtstagswünsche seiner zwölfjährigen Tochter Renate wissen. Sie antwortet:

    »1 Skalpiermesser, 1 festen richtigen Ledergürtel, 1 Streitaxt, 1 Flitzebogen mit Köcher und Pfeilen. Der Gürtel müsste eine Vorrichtung zum Anmachen des Köchers, der Streitaxt und des Dolches haben. Oh, das wäre fein, dann wünsche ich mir eine Tafel Schokolade oder ein paar Bonbons.«

    Ob ihr diese Wünsche auch erfüllt wurden? Renates Bruder Joachim bekam eine Luftbüchse, eine Soldatenuniform und eine Feldmütze, wie sie im Krieg getragen wurde. Paul schreibt ihm:

    »Es ist recht, dass Du jetzt als echter deutscher Junge gern und viel Soldaten spielst… Ich hoffe, dass Du später Deinem Vaterland als Einjähriger Freiwilliger Dienst tun und auch als Kaufmann und Fabrikant Deinen Stamm würdig vertreten wirst.«

    Seine Mutter Hildegard will auch ihre Tochter fördern und lässt ihren Mann wissen:

    »Wir wollen alles tun, was in unseren Kräften steht, um aus ihm einen glücklichen, tüchtigen und arbeitsfreudigen Menschen zu machen, der der Welt auch etwas nützen soll…Nicht nur für ihn, auch für unsere Renate wollen wir das Gleiche tun…Dass Joachim ab und zu mal Prügel haben muss, ist mir klar, aber auch, dass ein guter Kern in ihm steckt.«

    Von Prügeln ihrer Eltern hat Renate uns nie erzählt, obwohl sie zur Kaiserzeit als Erziehungsmittel allgemein akzeptiert waren. Als Tochter wurde ihr ein größerer Freiraum zugestanden als dem potenziellen Nachfolger des Vaters. Sie wollte weder mit Soldaten spielen noch mit Puppen, sondern träumte sich in die Welt weit entfernter, durchaus auch kämpferischer Indianer hinein. Mit ihren Neffen und Nichten stromerte sie auf dem weitläufigen Fabrikgelände herum und baute Flöße, mit denen sie auf den Klärteichen der Tuchfabrik herumgondeln konnten. Besonders beliebt waren Mutproben, bei denen man den Kopf so lange wie irgend möglich vor die Schwellen einer abschüssigen Feldbahn legen mussten, bis die Lore angerast kam. Mit einer Stoppuhr wurde dann gemessen, wie lange man es auf den Schienen knieend aushielt. Ein anderes gewagtes Spiel hat sie uns – noch immer ein bisschen stolz darauf – so beschrieben: Sie kletterte auf einen von zwei gegenüberstehenden Bäumen und schwankte von einer Baumkrone zur anderen hin und her. Das hätten die Erwachsenen natürlich verboten, aber die hatten anderes zu tun, als ihre Kinder ständig zu beaufsichtigen. Reiten machte ihr mehr Spaß als der eigentlich für sie vorgesehene Klavierunterricht. Insgesamt keine besonders mädchenspezifische Erziehung. In meiner eigenen Kindheit – einen Weltkrieg später – waren diese Erzählungen prägend für mich: Indianerspielen, mit einer Bande Jungen im Wald herumstromern und Leute erschrecken, vor allem aber mutig zu sein, das war das Wichtigste. Allerdings waren die Umstände in den vierziger und fünfziger Jahren für mich völlig andere als zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

    Schon als Kleinkind wurde Renate von ihrer Mutter in einem Brief an Paul so beschrieben:

    »Sie ist so wild, dass Du Deine Freude haben würdest; sie klettert mir auf die Schulter, immer rauf und runter, dahin, dorthin, kaum, dass man sie halten kann. Immer will sie stehen und muss dann fest angeschnallt sein, damit sie nicht auf die Erde kracht. Heut Nachmittag hatten wir sie in unserem Garten und auch mal in einem Wagen, wir haben uns halb totgelacht. Renate sah geradezu wie ein Junge aus. Wild genug ist sie ja auch für einen Jungen.«

    Obwohl die Geschwister eine ziemlich freie und unbeschwerte Kindheit erlebten, wurden sie spätestens in der Pubertät von den strikten Festlegungen auf ihre spätere Geschlechtsrolle geprägt. Aus den Briefen an die beiden, in denen sich die unterschiedlichen Erwartungen der Familie und ihrer gesellschaftlichen Schicht spiegeln, lässt sich paradigmatisch die Entwicklung eines harten Mannes und einer liebevoll-weichen Ehefrau ablesen. Joachim sollte ein tüchtiger Kaufmann und deutscher Patriot werden. Renate durfte eine Zeit lang ihren Interessen nachhängen und ihre Freiheit genießen, um dann in den sicheren Hafen der Ehe einzumünden. Bis dieses unverrückbar scheinende Konstrukt 1945 endgültig zusammenbrach.

    In gewisser Weise ist dies eine typisch deutsche Familiengeschichte. Die Vorfahren der Römers stammten aus dem Bergischen Land. Sie waren ursprünglich Bauern und Handwerker gewesen, die mit dem gemeinsam aufgebrachten Geld Manufakturen und schließlich die ersten Textilfabriken aufbauten. Ende des 18. Jahrhunderts erwarben sie das Patent zur Türkischrotfärberei, mit dem man Baumwollgarne wasch- und lichtecht in ein schönes Rot färben konnte. Der Rohstoff dafür, die Krappwurzel, wurde aus Indien und Ceylon eingeführt. Mehrere Brüder und Neffen gründeten rund um Wuppertal mehrere Fabriken und expandierten später nach Sachsen und Böhmen, wo besonders günstige Bedingungen für die florierende Textilindustrie herrschten. August Römer, der Großvater von Renate, errichtete 1880 in Zittau direkt an der Neiße eine baugleiche Fabrik wie die rheinische, mietete einen Salonwagen der Eisenbahn und zog mit Dienstboten, Kindermädchen und Hunden in die aufstrebende Stadt an der Grenze zu Böhmen um. Seine prächtige Villa ist noch gut erhalten, wird aber heute anders genutzt.

    Sein Sohn Paul Römer, Jahrgang 1876, litt als junger Mann unter der Strenge der Erziehung und der Etikette des protestantischen Bürgertums. Nach einer kaufmännischen Ausbildung in Hamburg zog es ihn nach Amerika, wo er die verheißungsvolle »Neue Welt« kennenlernen wollte. In Venezuela sammelte er dann als Volontär bei Geschäftsfreunden des Vaters erste berufliche Erfahrungen. Bereits in den Gründerjahren unterhielten deutsche Unternehmen ausgedehnte Handelsbeziehungen zu anderen Kontinenten. An der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert gehörte Deutschland nach den USA und Großbritannien bereits zu den drei führenden Wirtschafts- und Handelsmächten der Welt. Das Land erlebte eine nie gekannte wirtschaftliche und kulturelle Blüte, die auch eine radikale Veränderung der Gesellschaft mit sich brachte. Neben dem Ruhrgebiet war das Königreich Sachsen eine der fortschrittlichsten Regionen Europas. Paul Römer partizipierte an diesem Wachstumsschub und entwickelte sich zu einem erfolgreichen Industriellen. Er war ein moderner liberaler Mann, von amerikanischen Vorstelllungen geprägt und kritisch gegenüber dem Adel, denn der genoss seine Privilegien aufgrund seiner Herkunft. Für ihn zählte allein die Leistung eines Menschen. Von dieser Grundeinstellung getragen ließ er sich in Löbau ein modernes Wohnhaus bauen, mit dessen Inneneinrichtung er den bekannten Jugendstilarchitekten Richard Riemerschmid beauftragte. Schlichte Eleganz war die Devise, kein Prunk oder Protz. Auch seine Frau teilte derartige, für die Kaiserzeit moderne Auffassungen.

    Renates Mutter Hildegard, geborene Seifert, Jahrgang 1885, war ihrerseits in einem prächtigen Patrizierhaus im Stil der Neo-Renaissance aufgewachsen. Sie entstammte der Familie des Großhändlers Eduard Rönsch, der im 19. Jahrhundert mit Leinengarnen von Heimwebern, dann mit ägyptischer Baumwolle ein Vermögen gemacht und später auch eine Textilfabrik in Löbau gegründet hatte. Zusätzlich zu seinem Wohn- und Geschäftshaus hatte er sich, angeregt von Reisen nach Italien, Frankreich und dem Vorderen Orient, eine schlossähnliche Villa mit der Inschrift »Sanssouci« bauen lassen, in welche die Familie jeden Donnerstag und an den Feiertagen eingeladen wurde.

    Abb. 1: Färberei und Weberei Löbau

    Hildegard hatte eine Schule für höhere Töchter besucht und wurde dann in ein Pensionat in der Schweiz geschickt, um Französisch zu lernen und sich auf ihre spätere Rolle als gebildete Ehefrau und Gastgeberin vorzubereiten. Als 19jährige verlobte sie sich heimlich mit dem etwas älteren Paul Römer. Auch sie war von reformerischen Gedanken beeinflusst. An eine Freundin schreibt sie:

    Abb. 2: Villa Sanssouci Löbau

    Abb. 3: Großfamilie Rönsch/Seifert ca. 1895

    Abb. 4a: Paul und Hildegard Römer 1904

    »Ich brauche eine große, starke, freie Liebe, die den anderen bis in die feinsten Regungen und Empfindungen zu verstehen sucht (…), die völlig gleich ist auf beiden Seiten.«

    Eine selbstbewusste junge Frau traf auf einen Kaufmann, der zwar schon eine leitende Tätigkeit in der Fabrik ausübte, aber noch von seinem Vater Gehalt bezog. Ihr Vater Julius Seifert wollte aber der Beziehung erst dann seinen Segen geben, wenn Pauls Vater August Römer die Geschäfte auf seine Söhne übertragen hatte. Dies geschah im Jahre 1905. Hildegard brachte nach ihrer ersten Tochter Renate noch drei weitere Kinder – Joachim, Gerda und Eberhart – zur Welt. Den Briefen zufolge haben sie eine glückliche Ehe geführt.

    Die Gemetzel des Ersten Weltkriegs spiegeln sich in den Briefen nicht. Paul Römer leistete seinen Dienst als Leutnant der Landwehr in Dresden ab. Der Albtraum des Krieges, der Hunger, die Kälte und die allgegenwärtige Not im »Kohlrübenwinter« 1917 scheinen die Familie in der sächsischen Kleinstadt Löbau nur indirekt betroffen zu haben. Man hatte vorgesorgt. Im Garten neben dem Wohnhaus gab es nicht nur Obst und Gemüse, sondern auch Hühner und später sogar eine Kuh, um die sich ein Gärtner kümmerte. Nach Kriegsende wurde es leichter. Dienstmädchen, Kindermädchen und eine Köchin erleichterten die Hausarbeit. In ihrem Tagebuch erwähnte die jugendliche Renate vor allem ihre Spiele:

    Abb. 4b: Renate Römer ca. 1909

    »Damals setzten wir unsere Ehre darin, nie besiegt worden zu sein beim Spiel im ehrlichen Ringkampf. Wir fünf Römers konnten schwimmen wie die Fische, rennen, turnen, klettern, springen, ringen, rodeln und reiten, wenn wir mit viel List und Tücke die russischen Panjepferdchen vom Gärtner ergattert hatten.«

    Noch als Schülerin der Oberrealschule in Meißen veranstaltete sie Mutproben mit den Jungen. Wer wagte den gefährlichen Sprung von der Eisenbahnbrücke tief hinunter in die Elbe? Allein Renate überwand ihre Angst und beschämte ihre männlichen Mitschüler. Eigentlich entsprachen die Erziehungsmethoden in ihrer Familie den strengen bürgerlichen Konventionen. Die Kinder durften beim Essen nur dann etwas sagen, wenn sie gefragt wurden. Sie hatten kerzengerade zu sitzen, ihre Hände gehörten bis zum Handgelenk auf die Tischkante. Die Mahlzeiten wurden von Bediensteten serviert, jegliche Mäkelei war verboten, man hatte aufzuessen, was auf den Teller kam. Abends aßen die Eltern allein, die Kinder waren längst zu Bett gebracht worden. Die Jungen trugen Kieler Matrosenblusen, angeregt von der deutschen Flotte in Kiel, auf die der Kaiser besonders stolz war. Die Kleidung sollte nicht aufwendig sein, um sich nicht zu sehr abzusetzen von den Kindern ärmerer Leute, mit denen man jedoch nicht spielen durfte. Die gesellschaftliche Distanz war in jedem Lebensbereich strikt einzuhalten. Im Falle von Renate wurden diese Grenzen ziemlich weit ausgedehnt, ihre modern denkenden Eltern ließen sie gewähren. In einem launigen Ton gratuliert der Vater, ganz lässiger Rheinländer, der Vierzehnjährigen zum Geburtstag:

    Abb. 5: Renate mit ihrem Bruder Joachim 1913

    »Dein Leben soll nicht nur ernst sein, Deinen Humor sollst Du behalten und Freude am Leben haben. Ich kann mir zwar heute noch nicht vorstellen, dass die wilde Indianerin eine sittsame Haustochter wird, mit wohlgepflegten Fingernägeln, glattem Scheitel, niedergeschlagenen Augen und schüchternem Wesen, die ihre Beine nicht mehr zu weit durch die Röcke steckt und Freude an schönen Kleidern und Hüten hat. Aber es wird doch wohl so kommen. Warte bitte noch eine Weile damit, denn wenn man eine ballfähige Tochter hat, fängt man langsam an, älter zu werden und daran ist dann nur die Tochter schuld. Mutter war nur vier Jahre älter als Du, als sie sich einverstanden erklärte, mich zu heiraten. Aber Du wirst Dir sicher vorgenommen haben, es ganz anders zu machen, oder hast Du Dir gar nichts vorgenommen? Das wäre das Gescheiteste.«

    Abb. 6: Renate und Joachim 1925

    Eine unbeschwerte Kindheit, so scheint es. Die Geschäfte der Römerbrüder liefen im Gegensatz zu den meisten Textilbetrieben im Krieg weiter. Anfang 1918 kauften sie zusätzlich zu den beiden Färbereien, der Weberei und der Spinnerei in Löbau und Zittau eine Tuchfabrik in Großenhain bei Dresden, die alle diese Fabrikationen vereinigte. Paul sollte sie leiten. Die Kinder von Paul und Hildegard Römer wuchsen zwar in wohlhabenden, aber politisch unruhigen Verhältnissen auf. Die heftigen Umbrüche nach Ende des Ersten Weltkrieges, der von den meisten Deutschen als Demütigung empfundene Versailler Vertrag, Revolutionen, Umsturzversuche, Morde und schließlich die Hyperinflation von 1923 spiegeln sich auch in den Briefen an die Kinder wider. Das Wirtschaftsbürgertum war in den frühen zwanziger Jahren national und liberal gesinnt, man lehnte die sozialdemokratisch geführte Reichsregierung und insbesondere die linke Mehrheit im sächsischen Landtag ab. Die Industriellen in Sachsen sahen sich einer radikalisierten Arbeiterschaft gegenüber, es gab Hungerunruhen, Übergriffe auf Unternehmer und Plünderungen von Lebensmittelgeschäften.

    Renates Geschwister wuchsen mit strikt geschlechtsspezifischen Prägungen auf. Der älteste Sohn sollte seinem Vater im Unternehmen nachfolgen. Er wurde nach der Primarreife als Lehrling und Praktikant in verschiedenen Textilbetrieben im In- und Ausland ausgebildet und arbeitete später als Assistent technischer Direktoren in gleichartigen Werken. Die Tochter durfte immerhin Realgymnasien mit mathematischnaturwissenschaftlicher Ausrichtung besuchen. Ein emanzipatorischer Fortschritt im Vergleich zu ihrer Mutter, für die nur eine Schule für höhere Töchter angemessen schien. Dennoch stand außer Frage, dass Renate, die genauso intelligent war wie ihr Bruder, niemals die väterliche Fabrik leiten dürfte. Ihre Berufung sollte sie als Vorstand eines Haushalts mit mehreren Kindern finden. Wie stark diese von außen an sie herangetragenen Erwartungen auf die Jugendlichen eingewirkt haben, kommt in ihren Briefen zum Ausdruck. Am 9. November 1923, dem fünften Jahrestag der Ausrufung der Weimarer Republik, schreibt der fünfzehnjährige Joachim seiner Schwester auf Vaters Geschäftspapier:

    »Heute haben wir nun frei, weil wir den glorreichen Tag der noch glorreicheren Revolution feiern sollen, es aber nicht tun. (…) In der Schule ist nicht viel los. Am letzten Montag hat die Reichswehr hier unter starkem Aufgebot 15 ultrarote Führer festgesetzt. Zwei schwere Maschinengewehre und zehn Autos fuhren vor, da man neue Angriffe auf das Militär befürchtete. (…) Vater hat gestern für mehrere 1000 Billionen Mark auf einige Zeit Aufträge erhalten und Ware verkauft.«

    Paul war es gelungen, Kredite in Goldmark, holländischen Gulden und Dollar aus Amsterdam und New York zu beschaffen, so dass er die rasante Geldentwertung 1923 relativ gut überstand und weiter produzieren konnte. Die Hyperinflation war auf ihrem Höhepunkt. Es herrschten Chaos und Anarchie. Kurz zuvor hatte die sozialdemokratische Regierung in Sachsen die Reichswehr in die größeren Städte einmarschieren lassen und die proletarischen Hundertschaften aufgelöst. Um zu verstehen, wie Joachim später zu rechtsradikalen Überzeugungen gekommen ist, gibt die »Geschichte eines Deutschen«, die Sebastian Haffner 1939 geschrieben hat, Aufschluss:

    »Was zählte, war die Faszination des kriegerischen Spiels, in dem nach geheimnisvollen Regeln Gefangenenzahlen, Geländegewinne, eroberte Festungen und versenkte Schiffe ungefähr die Rolle spielten wie Torschüsse beim Fußball. (…) So oder so ähnlich hat eine ganze Generation in ihrer Kindheit oder frühen Jugend den Krieg erlebt – und zwar sehr bezeichnender Weise die Generation, die heute seine Wiederholung vorbereitet.(…) Der Krieg als ein großes, aufregend-begeisterndes Spiel der Nationen, das tiefere Unterhaltung und lustvollere Emotionen beschert als irgendetwas, was der Frieden zu bieten hat; das war von 1914 bis 1918 die tägliche Erfahrung von zehn Jahrgängen deutscher Schuljungen; und das ist die positive Grundvision des Nazitums geworden.«

    Renate machte andere Erfahrungen. Wenn sich ihre Mutter mit den kleineren Geschwistern in den Sommerferien im Erzgebirge erholte, war sie mit den Dienstmädchen für den Haushalt zuständig und musste ihren Vater versorgen. Der Bruder ging stattdessen zum »Deutschen Abend« und lernte schießen. Sie erlebte ihre erste Liebe. In ihrem Tagebuch notiert sie:

    »Die Liebe war mir Glück, Sehnsucht, fast Daseinszweck in Großenhain. Wie unbedacht haben wir die schönste Zeit unseres Zusammenseins zwei lange Jahre nebeneinander gelebt, ohne uns unsere Liebe je anders als mit den Augen zu gestehen. So am Tag des Manövers, als wir auf dem Felsen saßen, ganz allein, anscheinend sehr angeregt dem Knattern der Maschinengewehre zuhörend. Warum nur diese Scheu? Es ist doch nichts Böses, wenn zwei junge Menschen sich lieben! Oder ist uns das Gebot des »guten Tones« so in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir uns sogar vor uns selber fürchten?«

    Mit achtzehn Jahren wechselte Renate von der städtischen Realschule in Großenhain auf das angesehene Realgymnasium in Meißen und wurde dort in einem Zimmer beim Pfarrer untergebracht.

    »Durch die Stunden in Deutsch und Geschichte bin ich sehr angeregt worden. Es scheint, als ob sich eine Weltanschauung besonders schnell entwickeln würde. Ich fühle immer entschiedener als Idealist, und vieles Schlummernde wird geweckt, indem man es nicht mehr als selbstverständlich annimmt, sondern kritischer an alle Dinge herantritt. (…) Kirche ist nur für das Volk, ein Mittel zur Einigung und eine Möglichkeit, die nicht Denkenden zum Gehorsam aus Furcht vor Strafe zu zwingen. Der wahrhaft durchgeistigte Mensch bedarf ihrer nicht. Religion oder Philosophie?«

    Eine Fragestellung, die sie noch lange begleiten wird. Ihr überragendes Thema war jedoch die Liebe. Ihrem Tagebuch vertraut sie an:

    »Meine Seele und meine Sinne, alles, was den Menschen ausmacht, ist restlos der allgewaltigen Kraft einer leidenschaftlichen Liebe erlegen. Und nichts, aber auch nicht das Geringste in mir, wagt sich dagegen zu wehren. (…) So hatte sich alles bis ins Maßlose gesteigert bis Weihnachten 1924. Zu dem Tanzabend hatte mich Gunter eingeladen. Den Tag vergesse ich mein Leben lang nicht, auch nicht den folgenden Morgen. Es war ein Sturz aus schwindelnder Höhe in grundlose Tiefe. Ich hatte mich selbst völlig verloren. Jäh hatte die Spannung ein Ende gefunden, und ich lag wehrlos und kampfunfähig am Boden. Ein Glück, dass kein Mensch mir triumphierend den Fuß auf den Nacken setzte! In meinem zukünftigen Leben will ich mich nie wieder einem Mann so völlig anvertrauen. (…) Gerade die Frauen unserer Zeit sind infolge ihres Berufes und ihrer vielen Rechte und Pflichten bedeutend verstandesmäßiger geworden als früher.«

    Die von den Frauenbewegungen hart erkämpften Freiheiten der neuen Weimarer Verfassung wie das Recht zu wählen, zu studieren und alle Berufe zu ergreifen, eröffneten ihnen bisher verschlossene Handlungsmöglichkeiten. An den Mauern der geschlechtsspezifischen Konditionierung rüttelten sie jedoch nicht. Von den Frauen des Bürgertums wurde nach wie vor erwartet, standesgemäß zu heiraten und einem gastfreundlichen Haus vorzustehen, statt sich auf einen Beruf vorzubereiten, der spätestens beim ersten Kind aufgegeben werden musste. Das Bürgerliche Gesetzbuch enthielt noch immer die Verpflichtung der Ehefrau zur Unterordnung unter den Mann in allen ehelichen Angelegenheiten. Renate hatte sich zwar vorgenommen, sich keinem Mann mehr unterzuordnen, geriet aber in ihren Liebesbeziehungen immer wieder an ihre Grenzen. Ihr Bruder Joachim beobachtet das Widersprüchliche dieses Prozesses:

    »Als Du zum letzten Mal da gewesen bist, schüttelte das ganze Haus den Kopf über Deine furchtbare Aufregung. Alle sagten, Du seist nervös. (…) Ich erlebe nicht so viel, lerne aber umso mehr. Aber Du bist eben nur noch verliebt, und das ist mir unbegreiflich – oder nein, vom weiblichen Standpunkt ganz gewöhnlich. (…) Hast Du »Rasse und Seele« gelesen? Dort steht tausenderlei, was mir wie aus der Seele geschrieben ist.«

    Alle seine Leidenschaften seien jetzt auf berufliche Ziele gerichtet, schreibt er ihr. Aber leider nähme ihn sein Vater trotz seines Verzichts auf militärische Übungen der Freikorps »Stahlhelm« und »Werwolf« nicht wirklich ernst. Von Renate sind derartigen Klagen nicht überliefert. Der Vater förderte ihre Bildung und wunderte sich darüber, dass noch sie einige Tage vor dem Abitur tanzen gegangen war. Schon von einer schweren Krankheit gezeichnet, erfüllte er ihr den heiß ersehnten Wunsch, einmal mit einem Flugzeug über die Alpen zu fliegen. Ihre Idee, selbst einmal fliegen zu lernen, ging ihm allerdings zu weit. Paul Römer hatte Kehlkopfkrebs. Die letzten Wochen verbrachte er mit seiner Frau in einem eleganten Schlosshotel in Heidelberg, weil er dort angeblich lebensverlängernde Einspritzungen bekommen könnte. Sie genossen den Blick aufs Neckartal und gönnten sich sogar den Luxus, in einem Salon zu wohnen, in dem zuvor die schwedische Königin samt Dienerschaft logiert hatte. Paul Römer starb in seinem 51. Lebensjahr. Renate war knapp zwanzig, Joachim achtzehn Jahre alt. Das »Großenhainer Tageblatt« berichtete am 27. Juli 1926 über seine Beerdigung:

    »Es war ein langer Trauerzug, der sich formierte, um dem Toten, der zur letzten Ruhe nach Löbau verbracht wurde, bis zur Stadtgrenze das Ehrengeleit zu geben. Die Liedertafel mit Fahne ehrte ihr treues Mitglied, die Arbeiterschaft folgte, dem Überführungsauto schlossen sich die Angehörigen, die Beamtenschaft und die große Menge all derer an, die in dem Heimberufenen einen Freund, einen hochgeachteten Bekannten betrauerten.«

    4Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen, geschrieben 1939, veröffentlicht bei DVA 2000, S. 20–22.

    2 »Kein Mensch weiß, wie dringend ich Selbstbestimmung brauche!«

    Für das letzte Schuljahr wechselte Renate an ein Reform-Realgymnasium für Mädchen mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Zweig in Dresden, wo sie 1926, knapp zwanzigjährig, ihr Abitur machte. Anschließend musste sie nach Großenhain zurückkehren, denn sie wurde zuhause gebraucht, kümmerte sich um die kleineren Geschwister und tröstete ihre Mutter. Die Trauer um den Verlust des Vaters hing wie eine schwarze Wolke über der Familie. An ihre eigene Zukunft konnte sie erst mal nicht denken, ein Studium lag in weiter Ferne. Die Fabrik wurde jetzt von dem unsteten und schon bei anderen Geschäften gescheiterten Adolf Römer, einem Bruder von Paul, recht und schlecht weitergeführt. Die Verunsicherung in der Familie war groß. Eine Heirat schien nun die einzig angemessene Perspektive für Mädchen ihres Standes zu sein. Die Atmosphäre zuhause war bedrückend, die kleinstädtischen Verhältnisse spießig und bei den zahlreichen jungen Männern, die um ihre Gunst warben, war sie sich nie sicher, ob sie wirklich ein echtes Interesse an ihr hatten oder nur auf eine gute Partie aus waren. Eine besonders vertrackte Situation mit einem Mann hat sie uns in allen Einzelheiten ausgemalt:

    Sie war mit einer Gruppe junger Leute auf Skiern im Fichtelgebirge unterwegs, als man am Abend die Hand nicht mehr vor Augen erkennen konnte. Bei dickem Nebel, Kälte und Finsternis hatte sie die anderen mitten im Wald verloren und musste nun die Nacht dicht gedrängt an einen jungen Offizier im Schnee verbringen. Die Äste eines Baumes boten ihnen nur geringfügig Schutz. Wären sie eingeschlafen, hätten sie nicht überlebt. Der Leutnant zeigte sich aber als Kavalier und legte ihr seinen eigenen warmen Mantel um den Körper. Sie suchten gegenseitig die Wärme des anderen und erzählten sich ihr Leben, um unbedingt wachzubleiben. Der Mann sei ihr nicht unangenehm gewesen, die Situation aber schon, erzählte sie uns. Als der Morgen dämmerte und sie den Rückweg fanden, war die verbotene Nähe dahin und der Leutnant hatte sich Hals über Kopf in sie verliebt. Renate empfand die Begebenheit zwar prickelnd und ein wenig peinlich, konnte aber seine heftigen Gefühle nicht erwidern. Für ihn brach eine Welt zusammen. Völlig verzweifelt drohte er, sich umzubringen, wenn sie nicht auf ihn eingehe. Schließlich besann er sich. In ihrer Not wandte sie sich an den von ihr geschätzten Pfarrer D.:

    »Er sah und verstand wohl mein Schweigen und suchte den Weg nicht mehr. Es quält mich noch immer, weil ich weiß, dass ich etwas zerbrochen habe, das nicht hätte zerbrechen dürfen. (…) Es ist gar nicht zu beschreiben, in welchem Zustand ich mich jetzt befinde. Unzählige, meist schwerwiegende Entscheidungen aller Art, Unruhe, die gar nicht mehr zu auszuhalten ist, Kleinigkeiten, Widerstände. Kein Mensch weiß hier, wie dringend ich Selbstbestimmung brauche.«

    Was bedeutete der fast revolutionäre Begriff »Selbstbestimmung« für eine Frau in jenen Umbruchzeiten, als das wilhelminische Kaiserreich weiterhin die strikt einzuhaltenden Verhaltensnormen im Verhältnis der Geschlechter bestimmte, gleichzeitig aber die Versprechen neuer ungewohnter Freiheiten in der Luft lagen? Selbstbewusste junge Frauen mit Bubikopf, die tagsüber als kleine Angestellte ihr eigenes Geld verdienten und sich nachts in Bars vergnügten, gab es eher in Großstädten wie Berlin und München. In den mir vorliegenden Briefen ist davon nicht die Rede. Zwar wagten die Verfasserinnen einen androgynen Haarschnitt, trugen moderne beinfreie Kleider und bewegten sich auch allein in der Öffentlichkeit, ohne schief angesehen zu werden. Aber jahrhundertelang eingeübte Mentalitäten lassen sich, selbst bei einem so radikalen Wandel wie in den zwanziger Jahren, nur graduell verändern. Renate war diesen Weg schon ziemlich weit gegangen. Ihren Freundinnen galt sie als äußerst selbstbewusst, aktiv und – ungewöhnlich für ihr Milieu – genauso interessiert an neuen wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen wie ihr Bruder. Sie suchte geistige Anregung und Orientierung in Literatur und Philosophie, hielt wichtige Texte beispielsweise von Rilke und Stefan Zweig handschriftlich fest, las Dostojewski und Fichte. Aber was hatte sie da gefunden? Der Aufklärer Johann Gottlieb Fichte, der eigentlich die Erniedrigung des Menschen abschaffen wollte, beschrieb in seiner »Grundlage des Naturrechts«, einem Werk, das die Formulierung des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahre 1900 beeinflusst hat und durch die Verfassung von 1919 nicht angetastet wurde, das Wesen der Ehe für die Frau so:

    »Nur mit ihm vereinigt, nur unter seinen Augen, und in seinen Geschäften hat sie noch Leben und Tätigkeit. Sie hat aufgehört, das Leben eines Individuums zu führen; ihr Leben ist Teil seines Lebens geworden, (dies wird treffend dadurch bezeichnet, dass sie den Namen des Mannes annimmt).«

    Die Frau könne aufgrund ihrer niedrig stehenden Natur ihre Würde in der Ehe nur durch Hingabe an den Mann erhalten. Ob Renate das auch gelesen hat? So sollte ihre Zukunft gewiss nicht aussehen, nur wie dann? Sie brauchte neben den Büchern ein lebendiges Gegenüber, einen Menschen, zu dem sie aufschauen und dessen Urteil sie akzeptieren konnte. Obwohl sie mit dem christlichen Glauben haderte, wandte sie sich an den der Familie verbundenen Pfarrer D., allein von ihm fühlte sie sich verstanden. Die Fülle von Briefentwürfen an ihn zeigt, wie ernst ihr die Lösung dieser »weltanschaulichen, keiner absolut religiösen Krisis« gewesen sein muss. Nachdem ihr Vater so früh gestorben war, fragte sie ihn nach dem Rätsel des Todes:

    »Ich hatte ein ganz gewisses Gefühl, dass die Menschen, die mir gestorben sind, nicht verschwunden sein können. Ja, ich glaubte stets deutlich ihre Gegenwart zu empfinden, wenn ich an sie dachte. Wie ist die christliche Auferstehung gemeint?«

    Eine präzise Antwort des Pfarrers ist nicht überliefert, wohl aber, dass seine Osterpredigt bei ihr einen großen Eindruck hinterlassen hat. Sie schreibt ihm von einem Ferienkurs aus England:

    »Es ist mir nun ganz klar: Ich werde niemals verstandesmäßig der Wahrheit näherkommen, auch nicht durch Einfühlen. Wenn ich sehe und höre, wie ein Mensch mit selbstverständlicher, unbedingter Sicherheit so ein grenzenloses Vertrauen zu seinem Gott hat, ist mir das schon ein ›Beweis‹ für das Vorhandensein eines Gottes. (…) Und es überwältigte mich die herrliche Erhabenheit mancher gotischen Kirchen hier in England. Das Innere von Westminster Abbey machte mir so einen ungeheuren Eindruck, dass ich stundenlang dortbleiben musste und alles darüber vergaß. Der Gott, dem zu Ehren die Menschen so gewaltige Werke schaffen, muss mehr sein als ein Geschöpf der Fantasie zum Trost der Schwachen.«

    Im April 1927 war Renate aus der Enge der Kleinstadt Großenhain geflohen und zu einem vier Monate langen Sprachkurs nach Uxbridge unweit von London aufgebrochen:

    »Dieses London ist ein riesenhaftes, lärmendes, nimmermüdes, gieriges Ungeheuer! Das Tempo ist geradezu wahnsinnig. (…) Mit vollen Zügen genieße ich, was sich mir bietet, und das ist ungeheuer viel. Ich kann restlos glücklich sein, wenn ich auf einem schnellen Pferd durch die Felder jage. Es sind Augenblicke, wo ich mich weder um Himmel oder

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